| MORITZ WILHELM DROBISCH
Kants Dinge an sich und sein Erfahrungsbegriff
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"Wir finden uns da, ohne alles Zutun unseres Wollens und Nichtwollens, genötigt, das, was wir empfinden oder anschauen, unbedingt zu setzen und sind unvermögend, es wieder aufzuheben oder auch nur abzuändern. Es ist daher natürlich, daß wir die Gegenstände sinnlicher Anschauung für etwas Seiendes, für existierende Dinge und das Empfundene für Beschaffenheiten derselben halten. Nun belehrt uns aber die Kritik, daß diese Wahrnehmungen doch nur unsere Vorstellungen, daß sie nach Stoff und Form subjektiv bedingt sind."
Kant bezieht sich in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner Kritik d. r. V. auf Jacobi, wenn er schreibt: "daß es immer ein Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft bleibe, das Dasein der Dinge außer uns (von denen wir doch den ganzen Stoff zu Erkenntnissen selbst für unseren inneren Sinn haben) bloß auf Glauben annehmen müssen und wenn es jemandem einfällt, es zu bezweifeln, ihm keinen genugtuenden Beweis entgegenstellen zu können." |
12. Wir haben nun allerdings an der Annahme einer Kausalität durch Freiheit ein doppeltes Interesse, nämlich ein erkenntnis-theoretisches und ein moralisch-praktisches. In theoretischer Beziehung hat die Freiheit eine kosmologische Bedeutung und ist
"eine reine transzendentale Idee, die erstlich nichts von der Erfahrung Entlehnte enthält, zweitens, deren Gegenstand auch in keiner Erfahrung bestimmt gegeben werden kann" (9) (weil in der Erfahrung, d. h. in der Erscheinungswelt ausschließlich die Kategorie der Kausalität zur Anwendung kommt).
Da nun in der Reihe der einander mit Naturnotwendigkeit bedingenden Erscheinungen ein jedes Glied auf ein ihm vorangegangenes zurückweist, daher
"auf solche Weise keine absolute Totalität der Bedingungen im Kausalverhältnis zu bekommen ist, so schafft sich die Vernunft die Idee von einer Spontaneität, die von selbst anheben könne zu handeln, ohne daß eine andere Ursache vorangeschickt werden dürfe, sie wiederum nach dem Gesetz der Kausalverknüpfung zur Handlung zu bestimmen."
Nun ist aber nach KANT von den Ideen kein konstitutiver, sondern nur ein regulativer Gebrauch statthaft. Daher ist die Idee der Kausalität durch Freiheit nicht etwa ein in der Erscheinungswelt die Kategorie der Kausalität ergänzendes Erklärungsprinzip, sondern sie befriedigt nur die Forderung unserer Vernunft, die auf Vollständigkeit der Bedingungen der Ereignisse gerichtet ist. Sie steht aber zugleich auch mit der Kausalität durch Naturnotwendigkeit nicht in Widerspruch, weil sie sich gar nicht auf die Erscheinungen bezieht. KANT sagt daher (10):
"Der empirische Gebrauch der Vernunft (in Ansehung der Bedingungen des Daseins in der Sinnenwelt) wird durch die Einräumung eines bloß intelligiblen Wesens affiziert, sondern geht nach dem Prinzp der durchgängigen Zufälligkeit von empirischen Bedingungen zu höheren, die ebensowohl empirisch sind. Ebenswenig schließt aber auch dieser regulative Grundsatz die Annehmung einer intelligiblen Ursache, die nicht in der Reihe ist, aus, wenn es um den reinen Gebrauch (in Ansehung der Zwecke) zu tun ist. Denn da bedeutet jene den für uns bloß transzendentalen und unbekannten Grund der Möglichkeit der sinnlichen Reihe überhaupt, dessen, von allen Bedingungen unabhängiges und in Ansehung dieser unbedingt notwendiges Dasein der unbegrenzten Zufälligkeit der ersteren und darum auch dem nirgend geendigten Regressus gar nicht entgegen ist."
Der Widerstreit der Vernunft mit sich selbst wird also durch die Distinktion zwischen Erscheinung und der ihr zugrunde liegenden nur intelligiblen Ursache gelöst. Aber man bemerke wohl, daß KANT auch hier die letztere als den "unbekannten Grund" bezeichnet und von der bloßen "Annehmung" derselben und der "Einräumung" eines nur intelligiblen Wesens redet, er also auch hier nicht die von uns unabhängige selbständige Existenz solcher Wesen behauptet. In keiner Weise kann er demnach an der obigen problematischen Stelle an die Kausalität durch Freiheit in der kosmologischen Bedeutung gedacht haben.
13. Was nun zweitens das moralisch-praktische Interesse an der Kausalität durch Freiheit betrifft, so bezieht sich dasselbe zunächst ausschließlich auf den Menschen, als das einzige in der Erfahrungswelt vorhandene sinnliche, zugleich aber mit Vernunft begabte Wesen. Der Mensch wird hier betrachet, sofern er ein handelndes Wesen ist; daher sind hier die Worte Sinnlichkeit und Vernunft in ihrer praktischen Bedeutung zu nehmen. Was den Menschen als sinnliches Wesen zum Handeln bestimmt, sind seine Triebe und Begierden. Aber "ihm wohnt ein Vermögen bei, sich unabhängig von der Nötigung der sinnlichen Antriebe von selbst zu bestimmen." (11) Dieses Vermögen ist seine Vernunft und "diese Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch sinnliche Antriebe ist Freiheit im praktischen Sinne." - Wie KANT hier den Begriff der Vernunft verstanden wissen will, geht aus folgender Stelle (12) hervor:
"Der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich durch die Sinne kennt, erkennt sich selbst auch durch bloße Apperzeption und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindruck der Sinne zählen kann und ist sich freilich einerseits Phänomen, andererseits aber, nämlich in Ansehung gewisser Vermögen, ein bloß intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann. Wir nennen diese Vermögen Verstand und Vernunft; vornehmlich wird die letztere ganz eigentlich und vorzüglicherweise von allen empirischen Kräften unterschieden, da sie ihre Gegenstände nur nach Ideen erwägt. ... Daß diese Vernunft nun Kausalität habe, wir uns wenigstens eine dergleichen an ihr vorstellen, ist aus den Imperativen klar, welche wir in allem Praktischen den ausübenden Kräften als Regel aufgeben. Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur nicht vorkommt."
Wenn hier die Vernunft (und der Verstand) ein intelligibler Gegenstand genannt wird, weil die Handlung derselben nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann, so weist dies nur auf die Spontaneität der Vernunft hin, die ebensowohl wie die Ideen und die Gründe, nach denen die Vernunft handelt, ein Gegenstand des Bewußtseins und nicht ein außerhalb desselben vorauszusetzender Gegenstand ist. Und so heißt es denn auch weiter:
"Es mag ein Gegenstand der bloßen Sinnlichkeit (das Angenehme) oder auch der reinen Vernunft (das Gute) sein, so gibt die Vernunft nicht demjenigen Grund, der empirisch gegeben ist, nach, und folgt nicht der Ordnung der Dinge, so wie sie sich in der Erscheinung darstellen, sondern macht sich mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hineinpaßt und nach denen sie sogar Handlungen für notwendig erklärt, die doch nicht geschehen sind und vielleicht nicht geschehen werden."
14. Das moralisch-praktische Interesse an der Kausalität durch Freiheit erörtert die Kritik der reinen Vernunft nicht näher, sondern begnügt sich vorläufig mit folgender, sämtliche in den vier Antinomien enthaltenen Ideen zusammenfassender, allgemeiner Bemerkung. (13)
"Auf Seiten der Thesis" (der Antinomien) "zeigt sich ein gewisses praktisches Interesse, woran jeder Wohlgesinnte, wenn er sich auf seinen wahren Vorteil versteht, herzlich teilnimmt. Daß die Welt einen Anfang habe, daß mein denkendes Selbst einfacher und daher unverweslicher Natur, daß dieses zugleich in seinen willkürlichen Handlungen frei und über den Naturzwang erhaben sei und daß endlich die ganze Ordnung der Dinge, welche die Welt ausmachen, von einem Urwesen abstammt, von welchem alles seine Einheit und zweckmäßige Verknüpfung entlehnt, das sind so viele Grundsteine der Moral und Religion. Die Antithesis raubt uns diese Stützen oder scheint sife uns wenigstens zu rauben."
Was insbesonders die Freiheit betrifft, so bestimmt erst die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten das Interesse an der Idee der Sittlichkeit genauer und lehrt, daß, als Bedingung der Möglichkeit des uns als Tatsache des Bewußtseins gegebenen Moralgesetzes, infolge seines Unterschiedes von einem Naturgesetz, ein sich selbst bestimmender, sich selbst sein Gesetz gebender und in diesem Sinne freier Wille - vorausgesetzt werden müsse. Und darum bezeichnet auch die Kritik der praktischen Vernunft schließlich diese transzendentale Freiheit des Willens als ein Postulat der praktischen Vernunft.
15. Dagegen unterscheidet schon die Kritik der reinen Vernunft im Zusammenhang mit der Lösung der dritten Antinomie (14) allgemein an jedem sinnlich-vernünftigen Wesen in praktischer Hinsicht einen empirischen und einen intelligiblen Charakter desselben. Der erstere gibt sich an den Handlungen eines solchen Wesens als seine Sinnesart kund, der intelligible Charakter aber bezeichnet seine Denkungsart, die sich in der Sinnesart äußert. Demgemäß ist ein solches Wesen einerseits ein Sinnenwesen, das der Welt der Erscheinungen angehört, andererseits aber ein intelligibles Wesen, ein Ding an sich, von dem jenes die Erscheinung ist. Da nun in der Erscheinungswelt alles nach der Kategorie der Kausalität mit Naturnotwendigkeit geschieht, so kann, wenn irgendein Interesse fordert, diesem Doppelwesen auch eine Kausalität durch Freiheit beizulegen, diese nur in einem intelligiblen Wesen, welches als transzendentales Subjekt der Erscheinung desselben zugrunde liegt, seinen Sitz haben. - All das gilt insbesondere vom Menschen, in welchem sein empirischer Charakter durch seinen intelligiblen bestimmt wird, dieser letztere aber sich allein aus dem ersteren, der die Wirkung des intelligiblen ist, erkennen läßt.
Wie weit aber KANT davon entfernt war, die Kausalität durch Freiheit für einen Gegenstand der Erkenntnis zu halten, bezeugen schlagend folgende Worte, mit denen er die "Erläuterung der kosmologischen Idee einer Freiheit in Verbindung mit der allgemeinen Naturnotwendigkeit" schließt. Er sagt da (15):
"Man muß wohl bemerken, daß wir hierdurch nicht die Wirklichkeit der Freiheit, als eines der Vermögen, welche die Ursache von den Erscheinungen unserer Sinnenwelt enthalten; haben dartun wollen. ... Ferner haben wir auch gar nicht einmal die Möglichkeit der Freiheit beweisen wollen. Die Freiheit wird hier nur als eine transzendentale Idee behandelt, wodurch die Vernunft die Reihe der Bedingungen der Erscheinung durch das Sinnlich-Unbedingte anzuheben sich denkt, dabei sich aber in eine Antinomie mit ihren eigenen Gesetzen, welche sie dem empirischen Gebrauch des Verstandes vorschreibt, verwickelt. Daß nun diese Antinomie auf einem bloßen Schein beruhe und daß Natur der Kausalität durch Freiheit wenigstens nicht widerstreite, das war das Einzige, was wir leisten konnten und woran uns auch einzig und allein gelegen war."
Dieser Widerstreit ist jedoch nur dann ein bloß scheinbarer, wenn man annimmt, daß Dinge an sich wirklich existieren. Da nun aber, wie im Vorhergehenden nachgewiesen wurde, nach KANT die Existenz der Dinge an sich weder sich erweisen noch ableugnen läßt, sie also problematisch bleibt, so ist auch die Lösung dieses Widerstreits durch die Distinktion zwischen Erscheinung und Ding an sich nur eine hypothetische.
16. Nach alledem kann ich nicht der Ansicht beitreten, daß KANT, als er zugab, daß wir uns die Dinge an sich als Ursachen der Erscheinungen denken, unter der Ursache die Kausalität durch Freiheit verstanden habe. Schon allein die in der vorigen Nr. angeführten Worte, daß er "nicht die Wirklichkeit der Freiheit als eines der Vermögen, welche die Ursache von den Erscheinungen unserer Sinnenwelt enthalten, habe dartun wollen", sprechen entschieden dagegen. Hierzu kommen aber noch folgende anderweitige Gründe.
1) KANT hätte dann nicht allein dem transzendentalen Subjekt des Menschen und anderen sinnlich-vernünftigen Wesen überhaupt, sondern allgemein allen Dingen an sich einen sich selbst bestimmenden Willen beilegen müssen. Das hat aber nicht er, sondern bekanntlich erst SCHOPENHAUER getan, der damit den die Dinge an sich deckenden Schleier gehoben zu haben glaubte.
2) Gesetzt, KANT hätte in dieser Weise den Dingen praeter nos [an sich - wp] Kausalität durch Freiheit beigelegt, so war diese doch ein innerer Zustand derselben. Ursache der Erscheinungen sollten sie aber nur insofern sein, als ei, als transzendentale Objekte, unsere Sinnlichkeit affizieren und in uns die Empfindungen erregen. Es muß also dann die immanente Ursache zu einer transeunten [darüber hinausgehenden - wp] werden. In der Tat sagt auch BENNO ERDMANN, (16) KANT habe sich die Dinge an sich stets nach Analogie der LEIBNIZschen Monaden gedacht und sie von diesen nur durch die entschiedene Abweisung der Räumlichkeit und Zeitlichkeit, sowie durch Einsetzung des physischen Einflusses, in Form der Freiheit, an die Stelle der prästabilisierten Harmonie, unterschieden. Es wird jedoch schwer sein, diesen "Hintergedanken Kants" zwischen den Zeilen der Kritik der reinen Vernunft, die doch sonst der LEIBNIZschen Monadenlehre keineswegs hold ist, herauszulesen. Wie aber "physischer Einfluß in Form der Freiheit", d. h. äußere Ursache in Form einer inneren denkbar sein soll, ist mir völlig unverständlich. Es mag zugegeben werden, daß die Kritik der reinen Vernunft hin und wieder Veranlassung geben kann, sich die Dinge an sich als Monaden oder einfache reale Wesen zu denken; aber es war erst HERBART, der diese Keime entwickelte und die Wechselwirkung zwischen seinen Monaden ohne Zuziehung des physischen Einflusses begreiflich zu machen versuchte.
3) Weit näher hätte es KANT gelegen, sofern ihm, wie es sich zeigte, die Existenz der Dinge als transzendentaler Objekte zweifelhaft bliebt, nur die Existenz des transzendentalen Subjekts als gewiß gelten zu lassen und auf die ihm immanente Kausalität durch Freiheit nicht allein die Formen der Anschauung und die Verstandesbegriffe, sondern auch das Gegebensein des Empfindungsstoffs zurückzuführen und somit die Kausalität durch Freiheit nach Stoff und Form zur Ursache der Erscheinungen zu machen, wie das nach ihm FICHTE tat.
4) Die theoretische Erkenntnis durch die moralisch-praktische Einsicht und die Bedingungen ihrer Möglichkeit zu erweitern, lag sicherlich nicht in KANTs Absicht. Die transzendentale Freiheit als Bedingung der Möglichkeit des Moralgesetzes ist ihm nur ein Glaube, nicht ein Wissen. Das Bedürfnis, in seiner gesamten Weltanschauung das Wissen durch den Glauben oder, nach seiner Auffassung, die spekulative Vernunft durch die praktische zu ergänzen, erkennt er zwar an; aber die Freiheit ist ihm kein Gegenstand theoretischer Erkenntnis, welche er einzig und allein auf wirkliche oder mögliche Erfahrung beschränkt, sondern bloß ein Postulat, das nur insofern notwendig ist, als uns ohne dasselbe das Bewußtsein des Sollens in seinem Unterschied von Müssen und wirklichem Sein unbegreiflich bleiben würde.
17. Bietet nur aber nicht vielleicht KANT selbst ein Mittel dar, um an der subjektiven Realität, welche alles Gegebene für uns hat, die objektive der Dinge an sich und somit ihre selbständige Existenz zu erkennen? BENNO ERDMANN scheint in der Tat dieser Ansicht zu sein. In seiner Schrift: "Kants Kritizismus" (Seite 240) sagt er, daß KANTs ursprüngliche realistische Voraussetzung (nämlich von Dingen, welche die transzendentale Ästhetik als selbstverständlich annahm) mit der Deduktion der Kategorien in unverkennbarem Widerspruch stand, "der vor allem durch seine Fassung des Daseins (der Realität) als einer Kategorie neben den prädikativen Inhaltsbestimmungen begründet ist", und fügt in einer Anmerkung noch hinzu:
"Es war ein eigenes Verhängnis, daß dieser Widerspruch gerade in dem Teil von Kants Lehre liegt, durch die er seine Entdeckung von 1763, daß das Sein keine Inhaltsbestimmung sei, wieder aufhebt, sofern dasselbe jetzt, sowie auch Möglichkeit und Notwendigkeit, den übrigen Kategorien koordiniert wird."
Es wird hiermit darauf hingewiesen, daß KANT in seiner Schrift von 1793: "Der einzig mögliche Beweis für das Dasein Gottes, das Sein als die absolute Position dessen, was als seiend (als ein Ding) anerkannt wird", erklärte, von welcher Begriffsbestimmung er aber in der Kritik der reinen Vernunft nur zur Widerlegung des ontologischen Beweises für das Dasein Gottes gelegentlichen Gebrauch macht. - Es ist bekannt, welch hohen Wert HERBART auf diese Entdeckung KANTs legte und wie sie ihm zum Fundament seiner Monadologie, seiner Lehre von einfachen realen Wesen und ihrer Wechselwirkung wurde. Indessen ohne hierauf näher einzugehen, können wir versuchen zu zeigen, wie KANT mittels seines Begriffs vom Sein die Existenz der Dinge an sich hätte begründen können.
18. Wir benutzen dabei zwei Stellen aus der Widerlegung des ontologischen Beweises. An der ersten (17) heißt es:
"Sein ist offenbar kein reales Prädikat, d. i. von irgendetwas, was zum Begriff eines Dinges hinzu kommen könnte. Es ist bloß die Position eines Dinges oder gewisser Bestimmungen an sich selbst."
Diese Position an sich schließt jede Beziehung des Gesetzten zu Anderem aus. Die zweite Stelle (18) lautet:
"Unser Begriff von einem Gegenstand mag enthalten, was und wieviel er wolle, so müssen wir doch aus ihm herausgehen, um ihm die Existenz zu erteilen. Bei Gegenständen der Sinne geschieht dies durch den Zusammenhang mit irgendeiner Wahrnehmung nach empirischen Gesetzen."
Hier wird angedeutet, daß die absolute Position nicht etwa ein Akt der Willkür ist, sondern sich uns aufdrängen muß. Dies geschieht in der Tat bei jeder sinnlichen Wahrnehmung, sei sie bloße Empfindung oder Sinnesanschauung. Wir finden uns da, ohne alles Zutun unseres Wollens und Nichtwollens, genötigt, das, was wir empfinden oder anschauen, unbedingt zu setzen und sind unvermögend, es wieder aufzuheben oder auch nur abzuändern. Es ist daher natürlich, daß wir die Gegenstände sinnlicher Anschauung für etwas Seiendes, für existierende Dinge und das Empfundene für Beschaffenheiten derselben halten. Nun belehrt uns aber die Kritik, daß diese Wahrnehmungen doch nur unsere Vorstellungen, daß sie nach Stoff und Form subjektiv bedingt sind. Da gleichwohl der Antrieb sie unbedingt zu setzen fortdauert, so entsteht ein Widerspruch, von dem wir uns nur dadurch befreien können, daß wir die in der Wahrnehmung liegende absolute Position auf etwas beziehen, was nicht wahrnehmbar ist, seinem positiven Inhalt nach aber ganz unbekannt bleibt, auf ein nicht-subjektives transzendentales Objekt, dessen Existenz anzuerkennen wir uns auf diese Weise genötigt sehen. Diese Anerkennung ist demnach das Produkt unseres Denkens über tatsächlich Gegebenes, wobei letzteres ganz unangetastet bleibt, aber in einer solchen Weise gedeutet wird, die es allein mit dem Denkgesetz der absoluten Ungültigkeit des Widerspruchs vereinbar macht.
19. Aber was ist damit gewonnen? Einzig und allein ein Ansichseiendes ohne irgendwelchen Zusammenhang mit unserem Wahrnehmen und Vorstellen, daher untauglich, zu diesem die Stellung eines Erklärungsprinzips einzunehmen. Soll dieses Ansichseiende nicht müßig und für uns völlig gleichgültig hinter den Erscheinungen stehen, so muß ihm doch in Bezug auf unser Wahrnehmen und Vorstellen Kausalität zuerkannt werden. Daß, wenn darunter die Kausalität mit Naturnotwendigkeit verstanden wird, die Deduktion der Kategorien dagegen Einspruch erhebt, leuchtet von selbst ein. Aus welchen Gründen wir uns aber gegen die Annahme erklären mußten, daß KANT hier an die Kausalität durch Freiheit gedacht habe, ist im Vorstehenden dargelegt worden. Es lag in der Tat weit mehr im Interesse KANTs, die Dinge an sich zwar als Gegenstände des Denkens gelten, ihre Existenz aber in der Schwebe zu lassen, als diese fest zu begründen. Denn nur dann konnte die Deduktion der Kategorien, auf dier er das größte Gewicht legt, aufrecht erhalten werden. Die Dinge an sich gehören in KANTs Erkenntnistheorie weder zu den Grundsteinen derselben noch bilden sie den Schlußstein, sondern sie sind nach zwei Seiten hin, als transzendentale Objekte und als transzendentales Subjekt, nur Grenzsteine. Innerhalb dieser liegen als Tatsachen des Bewußtseins die Rezeptivität der Sinnlichkeit und die Spontaneität des Verstandes und der produktiven Einbildungskraft; unabhängig von ihnen werden als subjektive Bedingungen des Erkennens die Formen der Anschauung nachgewiesen, die Verstandesbegriffe aus den Urteilsformen abgeleitet, wird ferner die ausschließliche Anwendbarkeit derselben auf Anschauungen deduziert und werden die Grundsätze des reinen Verstandesgebrauchs festgestellt. Aus diesen Elementen baut KANT seine Erkenntnistheorie auf, deren Endergebnis ist, daß wir zwar eine Erkenntnis a priori haben, die aber nur von formaler Art ist und einzig und allein dazu dient, die Gegenstände der äußeren und inneren sinnlichen Wahrnehmung und ihren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang, worin die Erfahrung besteht, unserem Denken begreiflich zu machen. Wir können uns zwar nichtsinnliche Gegenstände als Ursachen der Erscheinungen denken und haben sogar Veranlassung dazu; aber wir können die Existenz solcher Gegenstände weder behaupten, noch schlechthin leugnen. Und selbst wenn sie erweislich wäre, so würde doch, da uns gänzlich unbekannt bleibt, was sie an sich sein mögen, durch sie unsere Erkenntnis nicht im mindesten bereichert wird.
20. War dies nun die wahre Meinung KANTs und ging seine Absicht dahin, seine Erkenntnistheorie von der Frage nach den Dingen an sich, soviel als möglich, unabhängig zu machen, so hatte er doch nicht hinlänglich dafür gesorgt, dem Idealismus durch ein realistisches Element engere Schranken zu ziehen. Die einzige Beschränkung desselben besteht bei ihm darin, daß in den empirischen Anschauungen das Stoffliche der Empfindungen durch sinnliche Wahrnehmung gegeben ist und dieses Gegebensein die Realität der Gegenstände der Wahrnehmung verbürgt, wogegen den reinen Anschauungen Idealität zukommt. Allein da er die Formung des Empfindungsstoffes, wodurch doch erst Vorstellungen von Gegenständen entstehen, der Spontaneität der unter der Herrschaft des Verstandes stehenden produktiven Einbildungskraft (deren Typen den Verstandesbegriffen entsprechen müssen) zuschreibt, so ist es zuletzt doch der Verstand, der sich aus dem Empfindungsmaterial die Erscheinungswelt und somit die Erfahrung schafft. Hiermit kam KANT aber einem rein subjektiven Idealismus mindestens sehr nahe. Er übersah jedoch dabei, daß in den empirischen Anschauungen die bestimmten Formen, in denen uns die Gegenstände erscheinen, ebensowenig wie die Empfindungen, Produkte unserer Spontaneität, sondern in demselben Sinne wie jene gegeben sind. Die Empfindungen können sich zwar in keinen anderen Formen gruppieren als solchen, die nach unseren Vorstellungen von Raum und Zeit möglich sind. Aber daß unter den unzählig vielen räumlichen und zeitlichen Formen, die wir uns vorstellen können, die Empfindungen sich immer nur in ganz bestimmte, mit Ausschluß aller übrigen, ordnen, daß wir ihnen nicht vorschreiben können, in welchen sie uns erscheinen sollen, ist Tatsache. Wir vermögen z. B. nicht ein farbiges Kontinuum nach Belieben kreisrund oder oval oder rechteckig zu sehen oder eine lange und zwei kurze Silben willkürlich als Daktylus [Versfuß - wp] oder Anapäst [noch ein Versfuß - wp] oder Amphibrachys [wieder ein Versfuß - wp] zu hören. Beachtet man dies, so erhält der subjektive Realismus eine sehr wesentliche Verstärkung durch welche der Idealismus in engere Schranken gedrängt wird. Aber freilich, wenn KANT die Frage unbeantwortet lassen mußte, woher die Sinnlichkeit ihre Empfindungen empfängt, da er sie ja einem ganz unbekannt bleibendem Grund zuschreibt, so gilt das in gleicher Weise von dem, was unsere Spontaneität in ihrer Freiheit beschränkt.
21. Man kann nicht mit Fug und Recht behaupten, daß die zweite Auflage der Kritik d. r. V. eine andere Stellung zum Idealismus nehme als die erste. Die in der Kritik des vierten Paralogismus der reinen Vernunft enthaltene Klassifikation der verschiedenen Arten des Idealismus und Realismus ist zwar in der zweiten Auflage weggefallen und dies kann wohl ein nicht unerheblicher Verlust genannt werden. Aber gerade die Stellen, die am unzweideutigsten eine Hinneigung KANTs zum rein subjektiven Idealismus zu verraten scheinen, sind unverändert in die zweite Auflage übergegangen. In Widerspruch damit schien nun Manchen, unter der Voraussetzung, daß sich hieraus KANTs eigentliche, wenn auch verschleierte, Meinung erkennen lasse, die "Widerlegung des Idealismus" in der zweiten Auflage der Kritik (Seite 274) zu stehen. Bekanntlich (19) war diese durch FRIEDRICH HEINRICH JACOBIs Gespräch (20): "David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus" veranlaßt worden. Denn darauf beziehen sich die Worte KANTs in der Vorrede (Seite XXXIV),
"daß es immer ein Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft bleibe, das Dasein der Dinge außer uns (von denen wir doch den ganzen Stoff zu Erkenntnissen selbst für unseren inneren Sinn haben) bloß auf Glauben annehmen müssen und wenn es jemandem einfällt, es zu bezweifeln, ihm keinen genugtuenden Beweis entgegenstellen zu können."
Einen solchen vollkommen strengen und überdies einzig möglichen Beweis "von der objektiven Realität der äußeren Anschauung" hofft KANT nun gegeben zu haben. Am eingehendsten hat denselben neuerdings HANS VAIHINGER (21) einer gründlichen Prüfung unterzogen und den Vorwurf, daß KANT dadurch in Widerspruch mit seiner eigenen Lehre gekommen sei, abgewiesen. Hinsichtlich dieses letzteren Punktes mit ihm einverstanden, können wir doch, wie das Folgende zeigen wird, über die Haltbarkeit des Beweises selbst nicht ganz in der nämlichen Weise urteilen.
22. In der Vorrede zur zweiten Auflage nennt KANT den Idealismus, auf den sich die Widerlegung bezieht, den "psychologische", in den die Widerlegung selbst einleitenden Worten den "materialen" (ein Gegensatz zu seinem eigenen bloß formalen) und definiert ihn als
"die Theorie, welche das Dasein der Gegenstände im Raum außer uns entweder für zweifelhaft und unerweislich oder für falsch und unmöglich erklärt."
Die erstere Art des materialen Idealismus schreibt er, als den "problematischen", DESCARTES zu, ignoriert aber, daß dieser doch beim Zweifel nicht stehen blieb, sondern die Existenz "ausgedehnter Substanzen" zu beweisen suchte, also jedenfalls nicht für unerweislich hielt. Als Vertreter der zweiten Art, des "dogmatischen" Idealismus, nennt er BERKELEY, dem er aber fälschlich nachsagt, daß er die Dinge im Raum für bloße Einbildungen erklärt habe, wogegen dieser doch Einbildungen von Eindrücken sehr wohl zu unterscheiden wußte und zwar anerkennt, daß auch letztere nur Vorstellungen sind, jedoch solche, deren Ursache nicht, wie die der Einbildungen, in uns zu finden, aber ebensowenig in materiellen Dingen außer uns zu suchen, sondern auf ein unserem inneren immateriellen geistigen Subjekt gleichartiges Wesen, nämlich GOtt, zurückzuführen sei. KANT ist der Ansicht, daß BERKELEYs Idealismus, so wie er ihn eben auffaßt, durch die transzendentale Ästhetik aufgeboben wird, die doch aber, da sie nur den Stoff der empirischen Anschauungen für gegeben erklärt, die Formen derselben dagegen der Spontaneität der produktiven Einbildungskraft zuschreibt, leicht dazu verleiten kann, die Gegenstände außer uns im Raum für Jllusionen zu halten, die sich das vorstellende Subjekt macht. KANT hält es indessen nur für nötig, den cartesischen Idealismus, d. i. denjenigen zu widerlegen, den er in der ersten Auflage der Kritik als den empirischen bezeichnet hatte. Man sollte meinen, daß das für ihn eigentlich überflüssig war, da er sich ja begnügen konnte, darauf hinzuweisen, wie er den empirischen Realismus außer Zweifel gestellt, mit dem transzendentalen Idealismus verbunden und dadurch die Realität der Materie, der körperlichen Dinge, der Gegenstände außer uns im Raum, bereits bewiesen haben. Indessen, da er die Auseinandersetzung der verschiedenen Arten des Idealismus und Realismus nicht in die zweite Auflage der Kritik aufnahm und behauptet worden war, daß die Überzeugung vom Dasein der Dinge außer uns nur auf einem Glauben beruhe, so unternahm er es darzutun, daß dieses Dasein erweislich, daher ein Wissen sei.
LITERATUR - Moritz Wilhelm Drobisch, Kants Dinge an sich und sein Erfahrungsbegriff, Hamburg und Leipzig 1885
Anmerkungen
9)
KANT, Kritik d. r. V., 1. Auflage Seite 533, 2. Auflage Seite 561
10)
KANT, Kritik d. r. V., 1. Auflage Seite 564, 2. Auflage Seite 594
11)
KANT, Kritik d. r. V., 1. Auflage Seite 534, 2. Auflage Seite 562
12)
KANT, Kritik d. r. V., 1. Auflage Seite 546, 2. Auflage Seite 574
13)
KANT, Kritik d. r. V., 1. Auflage Seite 466, 2. Auflage Seite 494
14)
KANT, Kritik d. r. V., 1. Auflage Seite 539, 2. Auflage Seite 567
15)
KANT, Kritik d. r. V., 1. Auflage Seite 557, 2. Auflage Seite 585
16)
BENNO ERDMANN in der Einleitung zu seiner kritischen Ausgabe von KANTs Prolegomenen (Leipzig 1878), Seite LXV
17)
KANT, Kritik d. r. V., 1. Auflage Seite 598, 2. Auflage Seite 626
18)
KANT, Kritik d. r. V., 1. Auflage Seite 601, 2. Auflage Seite 629
19)
Wie schon BENNO ERDMANN (Kants Kritizismus, Seite 200) und KUNO FISCHER (Beurteilung der Kantischen Philosophie, Seite 63 bemerkt haben.
20)
JACOBI, Werke 2, Seite 127
21)
HANS VAIHINGER, Zu Kants Widerlegung des Idealismus in den Straßburger Abhandlungen zur Philosophie (Freiburg i. B. 1884), Seite 87 - 164
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