tb-1Windelband - Immanuel KantÜber meinen Streit mit der Modephilosophie     
 
JOHANN FRIEDRICH HERBART
Rede
gehalten an Kants Geburtstag,
den 22. April 1810


"Der Denker aber kann nur lehren und er lehrt umsonst, wenn nicht unser eigenes Denken ihm entgegenkommt; er erklärt, erläutert, verständigt sich umsonst, er und sein Ruhm bleiben uns ein Geheimnis, wenn nicht in unserem Innern das Geheime sich enthüllte."

"Die Menge lernt nichts lieber, als was sie schon weiß und wer den sogenannten gesunden Menschenverstand zur Basis seiner Philosophie macht, darf hoffen, daß seine Zuhörer und Leser ihn ebenso genau verstehen werden, als er sich selbst versteht; freilich nur darum, weil er das Unbestimmte, ja Widersprechende seiner Verstellungsarten entweder ebenso wenig fühlt wie sie oder es voreilig für unheilbar erklärt."

"Denn in der Tat beruth die Metaphysik auf widersprechenden Begriffen, die niemand vermeiden kann, weil sie sich in den allerersten Anfängen der Erfahrung unwillkürlich erzeugen; die von den wenigsten Menschen, selbst unter den wissenschaftlich gebildeten, für widersprechend erkannt werden, weil jedermann gewöhnt ist, sie unaufhörlich im Denken anzuwenden; die aber, sobald man sie mit gewöhnlichem logischen Scharfsinn bestimmten will, neue Widersprüche ohne Ende erzeugen und eben dadurch zu allen Streitigkeit der bisherigen Metaphysiker Anlaß geben."

"Wie nun aber, wenn ich zu meinen Einbildungen eine Einbildungskraft, zu meinen Erinnerungen ein Gedächtnis, zu meinen Begriffen einen Verstand, zu den Musterbegriffen und den Vorstellungen des Unbedingten eine Vernunft, voraussetze, hinzudenke, hinzu dichte: - beginne ich da etwas anderes, als wenn rohe Völkerschaften zu Donner und Blitz den Gott des Donners, zu den Winden den Gott der Winde, zum wogenden Meer den Neptun hinzudichteten?"


Hohe, verehrteste Anwesende!

Das Gedächtnis großer Verstorbener feierlich zurückzurufen, den Gefühlen unauslöschlicher Verehrung einmal wieder Sprache zu gönnen, ist nicht bloß natürlich, nicht bloß herzerhebend: vielmehr es ist schuldiger  Dank  für  fortwirkende  Verdienste: wohltätige Ermunterung für jüngere Zeitgenossen; und Tröstung für solche, die, nach vollbrachter Arbeit, tiefer ins Alter vorrückend, sich nun fragen, ob wohl nicht menschliche Vergeßlichkeit das Werk ihres Lebens samt ihrem Namen zu vertilgen drohe? Ehrenwert zu nennen ist die Stadt, welche von ihren Mitbürgern dergleichen Sorgen entfernt; preiswürdig sind die Männer, die den edlen Gebrauch einer ernsten und gedankenvollen Totenfeier nicht sinken lassen, vielmehr ihm Dauer verleihen und ihm öffentliche Ausübung gestatten. Solcher Mitbürger erfreute sich KANT; es ist  sein  Andenken, das wir, nicht erneuern, sondern unversehrt, wie es ist, erhalten wollen.

Mit KANTs Namen - wieviel wird damit ausgesprochen! Dieser Name, wie weit ist er umhergetragen worden! Dieser Geist, - in welche unergründliche Tiefe müßten wir folgen, um ihn zu durchdringen! Was alles mußte von ihm im Stillen erwogen sein, bevor er, gegen die spätere Zeit seines irdischen Lebens, sich ausredete und mit dem, was er redete, alle Wissenschaften umfaßte, alles Forschen neu begeisterte! Und, bei verlängerter Frist, - wenn je einen Menschen das Alter und der Tod verschonte, - welche Bahnen würde wohl Er noch vor unseren Augen haben durchlaufen können!

Vor unseren Augen sagte ich, - aber vielleicht mit Unrecht. Denn für manches selbst von dem, was sichtbar auf der Erde geschieht, haben wir keine Augen; gar manches von dem, was vernehmlich und verständlich ausgesagt ist, bleibt gleichwohl unvernommen von unserem inneren Ohr und unverstanden! - Wie viel leichter wäre es, den Ruhm eines Helden, als den eines Denkers, zu verkündigen! Jener erklärt sein Wort durch seine Taten, er fesselt die Hörer seines Namens durch Furcht und Hoffnung, durch Gewinn und Elend. Der Denker aber kann nur lehren und er lehrt umsonst, wenn nicht unser eigenes Denken ihm entgegenkommt; er erklärt, erläutert, verständigt sich umsonst, er und sein Ruhm bleiben uns ein Geheimnis, wenn nicht in unserem Innern das Geheime sich enthüllte. - Unsere jetzige Feier hat auch nicht die Allgemeinheit einer religiösen Feier; nur die wissenschaftlich Gebildeten können ihr eine wahre Teilnahme schenken.

Die Religion ist älter, als alle irdische Weisheit; das Bedürfnis der Religion wird mit jedem geboren; und der unsichtbare Herrscher empfängt alle Herzen, die sich ihm widmen, mit gleicher Güte. Jetzt aber erinnern sich Menschen eines menschlichen Lehrers, - und ausgeschlossen aus dem engen Kreis der Wissenschaft für alle die, welche vom Glück oder Unglück zu hoch gestellt wurden oder zu tief, um dem Lernen und den Denken mit ernstem Bemühen obliegen zu mögen, oder zu können.

Als eingeschlossen jedoch in diesen Kreis der Wissenschaft und als fähige Teilnehmer unserer Feier zu betrachten sind alle, denen eine Empfindung beiwohnt von  der  geistigen Angelegenheit: mit unseren Vorstellungsarten ins Reine zu kommen, aus dem Veränderlichen der Meinung aufzusteigen zur Festigkeit der Überzeugung, die individuelle Stimmung zu veredeln durch tadelfreie Gesinnungen und in solchen Grundsätzen, die auf der ersten Basis alles Wissens beruhen, einen Prüfstein zu besitzen für alles Wechselnde unserer inneren Zustände. Alle, sage ich, in denen das Bewußtsein dieser Angelegenheit wach und lebendig ist, sie alle müssen den Geburtstag KANTs als einen Festtag anerkennen; denn für diese Angelegenheit hat KANT gearbeitet, diese hat er gefördert, für diese hat er schlummernde Kräfte geweckt und aufgeregten Kräften zur besseren Bahn verholfen.

In der Periode, welche dem Erscheinen der kritischen Werke KANTs voranging, war eine gar zu bequme Art des Philosophierens herrschend geworden. Männer von gutem Willen und von sehr ausgebreiteter Gelehrsamkeit, die aber die Gefahr scheuten, sich im Denken unnütz anzustrengen und die noch weniger ihre Schüler in Spekulationen, in welchen man verirren kann, verwickeln wollten; Männer also, bei denen eine lobenswerte Vorsicht mit Schwäche gemischt war: diese sahen es gern, wenn die eigentlichen Probleme der Philosophie in Vergessenheit gerieten; lehrend und schreibend setzten sie solche Grundsätze in Umlauf, die leicht gefaßt und leicht genutzt werden können; leicht gefaßt, weil sie die Resultate der Erfahrung und Beobachtung, von denen sie nur der verkürzte Ausdruck sind, unverändert wiedergeben; leicht genutzt, weil sie auf die Fähigkeiten der Menschen und auf die fühlbarsten Bedürfnisse des Lebens unmittelbar berechnet sind. Dafür das Publikum zu gewinnen, war ebenfalls leicht. Die Menge lernt nichts lieber, als was sie schon weiß; und wer den sogenannten gesunden Menschenverstand zur Basis seiner Philosophie macht, darf hoffen, daß seine Zuhörer und Leser ihn ebenso genau verstehen werden, als er sich selbst versteht; freilich nur darum, weil er das Unbestimmte, ja Widersprechende seiner Verstellungsarten entweder ebenso wenig fühlt wie sie oder es voreilig für unheilbar erklärt. Feinheit der Beobachtung, logische Subtilität in der Zergliederung und Anordnung der Begriffe, bequeme und anziehende Darstellung bescheidener Meinungen vielmehr, als entschiedener Lehrsätze: Das war es, worin man, mit Umgehung oder leiser Berührung der metaphysischen Schwierigkeiten, fortzuschreiten schien und fortzuschreiten sich benügte. Das allgemeine Interesse begleitete diesen Fortschritt; die Menge geht gern mit, wenn sie ohne Beschwerde folgen kann; jeder freut sich, etwas Neues mit anderen, nur nicht allein, zu behaupten. Nach dem, was auf dem Weg dieses Fortschritts nicht lag, auch nur zu fragen, was schon Paradoxie; an der Möglichkeit der Bewegung, an der Existenz der Körperwelt zu zweifeln, schien die Erneuerung einer alten Torheit; HUMEs Einwürfe gegen die Realität des Kausalitätsbegriffs erregten bis auf KANT mehr Staunen als Denken; LAMBART und PLOUQUET wurden wenig gelesen und selbst des vielgepriesenen LEIBNIZ Lehre von den Monaden und von der prästabilisierten Harmonie hätte man gern entbehrt.

Erhaben über so manchen, was gewöhnliche Menschen drängt und quält, haben höhere Naturen ihre eigene Unruhe, ihre eigene Reizbarkeit. KANT ward durch HUME beunruhigt; die Aufregung die Er empfangen, auf die Er zurückgewirkt hatte, erschütterte die gelehrte Welt und alle Wissenschaften. Zum Widerstand waren diejenigen zu schwach, die so lange Zeit hindurch das Schwere vermieden hatten; zu Hilfe kommen Männer wie SCHULZ, den gleichfalls diese Stadt den ihrigen nennt und dem die Mathematik ihren Stempel der Gründlichkeit, der strengen Folge - der Richtigkeit aufgeprägt hatte. Der Eifer ward allgemein; in der Hitze des Streits aber ward Nichts anderes so bald und so ganz offenbar, als dieses: wie schlecht für das Einverständnis in Meinungen und Wissenschaften dann gesorgt ist, wann die Oberflächlichkeit die Streitpunkge zudeckt; und wie schnell sich die härtesten Grundsätze der Meinungen da entwickeln und ausbilden, wo jeder Nachfolgende Gelegenheit findet, seinem Vorgänger Lücken in den tiefsten Stellen des gelegten Fundaments nachzuweisen. Einigkeit über die philosophischen Hauptbegriffe aller Wissenschaften wäre gewiß das wünschenswerteste Gut, nicht nur für Lehre und Lernende, sondern für alles, was irgend vom Wissen und Meinen abhängt; aber diese Einigkeit ist nicht Sache der Übereinkunft, nicht Erfolg des Überdrusses am Streit oder der Blödigkeit im Widersprechen, nicht das Werk höflicher Sitten und verfeinerten Geschmacks: - diese Einigkeit kann nur aus vollendeter Forschung hervorgehen, worin alle Verschiedenheit individueller Ansichten sich ungezwungen und unwillkürlich auflöst.

Wissenschaftlichkeit war es, wohin KANT arbeitete. Er verlangte Pünktlichkeit der Untersuchung, wenn sie auch Peinlichkeit gescholten wurde. Was ist Wissenschaftlichkeit? Werfen Sie einen Blick in KANTs Hauptwerke; was werden Sie finden auf allen Blättern? Immer die Frage: Woher weiß ich das? Immer das Suchen nach den Quellen der Erkenntnis.

Unbestimmt, schwankend, zweifelnd, mit sich selbst im Streit, befangen in einem Gewebe von Hypothesen, aus denen wohl etwas folgen könnte, wenn nur sie selbst erst gewiß wären, die bestätigt scheinen durch dieses Beispiel und widerlegt durch jenes, deren einige das Gefühl für sich und die Überlegung wider sich haben, andere im Räsonnement klar sind, aber sich in der Praxis sich verdunkeln, - so geteilt in sich und unaufhörlich bewegt von außen durch Gespräche, Schriften, Erfahrungen, findet sich der welcher anfängt zu denken. Und er läuft Gefahr, in dieser Entzweiung zu bleiben; er läuft die noch größere Gefahr, nachgiebig gegen unlautere Triebfedern das erste beste bei sich festzusetzen, was ihm die Umstände des äußeren Lebens empfehlen: wenn er nicht frühzeitig, in den Jahren der Muße, vor dem Eintritt in die Geschäfte, vor dem Versinken in gesellschaftliche Zerstreuungen, auf den Gedanken geführt wird, sich nach den Quellen der Erkenntnis umzusehen; nach den Prinzipien, die nicht Hypothesen, sondern ursprünglich gewiß und verständlich seien.

Wieviel  ist dessen, und  was  ist es, das ich ursprünglich weiß? Und,  wie  kann aus dem Ursprünglich-Gewissen ein anderes, weiter ausgedehntes Wissen, abgeleitet werden? Das sind die Fragen, ohne deren sorgfältigste Erwägung niemand zur Philosophie den Eingang findet; und von denen er im Fortschreiten nicht einen Augenblick die Aufmerksamkeit abwenden kan, ohne sich sogleich in die Gefahr der größten Irrtümer zu stürzen. Diese Fragen führen unvermeidlich auf ein Geschäft von solcher Art, wie das, worin wir unseren großen Verewigten in seinen Hauptwerken begriffen sehen; auf ein  kritisches  Geschäft. Zuvörderst auf die Kritik unserer eigenen Vorstellungsarten. Denjenigen aber, der, als öffentlicher Lehrer durch Rede und Schrift, im Namen eines größeren Publikums denkt und forscht, führen diese Fragen auf die Kritik des herrschenden Meinungssystems. So mußte KANT die Systeme beleuchten, die er vorfand, alles das, was in diesen Systemen für gewiß galt, da es doch, weder ursprünglich gewiß ist, noch durch eine sichere Ableitung aus den ersten Prinzipien gewonnen worden war, alles dies, - und es war dessen nicht wenig, - mußte sein kritisches Messer hinwegnehmen; nicht nur ohne Schonung der Autoritäten, sondern auch ohne Rücksicht auf die Besorgnis, wie brauchbar oder wie unbrauchbar nun fürs erste die übrig bleibenden Bruchstücke der bis dahin gangbaren System werden möchten. Denn durch solche Besorgnisse verschächert, kann keine gründliche Untersuchung gedeihen. Den politischen Reformator mag man verantwortlich machen wegen der Folgen der Aufregungen, die er beginnt; philosophische Reformen gehen das Volk nicht an, sie gelten den Denkern, sie sollen sich vollenden im Gebiet des Wissens und ihr Ziel ist die Wahrheit. KANT war kein politischer Reformator und er begehrte nicht, es zu sein; obgleich es Toren gegeben hat, die sich das einbildeten und hie und da einige Gang-Unkundige, die es ihnen glaubten. Ich würde eine neue Torheit begehen, wollte ich hier in Königsberg, vor Ihnen, verehrteste Anwesende, darüber nur ein Wort weiter verlieren. Die Ruhe und Festigkeit, womit KANT sich innerhalb des Denkgebietes hielt, die Kühnheit und Entschlossenheit, womit er auf diesem Gebiet rastlos vordrang, so weit es möglich schien, dies zusammen macht einen der großen Charakterzüge in KANTs wissenschaftlicher Persönlichkeit aus.

Seiner Kühnheit aber genügte es nicht, nur die Systeme zu kritisieren; KANT kritisierte die  Vernunft.  Bei diesem kolossalen Unternehmen staunten die Zeitgenossen; es gebührt sich, daß auch wir mit aufmerksamen Blicken dabei verweilen.

Nur für seine Zeit, nur für sein Jahrhundert zu arbeiten hätte der geschienen, welcher bloß den herrschenden Meinungen der Zeit entgegengetreten wäre. Aufzudecken, daß dieser und jene sich irre, ist eine Wohltat für den Irrenden und seine Schüler; die aber mit dem Irrtum zugleich vergessen wird; die weder den Dank des Irrenden zu gewinnen, noch durch sich selbst die Mühe und Muße, die sie kostet, zu lohnen pflegt. Aber um alle wird sich verdient machen, - um alle Zeiten und Geschlechter, - wer  den  Irrtum aufdeckt, der alle unvermeidlich anficht,  den  Schein zerstreut, der  jeden  blendet und der selbst da er nicht mehr täuschen kann, noch fortfährt aller Augen zu umgaukeln. Nich zufrieden, die Widersprüche bisheriger Metaphysiker nachzuweisen, faßte KANT die Metaphysik selbst; er teilte sie gleichsam in zwei Personen, deren jede gleich gründlich bewies, was die andere leugnete. Und dieses sich selbst aufhebende Metaphysik, lehrte er, sei das Produkt der Vernunft selbst; die erste, indem sie über dieser wunderlichen Produktion sich ertappe, zu vollen Besinnung gelange, sich in ihre wahren Grenzen einschließe und sich auf dem Standpunkt fest stelle, von wo aus ihr die gleiche Ungründlichkeit der sämtlichen, von beiden Seiten einanander entgegengestellten, Behauptungen vollständig einleuchte.

Gesetzt, diese berühmte kantische Lehre von den Antinomien der reinen Vernunft wäre ohne allen wissenschaftlichen Grund: so würde sie als ein ingeniöses Spiel immer noch die Leichtigkeit und Freiheit des Geistes an ihrem ebenso witzigen als tiefsinnigen Urheber, bezeichnen, dessen glückliche Laune sogar von der Metaphysik nicht gedrückt, vielmehr gereizt und geschärft ward. War aber die Lehre von den Antinomien noch etwas mehr als ein witziger Einfall? Gewiß, wer sie  nur  dafür gelten ließe, der hätte ein hartes Urteil gefällt über den großen Mann, der, so gut er sonst zu scherzen wußte, mit der Philosophie wahrlich nicht scherzen wollte, vielmehr die angestrengteste Arbeit und den gewissenhaftesten Fleiß daran gewendet hatt. Gleichwohl geziemt es uns keineswegs, dem Ruhme KANTs gleichsam ein Geschenk zu machen mit der, ihn gegünstigenden Annahme: es sei wahr, daß die Vernunft sich selbst in metaphysische Irrtümer unvermeidlich verstricke und eben damit sich der Kritik in die Hände liefere. Es gehört keineswegs zu der heutigen Feier, die Augen verschließen zu wollen vor dem, was dem Gefeierten vielleicht mißlang. Dem redlichen Wahrheitsforscher können wir keine Ehre erweisen auf Kosten der Wahrheit; des weltberühmten Mannes Glanz erlaubt uns kein scheues Zurücktreten, kein verzagtes Umgehen, Verschweigen, Verhüllen, als ob Gefahr für ihn zu fürchten wäre; endlich von mir wähne niemand; als hätte ich mich für heute, um des Geburtstages willen, zum unbedingten Lobredner dessen hergegeben, worüber ich längst öffentlich mit aller Freimütigkeit gesprochen habe.

Was denn also sollen wir davon denken, daß KANT es unternahm, die Vernunft und ihr Vermögen gleichsam auszumessen? Lag die Vernunft vor ihm und hielt still, um sich die Operationen einer Art von übersinnlicher Geometrie gefallen zu lassen? Ist die Vernunft anderswo anzutreffen, als im Selbstbewußtsein? Und gibt jemals das Selbstbewußtsein die Vernunft und ihr ganzes Vermögen in einer vollständigen Offenbarung zu erkennen? Kann man, nicht etwa  vermuten,  sondern mit wissenschaftlicher Strenge  behaupten,  die Vernunft sei schon ganz in Erscheinung getreten und den künftigen Geschlechtern der Menschen sei nichts Neues mehr vorbehalten, worin sie, als vernünftig sich selbst erkennen werden? Es sei ihnen insbesondere kein anderer Gang der Entwicklung möglich, als jener durch die Blendwerke der antinomischen Metaphysik? Ist denn die Metaphysik der früheren Zeiten etwas so Vollständiges und Geschlossenes, ist jeder Teil derselben in seiner Art so ausgearbeitet, daß man in ihr wenigstens den Irrtum in seiner Vollendung erblicken könnte? Oder hat KANT die verunglückten metaphysischen Versuche seiner Vorgänger, mit der Metaphysik selbst, - die bisherigen mangelhaften Vorübungen des vernünftigen Denkens, mit der Vernunft selbst, verwechselt? War vielleicht der Gegner, den KANT für einen Mann hielt, nur noch ein Kind in seiner Art, das aber nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden, zum Manne heranwachsen wird, gestärkt vielleicht, aber nicht unterdrückt, durch diese Kritik, die seinem jugendlichen Alter zu gymnastischen Übungen Gelegenheit gab und sich auch dadurch ein Verdienst, wenn schon nicht ein solches, wie sie meinte, um ihn erwarb?

Um uns der Beantwortung dieser Fragen zu nähern, lassen Sie uns auf das Zeugnis der Zeiten achten. Seit der ersten frischen Blüte der kantischen Philosohie ist eine beträchtliche Reihe von Jahren verstrichen, es ist im Laufe derselben von einigen nicht ohne Ernst und Genie gearbeitet worden. Die kantische Lehre vom notwendigen Widerstreit der Vernunft mit sich selbst, woraus eben die Notwendigkeit einer Vernunftkritik folgt, ist in diesen neueren Arbeiten bis zur Unkenntlichkeit verändert worden; es muß ihr also wenigstens an derjenigen wissenschaftlichen Präzision gefehlt haben, durch welche sich geometrische Lehrsätze in allen Zeitaltern aufrecht halten. Daß aber KANT eine solche Präzision wenigstens suchte, gehört ebenso wesentlich zu seinem Ruhm, als es offenbar aus seinen Schriften hervorgeht. - Nichtsdestoweniger finden wir nun, nicht nur, daß zu allen Zeiten von den Metaphysikern entgegengesetzte Lehren mit gleicher Überzeugung vorgetragen worden sind, sondern auch, daß mehrere der größten Denker sich mit besonderer Anstrengung den widersprechenden Gedanken, die sie vorfanden, entgegengestemmt haben; und zwar so, daß sie dieselben nicht wie das willkürliche Machwerk irgendeines Menschen, sondern als etwas sich von Natur Aufdringendes behandelten. Die Eleaten, und nach ihnen PLATON, stemmten sich auf diese Weise gegen die gesamte sinnliche Erfahrung, als gegen eine sich selbst aufhebende und eben dadurch ihre Nichtigkeit verratende, Täuschung: ja die Eleaten mit noch mehr Konsequenz als PLATON, wiewohl auch dieser von den deutlichsten Stellen voll ist, wo wer der Sinnenwelt vorwirft, daß sie Einerlei als Vieles und Verschiedenes darstelle, daß jedes sinnliche Ding, eben indem man es als ein solches und kein anderes auffassen wolle, davonlaufe und sich in tausend Verwandlungen umhertreibe. Unter unseren Zeitgenossen ist FICHTE, bei seinen Untersuchungen über das Ich, auf widersprechende Begriffe gestoßen: er hat dadurch unsere Kenntnis der philosophischen  Probleme  wesentlich erweitert. Die Eleaten nun und PLATON suchten dem Widerspruch  auszuweichen;  KANT suchte  sich  über sie zu erheben; FICHTE  sich mitten hindurch zu arbeiten;  beide letzteren in der Absicht, einen Punkt zu erreichen, von wo aus die unvermeidliche Täuschung  erklärt  werden könne: welches allerdings auch PLATON mit mehr Ernst hätte versuchen sollen, als in seinem TIMÄUS geschehen ist, woran die Mühe so vieler Ausleger gescheitert ist und noch scheitert. Wie verschieden aber auch, nicht nur die Behandlung, sondern selbst die Auffassung der ersten widersprechenden Punkte bei den genannten Denkern angetroffen wird: so deutet doch diese Verschiedenheit nur darauf hin, daß keiner von ihnen eine  vollständige  Kenntnis der Probleme besaß, jeder aber auf eigene Weise der wahren Natur der Metaphysik auf die Spur gekommen war. Denn in der Tat beruth die Metaphysik auf widersprechenden Begriffen, die niemand vermeiden kann, weil sie sich in den allerersten Anfängen der Erfahrung unwillkürlich erzeugen; die von den wenigsten Menschen, selbst unter den wissenschaftlich gebildeten, für widersprechend erkannt werden, weil jedermann gewöhnt ist, sie unaufhörlich im Denken anzuwenden; die aber, sobald man sie mit gewöhnlichem logischen Scharfsinn bestimmten will, neue Widersprüche ohne Ende erzeugen und eben dadurch zu allen Streitigkeit der bisherigen Metaphysiker Anlaß geben; - die also eben deswegen eines höheren, als des gemeinen logischen Denkens, zu ihrer Auflösung bedürfen, - und vor allem desjenigen kritischen Geistes, welchen unter uns aufgeregt zu haben, das eigentümliche Verdienst des großen Denkers ist, dessen Namen wir heute verehren.

Wie wir begonnen haben, so lassen Sie uns fortfahren zu überlegen, was Er, der ein so weitgreifendes wissenschaftliches Streben entzündete, der uns so viele wünschen lehrte, zu wünschen übrig gelassen hat. Es kann nicht zweifelhaft bleiben, was hier zunächst zu nennen sei, nachdem wir bemerkt haben, daß sich KANT dem kritischen Geschäft vielmehr, als dem systematischen, unterzog. Muß anderen Philosophen die Bescheidenheit empfohlen werden: so hätte Er sich, minder bescheiden, mit vollem Recht ein eigentlich systematisches Werk schon beim Anfang seiner Studien vorsetzten können. Denken wir ihn, anstatt als Vater der neueren Systeme, vielmehr als Schüler irgendeines kühnen Vorgängers von umfassendem Geiste, gewiß würde auch Er sogleich seinen Gedanken eine solche Richtung, allen seinen Plänen eine solche Stellung gegeben haben, daß sie nicht den Irrtum, sondern die Wahrheit ins Gesicht gefaßt und nicht aus Einzelheiten das Ganze zusammen zu setzen, sondern für das Ganze jedes Einzelne zu bilden unternommen hätten. Alsdann möchte selbst sein kritischer Geist sich zu einer größeren Umfassung entwickelt haben. Nicht an die vorgefunden Logik, nicht an die vorhandene Psychologie, nicht an den üblichen Unterschied zwischen Moral und Naturrecht, würde er sich so sorglos angelehnt haben. Zwar hätte er von der Logik dennoch gesagt, sie habe seit ARISTOTELES keinen bedeutenden Schritt vorwärts tun können; die Verbesserungen, deren sie fähig ist, (sofern man nicht ihren Begriff erweitern will,) mögen immerhin wenige wesentlich genannt werden; sie dienen mehr, um Keime von Irrtümern in anderen Wissenschaften auszurotten, als um die Logik selbst einen höheren Wert zu geben. Aber in Hinsicht der hergebrachten Psychologie, - jener Lehre von Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Verstand, Vernunft, Begehrungs- und Gefühlsvermögen, nach deren Abteilung die Kritik der Vernunft fortschreitet, - hier bekenne ich freimütig mein Bedauern, daß ein so großer Geist solche Fesseln hat tragen müssen! Hätte er doch, anstatt beim matten Schein der gemeinen Psychologie nach den Erkenntnisquellen zu suchen, vielmehr auf diese Psychologie selbst die Frage hingewendet: Woher weißt ich das? Woher weiß ich, daß ich eine Sinnlichkeit besitze? Woher, daß sich eine Einbildungskraft in mir regt? Woher weiß ich von meinem Verstand? Von meiner Vernunft? als von eben so vielen, unter sich verschiedenen und wie von mehreren Seiten her nach eigentümlichen Gesetzen zusammenwirkenden Potenzen? Freilich des Sehens und Hörens bin ich mir bewußt; auch der mancherlei Phantasien, Begriffe, Ideen, Entschließungen. Ja, ich bin mir einer unbestimmbaren Menge höchst verschieden modifizierter, ineinander übergehender Zustände bewußt, welche durch die gewöhnlichen Benennungen: Einbildung, Gedanke, Entschluß und dergleichen, nur höchst mangelhaft angedeutet und unterschieden werden können und die kaum zu einer vorläufigen Abteiltung gewisser Hauptklassen psychologischer Phänomene zureichen. Wie nun aber, wenn ich zu meinen Einbildungen eine Einbildungskraft, zu meinen Erinnerungen ein Gedächtnis, zu meinen Begriffen einen Verstand, zu den Musterbegriffen und den Vorstellungen des Unbedingten eine Vernunft, voraussetze, hinzudenke, hinzu dichte: - beginne ich da etwas anderes, als wenn rohe Völkerschaften zu Donner und Blitz den Gott des Donners, zu den Winden den Gott der Winde, zum wogenden Meer den Neptun hinzudichteten? Wie nun, wenn gerade so, wie diese mythologischen Personen zu einer gesunden Physik, also auch die sämtlichen sogenannten Seelenkräfte, samt ihren vermeinten Formen a priori, zu einer gründlichen Einsicht in die Gesetze des Geistes, sich verhielten? In der Tat, woher nur die geringste Wahrscheinlichkeit, daß es anders sein sollte? Doch wohl nicht aus besonders genauen Erklärungen, welche die bisherige Psychologie auch nur für einen einzigen der bekanntesten, wirklich vorkommenden Gemütszustände, in seiner vollständigen Bestimmtheit, hätte vorbringen können? Wo ist eine Spur, daß diese Seelenlehre aus ihren, lediglich empirischen und noch dazu in der rohesten Unbestimmtheit schwebenden, Gesetzen der verschiedenen Seelenvermögen nur die geringste  präzise  Folgerung zu ziehen wüßte? - Hier ist die faule Stelle, der wahre Sitz der Lieblingsvorurteile des sogenannten gemeinen und gesunden Menschenverstandes, wohin das dringendste Bedürfnis der Philosophie einen Kritiker wie KANT, würde gerufen haben. Daß dem also sei und daß man dieses fühle, beweisen die neueren philosophischen Systeme seit KANT. Von den Spuren des Meisters haben die Schüler kaum eine andere so sehr verwischt, als die psychologische Spur - nicht sowohl des Meisters selbst, sondern im Grund nur seiner Nachsicht gegen das Alte, Vorgefundene, gegen das was Er stehen ließ, Er, der auch so schon der  Alleszermalmende  genannt wurde.

Es ist das Loos der großen Reformatoren, daß sie, aufgehalten im Kampf mit einem allzuzahlriechen Heere von wegzuräumenden Verkehrtheiten, nicht leicht dazu kommen, etwas durchaus Ganzes und als solches Bleibendes, zu stiften. - Während der Dichter, unbekümmert um die Vorzeit, nur seinem Werk obliegt und seine Schöpfung vollendet, hat der Philosoph, will er anders seine Muße an die Verbesserung der gangbaren Meinungen wenden, - nach allen Seiten hin zu streiten und er gerät dabei leicht so tief in die  Negationen  hinein, daß sein Positives nur den geringsten Teil seiner Arbeit ausmacht. Wenn, gleichwohl, alle die Negationen, auch nur Einer oder wenigen neuen Ideen zum kräftigen Ausdruck dienten, wer würden den Ruhm, so durchgreifende Ideen erzeugt zu haben, geringfügig achten? Die Folgezeit mag kommen, an der Idee das Geleistete zu messen; sie mag, wo es nicht ausreicht, es erweitern und ergänzen. Konnte KANTs Lehre von den Begriffen und Grundsätzen des reinen Verstandes nicht genügen, so war es Männern wie REINHOLD und FICHTE vorbehalten, den Faden aufnehmend, ihre Theorien des Bewußtseins darzubieten; zum Sporn für noch spätere Denker, die eine Psychologie auf mathematisch-metapysischem Weg zu erschaffen haben werden. Sind KANTs Lehren von Raum und Zeit, auch nur die ersten Winke, denen, einerseits, wissenschaftliche Lehrsätze über diese so hochwichtigen Formen, nicht etwa bloß des gemeinen Anschauens, sondern selbst des höchsten metaphysischen Denkens, andererseits aber eine genetische Erklärung der sinnlichen Auffassungen des Räumlichen und Zeitlichen, nachgeliefert werden müssen: so ist dennoch diese ebenso weitläufig als schwierige Arbeit durch KANT begonnen, wenigstens für unsere Zeit, die ohne ihn vielleicht nur in immer tieferes Vergessen der früheren Andeutungen der Alten versunken wäre. Von KANTs Versuchen zur Erörterung der ästhetischen Hauptbegriffe mag es zweifelhaft scheinen, ob dadurch ein richtiger Weg für künftige Nachforschungen angedeutet sei, ich halte mich dabei nicht auf; da mir noch die unschätzbaren Verdienste unseres Verewigten um die Begründung der sittlichen und rechtlichen Begriffe, zu betrachten übrig sind. Zwar nicht in das Detail seiner Rechts- und Sittenlehre wollen wir ihm hierbei folgen. Er scheint, nach seinen Schriften zu urteilen, die speziellen moralischen Untersuchungen minder geliebt zu haben, als die rechtlichen; und wiederum war ihm das Rechtlich, wissenschaftlich genommen, lange nicht so geläufig als die Fragen nach den Quellen der Erkenntnis. Aber die ganze Stärke seines erhabenen Geistes sehen wir beschäftigt in  der  Sorge: für alle Sittengesetze den ersten Punkt der Verbindlichkeit, den wahren Grund der gefühlten Nötigung, die das Wort Pflicht ausdrückt, an den Tag zu bringen. Hier ist es vorzüglich, wo ihn jeder bewundert, - wo ihc ihn als meinen Wohltäter ehre. Welch gesunder, welch ein reiner Geist, ja man möchte sagen, welcher höhere Antrieb hat es ihm eingegeben, sich jener Glückseligkeitslehre entgegenzustemmen, die, während sie sich im äußerlichen Leben gar freundlich und gesittet anstellte, in den Tiefen des Herzens die Gesinnungen verdarb; indem sie durch ihre Spitzfindigkeiten das wärmste Wohlwollen und die reinste Rechtlichkeit so überredend in den Verdacht des Eigennutzes brachte, daß die besten Menschen ihr eigenes Gemüt zu verkennen Gefahr liefen. Von diesem Unheil hat KANT die neuere Zeit erlöst; und es ist ihre Schmach, wenn sie je dahin zurückkehrt. Welcher Scharfsinn, welche Beharrlichkeit des Forschens muß ihn auf den hoch hervorragenden, in seiner völligen Bestimmtheit ewig wahren Gedanken geführt haben, zwischen den sämtlichen materialen Prinzipien des Wollens einerseits und den formalen andererseits, gleichsam eine eherne Mauer aufzuführen und den letzteren ganz ausschließend die Begründung des Sittlichen anheim zu geben. Und wahrhaft erhaben ist bei  diesem  Forscher, daß Er, der mächtige Kritiker, gewohnt überall vorzudringen mit der Frage: Woher diese Gewißheit? - jede Frage schweigen hießt, wenn es auf die Anerkennung des ursprünglichen Gebots, als einer Tatsache, ankam, die schlechthin für sich selbst feststeht; und als solche von der Reflexion vorgefunden wird. Mögen andere der gebietenden Form wegen mit ihm rechten;  das  ehre ich, daß er die praktische Vernunft, rein unwissend in aller Theorie, ihr Machtwort ganz unbegleitet aussprechen läßt; daß er sie, noch völlig unbekümmert um das Sein, die Rede anheben läßt vom Sollen.

Gedenke ich dieser und der verwandten Gegenstände: dann vorzüglich lebhaft wandelt es mich an, während ich diese Gebäude, diese Plätze betrachte wo er dahein war, diese Stelle wo Er lehrte; - daß ich ihn sprechen möchte, den hochehrwürdigen Greis! Sie, verehrteste Anwesende, haben ihn großenteils gesprochen, sind ihm ganz nahe gewesen. Sie mögen es besser wissen als ich, ob seine Manen [Geister der Toten - wp] mir zürnen können wegen manches freimütigen Worts, das ich hier, an seinem Geburtstage, bei der ihm gewidmeten Feier, auszusprechen nicht angestanden habe. Ich hoffen, Nein! Wer denn wußte besser, als Er was  Überzeugung  ist? Und wer hätte sicherer als Er, ein hohles Lob, aus unwahrem Mund, verschmäht und verachtet? - Aber freilich, nur aus seinen Schriften konnte ich schöpfen; Sie hingegen besitzen die Erinnerung an seine Person, an den Klang seiner Stimmte, an den Reichtum seines Gesprächs, die Ergiebigkeit seiner Laune, an seine Milde, seine beständige Heiterkeit. Erhalten Sie diese Erinnerungen! Mögen die Erzählungen von ihm sich auf Kinder und Enkel vererben! Und möchte es mir gelingen, seinen Schriften edle Jünglinge zuzuführen, die fähig seien, ihm in die Sphäre seiner Betrachtungen, in seine neue Heimat, zu folgen! Ein Monument ist ihm so eben von Freundes Hand gesetzt, wir werden es sehen; nur lebhafter wird es uns mahnen an die Monumente, die er sich selbst setzte. Möge niemand und niemals, das eine betrachten, ohne zu den anderen sich hingewiesen zu fühlen! Freilich nicht so schnell mit  einem  Blick, wie jenes umfaßt wird, lassen die anderen ihren Umriß, ihre bedeutenden Züge erkennen. KANT hat der Nachwelt eine Aufforderung hinterlassen, den höchsten Ernst der Studien nicht zu scheuen und der Wahrheit mit einem Eifer zu huldigen, den nur die heiligste Liebe entzünden kann. Aber kein undurchdringliches Dunkel deckt seine Werke. Das ist ein Vorurteil, wenn die besseren Köpfe, wenn selbst geübte Freunde der Wissenschaften sich fürchten, seine Spur zu betreten. Überall bleibt diese Spur beleuchtet von einem Strahl desselben Tageslichts, bei dem wir alle sehen; die Erfahrung ist's, die, wenn schon manchmal nur durch Gegensatz, ihm den Stoff des Denkens bestimmt; ja diese irdische Welt, die zu beschauen so mancher kostbare Reisen macht, sie war dem Niegereisten weit und breit bekannt. Sorge denn niemand, saß sich der tiefe Forscher in keinem Punkt vom gemeinen Denken der Menschen berühren lassen werde. Vielmehr, sein klares Auge sah die Gesamtheit der menschlichen Angelegenheiten und sein Interesse war und blieb bei seinen Brüdern, wohin immer der Zusammenhang weitgreifender Untersuchungen ihn führen mochte. Hiervon begegnen uns in allen Teilen seiner Werke die freundlichsten Zeichen. Nur nicht verloren in den Räumen der Erfahrungswelt, war der Sinn des weisen Mannes; es fanden zwei verschiedene Welten gleich viel Platz in seinem Geist, sein Beispiel offenbart, gleich dem des ARISTOTELES was alles eines Menschen Kraft umfassen, lernen, denken und ergründen kann!
LITERATUR      Johann Friedrich Herbart - Rede, gehalten an Kants Geburtstag, den 22. April 1810 in Herbart, Sämtliche Werke 3, Langensalza 1888