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IMMANUEL KANT
(1724-1804)
Prolegomena ...
Anhang zur reinen Naturwissenschaft
[5/9]

    Einleitung
Vorerinnerung
Der transzendentalen Hauptfrage - erster Teil
Der transzendentalen Hauptfrage - zweiter Teil
Anhang zur reinen Naturwissenschaft
Der transzendentalen Hauptfrage - dritter Teil
Beschluß
Auflösung der allgemeinen Frage
Anhang von dem geschehen kann, um ...

"Bei einer Untersuchung der reinen (nichts Empirisches enthaltenden) Elemente der menschlichen Erkenntnis gelang es mir allererst nach langem Nachdenken, die reinen Elementarbegriffe der Sinnlichkeit (Raum und Zeit) von denen des Verstandes mit Zuverlässigkeit zu unterscheiden und abzusondern."


§ 39.
Anhang zur reinen Naturwissenschaft
Vom System der Kategorien

Es kann einem Philosophen nichts erwünschter sein, als wenn er das Mannigfaltige der Begriffe oder Grundsätze, die sich ihm vorher durch den Gebrauch, den er von ihnen  in concreto  gemacht hatte, zerstreut dargestellt hatten, aus einem Prinzip  a priori  ableiten und alles auf solche Weise in eine Erkenntnis vereinigen kann. Vorher glaubte er nur, daß, was ihm nach einer gewissen Abstraktion übrig blieb und, durch Vergleichung untereinander, eine besondere Art von Erkenntnissen auszumachen schien, vollständig gesammelt sei, aber es war nur ein  Aggregat;  jetzt weiß er, daß gerade nur so viel, nicht mehr, nicht weniger, die Erkenntnisart ausmachen könne und sah die Notwendigkeit seiner Einteilung ein, welches ein Begreifen ist und nun hat er allererst ein  System

Aus der gemeinen Erkenntnis die Begriffe heraussuchen, welche gar keine besondere Erfahrung Grunde liegen haben und gleichwohl in aller Erfahrungserkenntnis vorkommen, von der sie gleichsam die bloße Form der Verknüpfung ausmachen, setzte kein größeres Nachdenken oder mehr Einsicht voraus, als aus einer Sprache Regeln des wirklichen Gebrauchs der Wörter überhaupt heraussuchen und so Elemente zu einer Grammatik zusammentragen (in der Tat sind beide Untersuchungen einander auch sehr nahe verwandt), ohne doch eben Grund angeben zu können, warum eine jede Sprache gerade diese und keine andere formale Beschaffenheit habe, noch weniger aber, daß gerade so viel, nicht mehr noch weniger, solcher formalen Bestimmungen derselben überhaupt angetroffen werden können.

ARISTOTELES hatte zehn solcher reiner Elementarbegriffe unter dem Namen dern Kategorien (1) zusammengetragen. Diesen, welche auch Prädikamente genannt wurden, sah er sich hernach genötigt, noch fünf Postprädikamente beizufügen, (2) die doch zum Teil schon in jenen liegen (als  prius, simul, motus);  allein diese Rhapsodie konnte mehr für einen Wink für den künftigen Nachforscher, als für eine regelmäßig ausgeführte Idee gelten und Beifall verdienen; daher sie auch bei mehrerer Aufklärung der Philosophie als ganz unnütz verworfen worden.

Bei einer Untersuchung der reinen (nichts Empirisches enthaltenden) Elemente der menschlichen Erkenntnis gelang es mir allererst nach langem Nachdenken, die reinen Elementarbegriffe der Sinnlichkeit (Raum und Zeit) von denen des Verstandes mit Zuverlässigkeit zu unterscheiden und abzusondern. Dadurch wurden nun aus jenem Register die 7., 8., 9. Kategorie ausgeschlossen. Die übrigen konnten mir nichts nutzen, weil kein Prinzip vorhanden war, nach welchem der Verstand völlig ausgemessen und alle Funktionen desselben, daraus eine reinen Begriffe entspringen, vollzählig und mit Präzision bestimmt werden könnten.

Um aber ein solches Prinzip auszufinden, sah ich mich nach einer Verstandeshandlung um, die alle übrigen enthält und sich nur durch verschiedene Modifikationen oder Momente unterscheidet, das Mannigfaltig der Vorstellung unter die Einheit des Denkens überhaupt zu bringen und da fand ich, diese Verstandeshandlung bestehe im Urteilen. Hier lag nun schon fertige, obgleich noch nicht ganz von Mängeln freie Arbeit der Logiker vor mir, dadurch ich in den Stand gesetzt wurde, eine vollständige Tafel reiner Verstandesfunktionen, die aber in Ansehung alles Objekts unbestimmt waren, darzustellen. Ich bezog endlich diese Funktionen zu urteilen auf Objektie überhaupt oder vielmehr auf die Bedingung, Urteile als objektiv-gültig zu bestimmten und es entspranden reine Verstandesbegriffe, bei denen ich außer Zweifel sein konnte, daß gerade nur diese und ihrer nur so viel, nicht mehr noch weniger, unsere ganze Erkenntnis der Dinge aus bloßem Verstand ausmachen können. Ich nannte sie, wie billig, nach ihrem alten Namen  Kategorien wobei ich mir vorbehielt, alle von diesen abzuleitende Begriffe, es sei durch Verknüpfung untereinander oder mit der reinen Form der Erscheinung (Raum und Zeit), oder mit ihrer Materie, sofern sie noch nicht empirisch bestimmt ist, (Gegenstand der Empfindung überhaupt), unter der Benennung der  Prädikabilien  [Gattung, Art, Unterschied, Eigenschaft, Zustand - wp] vollständig hinzuzufügen, sobald ein System der transzendentalen Philosophie, zu deren Behuf ich es jetzt nur mit der Kritik der Vernunft selbst zu tun hatte, zustande kommen sollte.

Das Wesentliche aber in diesem System der Kategorien, dadurch es sich von jener alten Rhapsodie, die ohne alles Prinzip fortging, unterscheidet und warum es auch allein zur Philosophie gezählt zu werden verdient, besteht darin, daß vermittels derselben die wahre Bedeutung der reinen Verstandesbegriffe und die Bedingung ihres Gebrauches genau bestimmt werden konnte. Denn da zeigte es sich, daß sie für sich selbst nichts als logische Funktionen sind, als solche aber nicht den mindesten Begriff von einem Objekt an sich selbst ausmachen, sondern es bedürfen, daß sinnliche Anschauung zum Grunde liege und alsdann nur dazu dienen, empirische Urteile, die sonst in Ansehung aller Funktionen zu urteilen unbestimmt und gleichgültig sind, in Ansehung derselben zu bestimmen, ihnen dadurch Allgemeingültigkeit zu verschaffen und vermittels ihrer  Erfahrungsurteile  überhaupt möglich zu machen.

Von einer solchen Einsicht in die Natur der Kategorien, die sie zugleich auf den bloßen Erfahrungsgebrauch einschränkte, ließ sich weder ihr erster Urheber, noch irgendeiner nach ihm etwas einfallen; aber ohne diese Einsicht (die ganz genau von der Ableitung oder Deduktion derselben abhängt) sind sie gänzlich unnütz und ein elendes Namensregister, ohne Erklärung und Regel ihres Gebrauchs. Wäre dergleichen jemals den Alten in den Sinn gekommen, ohne Zweifel das ganze Studium der reinen Vernunfterkenntnis, welches unter dem Namen Metaphysik viele Jahrunderte hindurch so manchen guten Kopf verdorben hat, wäre in ganz anderer Gestalt zu uns gekommen und hätte den Verstand der Menschen aufgeklärt, anstatt ihn, wie wirklich geschehen ist, in düsteren und vergeblichen Grübeleien zu erschöpfen und für wahre Wissenschaft unbrauchbar zu machen.

Dieses System der Kategorien macht nun alle Behandlung eines jeden Gegenstandes der reinen Vernunft selbst wiederum systematisch und gibt eine ungezweifelte Anweisung oder Leitfaden ab, wie und durch welche Punkte der Untersuchung jede metaphysische Betrachtung, wenn sie vollständig werden soll, müsse geführt werden; denn es erschöpft alle Momente des Verstandes, unter welche jeder andere Begriff gebracht werden muß. So ist auch die Tafel der Grundsätze entstanden, von deren Vollständigkeit man nur durch das System der Kategorien gewiß sein kann und selbst in der Einteilung der Begriffe, welche über den physiologischen Verstandesgebrauch hinausgehen sollen (Kritik Seite 325), (3) ist es immer derselbe Leitfaden, der, weil er immer durch dieselben festen, im menschlichen Verstand  a priori  bestimmten Punkt geführt werden muß, jederzeit einen geschlossenen Kreis bildet, der keinen Zweifel übrig läßt, daß der Gegenstand eines reinen Verstandes- oder Vernunftbegriffs, sofern er philosophisch und nach Grundsätzen  a priori  erwogen werden soll, auf solche Weise vollständig erkannt werden könne. Ich habe sogar nicht unterlassen können, von dieser Leitung in Ansehung einer der abstraktesten ontologischen Einteilungen, nämlich der mannigfaltigen Unterscheidung der  Begriffe von Etwas und Nichts  Gebrauch zu machen und danach eine regelmäßige und notwendige Tafel (Kritik Seite 289) (4) zustande zu bringen. (5)

Eben dieses System zeigt seinen nicht genug anzupreisenden Gebrauch, so wie jedes auf ein allgemeines Prinzip gegründetes wahres System, auch darin, daß es alle fremdartigen Begriffe, die sich sonst zwischen jene reinen Verstandesbegriff einschleichen möchten, ausstößt und jeder Erkenntnis seine Stelle bestimmt. Diejenigen Begriffe, welche ich unter dem Namen der  Reflexionsbegriff  gleichfalls nach dem Leitfaden der Kategorien in eine Tafel gebracht hatte, mengen sich in der Ontologie, ohne Vergünstigung und rechtmäßige Ansprüche, unter die reinen Verstandesbegriffe, obgleich diese Begriffe der Verknüpfung und dadurch des Objekts selbst, jene aber nur der bloßen Vergleichung schon gegebener Begriffe sind und daher eine ganz andere Natur und Gebrauch haben; durch meine gesetzmäßige Einteilung (Kritik Seite 268) (6) werden sie aus diesem Gemenge geschieden. Noch viel heller aber leuchtet der Nutzen jener abgesonderten Tafel der Kategorien in die Augen, wenn wir, wie es gleich jetzt geschehen wird, die Tafel transzendentaler Vernunftbegriffe, die von ganz anderer Natur und Ursprung sind, als jene Verstandesbegriffe, (daher auch eine andere Form haben muß) von jenen trennen, welche so notwendige Absonderung doch niemals in irgendeinem System der Metaphysik geschieden ist, jene Vernunftideen mit Verstandesbegriffen, als gehörten sie wie Geschwister zu einer Familie, ohne Unterschied durcheinander laufen, welche Vermengung in Ermangelung eines besonderen Systems der Kategorien auch niemals vermieden werden konnte.

LITERATUR: Immanuel Kant - Prolegomena einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, J. H. von Kirchmann (Hrsg), Heidelberg 1882
    Anmerkungen
    1) 1. Substantia (Substanz) - 2. Qualitas (Eigenschaft) - 3. Quantitas (Größe) - 4. Relatio (Verhältnis) - 5. Actio (Handlung) - 6. Passio (Leiden) - 7. Quando (Wenn) - 8. Ubi (Wo) - 9. Situs (Lage) - 10. Habitus (Zustand)
    2) Oppositum (Gegensatz) - Prius (Vorher) - Simul (Zugleich) - Motus (Bewegung) - Habere (Haben)
    3) Die beiden Tafeln im Hauptstück "von den Paralogismen der reinen Vernunft" und im ersten Abschnit der Antinomie der reinen Vernunft: "System der kosmologischen Ideen."
    4) Am Schluß des Abschnitts "von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe"
    5) Über eine vorgelegte Tafel der Kategorien lassen sich allerlei artige Anmerkungen machen, als
      1) daß die dritte aus der ersten und zweiten in einen Begriff verbunden entspringe,
      2) daß in denen von der Größe und Qualität bloß ein Fortschritt von der Einheit zur Allheit oder vom Etwas zum Nichts (zu diesem Behuf müssen die Kategorien der Qualität so stehen:  Realität,  Einschränkung, völlige Negation) fortgehe, ohne  Korrelata  oder  Opposita,  dagegen die der Relation und Modalität diese letzteren bei sich führen,
      3) daß, so wie im  Logischen  kategorische Urteile allen anderen zum Grunde liegen, so die Kategorie der Substanz allen Begriffen von wirklichen Dingen,
      4) daß, so wie die Modalität im Urteil kein besonderes Prädikat ist, so auch die Modalbegriffe keine Bestimmung zu den Dingen hinzutun usw.; dergleichen Betrachtungen alle ihren großen Nutzen haben, zählt man überdem alle  Prädikabilien  auf, die man ziemlich vollständig aus jeder guten Ontologie (z. B. BAUMGARTENs) ziehen kann und ordnet sie klassenweise unter die Kategorien, wobei man nicht versäumen muß, eine so vollständige Zergliederung aller dieser Begriffe, als möglich, hinzuzufügen, so wird ein bloß analytischer Teil der Metaphysik entspringen, der noch gar keinen synthetischen Satz enthält und vor dem zweiten (dem synthetischen) vorhergehen könnte und durch seine Bestimmtheit und Vollständigkeit nicht allein Nutzen, sondern vermöge des Systematischen in ihm noch überdem eine gewisse Schönheit enthalten würde.
    6) Am Anfang des Abschnittes "von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe".