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HEINRICH RICKERT
Die Grenzen der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung

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Einleitung
Erstes Kapitel - Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt
I. Die Mannigfaltigkeit der Körperwelt
II. Die Bestimmtheit des Begriffs
III. Die Geltung des Begriffs
IV. Dingbegriffe und Relationsbegriffe
V. Die mechanische Naturauffassung
VI. Beschreibung und Erklärung

Zweites Kapitel - Natur und Geist
Drittes Kapitel - Natur und Geschichte
Viertes Kapitel - Die historische Begriffsbildung
Fünftes Kapitel - Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie

"Wir nehmen an, daß wir nicht nur empirisch allgemeine, sondern auch unbedingt allgemeine Urteile zu bilden imstande sind, d. h. Urteile, die für alle Vorgänge und Dinge gelten, wo und wann auch immer sie sich finden mögen. Daraus ergibt sich, daß die unendliche Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit durch eine Allgemeinheit der Urteile wohl zu überwinden ist. Wir nennen solche unbedingt allgemeinen Urteile, die etwas über die Wirklichkeit aussagen, Naturgesetze."

"Machen wir uns nur klar, daß jede Einzelgestaltung eine nie zu erschöpfende, also unendliche Mannigfaltigkeit hat. Da muß es, wenn wir voraussetzungslos an die Sache gehen, willkürlich sein, was wir aus dieser Mannigfaltigkeit herausgreifen, um ein Prinzip der Vergleichung der Dinge untereinander zu gewinnen. Jeder körperliche Vorgang ist einem anderen körperlichen Vorgang in unübersehbar vielen Beziehungen gleich und in ebenso vielen Beziehungen ungleich. Was dies übersehen läßt, ist der Umstand, daß uns durch die Wortbedeutungen, die wir besitzen, für gewöhnlich nur ein verschwindend kleiner Teil dieser Gleichheiten und Ungleichheiten ausdrücklich zu Bewußtsein kommt."

"Wir müssen nicht nur Gesetzesbegriffe bilden können, von denen jeder Einzelne eine unendliche Mannigfaltigkeit überwindet, sondern wir müssen auch voraussetzen, daß eine vollkommen übersehbare Reihe von Gesetzen alle Einzelgestaltungen der unendlichen Wirklichkeit umfaßt. Es wäre ja denkbar, daß es eine unendliche Anzahl ganz verschiedener Gesetzesbegriffe gebe und unter dieser Voraussetzung wäre wiederum eine Erkenntnis des Weltganzen auch nicht einmal annähernd erreichbar."

Erstes Kapitel
Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt

III.
Die Geltung des Begriffs

Wäre mit Begriffen, die den bisher dargestellten Anforderungen genügten, wirklich eine Überwindung der extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit der Dinge oder auch nur eine Annäherung an dieses Ziel möglich? Nehmen wir an, es gelänge der Wissenschaft, absolut einfache und bestimmte Begriffselemente zu finden, als das Ideal der formalen Logik vollständig zu erreichen, würde sie damit auch nur die intensive Mannigfaltigkeit irgendeiner Einzelgestaltung der Wirklichkeit vollständig zu überwinden imstande sein? Offenbar nicht, denn um die Erkenntnis eines Dings so zu Ende zu führen, daß keine unübersehbare Mannigfaltigkeit darin mehr unbegriffen bleibt, brauchen wir nicht nur einfache und bestimmte Begriffselemente, sondern auch eine vollkommen übersehbare, begrenzte Anzahl von ihnen, d. h. wir müssen, sollen wir einer abgeschlossenen Erkenntnis sicher sein, die Überzeugung gewinnen können, daß keine weitere Untersuchung des betreffenden Einzelobjekts uns nötigen wird, die Begriffselemente zu vermehren. Um uns aber einem solchen Zustand auch nur nähern zu können, bietet der Begriff, so weit wir ihn bisher kennen gelernt haben, kein Mittel. Und doch müssen wir einen solchen Zustand der Erkenntnis als Ziel aufstellen, dem wir uns wenigsten annähern können, wenn es überhaupt einen Fortschritt in der Erkenntnis geben soll. Ist also dieses Ziel notwendig vorhanden, so muß, damit unsere Begriffsbildung einen Weg in der Richtung auf dieses Ziel einschlagen kann, nocht etwas bisher Unbeachtetes zu den angegebenen Eigenschaften des wissenschaftlich brauchbaren Begriffes hinzutreten.

Daß das notwendig ist, wird uns noch klarer werden, wenn wir nicht nur die intensive, sondern auch gleich die extensive Mannigfaltigkeit der Dinge in Betracht ziehen. Ja, wir wollen uns zunächst einmal auf die Überwindung dieser extensiven Mannigfaltigkeit beschränken. Wir können das, da ja das Erkenntnisstreben der Naturwissenschaft in letzter Linie niemals auf das Einzelne, sondern immer auf das Ganze der Welt gerichtet ist. Nun wissen wir, daß die Körperwelt aus einer unendlichen Fülle von verschiedenen Gestaltungen besteht. Unsere Begriffe aber können wir immer nur an irgendeiner begrenzten Anzahl von Einzelgestaltungen bilden. Das Ganze kann seiner Natur nach niemals direkter Gegenstand der Untersuchung werden. Wir müssen daher voraussetzen, daß schon ein Teil der Welt uns über das Ganze Aufschluß gibt, d. h. uns ermöglicht, an ihm Begriffe zu bilden, die zur Erkenntnis des Ganzen dienen. Wie das möglich ist, fragen wir zunächst nicht. Wir begnügen uns auch hier mit dem Hinweis, daß ohne diese Möglichkeit jeder Versuch zu einer Erkenntnis des Weltganzen sinnlos wäre und daß zur Erreichung dieses Ziels die Begriffe, soweit wir sie bisher kennen, nicht ausreichen.

Wir hatten ja bisher immer nur die Vereinfachung einer Mannigfaltigkeit überhaupt behandelt. Sie war durch die allgemeinen und bestimmten Wortbedeutungen zu erreichen. Jetzt, wo wir die Mannigfaltigkeit der Welt wirklich im Sinne von Unerschöpflichkeit oder Unendlichkeit nehmen, muß klar werden, daß diese Vereinfachung durch die Begriffe nicht genügt, ja daß durch sie für die Überwindung der Unendlichkeit noch nichts geleistet ist. Die Allgemeinheit der Wortbedeutungen ist stets empirisch begrenzt. Die genaue Bestimmung ihres Inhalts durch Umsetzung in die Form von Urteilen ändert hieran nichts. Soll eine Überwindung der unendlichen Fülle der Erscheinungen möglich sein, so müssen wir Begriffe bilden können, unter deren Umfang notwendig eine unbegrenzte Anzahl von Einzelgestaltungen fällt. Nur wenn wir einen Weg sehen, zu solchen Begriffen zu kommen, können wir aus den früher angegebenen Gründen von einem Fortschritt in der Welterkenntnis reden. Sonst schrumpft jede naturwissenschaftliche Leistung gegenüber der unerschöpflichen Fülle der Erscheinungen zu vollkommener Bedeutungslosigkeit zusammen.

Etwas genauer können wir diesen Gedanken formulieren, wenn wir daran erinnern, daß wir die Welt sowohl räumlich, als auch zeitlich unübersehbar denken. Wir machen also in der Naturwissenschaft die Voraussetzung, daß wir mit unseren Begriffen, die an einem uns naheliegenden Bruchstück der Welt gebildet sind, etwas erfaßt haben, das in sich jeder beliebigen Entfernung von uns wiederholt. Mit anderen Worten: unsere Begriffe müssen so gebildet sein, daß sie auf jede Gestaltung der Welt, wo auch immer im Raum sie sein möge, passen. Daraus ergibt sich, daß der Inhalt des Begriffs, der diesen Zweck erfüllt, selbst von jeder Bestimmung, die sich nur auf diesen oder jenen Raumteil bezieht, frei sein muß. Und genau ebenso verhält es sich mit der Zeit. Der Inhalt eines Begriffs, der zur Erfassung des Weltganzen dienen soll, darf nichts enthalten, das ihn an irgendeine bestimmte Zeit bindet. Erst dann gilt von ihm das Wort SCHOPENHAUERs, daß er frei von der Gewalt der Zeit ist. Es ist nicht einzusehen, wie die Begriffe, die nur die bisher betrachteten Eigenschaften besitzen, das, was hier verlangt wird, zu leisten vermögen.

Was aber fehlt der in der angegebenen Weise logisch bearbeiteten Wortbedeutung noch, damit sie das zur Überwindung der Unendlichkeit der Welt gesuchte Mittel wird? Was muß der Begriff noch für eine Eigenschaft besitzen, wenn er die Leistung zu Ende führen soll, die wir ihn in der Gestalt von unwillkürlich entstandenen Wortbedeutungen beginnen sahen? Um eine Antwort auf diese Frage zu gewinnen, wollen wir den Gedanken weiterführen, daß der wissenschaftlich brauchbare Begriff die Form von Urteilen haben oder genauer, jederzeit imstande sein muß, diese Form anzunehmen. Bisher haben wir es unentschieden gelassen, ob die Begriffsbestimmung auch den logischen Wert eines Urteils besitzt, d. h. ob sie unter den Gesichtspunkt gestellt werden kann, daß sie wahr sei. Ist, so wollen wir jetzt fragen, die Begriffsbestimmung wirklich ein Urteil oder täuscht, wie RIEHL (1) ausgeführt hat, ihre sprachliche Einkleidung uns über ihren eigentlichen Charakter?

Für den, der im Urteil nichts anderes. als die Verknüpfung einer Vorstellung mit einer anderen sieht, ist diese Frage bereits entschieden, denn für ihn ist es gar nicht möglich, einen Unterschied zwischen einem wirklichen Urteil und einem Gebilde, das nur die Form eines Urteils hat, zu machen. Die Unterscheidung von Begriff und Urteil hat dann lediglich die Bedeutung der sprachlichen Unterscheidung von Wort und Satz. Der logische Inhalt ist in beiden derselbe. (2) Anders aber liegt die Sache, wenn man meint, daß die bloße Vorstellungsverknüpfung noch kein Urteil sei, sondern daß zu ihr noch ein Akt der Bejahung oder Verneinung hinzutreten müsse und daß in diesem nicht vorstellungsmäßigen, sondern "praktischen" Element das dem Urteil Wesentliche stecke. Dann kann man in der Tat fragen, ob der Begriff aus Urteilen besteht.

Zunächst kommt es darauf an, den Sinn dieser Frage genau festzustellen. Daß ein Unterschied zwischen Urteil und Begriff vorhanden ist, muß von vornherein zugegeben werden. Selbstverständlich ist der Begriff nur fähig, in Urteile sich zu verwandeln und er enthält als Begriff diese Urteile nicht ausdrücklich vollzogen. Aber, auch wenn wir davon absehen, so wird das Problem noch durch den Umstand kompliziert, daß auch in der sprachlich vollzogenen Begriffsbestimmung, der Definition, (3) die Urteile, welche den Begriff bilden, meist nicht einzeln wirklich zum Ausdruck kommen, sondern in einen Satz zusammengefaßt sind und zwar so, daß dieser Satz direkt nicht den Inhalt des Begriffs, sondern die Bedeutung des mit dem Begriff verknüpften Wortes angibt. Doch auch das ist wohl selbstverständlich, daß die Bedeutungsangabe des Wortes nicht das Urteil ist, das für uns in Frage kommt. Die Hauptschwierigkeit liegt vielmehr darin, daß, auch wenn die Urteile, die den Inhalt des Begriffes angeben, ausdrücklich vollzogen werden, man meinen kann, die Begriffsbildung bestehe lediglich in einer Zusammenstellung von Begriffselementen oder Merkmalen, ohne daß dadurch schon irgendetwas über die wissenschaftliche Bedeutung gerade dieser Zusammenstellung ausgesagt würde.

Nun wird gewiß niemand leugnen, daß es möglich ist, Begriffselemente oder Merkmale ohne Zweck einfach zusammenzustellen und daß solche Begriffsbildungen nur die Form von Urteilen haben, ist selbstverständlich. Dieser Umstand aber darf uns den wesentlichen Punkt nicht verhüllen. Wir behandeln die Logik hier nur als Wissenschaftslehre und den Begriff nur insoweit, als er ein bedeutungsvolles Glied in einem wissenschaftlichen Zusammenhang ist und da ist die Möglichkeit einer Begriffsbildung durch Zusammenstellen von Merkmalen ohne logischen Zweck für unser Problem von keiner wesentlichen Bedeutung. Wir haben vielmehr zu fragen, ob die Wissenschaft nicht die Aufgabe hat, Begriffe zu bilden, die ihrem logischen Wert nach Urteilen gleichzusetzen sind. Solche Begriffe würden dann unter den Gesichtspunkt der Wahrheit gestellt werden können und sie müßten, wenn wir annehmen, daß wahr nur eine Bejahung oder Verneinung sein kann, die dem Urteil wesentliche Beurteilung, wenn auch nicht explizit, so doch implizit, enthalten.

In unserem Zusammenhang kommt es darauf an, zu zeigen, daß nur dann, wenn wir die Begriffe, um einen auch von RIEHL (4) früher gebrauchten Ausdruck zu benutzten, als "potientielle Urteile" auffassen, sie fähig sind, die Unendlichkeit der anschaulichen Welt wirklich zu überwinden. Warum nur Urteile zu dieser Überwindung geeignet sind, ist nach den vorangegangenen Ausführungen leicht zu ersehen.

Wir wissen, daß die Voraussetzung der höchsten Leistung des naturwissenschaftlichen Begriffs darin besteht, daß er von räumlichen und zeitlichen Bestimmungen frei ist, um so auf jede Gestaltung der Wirklichkeit zu passen, welche räumlichen und zeitlichen Bestimmungen sie auch haben möge. Er muß, mit anderen Worten, nicht nur empirische, sondern unbegrenzte Allgemeinheit besitzen. Die Allgemeinheit der Wortbedeutungen aber, mit deren Hilfe wir eine gegebene Mannigfaltigkeit vereinfachen konnten, ist, solange die Bedeutung noch in direkter Beziehung zur Anschauung steht, immer empirisch begrenzt und es ist nicht einzusehen, wie eine unbestimmte, anschaulich repräsentierte oder auch eine in die bloße Form von Urteilen umgesetzte Wortbedeutung jemals mehr als empirisch allgemein werden sollte. Vorstellungsmäßige Gebilde können daher nicht nur wegen ihrer Unbestimmtheit, wie wir das schon früher sahen, sondern auch wegen ihrer lediglich empirischen Allgemeinheit den letzten Zwecken der Naturwissenschaft nicht genügen.

Völlig anders aber, als die allgemeinen Vorstellungen, verhalten sich die allgemeinen Urteile dieser Erkenntnisaufgabe gegenüber. Wir nehmen an, daß wir nicht nur empirisch allgemeine, sondern auch unbedingt allgemeine Urteile zu bilden imstande sind, d. h. Urteile, die für alle Vorgänge und Dinge gelten, wo und wann auch immer sie sich finden mögen. Daraus ergibt sich, daß die unendliche Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit durch eine Allgemeinheit der Urteile wohl zu überwinden ist. Wir nennen solche unbedingt allgemeinen Urteile, die etwas über die Wirklichkeit aussagen, Naturgesetze. Wir können daher jetzt auch sagen, daß wir eine unendliche Fülle von Einzelgestaltungen im unendlichen Raum und in der unendlichen Zeit in einem Begriff nur unter der Voraussetzung erfassen werden, daß sein Inhalt aus Urteilen bestehen, in denen ein Naturgesetz zum Ausdruck kommt. Denn nur in diesem Fall kann davon die Rede sein, daß ein Begriff unbedingt allgemeine Geltung für die Wirklichkeit hat.

Wir können also jetzt, soweit es sich um die Erkenntnis des Weltganzen, d. h. um die Überwindung der extensiven Mannigfaltigkeit der Welt handelt, sagen: Mit Begrifen, die eine bloße Zusammenstellung von Merkmalskomplexen sind, kann nur die Klassifikation irgendeines eng begrenzten, übersehbaren Teils der Wirklichkeit versucht werden. Eine die ganze Welt umfassende Klassifikation mit Hilfe solcher Merkmalskomplexe wäre nur möglich, wenn wir alle Gestaltungen der Welt einzeln kennen würden, d. h. uns im Besitz jenes, wie wir gesehen haben, nicht einmal annäherungsweise erreichbaren Ideals eines vollständigen Weltbildes befänden. So wenig jenes Ideal annäherungsweise erreichbar ist, so wenig kann die Naturwissenschaft eine bloße Klassifikation der Welt auch nur anstreben, wenn sie sich selbst versteht. Ein wertvolles Glied in den auf die Erkenntnis des Ganzen der Körperwelt gerichteten Bestrebungen kann vielmehr eine Wissenschaft nur sein, wenn sie schon in den ersten Ansätzen zu den Bildungen ihrer Begriffe das endgültige Ziel aller Naturwissenschaft im Auge, die Einsicht in die naturgesetzliche Notwendigkeit der Dinge. Hat sie aber dieses Ziel im Auge, dann wird sie überall die rein klassifikatorische Begriffsbildung sobald wie möglich zu verlassen streben, d. h. sie wird sich niemals bei Begriffen begnüngen, die bloße Merkmalskomplexe sind, sondern es wird jede Zusammenfassung von irgendwelchen Elementen zu einem Begriff immer unter der Voraussetzung geschehen, daß die zusammengefaßten Elemente entweder direkt in einem naturgesetzlich notwendigen, d. h. unbedingt allgemeingültigen Zusammenhang stehen oder in ihrer Zusammenstellung wenigstens Vorstufen zu solchen Begriffen abgeben, in denen ein naturgesetzlich notwendiger Zusammenhang zum Ausdruck kommt. Das ist bei aller wertvollen wissenschaftlichen Begriffsbildung gewissermaßen die stillschweigende Voraussetzung. Es werden daher bei ihr nicht nur Vorstellungsbeziehungen lediglich vorgestellt, sondern implizit, zumindest versuchsweise oder vorläufig, bejaht oder verneint. Sobald wir nur voraussetzen, daß die Begriffe schon in ihrer primitivsten Form zum Zwecke der wissenschaftlichen Erkenntnis des Weltganzen beitragen wollen, ist also von ihnen das für das Urteil charakteristische Moment der Beurteilung jedenfalls nicht zu loszulösen.

Wie aber steht es, wenn wir von einer Erkenntnis des Weltganzen absehen und nur die Begriffsbildung ins Auge fassen, die bei der wissenschaftlichen Bearbeitung eines begrenzten Ausschnittes der Wirklichkeit, eines extensiv überschaubaren Gebietes, eine Rolle spielt. Liegt hier die Sache nicht anders? Sind hier die Begriffe nicht bloße Merkmalskomplexe, ohne ein Element der Beurteilung zu enthalten?

Wir sahen, daß die Begriffe dann bloße Merkmalskomplexe sein würden, wenn sie nur der Klassifikation dienten und es mag nun wohl vorkommen, daß eine rein klassifikatorische Begriffsbildung auch als Ziel auf irgendeinem Gebiet der Naturwissenschaft in Angriff genommen wird. Aber abgesehen davon, daß solche Klassifikationen fast immer nur ein vorläufiger Notbehelf sein werden, entziehen sich auch diese Fälle unserer Theorie nicht, wenn sie nur zu wirklich wissenschaftlicher Arbeit in irgendwelcher Beziehung stehen. Es gibt ja bei genauerer Betrachtung im Grunde doch kein wissenschaftliches Gebiet, auf dem die Begriffsbildung ganz ausschließlich der Klassifikation dient. Jedenfalls ist eine rein willkürliche Klassifikation ohne jeden wissenschaftlichen Wert. Was heißt aber willkürliche Klassifikation? Eine bloße Klassifikation kann immer nur mit Rücksicht auf eine Theorie vorgenommen werden oder es wird wenigstens durch die Bildung eines Begriffs und durch die Zusammenfassung der einzelnen Dinge und Vorgänge unter ihn immer schon der Anfang zu einer Theorie dieser Dinge oder Vorgänge gemacht. Dann aber ist die Zusammenstellung gerade dieser Begriffselemente in Rücksicht auf die Theorie notwendig und der Inhalt des Begriffs ist somit nicht nur eine bloße Vorstellungsbeziehung, sondern es wird implizit diese Beziehung als wahr beurteilt. Die Begriffsbildung und natürlich auch der Begriff sind also in diesem Falle, wo es sich nur um die Erkenntnis eines Teils der Wirklichkeit handelt, ebenfalls einem Urteil logisch äquivalent.

Die überzeugendste Fassung können wir diesem Gedankengang vielleicht dadurch geben, daß wir wieder das an den Einzelgestaltungen und Vorgängen der Wirklichkeit ausdrücklich in Betracht ziehen, was wir als ihre intensive Unendlichkeit bezeichnet haben. Nehmen wir an, daß uns eine völlig übersehbare Reihe von Dingen gegeben sei, die wissenschaftlich zu klassifizieren unsere Aufgabe wäre. Wenn wir uns ohne irgendwelche Voraussetzungen an diese Arbeit machen könnten, so würden wir finden, daß uns auch bei einer übersehbaren Anzahl von Dingen eine unübersehbare Anzahl von Prinzipien für die Klassifikation dieser Dinge zur Verfügung stände und wir würden ohne weiteres nicht wissen, welches Prinzip wir wählen sollen. Das klingt sonderbar und ist doch unzweifelhaft richtig. Machen wir uns nur klar, daß auch jede Einzelgestaltung eine nie zu erschöpfende, also unendliche Mannigfaltigkeit hat. Da muß es, wenn wir voraussetzungslos an die Sache gehen, willkürlich sein, was wir aus dieser Mannigfaltigkeit herausgreifen, um ein Prinzip der Vergleichung der Dinge untereinander zu gewinnen. Jeder körperliche Vorgang ist einem anderen körperlichen Vorgang in unübersehbar vielen Beziehungen gleich und in ebenso vielen Beziehungen ungleich. Was das übersehen läßt, ist der Umstand, daß durch die Wortbedeutungen, die wir besitzen, uns für gewöhnlich nur ein verschwindend kleiner Teil dieser Gleichheiten und Ungleichheiten ausdrücklich zu Bewußtsein kommt. Die Wortbedeutungen bewirken es daher auch, daß von den vielen möglichen Klassifikationen der Dinge stets nur ein kleiner Teil ausführbar ist. Wir müssen uns aber immer vergegenwärtigen, daß wir in den Wortbedeutungen die Wirklichkeit bereits in hohem Maß vereinfacht besitzen und daß dieser von wissenschaftlichen Gesichtspunkten aus zum größten Teil zufällig vollzogene Prozeß der Vereinfachung eigentlich überall erst der logischen Rechtfertigung bedürfte. Nicht nur müssen wir einen Grund dafür haben, daß wir unter den durch die natürlichen Wortbedeutungen möglichen Klassifikationen einer den Vorzug geben, sondern auch daß wir überhaupt eine von diesen Klassifikationen wählen und nicht eine aus der unübersehbaren Fülle, die sonst noch möglich wären. Doch brauchen wir diesen Gedanken nicht weiter zu verfolgen.

Wenn wir nur nicht vergessen, daß wir auch bei größter Einschränkung des Erkenntnisgebietes immer vor einer Unendlichkeit stehen, die durch die naturwissenschaftliche Begriffsbildung erst zu überwinden ist, so werden wir dadurch auch auf den Gedanken geführt werden müssen, daß die Erkenntnis eines Bruchstückes der Wirklichkeit keine prinzipiell andere Aufgabe ist, als die Erkenntnis des Weltganzen. Auch die intensive Unendlichkeit der Einzelgestaltungen bedarf zu ihrer Überwindung der unbedingten Allgemeinheit, die in den sogenannten Naturgesetzen zum Ausdruck kommt, weil nur ein unbedingt allgemeines Urteil die Willkür bei der Begriffsbildung beseitigt. Diese Naturgesetze fallen natürlich inhaltlich mit denen zusammen, die uns zur Überwindung der extensiven Mannigfaltigkeit der Welt dienen. Eine mehr als willkürlich Begriffsbildung überwindet in ihrer höchsten Vollendung stets beide Arten der Mannigfaltigkeit zugleich. Ist ein Einzelding völlig begriffen, so ist darin zugleich etwas erfaßt, das für das Weltganze gilt. In der Überwindung der intensiven Mannigfaltigkeit wird immer auch ein Stück der extensivehn Mannigfaltigkeit mit überwunden. Beide Prozesse sind nicht voneinander loszulösen. Man kann diesen Satz natürlich auch umkehren und sagen, daß eine wahrhaft wissenschaftliche begriffliche Erkenntnis eines Einzelvorgangs durchaus an ein Erkenntnisstreben, das auf das Ganze der Welt geht, gebunden ist, weil das unbedingt allgemeine Urteil auch für die Überwindung der intensiven Unendlichkeit jedes Einzelvorganges unentbehrlich ist.

So sehen wir, muß das Bestreben der Wissenschaft unter allen Umständen darauf ausgehen, Begriffe von wirklich unbedingt allgemeiner Geltung, d. h. Begriffe, die Naturgesetze aussagende Urteile enthalten, zu schaffen. Gewiß bildet die Beziehung der Welt der Bedeutungen auf die Welt der Anschauungen unser Erkennen, wenigstens so weit es sich um ein Erkennen im Sinne der Naturwissenschaften handelt, aber gerade darum können die Bedeutungen nicht Vorstellungen, sondern müssen ihrem logischen Wert nach Urteile sein, die Gesetze entweder enthalten oder sie vorbereiten. Denn die Welt der Bedeutungen muß begrenzt sein im Gegensatz zur unbegrenzten Welt der Anschauungen und nur in Form des Gesetzes haben wir ein Begrenztes, das wir auf Unbegrenztes beziehen können. SO ergibt sich uns die letzte Eigenschaft der Begriffe, ihre unbedingt allgemeine Geltung, wiederum aus ihrem logischen Wesen, d. h. daraus, daß sie das Mittel zur Überwindung der unendlichen Mannigfaltigkeit der Welt sind. Der Umfang eines Gesetzesbegriffs schließt eine unübersehbare extensive Mannigfaltigkeit ein, der Inhalt sagt uns, was aus der unendlich intensiven Mannigfaltigkeit für die Erkenntnis in Betracht kommt und ermöglicht uns daher, auch diese Mannigfaltigkeit naturwissenschaftlich vollkommen zu übersehen.

Doch auch hiermit ist das Ideal der Begriffsbildung nicht ganz abgeschlossen. Wir müssen nicht nur Gesetzesbegriffe bilden können, von denen jeder Einzelne eine unendliche Mannigfaltigkeit überwindet, sondern wir müssen auch voraussetzen, daß eine vollkommen übersehbare Reihe von Gesetzen alle Einzelgestaltungen der unendlichen Wirklichkeit umfaßt. Es wäre ja denkbar, daß es eine unendliche Anzahl ganz verschiedener Gesetzesbegriffe gebe und unter dieser Voraussetzung wäre wiederum eine Erkenntnis des Weltganzen auch nicht einmal annähernd erreichbar. Doch ist hier nur eine Voraussetzung noch notwendig, die sich von der, daß wir überhaupt Gesetzesbegriffe bilden können, nicht prinzipiell unterscheidet. Die Gewißheit, daß es eine unübersehbare Reihe von Naturgesetzen gibt, ist möglich, wenn wir sozusagen eine Gesetzmäßigkeit der Gesetze annehmen, d. h. wenn wir imstande sind, einen letzten Gesetzesbegriff aufzustellen, der die verschiedenen Naturgesetze als seine Arten umfaßt oder genauer, wenn wir voraussetzen dürfen, daß wir die Gesetzmäßigkeit immer mehr zu vereinfachen imstande sind und uns dadurch dem einen letzten Gesetzesbegriff immer mehr annähern. Auf jeden Fall muß ein letzter Begriff als Abschluß gefordert werden und zwar aus rein logischen Gesichtspunkten. Es ist durchaus nicht richtig, daß eine solche Forderung nur einem ästhetischen Bedürfnis entspringt und daß eine Mehrzahl letzter Begriffe dem wissenschaftlichen Erkenntnisstreben genügen kann. Ergeben sich nämlich schließlich mehrere letzte Begriffe als rein Tatsächliches und Unbegreifliches, so können wir niemals wissen, ob nicht noch eine unbegrenzte Anzahl von neuen "letzten" Begriffen bei weiterer Forschung hinzutreten wird und eine Überwindung der unendlichen Mannigfaltigkeit ist dann durch nichts gewährleistet. Wissen wir dagegen, warum sich mehrere "letzte" Begriffe ergeben, dann ist jene Mehrheit gar nicht die letzte, sondern erst die vorletzte Stufe und im Wissen vom Grund einer Mehrheit von "letzten" Gesetzesbegriffen haben wir dann den einen wirklich letzten Begriff. Er paßt auf alle Einzelgestaltungen der Wirklichkeit, in ihm ist alle unübersehbare Mannigfaltigkeit überwunden.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung [Eine Einleitung in die historischen Wissenschaften], Freiburg i. Br./Leipzig 1896
    Anmerkungen
    1) Alois Riehl, Beiträge zur Logik
    2) Vgl. Wilhelm Windelband, Beiträge zur Lehre vom negativen Urteil, in den Straßburger Abhandlungen zur Philosophie, Seite 170f
    3) Das Wort "Definition" habe ich bisher absichtlich vermieden. Ich habe es früher als gleichbedeutend mit Begriffsbildung oder Begriffsbestimmung gebraucht, gebe aber Sigwart gern zu, daß man es besser für den sprachlichen Satz verwendet, der die Bedeutung zweier Ausdrücke gleichgesetzt. Sachlich werden übrigens dadurch die Ausführungen meiner Schrift zur Lehre von der Definition nur unwesentlich modifiziert, wenn sie nur, wie das hier geschieht, auf den naturwissenschaftlichen Begriff beschränkt bleiben.
    4) Vgl. ALOIS RIEHL, Kritizismus II, Seite 224