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System der Philosophie
Erstes Kapitel Begriff und Aufgabe der Philosophie I. Vom System der Philosophie Vor mehreren Jahrzehnten stellte ein vielgenannter Denker unserer Zeit seiner Metaphysik das Wort voran: es gelte in weiten Kreisen für eine ausgemachte Wahrheit, daß es mit den philosophischen Systemen ein für allemal vorbei sei. Diese Meinung ist trotz eines starken Wachsens der systematisch-philosophischen Interessen auch heute noch verbreitet. Der Versuch, ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der philosophischen Erkenntnis in seinen Umrissen darzulegen, wird daher gut tun, gleich am Anfang zu den antisystematischen Strömungen unserer Tage zumindest vorläufig Stellung zu nehmen. Sie lassen sich in verschiedenartiger Weise zum Ausdruck bringen, und ihre beliebtesten Formen seien angedeutet. "Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit." Damit sucht NIETZSCHE uns die Antisystematik sozusagen ins Gewissen zu schieben: das System soll Zeichen einer schlechten Gesinnung sein. Gewiß werden nicht alle sich die etwas philiströse Begründung zu eigen machen, die der moralfanatische "Immoralist" seiner Abneigung gegen Systeme gegeben hat, aber darum sind die antisystematischen Tendenzen, die auf eine Art des moralischen Mißtrauens hinauslaufen, in unserer Zeit nicht weniger stark. Von künstlerischer Seite sucht man sie ebenfalls zu stützen. Das System ist häßlich, erklärt man, da es als Produkt des Denkens mit der Anschaulichkeit der Welt zugleich ihre Schönheit zerstört. Gestalten wollen wir, nicht Begriffe, farbige Bilder, nicht blasse Abstraktionen. Das Schauen der Welt lassen wir nicht antasten. Ihre Schönheit bedeutet kein bloßes Gewand, hinter dem vom Denken erst das eigentliche "Wesen" gesucht werden müßte. "Man sagt bisweilen, daß Schönheit nur oberflächlich sei. Das mag sein. Aber sie ist wenigstens nicht so oberflächlich wie das Denken. Für mich ist Schönheit das Wunder der Wunder. Nur Flachköpfe urteilen nicht nach der Erscheinung (appearances). Das wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare ..." So äußert sich eine der Romanfiguren von OSCAR WILDE, der er manche seiner eigenen Überzeugungen in den Mund gelegt hat. Noch andere fürchten vom System eine Bedrohung der Religion. Wer systematisch die Welt als Ganzes erkennen will, behält nichts übrig, woran er noch glauben kann. Das System, das sich auf alles zu erstrecken sucht, was es gibt, greift damit auch in den Bereich des frommen Weltfühlens ein und wird gottlos. Der Mensch soll das Unerforschliche still verehren, nicht alles bereden wollen. Mit KANT möchte mancher das Wissen aufheben, um für den Glauben Platz zu bekommen, wobei dahingestellt bleiben mag, ob man sich dafür mit Recht auf KANT beruft. Unzweideutig in dieser Hinsicht war z. B. die Stellung KIERKEGAARDs. Sein Kampf gegen das System HEGEL ging, abgesehen von einem unselbständigen begrifflichen Apparat, aus der Sorge für das Heil seiner unsterblichen Seele hervor. Auf die "Existenz" des Denkers kam es ihm an, und sie schien ihm durch das System gefährdet. "Dasein ist selbst ein System für Gott, aber kann es nicht für einen existierenden Geist sein. System und Abgeschlossenheit entsprechen einander, aber Dasein ist gerade das Entgegengesetzte. Abstrakt gesehen läßt sich Dasein und System nicht zusammen denken, weil der systematische Gedanke, um das Dasein zu denken, es als aufgehoben, als nicht als Dasein denken muß. Das Dasein ist das Spatiierende [Zwischenraumschaffende - wp], das auseinanderhält, das Systematische ist die Abgeschlossenheit, die zusammenschließt." So heißt es in der abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den philosophischen Brocken KIERKEGAARDs, und auch dieser eigenartige Nachkomme der späteren Romantik hat heute Gesinnungsgenossen. Noch andere schließlich, und sie sind besonders zahlreich, spielen "das Leben" gegen die philosophische Systematik aus. Weil Systeme ein Ganzes geben wollen, müssen sie fertig und damit starr sein. Lebendiges Leben aber ist stets beweglich. So tötet das System die Lebendigkeit der Welt und ist deshalb zu verwerfen. Fast alles Denken der so zahlreichen Lebensphilosophen unserer Zeit trägt wie das der meisten Romantiker ein antisystematisches Gepräge. Das Fragment oder, wie man heute sagt, der Aphorismus wird gefeiert als schönste Blüte des "philosophischen" Geistes. Auf dem Weltanschauungs-Theater des Lebens soll man ein Stück nur in Stücken geben. Die Aufzählung solcher mehr oder weniger zeitgemäßen Motive ließe sich leicht vermehren. Doch kommen die antisystematischen Tendenzen, soweit sie außerwissenschaftlichen Charakter tragen, zunächst für uns nicht in Betracht. Vielleicht haben Moralisten, Ästheten, Gläubige und Lebenspropheten vom Standpunkt ihrer atheoretischen Weltanschauungen aus recht, und eine umfassende Philosophie, die, wenn auch nicht Weltanschauung, so doch Weltanschauungs lehre geben will, wird sich irgendwo und irgendwie mit ihnen auseinandersetzen. Aber theoretisch können sie nicht "recht" haben, wenn wir an die Bedeutung von "Theorie" denken, welche dieses Wort heute angenommen hat, und nach der das theoretische Verhalten in der Wissenschaft gipfelt. Am Beginn unseres Systemversuchs dürfen wir daher die außertheoretischen Tendenzen ignorieren. Sie sind nicht befugt, uns den Eintritt in das wissenschaftliche Gebiet zu verwehren. Erst nachdem wir dessen Schwelle überschritten haben und dann sehen, wie weit wir in den Fragen nach den "letzten Dingen" mit der Wissenschaft allein kommen, haben wir uns vom theoretischen Standpunkt aus mit den atheoretischen Strömungen abzufinden. Hier stellen wir uns mit bewußter Einseitigkeit in den Dienst der Wahrheit, die durch theoretisches Nachdenken zu erreichen ist. Wie jeder, der Wissenschaft treibt, setzen wir dabei voraus, daß die rein theoretische Betrachtung der Welt Eigenwert besitzt, und wer in ihrem Interesse nicht einmal Moral, Schönheit, Frömmigkeit und Lebendigkeit aufs Spiel setzt, wird es in der wissenschaftlichen Philosophie nicht weit bringen. Wo alles erkannt werden soll, gilt es - selbstverständlich theoretisch und insofern ganz ungefährlich - alles zu wagen. Fiat veritas, pereat vita! [Mag das Leben untergehen, wenn nur die Wahrheit siegt! - wp] Die atheoretischen Abneigungen gegen das System beiseite zu schieben, sind wir an dieser Stelle geradezu verpflichtet. Doch auch bei rein wissenschaftlichen Philosophen finden wir antisystematische Tendenzen, und zu ihnen müssen wir Stellung nehmen. Was bedeutet das System für die Wissenschaft vom Weltall? Das ist unsere erste Frage. Von hier aus suchen wir zunächst über den Begriff und die Aufgaben der Philosophie zur Klarheit zu kommen. Unter "systematischer" Philosophie versteht man heute oft nur die nicht-geschichtlichen Disziplinen, ohne dabei an ein System im eigentlichen Sinn zu denken. In das Ganze der philosophischen Erkenntnis wird höchstens eine "Einleitung" versucht, ja man glaubt meist an kein Ganzes mehr. Man kennt nur noch philosophische Sonderwissenschaften, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist. Bisweilen löst man alles in Logik und Erkenntnistheorie auf, oder falls man noch andere Teile der Philosophie anerkennt, bleiben es doch eben Teile, die als Ethik, Ästhetik, Metaphysik, Religionsphilosophie usw. neben einander stehen, ohne sich zu einem einheitlich gegliederten Organismus zusammenzufügen. So hat sich die ehemals geschlossene Philosophie in Spezialfächer aufgelöst. Das Ganze behandelt man höchsten als etwas Vorläufiges und Unabgeschlossenes. Man glaubt, darüber nicht hinausgehen zu dürfen. Solche Ansichten lassen sich in verschiedener Weise begründen und mehr oder weniger radikal gestalten. Oft wird im Interesse der Wissenschaftlichkeit vor allzu schnellem Fertigmachen gewarnt. Erst müsse das Fundament für den Aufbau in seiner ganzen Breite gelegt werden. Dazu aber reiche das Leben des einzelnen Forschers nicht aus. Das sei der Arbeit von Generationen zu überlassen, so daß der Abschluß des Systems stets zu verschieben ist, wobei sich wieder verschiedene Möglichkeiten von mehr oder weniger vorsichtigen Zukunftsprogrammen ergeben. Doch brauchen wir diese Gedanken nicht weiter zu verfolgen, da sie ja ein System nicht für immer ausschließen, sondern nur die Hoffnung auf seine baldige Ausführung nehmen wollen. Im übrigen bleibt gerade nach ihnen der Versuch zum Entwurf einer philosophischen Systematik eine dringend notwendige Aufgabe, denn anfangen muß man damit umso früher, je länger die Arbeit daran dauern wird. Uns interessiert erst die radikale Ablehnung, die das System der Philosophie für alle Zukunft verneint, und sie kann sowohl mit Rücksicht auf das erkennende Subjekt als auch mit Rücksicht auf das Objekt, das erkannt werden soll, begründet werden. Beides sei kurz vergegenwärtigt. Wer ein System anstrebt, sagt man, will etwas Unbedingtes und vergißt dabei, daß er selber als Forscher immer ein beschränktes Glied in einem überragenden Zusammenhang bleibt. Er ist gebunden an seine besondere seelische Verfassung, an seine individuelle Begabung, an seinen Charakter, an sein Temperament. Die Psychologie des erkennenden Subjekts kann das nach den verschiedensten Seiten ausführen, und eine Theorie der Weltanschauungen als psychischer Gebilde einzelner Menschen wird in Bezug auf den systematischen Abschluß des Wissens von der Welt sich umso skeptischer verhalten, je konsequenter sie ist. Sie sieht nur das eng begrenzte Seelenleben der Individuen in seiner Tatsächlichkeit. Von diesem Weltteil aus kann man nicht zum Ganzen vordringen wollen. Zu demselben Resultat muß die Reflexion darauf führen, daß jeder Philosoph abhängt von der historischen Bildungslage seiner Zeit, in die er hineinwächst, und durch deren Brille er alles sieht. Das geschichtliche Denken, für das alles im Fluß ist, kommt bei der Frage nach der Möglichkeit eines Systems vollends zu relativistischen Folgerungen. Weil sich die Philosophie wie alle menschliche Kultur ständig weiterentwickelt, enthält die Idee eines Systems, das abgeschlossen sein soll, geradezu einen Widersinn. Wir würden uns damit zum Stillstand oder zum wissenschaftlichen Tod verdammen. So glaubt man, eine Fülle von Argumenten dafür zu haben, es könne nur in einer bewußten Beschränkung auf unsystematisches Denken der Philosophi sich als Meister zeigen. Noch eindrucksvoller gestaltet sich in dieser Hinsicht vielleicht ein Blick auf das Weltall selbst, das die Philosophie zu ihrem Objekt macht. Die Wirklichkeit, wie wir sie heute kennen, erweist sich als so groß und reich, daß wir niemals hoffen dürfen, sie in das enge Netz des Denkens einzufangen. Jedes System will etwas zu Ende Gekommenes, Letztes darstellen. Deswegen muß es falsch sein. Wenn wir uns mit dem Erkennen nicht spezialwissenschaftlich auf Teile der Welt beschränken, sondern philosophisch auf das Ganze gehen, stehen wir vor einem Material, mit dem wir niemals fertig sein können. Nur wo das Denken arm und dürftig wird, läßt es sich zu etwas Letztem zusammenschließen. Systeme der Philosophie, wird man folgern, passen für die Zeit der jugendlichen Wissenschaft, als die Menschen noch wenig wußten vom Weltganzen, wie es wirklich ist, und es für einen begrenzten, geordneten, endlichen "Kosmos" hielten, der sich überschauen ließ. Aus dieser Vergangenheit stammt die Meinung, daß die Philosophie erst im System der Weltanschauung ihre Erfüllung findet. Heute, wo unser naturwissenschaftlicher und kulturhistorischer Horizont sich unermeßlich erweitert hat und ständig größer wird, sind alle Versuche eines systematischen Abschlusses unausführbar. Unsere Welt ist kein Kosmos mehr, wie die Griechen ihn dachten, d. h. keine fertige, geordnete Einheit. Deshalb kann es von ihr auch keine Wissenschaft geben, deren einheitliche und systematische Ordnung der Weltordnung entspricht. Schon bei dem Gedanken, daß die Wirklichkeit in Raum und Zeit unendlich ist, insofern als wir nirgends und niemals an ihre Grenze kommen, müssen wir gerade im Interesse der Vollständigkeit unserer Erkenntnis zufrieden sein, wenn es uns gelingt, den Reichtum des Lebens von möglichst vielen verschiedenen Seiten zu sehen, und uns immer neue Perspektiven und Horizonte offen halten. So allein werden wir dem Unendlichen gerecht. Es sind darin stets noch weitere Schritte möglich und daher auch wissenschaftlich notwendig. Nicht ein Mangel an Rechtschaffenheit also ist der Wille zum System, wohl aber das Zeichen eines bornierten Geistes. Nicht weil wir die Zerstörung der Schönheit, der Frömmigkeit, der moralischen oder religiösen "Existenz" oder der Lebendigkeit des Lebens fürchten, sondern aus rein theoretischen Gründen gilt: nur in der Bewegung, nicht in der Erstarrung zum System "lebt" die Wissenschaft, lebt vor allem die Philosophie, die sich nicht wie die Spezialdisziplinen auf begrenzte Teile beschränken darf. Systeme kann es immer nur für Stücke der Welt, nie für das Weltganze geben. So rechtfertigt sich die Vorliebe für den philosophischen Aphorismus theoretisch. Die Welt ist weit, das System ist eng. Daher weg mit der Systematik gerade aus der Weltwissenschaft. Die antisystematischen Strömungen sind Zeugen der höchsten wissenschaftlichen Tugend und befinden sich zugleich mit den außerwissenschaftlichen Abneigungen gegen das System, die wir angedeutet haben, in bester Harmonie. Der Fragmentist allein ist der rechte Philosoph. Also:
Kommst ja doch nicht allzu weit. Hinter jedem neuen Hügel Dehnt sich die Unendlichkeit. Nenne niemand dumm und säumig, Der das Nächste recht bedenkt. Ach, die Welt ist so geräumig, Und der Kopf ist so beschränkt. Jedenfalls werden wir in der Wissenschaft, also auch in der Philosophie, mit dem Material, das wir zu bearbeiten haben, nie ganz fertig, und durch diesen einfachen Gedanken wird eine besondere Art von philosophischer Systematik, die auch heute noch nicht ausgestorben ist, empfindlich getroffen. Stellt sich die Philosophie die Aufgabe, das Seiende wie andere Wissenschaften zu erkennen und doch nicht Spezialdisziplin zu bleiben, will sie also als hypothetische Allgemeinwissenschaft, die man auch dann "Metaphysik" nennt, wenn sie völlig unmetaphysisch verfährt, mit einem Schlag das erreichen, was für die Gesamtheit der Sonderdisziplinen ein stets in der Ferne liegendes Ziel ist: die abgeschlossene Erkenntnis der Wirklichkeitstotalität, dann kann sie durch den Hinweis auf die "Unendlichkeit" der Welt ad absurdum geführt werden. Sie darf nicht hoffen, mit unsicheren Vermutungen dort etwas zu leisten, wo das sichere Wissen der Einzelforscher aufhört. Niemals werden wir durch "metaphysische" Spekulationen eines Tages das Ganze unseres Wissens mit dem Ganzen der wirklichen Welt restlos zur Deckung bringen. In dieser Hinsicht bleiben wir stets bei etwas Unabgeschlossenem. Da gilt: das Vorletzte ist das Letzte, das eine wie die Spezialdisziplinen verfahrende und deren Ergebnisse verallgemeinernde Wirklichkeitserkenntnis jemals erreichen kann. Die Folgerung jedoch, daß ein System der Philosophie überhaupt unmöglich ist, brauchen wir darum nicht anzuerkennen. Sie entsteht aus einer unhaltbaren Auffassung vom Wesen der Wissenschaft im Allgemeinen, der Philosophie im Besonderen. Weil der Inhalt der Welt sich als unübersehbare und unerschöpfliche Mannigfaltigkeit erweist, muß darum der Welterkenntnis die Tendenz zum Abschluß fehlen? Gibt es nicht ein System der Begriffe, das für die Welt gilt, trotz der Unendlichkeit des anschaulichen Materials? Solche Fragen sind am Beginn der Philosophie zumindest offen zu halten. Es ist noch nicht ausgemacht, welches Verhältnis die Form des Systems als eines Denkgebildes zur Form der Welt hat, wie sie unabhängig davon besteht. Von einem Widerspiegeln des Weltganzen durch das Denken oder von einer "Weltanschauung" im wörtlichen Sinn als einer Anschauung, die sich mit der Welt mehr oder weniger genau deckt, braucht keine Rede zu sein. Ebensowenig ist es nötig, daß der Weltbegriff nach platonischem Muster wie eine Pyramide aufgebaut wird. Diese Form erscheint manchem freilich heute noch als die einzige selbstverständliche. Auf der breiten Basis der Empirie stehend soll das System sich zu einer und nur einer Spitze "monistisch" verjüngen und so das hinter der mannigfaltigen Erscheinungswelt liegende Einheitliche Weltwesen erfassen. Was vielgestaltet aussieht, ist einer solchen Ansicht nach im Grunde immer und überall dasselbe, z. B. "Wasser" oder "Atombewegung" oder "das Gute" oder "der Wille" oder ein "Empfindungskomplex" oder "Energie" oder "das Unbewußte" oder "das Leben". Weltformeln dieser Art sind vielleicht durchweg als einseitig und spezialistisch gerade von der universal und systematisch gerichteten Philosophie abzulehnen. Gibt es überhaupt ein einheitliches Weltwesen? Ist der Glaube daran nicht ein unwissenschaftliches Dogma? Das muß Problem bleiben. Aber auch wenn die Welt als Vielheit zu denken wäre, könnte dabei trotzdem ein "einheitliches", d. h. in sich zusammenhängendes Ganzes von Gedanken über sie, also ein philosophisches System entstehen. Lediglich eine allzu einfache Form der Systematik darf durch den Hinweis auf die unerschöpfliche Fülle des Weltinhaltes als widerlegt gelten. Wohl bereitet dieser Reichtum jedem System Schwierigkeiten. Unüberwindlich brauchen sie darum nicht zu sein. An ihrer Überwindung hat vielmehr die Philosophie dauernd zu arbeiten, und der Grund dafür, daß sie das Streben zum System nie aufgeben darf, ohne sich damit selbst aufzugeben, liegt gerade dort, wo man den Haupteinwand gegen alle Systematik sucht, nämlich in dem Umstand, daß die Welt, wie sie uns ohne System "gegeben" ist, sich nicht als geordneter "Kosmos", sondern als eine unübersehbare Mannigfaltigkeit darstellt. Man muß diesen Gedanken nur zu Ende denken, d. h. sich einmal darauf besinnen, was denn übrig bleibt, wenn wir von jeder systematischen Auffassung der Welt durch das Denken absehen. Dann wird zutage treten, daß es dabei in der Wissenschaft unter keinen Umständen sein Bewenden haben kann. Was wir unmittelbar "erleben", um ein Modeschlagwort zu gebrauchen, ist, wie sich leicht zeigen läßt, nach Abzug aller Auffassungsformen ein regelloses "Gewühl" von Eindrücken, die fortwährend wechseln, und zwar bildet nicht nur das Weltganze, sondern jeder noch so kleine wirkliche Weltteil einen ruhelosen Fluß mit gleitenden Übergängen in unaufhörlicher Veränderung. Die völlig unsystematisch gedachte Welt ist für den wissenschaftlichen Menschen ein heterogenes Kontinuum, dem er theoretisch hilflos gegenübersteht, oder noch allgemeiner gesprochen: ein Chaos. Das kommt freilich den Meisten nicht zum vollen Bewußtsein, aber das liegt daran, daß wir alle von Geburt an in eine fest gefügte Gliederung der Welt hineinwachsen und für gewöhnlich keine Veranlassung haben, darauf zu achten, was an ihr Produkt unserer Auffassung ist. Wir müssen, um die wissenschaftliche Notwendigkeit eines Systems der Philosophie systematisch zu verstehen, zuerst auf das Wesen dieser vorwissenschaftlichen Ordnung der Welt und auf das Verhältnis, das die Wissenschaft zu ihr hat, eingehen. Lange bevor der theoretische Mensch mit seinem Nachdenken über die Welt beginnt, ist eine Art unwillkürlicher Begriffsbildung entstanden. Das Gewoge des "Erlebnisstroms" finden wir schon beim Beginn des Philosophierens mit einem Netz von Wortbedeutungen dicht übersponnen, über dem oft die anschauliche Mannigfaltigkeit des Wirklichen unbeachtet bleibt. Sie hat für unser praktisches Leben keine Bedeutung, während wir einen Teil der vorwissenschaftlichen Begriffe nicht entbehren können, wenn wir uns in der Welt orientieren wollen. Ja, in der Hauptsache muß diese Begriffsbildung als Produkt unserer vitalsten praktischen Interessen gelten. Das wird besonders deutlich, wenn wir zwei Arten unterscheiden. Die meisten Dinge und Vorgänge sind dem Menschen in der Not des Lebenskampfes nur durch das wichtig, was sie mit anderen gemein haben, und daher achten wir auch nur auf dieses Gemeinsame, obwohl doch tatsächlich jeder Teil der Wirklichkeit von jedem anderen individuell verschieden ist und nichts in der Welt sich genau wiederholt. Weil die Individualität der meisten Objekte uns gleichgültig bleibt, sind sie für uns nichts anderes als Exemplare eines allgemeinen Gattungsbegriffs, die durch andere Exemplare desselben Begriffs ersetzt werden können. Wir sehen sie, obwohl sie niemals einander genau gleichen, als gleich an und bezeichnen sie daher auch nur mit allgemeinen Gattungsnamen. So kommt Ordnung in unsere Welt. Die Beschränkung auf das Allgemeine im Sinne des einer Gruppe von Gegenständen Gemeinsamen oder die generalisierende Auffassung, aufgrund deren wir mit Unrecht behaupten, es gäbe wirklich so etwas wie Gleichheit und Wiederholung im realen Geschehen, wird zäh festgehalten. Sie muß für uns von größtem Wert sein, denn sie erst gliedert die sonst unübersehbare Mannigfaltigkeit und verwirrende Buntheit der Erlebnisse und macht es dadurch möglich, daß wir uns in ihrem Chaos zurechtfinden. Da sie aber von praktischen Interessen abhängt, ist sie zugleich nirgends konsequent durchgeführt. Auch erschöpft sie das, was uns an unserer Umgebung interessiert, und was wir daher von ihr kennen, keineswegs. Dieser oder jener Gegenstand, der uns näher angeht, kommt vielmehr gerade durch das für uns in Betracht, was ihn unersetzlich macht, was ihm also allein eigentümlich ist, und was ihn von allen anderen Objekten unterscheidet. Unsere Teilnahme und unsere Kenntnis bezieht sich dann auf seine Individualität, und selbst wenn wir wissen, daß er sich ebenso wie andere Objekte auch als Exemplar eines Gattungsbegriffs auffassen läßt, wollen wir ihn doch wegen seiner individuellen Bedeutung für uns nicht als gleich mit anderen Dingen ansehen, sondern heben ihn ausdrücklich aus seiner Gruppe heraus, was sprachlich darin seinen Ausdruck findet, daß wir ihn nicht mit einem Gattungsnamen, sondern mit einem Eigennamen bezeichnen. Auch diese individualisierende [idio] Auffassung ist jedoch nicht etwa ein treues Abbild der Wirklichkeit in dem Sinn, daß wir durch sie die ganze Mannigfaltigkeit des Erlebnisinhaltes kennen lernen, sondern dabei wird ebenfalls eine Auswahl und Umbildung vollzogen, d. h. nur der Komplex von Elementen herausgehoben, der in dieser besonderen Zusammenstellung dem einen bestimmten Objekt allein gehört. Wir müssen deshalb die jedem beliebigen Ding oder Vorgang zukommende "Individualität", deren Inhalt mit dem seiner auffassungsfreien Wirklichkeit zusammenfällt, und deren vollständige Kenntnis wegen ihrer unerschöpflichen anschaulichen Mannigfaltigkeit weder erreichbar noch im praktischen Leben erstrebenswert ist, von der aus ausgewählten Elementen bestehenden, für uns bedeutungsvollen Individualität unterscheiden, und uns klar machen, daß auch diese gewöhnlich allein gemeinte Individualität im engeren Sinn, ebenso wie der Inhalt der allgemeinen Gattungsbegriffe, nicht ein Abbild der Wirklichkeit selbst darstellt, sondern ein Produkt unserer ordnenden und vereinfachenden Auffassung bedeutet. Die reale Welt, wie sie unabhängig von unserer Auffassung besteht, uns zum ausdrücklichen Bewußtsein zu bringen, haben wir im praktischen Leben nur selten Veranlassung. Daher ist das Wirkliche nach seiner bloß gegebenen, begriffsfreien Inhaltlichkeit den Meisten in hohem Maße unbekannt. Das Wesen der vorwissenschaftlichen Begriffsbildung noch genauer zu erörtern, ist hier nicht nötig. Allein darauf kommt es an, daß nicht nur ihr Inhalt von dem des Wirklichen abweicht, wie jeder Begriffsinhalt von der realen Anschauung, auf die er sich bezieht, sondern daß sie einen vor wissenschaftlichen und daher vom theoretischen Standpunkt aus willkürlichen Charakter trägt. Freilich knüpft die Wissenschaft überall an sie an und würde mit ihrer Arbeit nicht beginnen können, ohne das zu tun. Die generalisierende Auffassung wird von den Naturwissenschaften und der Psychologie, die individualisierende von den historischen Kulturwissenschaften aus- und umgebildet nach Prinzipien, die hier nicht dargelegt werden können. Aber zur Wissenschaft gehören eben Prinzipien, und überall bedarf daher die vorwissenschaftliche Begriffswelt der Nachprüfung und Begründung, wenn sie theoretisch oder wissenschaftlich zu Recht bestehen soll. Für sich allein bedeutet sie theoretisch noch nichts. Wir haben mit ihr Grenzen in einem gleitenden Fluß unseres überall andersartigen Erlebens gezogen, weil wir ohne solche Grenzen nicht leben könnten. So entsteht für uns aus dem Chaos eine "Welt". Das ist jedoch nicht die Welt, sondern lediglich ein der möglichen Welten neben anderen ebenfalls möglichen, und als wissenschaftliche Menschen können wir daher nicht bei ihr stehen bleiben wollen. Allerdings hat der "Pragmatismus" versucht, gerade die im Dienst praktischer Bedürfnisse aufgebaute Welt für die "wahre" zu erklären. Da jedoch diese Gedanke den Begriff einer theoretischen Wahrheit überhaupt aufhebt, kann er selbst nicht beanspruchen, als theoretisch wahr zu gelten, und wir brauchen deshalb auf ihn hier nicht einzugehen. Wie wenig die ursprüngliche, vorwissenschaftliche Welt des praktischen Lebens die einzige "Welt" ist, zeigt ferner noch ein anderer Umstand. Im späteren Verlauf unseres Daseins entstehen oft mehrere andere Welten, die ebenfalls außerwissenschaftlichen Interessen ihren Ursprung verdanken, und auch auf sie wollen wir einen Blick werfen, um ganz zu verstehen, was für die Wissenschaft das System bedeutet. Wir leben nicht nur als im unphilosophischen Sinn "praktische", sondern auch als sittliche oder als künstlerische oder als religiöse Menschen, und von jedem dieser "Standpunkte" aus wird etwas anderes in der Welt für uns wichtig. Aufgrund solcher Interessen formen wir daher die Wirklichkeit ebenfalls um, indem wir eine unübersehbare Fülle der Lebensinhalte als unwesentlich beiseite lassen, und wir sind dann, zumindest solange wir theoretisch nicht auf das achten, was hier vorgeht, wieder geneigt, die Ergebnisse der von uns vollzogenen Gliederung und Ordnung für die wirkliche Welt zu halten. Wir müssen uns jedoch darüber klar werden, daß in diesen moralischen, ästhetischen oder religiösen "Welten" so wenig er Inhalt des Realen selbst steckt, wie in den Begriffen, die der Not des Lebens und dem Bedürfnis nach praktischer Orientierung entstammen. Auch bei diesen Ordnungen dürfen wir daher, falls wir Weltwissenschaft treiben wollen, nicht stehen bleiben. Sie sind wie die vorher betrachteten Produkte der vorwissenschaftlichen Begriffsbildung vom wissenschaftlichen Standpunkt aus willkürlich. Die "Welt" der meisten Menschen wird sich sogar als ein Mischprodukt mehrerer verschiedener Auffassungen darstellen. Sie mag zwar ein hohes Maß an "Einheit" besitzen, das aus der Einheit der Persönlichkeit oder aus einer überpersönlichen Tradition stammt, aber theoretisch ist diese Einheit nicht. Als theoretische Denken haben wir daher alle diese Ordnungen in Frage zu stellen. Zumal die Philosophie, eine universale Betrachtung der Welt sein will, muß, ehe sie mit ihrer positiven Arbeit beginnen kann, zuerst einmal alles aufzulösen suchen, was sie an vorwissenschaftlichen oder außerwissenschaftlichen Ordnungen vorfindet, und wenn sie das konsequent durchführt, steht sie theoretisch vor jenem regellosen Gewühl, von dem wir sprachen, vor jenem Chaos, das der Mensch des praktischen Lebens sich zum Bewußtsein zu bringen, keine Veranlassung hat, und das auch für den Philosophen, sobald er die rein theoretische Sphäre verläßt, sofort wieder von außerwissenschaftlichen Auffassungen verdeckt wird. Von hier aus verstehen wir zunächst, warum die nur ethisch oder nur ästhetisch oder nur religiös interessierten und gerichteten Menschen, ebenso wie die Lebenspropheten, oft gegen die wissenschaftliche Philosophie eine Abneigung zeigen. Sie fühlen sich durch die Antastung ihres atheoretischen "Kosmos" im Kern ihres Wesens bedroht, und in einem gewissen Sinn mit Recht. Ihre Welten, die sie sich unter moralischen oder künstlerischen oder religiösen Gesichtspunkten aufgebaut haben, kann die Wissenschaft als die "wahren" nicht anerkennen. So wird es leicht dazu kommen, daß man das theoretische Verhalten als Vergewaltigung empfindet. Aber zugleich ist klar: nur von einem außerwissenschaftlichen Standpunkt aus hat es einen Sinn, hier von Vergewaltigung zu reden. Es sollte sich von selbst verstehen, daß der wissenschaftliche Mensch die Welt allein unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten sehen darf, und wenn er das durchführen will, kann er nicht eher ruhen, als bis er zunächst einmal jede atheoretische Ordnung zerstört hat und sich dann einem auffassungsfreien Gewühl gegenüber befindet. Ebenso gewiß aber ist andererseits, daß er dabei nicht bleiben wird. Jetzt beginnt vielmehr erst seine positive Arbeit, die darauf ausgeht, eine durch wissenschaftliche Gründe gestützte Ordnung des Weltinhalts und damit eine theoretische Welt zu schaffen. Wie ist sie möglich? Sie läßt sich, falls wir sie überhaupt wollen, und falls dabei nicht eine neue atheoretische Willkür entstehen soll, nur nach einheitlich zusammenhängenden und begründeten theoretischen Prinzipien, also systematisch aufbauen. Es genügt für die theoretische Betrachtung nicht, daß das unübersehbare Material irgendwie geordnet wird durch eine Bildung von Begriffen, die eventuell auch anders gestaltet sein könnten. Dann täten wir besser, bei den atheoretischen Auffassungen zu verharren. Woher hätten wir zu ihrer Zerstörung ein Recht? Das besitzen wir nur, wenn wir die eine der möglichen Ordnungen für theoretisch richtiger als die andere halten, und diese Überzeugung setzt als letzten Ankergrund voraus, daß es eine und nur eine Ordnung gibt, die uns zwar noch gänzlich unbekannt sein mag, aber doch die wahre Weltordnung ist, und an der die anderen zu messen sind. Ihr allmächlich sich anzunähern, bildet das Ziel aller wissenschaftlichen Ordnungen. Die Spezialdisziplinen können sich, zumal für die Abgrenzung ihrer Arbeitssphären, allenfalls mit Ordnungen begnügen, die der vorwissenschaftlichen Begriffsbildung des praktischen Lebens oder anderen außerwissenschaftlichen Welten entstammen. Ja, ihre Gliederung, soweit sie mit praktischen Bedürfnissen noch zusammenhängt, wird stets die Einflüsse solcher Auffasungen zeigen, und das stört die Erreichung ihrer partikularen und vorläufigen Ziele vielleicht nicht. Es ist nur nötig, daß sie innerhalb ihrer verschiedenen Sonderreiche rein theoretisch verfahren. Die historischen Disziplinen bleiben dabei aus Gründen, die hier nicht erörtert zu werden brauchen, überhaupt ohne systematischen Aufbau. Die übrigen aber suchen für ihre Teilgebiete mehr oder weniger ausdrücklich nach einem System. In der Physik oder der Chemie gilt das als völlig selbstverständlich. Es gibt für sie keinen anderen Weg, um zur Vollständigkeit innerhalb ihrer Sphäre zu gelangen. Vollends aber hat die Philosophie, die universale Weltbetrachtung sein will, nachdem von ihr jede atheoretische Ordnung der Welt in Frage gestellt ist, von vornherein streng systematisch vorzugehen. Sonst kommt sie zu keiner theoretischen oder "wahren" Welt, ja überhaupt zu keiner "Welt", die diesen Namen im wissenschaftlichen Sinn verdient. Nur mit Hilfe des Systems lassen sich die vorwissenschaftlichen oder außerwissenschaftlichen Weltauffassungen durch eine wissenschaftliche überwinden und ersetzen. Damit kommen wir zu folgendem Resultat. Ohne irgend eine Auffassung können wir uns der unübersehbaren Welt überhaupt nicht bemächtigen, und als wissenschaftliche Menschen haben wir die systematische und theoretisch notwendige der unsystematischen und vom theoretischen Standpunkt aus willkürlichen Ordnung überall vorzuziehen. Theoretisch willkürlich aber ist jede Auffassung der Welt, der es an einer systematischen Begründung fehlt. Gerade weil also das auffassungsfreie unmittelbare "Erleben" in der Tat einen unerschöpflichen, verwirrenden Reichtum darbietet, der so, wie er gegeben ist, in keine Wissenschaft eingeht, muß die Philosophie nach einem System streben, das in wissenschaftlich begründeter Weise dieses Reichtums Herr wird. Tut sie das nicht, dann bleibt sie entweder für immer in theoretisch haltlose Auffassungen und damit in unwissenschaftliche Vorurteile gebannt, oder sie steht nach deren Überwindung dem Weltgewühl wissenschaftlich ratlos gegenüber. Beides können wir als theoretische Menschen nicht wollen. So ist mit dem Willen zur philosophischen Betrachtung der Welt der "Wille zum System", den NIETZSCHE ethisch herabzusetzen suchte, und den Andere sonderbarerweise auch theoretisch bekämpft haben, notwendig verknüpft. Die "Freiheit" vom System, die man im Interesse der "Wissenschaftlichkeit" fordern zu müssen glaubt, führt in der Philosophie entweder zur Willkür oder zum Chaos und damit zum theoretischen Nichts. Sie bedeutet einen Verzicht auf kosmisches Denken, auf ein Denken der Welt überhaupt. Allerdings ist uns der theoretische Kosmos nie gegeben, aber dafür stets aufgegeben. An seinem Aufbau hat die wissenschaftliche Philosophie dauernd zu arbeiten, und ein Fortschritt zu ihrem Ziel hin ist nur auf dem Weg des streng systematischen Denkens möglich. Man mag vom außerwissenschaftlichen, ethischen, ästhetischen oder religiösen Standpunkt oder auch im Interesse der Vitalität das System als unmoralisch, häßlich, gottlos oder lebensfeindlich bekämpfen, weil es mit seiner rein theoretischen Ordnung die sittlichen, schönen, frommen, lebensfördernden oder anderen atheoretischen Weltbilder verdrängt, so bleibt doch eine wissenschaftlich gerichtete und philosophisch begründete Antisystemaik ein logischer Widersinn. Das muß jedem einleuchten, der die Unwissenschaftlichkeit der atheoretischen Weltbilder und den chaotischen, akosmischen Charakter einer auffassungsfreien "Welt" verstanden hat. Gerade der Gedanke, der das System am schwersten zu bedrohen schien, zeigt somit am deutlichsten seine Notwendigkeit. Nur durch das System kommen wir vom theoretischen Chaos zum theoretischen Kosmos. Dieses aber bildet das unvermeidliche Ziel jeder Philosophie als universaler Wissenschaft. Unsystematisch denken heißt unphilosophisch denken. Selbstverständlich zweifeln wir darum nicht daran, daß gegen eine gewisse Art von Systematik auch aus theoretischen Gründen eine Abneigung bestehen kann oder muß. Gerade der philosophische Mensch wird sich vor jeder voreiligen Festlegung auf einseitige Schemata hüten, weil er darin eine Gefahr für die Vollständigkeit seines Denkens und eine Verengung seines Horizontes fürchtet. Doch bedeutet das nur die Bekämpfung einer engen Systematik zugunsten einer möglichst umfassenden, und daher hat diese Vorsicht der "Gewissenhaften des Geistes" gegenüber einem System, das sich vorschnell abschließt, mit dem Kampf gegen das System überhaupt nicht das geringste gemein. Man darf die Gewissenhaftigkeit nicht so weit treiben, daß das Ziel, in dessen Dienst sie steht, darüber verloren geht. Auch muß der Systematiker gewiß daran denken, daß er als historisch und psychologisch bedingtes Individuum nicht hoffen kann, die theoretische Formung seines Stoffes in jeder Hinsicht abszuschließen, und insofern ist dann das Ideal eines offenen Systems aufzustellen, das noch Platz für weitere wissenschaftliche Ergänzungen und Vervollständigungen läßt. Doch steht andererseits ebenso fest, daß der theoretische Mensch sich nicht nur als historisch und psychologisch bedingtes Individuum ansehen darf. denn wenn er das täte, könnte er nicht hoffen, jemals zu irgend einer Wahrheit vorzudringen. Jede Wahrheit gilt zeitlos oder sie ist keine Wahrheit, und sie liegt daher über allem historisch und psychologisch bedingten Geschehen. Wäre das erkennende Subjekt ausschließlich historisch und psychologisch aufzufassen, dann gäbe es überhaupt kein Erkennen, das wahr genannt werden dürfte, und dann wäre es auch mit der historischen und psychologischen Betrachtung des Forschers, die doch ebenfalls wahr sein will, vorbei. So muß klar sein: alle antisystematischen Erwägungen mit RÜcksicht auf den beschränkten Kopf und die geräumige Welt besitzen nur ein relatives Recht und führen zum Unsinn, ja heben sich selbst auf, sobald man sie verabsolutiert. Abgesehen hiervor bleibt auch ein offenes System stets ein System, und so darf der Gedanke an seine Notwendigkeit ebenfalls nicht zur Bekämpfung der philosophischen Systematik überhaupt führen. Ferner braucht das System in seinem positiven Aufbau nicht unmoralisch, häßlich, gottlos oder lebensfeindlich zu werden. Es kann sich vielmehr, wenn es auch als theoretisches Gebilde nie selbst sittlich, schön, fromm oder lebendig ist, trotzdem gut mit der Moral, der Kunst, der Religion und dem lebendigen Leben vertragen. Ja, es wird zu allen diesen theoretischen Gebilden, die ebenfalls zur "Welt" gehören, theoretisch Stellung nehmen müssen und dabei ihre außerwissenschaftliche Bedeutung umso besser zu verstehen und zu würdigen imstande sein, je schärfer es sich die wesentliche Verschiedenheit der wissenschaftlichen systematischen und der außerwissenschaftlichen unsystematischen Weltauffassung zum Bewußtsein gebracht hat. Daß wir im System eine theoretische Welt aufbauen wollen, bedeutet ja nicht etwa, daß dabei als Material nur das Gebiet des Theoretischen zu berücksichtigen ist, sondern bezieht sich lediglich auf die Ordnung des Materials. Auch das Atheoretische hat in seiner Mannigfaltigkeit im System als Material seinen Platz zu finden. Aber in der wissenschaftlichen Philosophie ist es nur theoretisch zu behandeln, und insofern muß die Welt, die wir suchen, eine theoretische Welt genannt werden, d. h. eine Welt, die nach theoretischen Prinzipien systematisch geordnet ist. Wie dabei alle Probleme, die in Wahrheit philosophisch sind, in einem gegliederten Bau ihre Stelle erhalten, kann selbstverständlich erst die Ausführung zeigen. Auch wird vielleicht der Kampf gegen die Antisystematik völlig überzeugend nicht durch diese einleitenden Bemerkungen, sondern nur dadurch zu führen sein, daß wir den fragmentarisch gerichteten Strömungen der Zeit, die ein Ganzes nicht wollen, die Umrisse eines Systems entgegenstellen und darauf hinweisen: das ist der Plan für ein Haus, in dem man als Philosoph wohnen kann. Darum brauchen ihn ihm nicht alle Gedanken Platz zu finden, die man gewöhnt ist, philosophisch zu nennen. Heute gibt es eine Fülle von Einzelwissenschaften neben der Philosophie, und auch ein noch so universal gerichtetes Denken muß die Arbeitsteilung der Wissenschaft anerkennen. Die Abgrenzung gegen die Sonderdisziplinen ist freilich nicht selbstverständlich, sondern gehört mit zu den Problemen der Philosophie, aber nur mit Hilfe einer systematischen Gliederung wird sich zeigen lassen, wie auch die universale Wissenschaft sich zu beschränken hat, um nicht in die Arbeit der Spezialforschung hineinzupfuschen oder Probleme zu stellen, die unlösbar sind und daher keine wissenschaftlichen Probleme bilden. Auch das hebt also die Tendenz zum System nicht auf, sondern gehört vielmehr notwendig zu deren Wesen. Was die Philosophie bisher vielleicht zu viel enthält, stört ebenso ihren systematischen Zusammenhang wie das, was sie zu wenig umfaßt, und mit Rücksicht worauf sie daher der Ergänzung bedarf. Das System wird die Lösung mancher angeblich philosophischer Probleme entweder den Spezialwissenschaften überlassen oder zeigen, warum für sie eine Lösung nicht möglich ist, und das hat dann auch als Auflösung der Probleme zu gelten. Andererseits muß das System danach fragen, ob es nicht bisher vernachlässigte Probleme gibt, die in den traditionellen philosophischen Problemen keinen Platz finden, und die daher eine Erweiterung des philosophischen Arbeitsgebietes notwendig machen. Erst damit läßt sich das System wahrhaft systematisch abrunden. So ergeben sich noch viele Fragen, die in dieser vorläufigen Orientierung über den allgemeinsten Begriff und die Aufgaben der Philosophie nicht zu erledigen sind. Ihre Beantwortung bleibt Sache der allgemeinen Grundlegung der Philosophie, die den ersten Hauptteil des Systems bilden soll, und die dieses Buch füllt. Sie muß den umfassendsten Weltallbegriff entwickeln und das Prinzip für die theoretische Gliederung der Welt darstellen. Das ist die erste Aufgabe, die wir zu lösen haben. Darauf hat dann das System im engeren Sinn zu folgen, das die dieser Gliederung entsprechenden besonderen philosophischen Probleme in Angriff nimmt. Doch bedarf auch mit Rücksicht hierauf der Begriff des Systems noch einer Einschränkung. Es ist nicht möglich, die systematische Behandlung so durchzuführen, daß sie sich auf alle Einzelheiten erstreckt. Das würde in der Tat die Kraft eines Forschers übersteigen. Jeder muß sich für das Besondere auf einen mehr oder weniger großen Teil beschränken, und nur durch das Zusammenarbeiten von Vielen, eventuell von mehreren aufeinander folgenden Generationen, ist die Annäherung an systematische Vollständigkeit in dieser Hinsicht zu erwarten. Der einzelne kann in seinem System nur die Umrisse des Ganzen geben, wo er die Probleme in ihrer Mannigfaltigkeit verfolgen will. Mit Rücksicht hierauf also hat das System ebenfalls offen zu bleiben. Es ist immer noch eine weitere Ausführung möglich und insofern auch notwendig. Daß das jedoch den systematischen Charakter der philosophischen Arbeit nicht antastet, bedarf keiner Begründung. Die systematische Form der Philosophie findet vor allem in den Umrissen ihren Ausdruck, und wenn diese feststehen, ergibt sich der Weg, auf dem auch die Einzelheiten systematisch zu behandeln sind, sozusagen von selbst. Es kann dann keine prinzipiellen Schwierigkeiten mehr machen, ihre Mannigfaltigkeit innerhalb des allgemeinen Rahmens systematisch unterzubringen. Bei der Ausführung wird sich auch erst vollständig zeigen, wie das Streben nach einem System sehr gut mit dem Streben nach Freiheit des Denkens und nach einer Weite des Horizonts zu verbinden ist. Hier kam es auf die systematische Tendenz überhaupt an, die aufrecht erhalten werden muß bei voller Anerkennung der Schwierigkeiten, welche durch die Unübersehbarkeit und den Reichtum des Weltinhaltes entstehen. Zuerst haben wir die Form zu suchen, die aus dem Chaos einen Kosmos macht, dann erst ist der Inhalt zu berücksichtigen. Das Ganze des Systems wird freilich beides miteinander zu verknüpfen und darauf zu achten haben, daß die Fülle des Inhaltes nicht die Form sprengt. FRIEDRICH SCHLEGEL, den man nicht zu lieben braucht, um ihn über manche gefeierte Modegröße zu stellen, und der jedenfalls nicht im Verdacht steht, ein einseitiger Fanatiker des systematischen Philosophierens zu sein, sagt einmal: "Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden." Dieses Wort hat man auf die hier versuchte Art, zu philosophieren, angewendet, und wir können es uns zu eigen machen. Freilich zeigt es die bei "geistreichen" Leuten oft herrschende und philosophisch nicht immer erfreuliche Neigung zur Paradoxie. Nach SCHLEGEL ist ja alles paradox, was zugleich gut und groß ist. Das zitierte Wort jedoch ist mehr als geistreich oder paradox, denn richtig verstanden ist es wahr. Der Antagonismus zwischen der unübersehbaren Fülle der Welt, deren Reichtum der Philosoph nicht vernachlässigen darf, ohne zu verarmen, und dem Bedürfnis, diese Fülle zu beherrschen, das der Philosoph ebenfalls nie aufgeben darf, ohne sich für bankrott zu erklären, kommt darin gut zum Ausdruck. Wie ohne Paradoxie im offenen System die Verbindung von System und Systemlosigkeit entsteht, d. h. wie es gelingen kann, sowohl die systematische Form der Welt zu finden als auch dem völlig unsystematischen Inhalt gerecht zu werden, muß sich später zeigen. Wir werden überall nach einer Überwindung der Antagonismen streben, die scheinbar dem Denken der Welt entgegenstehen. Wir brauchen nicht in Antinomien stecken zu bleiben, die sich zu ergeben drohen, wenn man nur das Entweder-Oder kennt. Die Philosophie als System hat sowohl dem Einen als auch dem Andern gerecht zu werden. Heterologie, nicht Antinomie muß die Lösung des theoretischen Menschen lauten. Davon wird noch zu reden sein. Jedenfalls aber bleibt es tödlich für den Geist, überhaupt kein System zu haben. Er muß daher nach dem System suchen, das ihn nicht tötet. Das darf gerade der theoretische Mensch mit gutem Gewisen, denn zum unentbehrlichen a priori oder zu den notwendigen "Vor-Urteilen" jedes wissenschaftlichen Strebens gehört nicht nur, daß irgendein geordnetes Ganzes von Begriffen und Urteilen, also ein System für das All der Welt gültig ist, sondern daß wir auch imstande sind, den Gehalt dieses Ganzen immer mehr zu erfassen und in sinnvollen Sätzen niederzulegen. Gibt es einen solchen Weg vom Chaos des atheoretischen Erlebens der Weltinhalte zum Kosmos der systematisch theoretisch geformten Welt nicht, so verliert die wissenschaftliche Tätigkeit der Philosophie jeden Eigenwert. Sie dann nur noch als Mittel zur Verwirklichung atheoretischer Güter zu verstehen, also in den Dienst der Lebenserhaltung oder irgendwelcher Ziele der Moral, der Kunst, der Religion zu stellen. Mit einem solchen "a priori" aber können wir die wissenschaftliche Arbeit nicht beginnen. Ohne "Mut der Wahrheit" wird niemand Philosoph. Wem er fehlt, der bleibe weg. Um noch einmal SCHLEGEL zu zitieren: "Wer nicht um der Philosophie willen philosophier, sondern die Philosophie als Mittel braucht, ist ein Sophist." Damit ist der Wille zum System für den Anfang des Philosophierens theoretisch genügend gerechtfertigt. ![]() |