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LUDWIG FEUERBACH (1804-1872)
Das Wesen der Religion
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50. "Die Götter", sagt EPIKUR, "existieren in den Zwischenräumen der Welt. Vortrefflich; (1) sie existieren nur im leeren Raum, in der Kluft, die zwischen der Welt der Wirklichkeit und der Welt der Vorstellung, zwischen dem Gesetz und der Anwendung des Gesetzes, zwischen der Handlung und dem Erfolg der Handlung, zwischen der Gegenwart und Zukunft sich befindet. Die Götter sind vorgestellte Wesen, Wesen der Vorstellung, der Einbildung, Wesen, die daher auch ihre Existenz, streng genommen, nicht der Gegenwart, sondern nur der Zukunft und Vergangenheit verdanken. Die Götter, die der letzteren ihre Existenz verdanken, sind die nicht mehr Existierenden, die Toten, die nur noch im Gemüt und in der Vorstellung lebenden Wesen, deren Kultus bei manchen Völkern die ganze Religion, bei den meisten ein wichtiger, wesentlicher Teil der Religion ist. Aber unendlich mächtiger als die Vergangenheit wirkt die Zukunft auf das Gemüt; die Vergangenheit läßt nur die stille Empfindung der Erinnerung zurück, aber die Zukunft steht uns mit den Schrecknissen der Hölle oder den Seligkeiten des Himmels bevor. Die Götter, die aus den Gräbern emporsteigen, sind daher selbst nur Schatten von Göttern: die wahren, lebendigen Götter, die Gebieter über
Regen und Sonnenschein, Blitz und Donner, Leben und Tod, Himmel und Hölle verdanken ihre Existenz auch nur den über Leben und Tod gebietenden Mächten der Furcht und Hoffnung, welche den
dunklen Abgrund der Zukunft mit Wesen der Vorstellung illuminieren. Die Gegenwart ist höchst prosaisch, fertig, determiniert, nimmer zu ändern, erfüllt, ausschließend; in der Gegenwart fällt die Vorstellung mit der Wirklichkeit zusammen; in ihr haben daher die Götter keinen Platz, keinen Spielraum; die Gegenwart ist gottlos. Aber die Zukunft ist das Reich der Poesie, das Reich der unbeschränkten Möglichkeit und Zufälligkeit - das Zukünftige kann so oder so sein, so, wie ich es wünsche, oder so, wie ich es fürchte; es ist noch nicht dem harten Los der Unabänderlichkeit verfallen; es schwebt noch zwischen Sein und Nichtsein hoch über der "gemeinen" Wirklichkeit und Handgreiflichkeit; es gehört noch einer anderen, "unsichtbaren" Welt an, einer Welt, die nicht von den Gesetzen der Schwere, die nur von den Empfindungsnerven in Bewegung gesetzt wird. Diese Welt ist
die Welt der Götter. Mir gehört die Gegenwart, aber den Göttern die Zukunft. Ich bin jetzt; diesen gegenwärtigen, aber freilich auch sogleich vergangenen Augenblick können mir die Götter nicht mehr nehmen; Geschehenes kann auch die göttliche Allmacht, wie schon die Alten sagten, nicht ungeschehen machen. Aber werde ich den nächsten Augenblick sein? hängt der nächste Augenblick meines Lebens von meinem Willen ab oder steht er mit dem gegenwärtigen in notwendigem Zusammenhang? Nein? ein zahlloses Heer von Zufälligkeiten; der Boden unter meinen Füßen, die Decke über meinem Haupt, ein Blitz, eine Flintenkugel, ein Stein, eine Weinbeere sogar, die ich statt in die Speise- in die Luftröhre bringe, kann jeden Augenblick auf ewig den kommenden Augenblick vom gegenwärtigen abreißen. Doch die gütigen Götter verhüten diesen gewaltsamen Riß; sie füllen mit ihren ätherischen, unverwundbaren Leibern die allen möglichen verderblichen Einflüssen zugänglichen Poren des menschlichen Leibes aus; sie knüpfen an den vergangenen den kommenden Augenblick; sie vermitteln die Zukunft mit der Gegenwart; sie sind und haben in ununterbrochenem Zusammenhang, was die Menschen - die porösen Götter - nur in Zwischenräumen, nur mit Unterbrechungen sind und haben.
51. Güte ist die wesentliche Eigenschaft der Götter; aber wie können sie gütig sein, wenn sie nicht allmächtig, wenn sie nicht frei sind von den Gesetzen der natürlichen Vorsehung, d. h. den Ketten der Naturnotwendigkeit, wenn sie sich nicht in den individuellen, über Tod und Leben entscheidenden Fällen sich als die Herren der Natur, aber die Freunde und Wohltäter der Menschen beweisen, wenn sie also keine Wunder tun? Die Götter oder vielmehr die Natur hat den Menschen ausgestattet mit leiblichen und geistigen Kräften, um sich selbst erhalten zu können. Aber reichen diese natürlichen Selbsterhaltungsmittel immer aus? komme ich nicht sehr oft in Lagen, wo ich rettungslos verloren bin, wenn nicht eine übernatürliche Hand den rücksichtslosen Lauf der natürlichen Ordnung aufhält? Die natürliche Ordnung ist gut; aber ist sie immer gut? Dieser anhaltende Regen, diese anhaltende Dürre z. B. ist ganz in Ordnung, aber muß nicht ich, muß nicht meine
Familie, muß nicht dieses Volk selbst infolge derselben zugrunde gehen, wenn die Götter nicht helfen, nicht diese Dürre aufheben? (2) Wunder sind daher unzertrennlich von der göttlichen Regierung und Vorsehung, ja sie sind die einzigen Beweise, Offenbarungen und Erscheinungen der Götter, als von der Natur unterschiedener Mächte und Wesen; die Wunder aufheben, heißt die Götter selbst aufheben. Wodurch unterscheiden sich die Götter von den Menschen? Nur dadurch, daß sie ohne Schranken sind, daß sie namentlich immer sind, was diese nur zeitweise, momentan sind. (3) Die Menschen leben - Lebendigkeit ist Göttlichkeit, Lebendigkeit wesentliche Eigenschaft, Grundbedingung der Gottheit -, aber leider ! nicht immer, sie sterben, die Götter dagegen sind die Unsterblichen, die immer Lebenden; die Menschen sind auch glücklich, nur nicht ununterbrochen, wie die Götter; die Menschen sind auch gut, aber nicht immer, und darin besteht eben nach SOKRATES der Unterschied der Gottheit von der Menschheit, daß sie immer gut ist; die Menschen genießen auch, nach ARISTOTELES, die göttliche Seligkeit des Denkens, aber bei ihnen wird die geistige Tätigkeit durch andere Verrichtungen und Tätigkeiten unterbrochen. Die Götter und
Menschen haben also dieselben Eigenschaften, dieselben Lebensregeln, nur jene ohne, diese mit Einschränkungen und Ausnahmen. Wie das jenseitige Leben nichts anderes ist, als die durch den Tod nicht unterbrochene Fortsetzung dieses Lebens, so ist das göttliche Wesen nichts anderes, als die durch die Natur überhaupt nicht unterbrochene Fortsetzung des menschlichen Wesens - das unterbrochene, unbeschränkte Wesen des Menschen. Wie unterscheiden sich nun aber die Wunder von den Wirkungen der Natur? gerade so, wie sich die Götter von den Menschen unterscheiden. Das Wunder macht eine Wirkung oder Eigenschaft der Natur, die in diesem speziellen Fall nicht gut ist, zu einer guten oder wenigstens unschädlichen; es macht, daß ich im Wasser nicht untersinke und ertrinke, wenn ich das Unglück habe, hineinzufallen, daß das Feuer mich nicht verbrennt, der auf meinen Kopf herabfallende Stein mich nicht erschlägt, kurz es macht das bald wohltätige, bald verderbliche, bald menschenfreundliche, bald menschenfeindliche Wesen zu einem immer guten Wesen. Nur den Ausnahmen von der Regel verdanken die Götter und Wunder ihre Existenz. Die Gottheit ist die Aufhebung der Mängel und Schranken im Menschen, welche eben die
Ausnahmen von der Regel verursachen, das Wunder die Aufhebung der Mängel und Schranken in der Natur. Die Naturwesen sind bestimmte und folglich beschränkte Wesen. Diese ihre Schranke ist in abnormen Fällen der Grund ihrer Verderblickeit für den Menschen; aber sie ist im Sinne der Religion keine notwendige, sondern willkürliche, von Gott gesetzte, also aufhebbare, wenn es die Not, d. h. das Wohl des Menschen erheischt. Die Wunder unter dem Vorwand verwerfen, daß sie sich nicht für die Würde und Weisheit Gottes schicken, kraft welcher er von Anfang an alles so, wie es am besten sei, für ewige Zeiten festgesetzt und vorausbestimmt habe, das heißt der Natur den Menschen, dem Verstand die Religion aufopfern, das heißt im Namen Gottes den Atheismus predigen. Ein Gott, der nur solche Bitten und Wünsche des Menschen erfüllt, die sich auch ohne ihn erfüllen lassen, deren Erfüllung innerhalb der Grenzen und Bedingungen der natürlichen Ursachen liegt, der also nur so lange hilft, als die Kunst und Natur helfen, aber aufgehört zu helfen, sowie die materia medica zu Ende ist, ein solcher Gott ist nichts anderes als die hinter den Namen Gottes versteckte, personifizierte Naturnotwendigkeit.
52. Der Glaube an einen Gott ist entweder der Glaube an die Natur (an das objektive Wesen) als ein menschliches (subjektives) Wesen oder der Glaube an das menschliche Wesen als das Wesen der Natur. Jener Glaube ist Naturreligion, Polytheismus, (4) dieser Geist-Mensch-Religion, Monotheismus. Der Polytheist opfert sich der Natur auf, er gibt der Natur ein menschliches Auge und Herz; der Monotheist opfert sich die Natur auf, er gibt dem menschlichen Auge und Herzen die Macht und Herrschaft über die Natur; der Polytheist macht das menschliche Wesen abhängig; jener sagt, wenn dir Natur nicht ist, so bin Ich nicht; dieser aber sagt umgekehrt: wenn Ich nicht bin, so ist die Welt, die Natur nicht. Der erste Grundsatz der Religion lautet: Ich bin nichts gegen die Natur, alles ist gegen mich Gott, alles flößt mir das Gefühl der Abhängigkeit ein, alles kann mir, wenn auch nur zufällig, [aber der Mensch unterscheidet anfänglich nicht zwischen Ursache und zufälliger Veranlassung] Glück und Unglück, Heil und Verderben bringen; alles ist daher ein Gegenstand der Religion. Die Religion
auf dem Standpunkt dieses kritiklosen Abhängigkeitsgefühls ist der sogenannte Fetischismus, die Grundlage des Polytheismus. Der Schlußsatz der Religion dagegen lautet; Alles ist nichts gegen mich, alle Herrlichkeit der Himmelsgestirne, der obersten Götter des Polytheismus verschwindet vor der Herrlichkeit der menschlichen Seele, alle Macht der Welt vor der Macht des menschlichen Herzens, alle Notwendigkeit der toten, bewußtlosen Natur vor der Notwendigkeit des menschlichen, des bewußten Wesens, denn alles ist nur Mittel für mich. Aber die Natur wäre nicht für mich, wenn sie von sich selbst, wenn sie nicht von Gott wäre. Wenn sie von sich selbst wäre, also den Grund ihrer Existenz in sich selbst hätte, so hätte sie ja eben damit auch ein selbständiges Wesen, ein ursprüngliches, ohne Beziehung auf mich, unabhängig von mir bestehendes Sein und Wesen. Die Bedeutung der Natur, nichts für sich selbst, nur ein Mittel für den Menschen zu sein, datiert sich daher nur von der Schöpfung; aber diese Bedeutung offenbart sich vor allem in den Fällen, wo der Mensch, wie in der Not, in Todesgefahr, in Kollision mit der Natur kommt, diese aber dem Wohl des Menschen geopfert wird - in den Wundern. Also ist die Prämisse des Wunders die Schöpfung das Wunder die Konklusion, die Folge, die Wahrheit der Schöpfung. Die Schöpfung verhält sich zum Wunder, wie die Gattung oder Art zum einzelnen Individuum; das Wunder ist der Schöpfungsakt in einem besonderen, einzelnen Fall. Oder: die Schöpfung ist die Theorie; die Praxis, die Anwendung davon ist das Wunder. Gott ist die Ursache, der Mensch der Zweck der Welt, d. h. Gott ist das erste Wesen in der Theorie, aber der Mensch ist das erste Wesen in der Praxis. Die Natur ist Nichts für Gott - nichts als ein Spielwerkzeug seiner Allmacht - aber nur damit sie im Notfall, damit sie überhaupt nichts gegen den Menschen ist und vermag. Im Schöpfer läßt der Mensch die Schranken seines Wesens, seiner "Seele", im Wunder die Schranken seiner Existenz, seines Leibes fallen, dort macht er sein unsichtbares, denkendes und gedachtes, hier sein sichtbares, praktisches individuelles Wesen zum Wesen der Welt, dort legitimiert er das Wunder, hier führt er es nur aus. Im Wunder ist daher der Zweck der Religion auf sinnliche, populäre Weise erfüllt - die Herrschaft des Menschen über die Natur, die Gottheit des Menschen eine sinnfällige Wahrheit. Gott tut Wunder, aber auf Bitten des Menschen und wenn auch nicht auf ein ausdrückliches Gebet, doch im Sinne des Menschen, im Einklang mit seinen geheimsten, innersten
Wünschen. SARAH lachte, als ihr in ihren alten Tagen der HERR noch ein Söhnlein verhieß, aber gewiß war auch jetzt noch Nachkommenschaft ihr höchster Gedanke und Wunsch. Der geheime Wundertäter ist daher der Mensch, aber im Fortgang der Zeit - die Zeit enthüllt jedes Geheimnis - wird er und muß er werden der offenbare, sichtbare Wundertäter. Erst empfängt der Mensch Wunder, endlich tut er selbst Wunder; erst ist er Gegenstand Gottes, endlich selbst Gott; erst Gott nur im Herzen, im Geiste, in Gedanken, zuletzt Gott im Fleische. Aber der Gedanke ist verschämt, die Sittlichkeit unverschämt, der Gedanke verschwiegen und rückhaltig, die Sinnlichkeit spricht sich offen und unumwunden aus, ihre Äußerungen sind daher dem Gelächter ausgesetzt, wenn sie der Vernunft widersprechen, weil hier der Widerspruch ein augenfälliger, unleugbarer ist. Dies ist der Grund, warum sich die modernen Rationalisten schämen, an den fleischlichen Gott, d. h. an das sinnliche, augenfällige Wunder zu glauben, aber sich nicht schämen, an den unsinnlichen Gott, d. h. an das unsinnliche, versteckte Wunder zu glauben. Doch es wird die Zeit kommen, wo sich LICHTENBERGs Prophezeiung erfüllt, wo der Glaube an einen Gott überhaupt, also auch an einen rationalistischen Gott ebenso gut für Aberglauben gelten wird, als jetzt bereits der Glaube an den fleischlichen, wundertätigen, d. h. christlichen Gott für Aberglauben gilt, wo also statt des Kirchenlichtes des simplen Glaubens und statt des Zwielichts des Vernunftglaubens das reine Licht der Natur und Vernunft die Menschheit erleuchten und erwärmen wird.
53. Wer für seinen Gott keinen anderen Stoff hat, als den ihm die Naturwissenschaft, die Weltweisheit oder überhaupt die natürliche Anschauung liefert, wer ihn also nur mit natürlichen Materialien ausfüllt, unter ihm nichts anderes denkt, als die Ursache oder das Prinzip von den Gesetzen der Astronomie, Physik, Geologie, Mineralogie, Physiologie, Zoologie und Anthropologie, der sei auch so ehrlich, sich des Namens Gottes zu enthalten, denn ein Naturprinzip ist immer ein Naturwesen, nicht das, was einen Gott konstituiert. (5) So wenig eine Kirche, die man zu einem Naturalienkabinett gemacht hat, noch ein Gotteshaus ist und heißt, so wenig ist ein Gott, dessen Wesen und Wirkungen nur in astronomischen, geologischen, zoologischen, anthropologischen Werken sich offenbaren, ein Gott; Gott ist ein religiöses Wort, ein religiöses Objekt und Wesen, kein physikalisches, astronomisches, kurz kein kosmisches Wesen. "Deus et Cultus", sagt LUTHER in den Tischreden, "sunt Relativa", Gott und Gottesdienst gehören zusammen, eines kann ohne das andere nicht sein, denn Gott muß je eines Menschen oder Volkes Gott sein und ist allzeit in Praedicamento Relationis, referiert und zieht sich aufeinander. "Gott will etliche haben, die ihn anrufen und ehren, denn einen Gott haben und ihn ehren, gehören zusammen, sunt Relative, wie Mann und Weib im Ehestand, keines kann ohne das andere sein." Gott setzt also Menschen voraus, die ihn verehren und anbeten; Gott ist ein Wesen, dessen Begriff oder Vorstellung nicht von der
Natur, sondern vom und zwar religiösen Menschen abhängt; ein Gegenstand der Anbetung ist nicht ohne ein anbetendes Wesen, d. h. Gott ist ein Objekt, dessen Dasein nur mit dem Dasein der Religion, dessen Wesen nur mit dem Wesen der Religion gegeben ist, das also nicht außer der Religion, nicht unterschieden, nicht unabhängig von ihr existiert, in dem objektiv nicht mehr enthalten, als was subjektiv in der Religion ist. (6) Der Schall ist das gegenständliche Wesen, der Gott des Ohres, das Licht das gegenständliche Wesen, der Gott des Auges; der Schall existiert nur für das Ohr, das Licht nur für das Auge; im Ohr hast Du, was Du im Schall hast, erzitternde, schwingende Körper, ausgespannte Häute, gallertartige Substanzen; im Auge dagegen hast Du Lichtorgane. Gott zu einem Gegenstand oder Wesen der Physik, Astronomie oder Zoologie zu machen, ist daher gerade so viel, als wenn man den Ton zu einem Gegenstand des Auges machen
wollte. Wie der Ton nur im Ohr und für das Ohr, so existiert Gott nur in der Religion und für sie, nur im Glauben und für den Glauben. Wie der Schall oder Ton als der Gegenstand des Gehörs nur das Wesen des Ohrs, so drückt Gott als ein Gegenstand, der nur Gegenstand der Religion, des Glaubens ist, auch nur das Wesen der Religion, des Glaubens aus. Was macht aber einen Gegenstand zu einem religiösen Gegenstand? Wie wir gesehen haben: nur die menschliche Phantasie oder Einbildungskraft und das menschliche Herz. Ob Du den JEHOVA oder den APIS, ob Du den Donner oder den CHRISTUS, ob Du Deinen Schatten, wie die Neger der Goldküste oder Deine Seele, wie der alte Perser, ob Du den Flatus Ventris [einen Furz - wp] oder Deinen Genius, kurz ob Du ein sinnliches oder geistiges Wesen anbetest - es ist eins; Gegenstand der Religion ist nur etwas, insofern es ein Objekt der Phantasie und des Gefühls, ein Objekt des Glaubens ist; denn eben weil der Gegenstand der Religion, wie er ihr Gegenstand, nicht in Wirklichkeit existiert, mit dieser vielmehr im Widerspruch steht, ist er nur ein Objekt des Glaubens. So ist z. B. die Unsterblichkeit des Menschen oder der Mensch als unsterbliches Wesen ein Gegenstand der
Religion, aber eben deswegen nur ein Gegenstand des Glaubens, denn die Wirklichkeit zeigt gerade das Gegenteil, die Sterblichkeit des Menschen. Glauben heißt sich einbilden, daß das ist, was nicht ist, heißt sich z. B. einbilden, daß dieses Bild lebendiges Wesen, dieses Brot Fleisch, dieser Wein Blut d. h. ist, was er nicht ist. Es verrät daher die größte Unkenntnis der Religion, wenn Du Gott mit dem Teleskop am Himmel der Astronomie oder mit der Lupe in einem botanischen Garten oder mit dem mineralogischen Hammer in den Bergwerken der Geologie oder mit dem anatomischen Messer und Mikroskop in den Eingeweiden der Tiere und Menschen zu finden hoffst - Du findest ihn nur im Glauben, nur in der Einbildungskraft, nur im Herzen des Menschen; denn er ist selbst nichts anderes, als das Wesen der Phantasie oder Einbildungskraft, das Wesen des menschlichen Herzens.
54. "Wie Dein Herz, so Dein Gott." Wie die Wünsche der Menschen, so sind ihre Götter. Die Griechen hatten beschränkte Götter - das heißt: sie hatten beschränkte Wünsche. Die Griechen wollten nicht ewig leben, so wollten nur nicht altern und sterben und sie wollten nicht absolut nicht sterben, sie wollten nur jetzt noch nicht -das Unangenehme kommt dem Menschen immer zu früh - nur nicht in der Blüte der Jahre, nur nicht eines gewaltsamen, schmerzhaften Todes sterben; (7) sie wollten nicht selig, sie wollten nur glücklich sein, nur beschwerdelos, nur leichthin leben; sie seufzten noch nicht darüber, wie die Christen, daß sie der Notwendigkeit der Natur, den Bedürfnissen des Geschlechtstriebes, des Schlafs, des Essens und Trinkens unterworfen waren; sie fügten sich in ihren Wünschen noch in die Grenzen der menschlichen Natur; sie waren noch keine Schöpfer aus Nichts, sie machten noch nicht aus Wasser Wein, sie reinigten, sie destillierten nur das Wasser der Natur und verwandelten es auf organischem Weg in den Saft der Götter; sie schöpften den Inhalt des göttlichen, glückseligen Lebens nicht aus der bloßen Einbildung, sondern aus den Stoffen der bestehenden Welt; sie bauten
den Götterhimmel auf den Grund dieser Erde. Die Griechen machten nicht das göttliche d. h. mögliche Wesen zum Urbild, Ziel und Maß des wirklichen, sondern das wirkliche Wesen zum Maß des möglichen. Selbst als sie mittels der Philosophie ihre Götter verfeinert, vergeistigt hatten, blieben ihre Wünsche auf dem Boden der Wirklichkeit, auf dem Boden der menschlichen Natur stehen. Die Götter sind realisierte Wünsche, aber der höchste Wunsch, das höchste Glück des Philosophen, des Denkers als solchen ist, ungestört zu denken. Die Götter des griechischen Philosophen - wenigstens des griechischen Philosophen kat exochen, [schlechthin - wp] des philosophischen ZEUS, des ARISTOTELES - sind daher ungestörte Denker; die Seligkeit, die Gottheit besteht in der ununterbrochenen Tätigkeit des Denkens. Aber diese Tätigkeit, diese Seligkeit ist ja selbst eine innerhalb dieser Welt, innerhalb der menschlichen Natur - wenngleich hier mit Unterbrechungen - wirkliche, eine bestimmte, besondere, im Sinne der Christen daher beschränkte, armselige, dem Wesen der Seligkeit widersprechende Seligkeit; denn die Christen haben keinen beschränkten, sondern unbeschränkten, über alle Naturnotwendigkeit erhabenen, übermenschlichen, außerweltlichen, transzendenten Gott, das heißt: sie haben unbeschränkte, transzendente, über die Welt, über die Natur, über das menschliche Wesen hinausgehende, d. i. absolut phantastische Wünsche. Die Christen wollen unendlich mehr und glücklicher sein, als die Götter des Olymp; ihr Wunsch ist ein Himmel, in dem alle Schranken, alle Notwendigkeit der Natur aufgehoben, alle Wünsche erfüllt sind (8), ein Himmel, in dem keine Bedürfnisse, keine Leiden, keine Wunden, keine Kämpfe, keine Leidenschaften, keine Störungen, kein Wechsel von Tag und Nacht, Licht und Schatten, Lust und Schmerz, wie im Himmel der Griechen stattfindet. Kurz der Gegenstand ihres Glaubens ist nicht mehr ein beschränkter, bestimmter Gott, ein Gott mit dem bestimmten Namen eines ZEUS oder POSEIDON oder HEPHAISTOS, sondern der Gott schlechthin, der namenlose Gott, weil der Gegenstand ihrer Wünsche nicht ein namhaftes, endliches, irdisches Glück, ein bestimmter Genuß, der Liebesgenuß oder der Genuß schöner Musik oder der Genuß der moralischen Freiheit oder der Genuß des Denkens, sondern ein alle Genüsse umfassender, aber eben deswegen überschwänglicher, alle Vorstellungen, alle Begriffe übersteigender Genuß, der Genuß unendlicher, unbegrenzter, unaussprechlicher, unbeschreiblicher Seligkeit ist. Seligkeit und Gottheit ist eins. Die Seligkeit als Gegenstand des Glaubens, der Vorstellung, überhaupt als theoretisches Objekt ist die Gottheit, die Gottheit als Gegenstand des Herzens, des Willens (9) des Wunsches, als praktisches Objekt überhaupt ist die Seligkeit. Oder vielmehr: die Gottheit ist eine Vorstellung, deren Wahrhaftigkeit und Wirklichkeit nur die Seligkeit ist. Soweit das Verlangen der Seligkeit geht, so weit - nicht weiter geht die Vorstellung der Gottheit. Wer keine übernatürlichen Wünsche mehr hat, der hat auch keine übernatürlichen Wesen mehr.
LITERATUR Ludwig Feuerbach, Das Wesen der Religion, Leipzig 1849
Anmerkungen
1)
Der wahre Sinn der Intermundien [Zwischenwelten - wp] EPIKURs ist hier natürlich gleichgültig.
2)
Auch die Christen beten ebenso, wie die Griechen zum ZEUS, zu ihrem Gott um Regen und glauben an die Erhörung solcher Gebete. "Es war, heißt es in den Tischreden LUTHERs, eine große Dürre, also daß lange nicht hatte geregnet und das Getreide auf dem Feld begann zu verdorren, da betete Dr. MARTIN LUTHER immerdar und endlich sprach er mit großem Seufzen: Ach Herr, siehe doch unser Gebet an um deiner Verheißung willen. ... Ich weiß, daß wir von Herzen zu Dir schreien und sehnlich seufzen, warum erhörest du uns denn nicht? Eben dieselbige folgende Nacht darnach kam ein sehr guter fruchtbarer Regen."
3)
Freilich hat die Weglassung der Schranken Steigerung und Veränderung zur Folge, aber sie hebt nicht die Identität des Wesens auf.
4)
Die Bezeichnung des Polytheismus überhaupt und schlechtweg als Naturreligion ist nur relativ, nur antithetisch gültig.
5)
Grenzenlos ist die Willkür im Gebrauch der Worte. Aber doch werden keine Worte so willkürlich gebraucht, keine in so widersprechenden Bedeutungen genommen, als die Worte: Gott und Religion. Woher diese Willkür, diese Verwirrung? Weil man aus Furcht oder Scheu, durch ihr Alter geheiligten Meinungen zu widersprechen, die alten Namen - denn es ist nur der Name, nur der Schein, der die Welt, selbst auch die gottesgläubige Welt regiert - beibehält, aber ganz andere, erst im Laufe der Zeit gewonnene Begriffe damit verbindet. So war es mit den griechischen Göttern, welche im Laufe der Zeit die widersprechendsten Bedeutungen erhielten, so mit dem christlichen Gott. Der Atheismus, der sich Theismus nennt, ist die Religion, das Antichristentum, das sich Christentum nennt, das wahre Christentum der Gegenwart. Mundus vult decipi. [Die Welt will betrogen sein. - wp]
6)
Ein Wesen also, das nur ein philosophisches Prinzip, also nur ein Gegenstand der Philosophie, aber nicht der Religion, der Verehrung, des Gebetes, des Gemütes ist, ein Wesen, das keine Wünsche erfüllt, keine Gebete erhört, das ist auch nur ein Gott dem Namen, aber nicht dem Wesen nach.
7)
Während daher im Paradie der christlichen Phantastik der Mensch nicht sterben konnte und nicht gestorben wäre, wenn er nicht gesündigt hätte; so starb dagegen bei den Griechen selbst auch im glückseligen Zeitalter des Kronos der Mensch, aber so sanft, als schliefe er ein. In dieser Vorstellung ist der natürliche Wunsch des Menschen realisiert. Der Mensch wünscht sich kein unsterbliches Leben; er wünscht sich nur ein langes leiblich und geistig gesundes Leben und einen naturgemäßen, schmerzlosen Tod. Um daher den Glauben an die Unsterblichkeit aufzugeben, dazu gehört nichts weniger als eine unmenschliche stoische Resignation; es gehört nichts weiter dazu, als sich zu überzeugen, daß die christlichen Glaubensartikel nur auf supernaturalistische, phantastische Wünsche gegründet sind und zur einfachen, wirklichen Natur des Menschen zurückzukehren.
8)
"Wo aber Gott ist (nämlich im Himmel), da müssen, sagt z. B. LUTHER, alle Güter mit sein, so man nur immer wünschen kann." Ebenso heißt es von den Bewohnern des Paradieses im Koran nach SAVARYs Übersetzung: Tous leurs desirs seront comblés. Nur sind ihre Wünsche anderer Art.
9)
Der Wille, namentlich im Sinne der Moralisten, gehört übrigens nicht zum spezifischen Wesen der Religion; denn was ich durch meinen Willen erreichen kann, dazu brauche ich keine Götter. Die Moral zur wesentlichen Sache der Religion zu machen, heißt den Namen der Religion behalten, aber das Wesen der Religion fallen lassen. Moralisch kann man ohne Gott sein, aber selig - selig im supernaturalistischen, christlichen Sinn - kann man nicht ohne Gott sein, denn die Seligkeit in diesem Sinne liegt außer den Grenzen, außer der Macht der Natur und Menschheit, sie setzt daher zur ihrer Verwirklichung ein supernaturalistisches Wesen voraus, ein Wesen, das ist und kann, was der Natur und Menschheit unmöglich ist. Wenn daher KANT die Moral zum Wesen der Religion machte, so stand er in demselben oder doch einem ähnlichen Verhältnis zur christlichen Religion, als ARISTOTELES zur griechischen, wenn er die Theorie zum Wesen der Götter macht. So wenig ein Gott, der nur ein spekulatives Wesen, nur Intelligenz ist, noch ein Gott ist, so wenig ist ein nur moralisches Wesen, oder "personifiziertes Moralgesetz" noch ein Gott. Allerdings ist auch schon ZEUS ein Philosoph, wenn er lächelnd vom Olymp auf die Kämpfe der Götter herabschaut, aber er ist noch unendlich mehr; allerdings auch der christliche Gott ein moralisches Wesen, aber noch unendlich mehr; die Moral ist nur die Bedingung der Seligkeit. Der wahre Gedanke, welcher der christlichen Seligkeit namentlich im Gegensatz zum philosophischen Heidentum zugrunde liegt, ist übrigens kein anderer, als der, daß nur in der Befriedigung des ganzen Wesens des Menschen wahre Seligkeit zu finden, daher das Christentum auch den Leib, das Fleisch an der Gottheit oder was eins ist, Seligkeit teilnehmen läßt. Doch die Entwicklung dieses Gedankens gehört nicht hierher, gehört dem "Wesen des Christentums" an.
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