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ALFRED BRUNSWIG
Das Vergleichen
und die Relationserkenntnis

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"Daß zwei nebeneinanderliegende Farben ähnlich oder verschieden sind, daß die eine heller als die andere ist, sieht man scheinbar ebenso leicht und einfach, wie man die Farben selbst sieht. Aber daß ein jetzt erklingender Ton höher ist als einer, der bereits vor einiger Zeit erklang, scheint man doch nicht so direkt hören zu können. Denn, da ein Verhältnis evidentermaßen auf seinen Gliedern fundiert ist, so erscheint es auch fast als selbstverständlich, daß die Wahrnehmung eines Verhältnisses die gleichzeitige Wahrnehmung seiner Glieder einschließt."


II. Teil
HAUPTPROBLEME DER
RELATIONSERKENNTNIS


Die Relationswahrnehmung als letzte
Grundlage der Vergleichsurteile


6. Entstehung des Problems
beim Sukzessivvergleich

Die Ergebnisse der bisherigen vorbereitenden Untersuchungen können wir kurz dahin zusammenfassen: Vergleichsurteile sind Verhältnisurteile, sie behaupten das Bestehen von Verhältnissen der Ähnlichkeit, Verschiedenheit, Steigerung usw., und zwar zwischen den in ihnen genannten Vergleichsgegenständen. Dieser ihr Sinn muß von psychologistischen Umdeutungen frei erhalten werden. Vergleichsurteile sind ferner keine bloßen Wortreaktionen, sondern überzeugte Meinungen und werden nicht bloß kausal ausgelöst, sondern stützen sich bewußt auf die Vergleichserfahrung als ihren Gewißheitsgrund. Als in der Vergleichserfahrung "gegeben" sind nicht nur von transzendent bleibenden "Reizen" bedingte subjektive Empfindungen usw. anzusehen, sondern eben dieselben objektiven Qualitäten und Dinge, über die geurteilt wird, können der Wahrnehmung gegeben sein. Endlich besteht auchd as Verhältnis der Steigerung zwischen den Qualitäten selbst und wird nicht erst auf Umwegen in sie hineingedeutet. Der ursprüngliche Sinn unserer Komparativurteile geht auf Verhältnisse unmittelbar wahrgenommener Qualitäten.

Wer also das Zustandekommen von Vergleichsurteilen psychologisch erklären will, muß es in dieser seiner vollen Charakteristik nehmen, wie es sich in phänomenologischer Analyse ausweist und nicht etwa als die rein sprachliche Äußerung, als die es eine nur äußerlich Greifbares beachtende Beobachtung oft mißversteht.

Unsere Frage wäre nun zunächst: Was an der Vergleichserfahrung begründet diese sichere Überzeugung vom Bestehen des behaupteten Verhältnisses? Doch geht unser Interesse vorerst noch nicht auf die Analyse und Zusammenstellung aller hier möglichen Urteilsfaktoren, sondern wir wollen von sekundären Motven absehend die letzte Grundlage von Verhältnisurteilen überhaupt kennen lernen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob diese Urteile aus einem Vergleich hervorgehen oder nicht. Wie sind Verhältnisurteile möglich?

Voraussichtlich muß es irgendwelche Erlebnisse geben, in denen Verhältnisse selbst direkt erfaßt werden, und auf solche unmittelbare Erkenntnisakte müssen letztlich alle Verhältnisurteile zurückgehen, um als einsichtig gefällte möglich zu sein.

Eine solche direkte Erfassung von Verhältnissen wird nun auch an gewissen Punkten allerseits zugestanden. Man spricht von einer unmittelbaren Wahrnehmung z. B. der Ähnlichkeit zweier Farben, und man gebraucht hier den Ausdruck "Wahrnehmung" mit Recht, insofern man damit die Unmittelbarkeit des Erkennens und die anschauliche Gegenwart des Erkannten charakterisieren will. Verhältnisurteile, denen eine solche direkte Wahrnehmung der Vergleichsrelation zugrunde liegt, erscheinen dann als keiner weiteren Klärung bedürftig: sie geben einfach einer Wahrnehmung Ausdruck und schöpfen ihre Gewißheit aus der Anschauung des behaupteten Verhältnisses selbst.

Nun scheint aber eine solche direkte Verhältniswahrnehmung als Urteilsgrundlage doch nur in einem Fall bedenkfrei möglich zu sein, nämlich dann, wenn auch die beiden Objekte, zwischen denen dieses Verhältnis besteht, selbst gegenwärtig und zugleich wahrgenommen sind, wie es beim Simultanvergleich zu sein scheint, während beim Sukzessivvergleich, wo die Glieder des Verhältnisses zeitlich getrennt wahrgenommen werden, eine solche direkte Verhältniswahrnehmung und damit eine so einfache Lösung des Problems der Urteilsgewißheit nicht ohne Weiteres möglich erscheint. Daß zwei nebeneinanderliegende Farben ähnlich oder verschieden sind, daß die eine heller als die andere ist, sieht man scheinbar ebenso leicht und einfach, wie man die Farben selbst sieht. Aber daß ein jetzt erklingender Ton höher ist als einer, der bereits vor einiger Zeit erklang, scheint man doch nicht so direkt hören zu können. Denn, da ein Verhältnis evidentermaßen auf seinen Gliedern fundiert ist, so erscheint es auch fast als selbstverständlich, daß die Wahrnehmung eines Verhältnisses die gleichzeitige Wahrnehmung seiner Glieder einschließt. Ein solches Zusammenwahrnehmen beider Vergleichsobjekte liegt aber bei zeitlich getrennt dargebotenen Objekten offensichtlich zunächst nicht vor, und damit erscheint eine direkte Erkenntnis des Verhältnisses sukzessiv wahrgenommener Inhalte unmöglich. Somit erhebt sich gegenüber den beim Sukzessivvergleich doch tatsächlich vorkommenden überzeugten und richtigen Urteilen ein besonderes Problem: Wie ist anscheinend nur mehr gestützt auf die direkte Wahrnehmung des einen von zwei Vergleichsobjekten doch ein sicheres und richtiges Urteil über beider Verhältnis möglich? Wie beurteile ich die Beziehung eines gegenwärtigen Inhalts zu einem vorher wahrgenommenen, aber jetzt nicht mehr gegenwärtigen, anderen Inhalt?

Man wird die Konsequenz des obigen Gedankengangs annehmen müssen, daß solche Urteile immer nur sekundär möglich sind, und letzten Endes auch hier die Relationserkenntnis auf die bei simultaner Gegebenheit beider Objekte zurückgeht.

Als nächster und plausibelster Versuch einer derartigen Lösung dieses Problems des Sukzessivvergleichs stellt sich die Ansicht dar, nach der hier das Urteil auf einem innerlichen Simultanvergleich des noch selbst gegenwärtigen einen Inhalts mit dem gleichzeitig im Bewußtsein vorhandenen Erinnerungsbild des vergangenen basiert.

Im Gegensatz zu dieser mehr konstruktiv gewonnenen Theorie der Relationserkenntnis mittels eines Erinnerungsbildes läßt eine andere sich auf experimentelle Beobachtungen berufende Ansicht das Urteil beim Sukzessivvergleich sich auf gewissen Nebeneindrücke stützen, die dem zweiten Inhalt in Abhängigkeit vom ersten anhaften, und glaubt dadurch ohne Annahme einer direkten Unterschiedserkenntnis sukzedierender Inhalte das Problem des Sukzessivvergleichs lösen zu können.

Eine weitere Ansicht führt schließlich alle Relationserkenntnis als mittelbare auf die vermeintlich allein direkte Erkenntnis der eigenen Zustandsänderung zurück.

Wir werden im Folgenden diese Versuche einer eingehenden Untersuchung unterwerfen, die zu dem Resultat kommen wird, daß auf all diesen Wegen eine haltbare endgültige Lösung des Problems des Sukzessivvergleichs nicht zu erzielen ist, daß vielmehr auch gegenüber sukzessiven Inhalten eine direkte Unterschiedserkenntnis besteht. Eine positive Untersuchung des Wesens der Relationserfassung überhaupt wird uns dann auch die jener sukzessiven gegenüber geäußerten Bedenken als unstichhaltig erkennen lassen und uns die Möglichkeit zu einer allgemeinen Theorie des Vergleichens und der Relationserkenntnis bieten.


A. KRITISCHER TEIL
7. Die Gedächtnisbildtheorie
des Sukzessivvergleichs

Nach dieser Ansicht kommt das Urteil beim Sukzessivvergleich letztlich auf folgende Weise zustande. Werden zwei Inhalte, A und B, nacheinander wahrgenommen, so ist bei B ein Urteil über sein Verhältnis zu A nur dann möglich, wenn von A zumindest noch ein Gedächtnisbild α im Bewußtsein anwesend ist, und mit diesem Gedächtnisbild α wird das selbst gegenwärtige B verglichen. Im Zusammenwahrnehmen von α und B wird beider Verhältnis erfaßt, und auf diesem innerlichen Simultanvergleich gründet das Urteil über das Verhältnis des B zu A und seine subjektive Evidenz. Das Erinnerungsbild des ersten Eindrucks ist also gleichsam der Maßstab, an dem der Vergleichseindruck gemessen wird. Nur durch einen Vergleich mit dem Erinnerungsbild einer früheren Empfindung kann erkannt werden, daß eine gegenwärtige ihr gleicht oder sich von ihr unterscheidet.

Von dieser so plausibel klingenden Ansicht gingen auch die ersten experimentellen Untersuchungen des Vergleichesn aus, so WOLFE, WRESCHNER, LEHMANN. Mittels der Vergleichsmethode glaubten diese Psychologen daher auch einen Aufschluß zu erhalten über die Wandlungen jenes Erinnerungsbildes im Zeitverlauf und über die Treue des Gedächtnisses.

Diese Gedächtnisbildtheorie des Vergleichs stellt sich als eine Ausgestaltung der allgemeinen Überzeugung dar, daß ein Urteil über das Verhältnis zweier Objektive doch nur dann möglich ist, wenn beide dem Bewußtsein des Urteilenden gegenwärtig sind. Die Vorstellungspsychologie kann sich aber ein Bewußtsein von einem nicht selbst gegenwärtigen Inhalt nur denken als Haben eines gegenwärtigen Bildes von diesem Inhalt im Bewußtsein und versteht daher auch einen Vergleich mit einem nicht sinnlich gegenwärtigen Objekt nur als Vergleich mit einem gegenwärtigen Erinnerungsbild desselben. Wo sie dagegen dieses letztere nicht vorfindet, wird sie auch jenes leugnen müssen.

Die Gedächtnisbildtheorie des Vergleichs darf nun als gerade durch die Resultate später experimenteller Untersuchungen selbst widerlegt betrachtet werden, zumindest soweit sie ein Ausdruck unseres tatsächlichen normalen Verhaltens im Vergleich zu sein glaubte. Ein näheres Eingehen auf sie wird uns aber auch zeigen, daß sie auch dann, wenn sie empirisch überall zutreffen würde, niemals eine endgültige Lösung des Problems des Sukzessivvergleichs wäre, sondern alle Schwierigkeiten desselben in ihr, nur verhüllt, wiederkehren.

Es ist zunächst empirisch nicht zutreffend, daß das Urteil beim Sukzessivvergleich aus dem Vergleich mit einem Erinnerungsbild hervorgehen muß. In zahllosen Fällen kommen sichere und richtige Verhältnisurteile zustand, ohne daß vom Dasein eines Gedächtnisbildes des ersten Eindrucks und von einem Vergleich damit im Bewußtsein das Geringste zu konstatieren ist. WHIPPLE in seinen Tonvergleichsexperimenten, G. E. MÜLLER für den Gewichtsvergleich, SCHUMANN für den Zeitvergleich, ferner KÜLPE, MARBE, ANGELL u. a. haben übereinstimmend gefunden, daß der Vergleich mit einem Erinnerungsbild oder auch nur dessen Dasein kein wesentliches Erfordernis des Urteils beim Sukzessivvergleich ist. Bei der Mehrzahl der Versuchspersonen erfolgt das beste, sicherste und richtigste Urteil unmittelbar nach der Perzeption des zweiten "Reizes", ohne daß sich ein Vergleichsakt mit einem Erinnerungsbild des ersten dazwischenschiebt. Ein Gedächtnisbild kann ferner da sein, ohne doch zum Vergleich benutzt zu werden; sein Dasein und sein absichtliches Festhalten während der Pause bessert nicht die Resultate, sein Fehlen, bzw. seine Zerstörung durch Ablenkung der Aufmerksamkeit in der Pause verschlechtert sich nicht; ein Gedächtnisbild kann sogar falsch sein und es kann doch richtig geurteilt werden, mit seinen Wandlungen wandelt sich nicht notwendig das Urteil.

Auch die tägliche Erfahrung zeigt, daß man sicher und richtig urteilen kann z. B.: "Das Blau des Himmels ist heute leuchtender als gestern", ohne doch vom gestrigen Blau ein anschauliches Bild im Bewußtsein zu haben und darauf innerlich vergleichend hinzublicken, ja auch ohne fähig zu sein, sich absichtlich ein solches Bild ins Bewußtsein zu rufen.

All diesen Fällen gegenüber versagt die Erklärung des Urteils mittels der Gedächtnisbildtheorie.

Nur bei einer gewissen Klasse von Versuchspersonen und für gewisse Vergleichsarten liegt ein Vergleich mit einem derartigen Gedächtnisbild tatsächlich dem Urteil zugrunde.

Sind nun doch vielleicht diese Fälle die primären, und ermöglichen sie eine Erklärung des Urteils beim Sukzessivvergleich ohne Annahme einer direkten Unterschiedswahrnehmung auch gegenüber zeitlich getrennt aufgefaßten Inhalten?

Nein! Es läßt sich zeigen, daß ein solcher Vergleich immer schon ein mittelbarer ist und eine direkte Unterscheidungsfähigkeit sukzessiver Inhalte voraussetzt.

Das wird besonders klar an gewissen Beobachtungen, die WHIPPLE hierüber bringt (American Journal of Psychology, Vol. 12).

Bei Personen, die mittels eines Gedächtnisbildes ihr Vergleichsurteil zu gewinnen pflegen, kommt es vor, daß dieses Bild ihnen während der Pause verloren geht oder aber seine Qualität ändert, also falsch wird, dem Eindruck nicht mehr gleicht. Müßte nun nicht für diese das Urteil unmöglich oder aber falsch werden, wenn das Erinnerungsbild wirklich jene wesentliche Bedeutung hätte? In Wirklichkeit aber können solche Personen sich ziemlich einfach aus dieser Lage befreien und zu richtigen Urteilen kommen, wie in folgenden zwei Fällen nach WHIPPLE:
    "Versuchsperson 1 verlord das richtige Gedächtnisbild des vorigen Tonesf, versuchte es aber wiederherzustellen, indem sie innerlich die Skala entlang glitt; erkannte es wieder, als sie dabei an den betreffenden Ton kam und benutzte es jetzt wieder zum Urteil."
Ferner:
    "Bei Versuchsperson 2 änderte das Gedächtnisbild seine Qualität; sie versuchte nicht erst, wieder ein richtiges herzustellen, sondern erkannte einfach, daß es zu tief war gegenüber dem Ton, den es repräsentieren sollte, und stellte dies dann beim Urteil in Rechnung."
In beiden Fällen wird dann sicher richtig geurteilt.

Solche Fälle zeigen, wie ich meine, klar, daß dem Gedächtnisbild überhaupt nur die Rolle eines Hilfsmittels zukommen kann, nie aber eine für das Vergleichsurteil wesentliche Bedeutung.

Das "Bewußtsein" oder "noch Wissen" von einem nicht mehr selbst gegenwärtigen Inhalt kann offenbar nicht identisch sein mit dem Haben eines Gedächtnisbildes, denn ich kann ein Gedächtnisbild selbst als richtig oder falsch, als gleich mit oder verschieden vom Originaleindruck erkennen; ich erkenne ein Gedächtnisbild selbst als zu tief, d. h. als tiefer wie der vorige Ton, und zwar erkenne ich dies sicher unmittelbar ohne ein neues Gedächtnisbild, was ja zu einem unendlichen Regreß führen würde. Ebenso unmittelbar kann ich unter mehreren innerlich vorgestellten Tonbildern das richtige, d. h. einem vorigen Ton gleiche, wiedererkennen. Zumindest für das Verhältnis von Originaleindruck und Gedächtnisbild muß man also ein unvermitteltes Unterscheiden und Wiedererkennen zeitlich getrennter Inhalte zugeben, das man also nur törichterweise für das Verhältnis zweier zeitlich getrennter Wahrnehmungsinhalte leugnen kann.

Ein nicht auf ein Haben von Gedächtnisbildern reduzierbares unmittelbares Bewußtsein von einem nicht selbst gegenwärtigen Inhalt ist ferner offenbar die Voraussetzung der Benutzung von Gedächtnisbildern überhaupt, vorausgesetzt, daß man darunter mit der Assoziationspsychologie im Bewußtsein gegenwärtige Bildinhalte versteht. Denn so wenig ein objektiv falsches Gedächtnisbild meinem Urteil schadet, wenn ich die Art seiner Abweichung erkenne, so wenig nützt mir ein objektiv richtiges Bild α zu einem mir selbst evidenten Urteil über das Verhältnis eines B zu einem A, wenn ich diese Richtigkeit nicht als solche unmittelbar erkenne. Nur wenn mir bewußt α eben A vergegenwärtigt, kann ich gestützt auf die Wahrnehmung des Verhältnisses B : α überzeugt urteilen über B : A. Ein unmittelbares Wissen von einem nicht gegenwärtigen Inhalt greift also nicht bloß in solchen Fällen wie die von WHIPPLE helfend ein, sondern bildet die Voraussetzung der Benutzung solcher Gedächtnisbilder überhaupt.

Dieses eigenartige Wissen erscheint also als die tiefere Grundlage solcher Urteile, nicht aber Erinnerungsbilder, und aufgrund eines solchen Wissens erscheint eine direkte Unterschiedserkenntnis zeitlich getrennt erfaßter Inhalte möglich.

Hätten wir bloß Gedächtnisbilder der geschilderten Art zur Verfügung, so wäre ja auch unbegreiflich, warum nicht alle Sukzessivvergleichsurteile falsch sind. Denn Erinnerungsbilder denkt sich die Assoziationspsychologie meist als weniger intensive Abbilder der Empfindungsinhalte. Dann müßte aber die Intensität eines gegenwärtigen Eindrucks immer weit überschätzt werden. Auch das Gedächtnisbild des hellsten Weiß würde dunkler sein als ein wirklich gesehenes mäßig helles. In der Tat hat ja auch WRESCHNER auf derartige Weise gewisse konstante Überschätzungen des gegenwärtigen Eindrucks zu erklären versucht!

Allein Gedächtnisbilder repräsentieren mir bewußt den Originaleindruck selbst, von dem ich eben noch weiß, und ich vergleiche eigentlich mit dem Originaleindruck selbst, der mir im Bild nur vergegenwärtigt ist; seine Qualitäten, die ich meine, sind nicht notwendig gleich denen des repräsentierten Bildes; weiß ich aber abgesehen vom Bild noch direkt von ihm, so kann meinem Urteil die Unvollkommenheit des Bildes nicht schaden.

Auf das tatsächliche Dasein eines solchen unmittelbaren Bewußtseins von nicht gegenwärtigen Inhalten führt uns aber gerade die Analyse der Urteile gestützt auf den Vergleich mit vergegenwärtigenden Bildern selbst hin.

Seine Eigenart und Bedeutung werden wir später näher zu untersuchen haben (Kapitel 12).

Die Rolle der Gedächtnisbilder im Vergleich kann also nur eine sekundäre sein; sie setzen ein unmittelbares Unterscheiden und Wiedererkennen auch sukzessiver Inhalte voraus. Das Verhältnis eines gegenwärtigen B zu einem früheren A kann ich auch ohne Vergleich mit einem Erinnerungsbild direkt erkennen, wenn ich von A noch ein Wissen habe. Mit der Gedächtnisbildtheorie fallen auch ihre Konsequenzen; die Vergleichsmethode gibt also auch keinen Aufschluß über die Veränderung der Gedächtnisbilder, da diese keine notwendige Grundlage des Urteils bilden.

Auch die "eigentliche" Vergleichstätigkeit darf man somit nicht in einem innerlichen Vergleich mit einem Gedächtnisbild suchen, und das Fehlen eines Gedächtnisbildes des ersten Eindrucks besagt noch lange nicht das Fehlen jedes Bewußtseins von diesem Eindruck, das am Urteil mitbeteiligt wäre.

Die Gedächtnisbildtheorie suchte die Urteilsbildung beim Sukzessivvergleich auf die Relationserkenntnis bei simultanen Objekten zurückzuführen; beim innerlichen Nebeneinanderhalten von Vergleichseindruck und Gedächtnisbild sollte ja das Verhältnis beider wahrgenommen werden. Aber es fragt sich sehr, ob nicht auch bei gleichzeitiger Gegenwart beider die Verhältniswahrnehmung doch in sukzessiven Akten geschehen müßte, so daß auch hier das Problem der Unterschiedserkenntnis sukzessiver Inhalte ungelöst wiederkehrt und gleichsam nur an einen dunkleren Ort zurückgeschoben wäre.

Zumindest von solchen Inhalten wie Zeitstrecken, aber auch schon von Tönen kann man sich doch auch die Gedächtnisbilder nur nacheinander, nie streng simultan erfaßt denken, und somit müßte mindestens solchen Vergleichsgegenständen gegenüber eine nur sukzessive Unterschiedserkenntnis wesentlich sein. Somit kann zumindest hier durch den Vergleich mit einem Gedächtnisbild auch nicht einmal die erstrebte Umwandlung des Sukzessivvergleichs in einen innerlichen Simultanvergleich erreicht werden; der Versuch einer "Erklärung" der Urteilsbildung auf diesem Weg muß scheitern.

Die Gedächtnisbildtheorie hält demnach weder den Tatsachen stand, noch macht sie die Urteilsbildung beim Sukzessivvergleich prinzipiell verständlicher. Auch die Relationserkenntnis bei wirklich simultan gegebenen Objekten enthält schon zum Teil die Probleme, die man für den Sukzessivvergleich durch seine Zurückführung auf einen innerlich vollzogenen Simultanvergleich zu lösen suchte.

Was dieser Konstruktion eine gewisse Plausibilität verleiht, ist hauptsächlich die grobsinnliche Weise, in der sie einen tieferen Gedanken handgreiflich macht. Wie man eine Strecke an eine andere legt und mißt, so sollte man es auch mit dem Vergleichsobjekt und Erinnerungsbild des ersten Objekts machen. Aber selbst beim Simultanvergleich nebeneinander gesehener Raumstrecken ist die Relationserkenntnis schon nicht mehr ganz so einfach und so keiner weiteren Klärung bedürftig, wie es jene Theorie voraussetzt.


8. Das Sukzessivvergleichsurteil
als bedingt durch Nebeneindrücke

Es fragt sich also jetzt: Wie bei sukzessiver Darbietung zweier Vergleichsobjekte das Urteil über ihr Verhältnis zustande, wenn bei der Urteilsbildung nur noch das zweite Objekt wirklich gegenwärtig ist und nicht im Hinblick auf ein Erinnerungsbild des ersten das Urteil gefällt wird? Wie ist scheinbar nur gestützt auf ein B das Urteil über sein Verhältnis zu einem A möglich, d. h. als überzeugtes und richtiges, wie es das normal ist, möglich?

Auf diese Frage geben viele Experimentalpsychologen, die in Reaktion gegen die als unrichtig erkannte Gedächtnisbildtheorie von wirklichen Beobachtungstatsachen ausgehen wollen, folgende Antwort:

Vom ersten Vergleichsinhalt A ist bei der Urteilsabgabe meist, weil kein Gedächtnisbild, auch kein Bewußtsein mehr vorhanden und am Urteil beteiligt, und das ist auch gar nicht nötig; es genügt vielmehr, daß A, bzw. seine Wahrnehmung unbewußt, physiologisch nachwirkt, wenn dadurch bei B gewisse Nebeneindrücke auftreten, die vom tatsächlichen Verhältnis des B zu A abhängen.

Diese - experimentell festzustellenden - Nebeneindrücke bedingen dann das Urteil, dem ein eigentlicher Vergleich beider Inhalte nicht zugrunde liegt. Auf diesem Weg ist ohne Annahme einer eigentlichen direkten Verhältniswahrnehmung für sukzessive Inhalte ein Verständenis des Sukzessivvergleichsurteils zu gewinnen.

So stützt sich z. B. nach SCHUMANN beim Vergleich kurzer Zeitstrecken das Urteil "kürzer" auf den bei der zweiten Zeitstrecke erlebten Nebeneindruck der Überraschung; nach G. E. MÜLLER beim Gewichtsvergleich das Urteil "schwerer" auf den absoluten Eindruck der Schwere, den das zweite Gewicht macht; das Urteil "gleich" bei Vergleich von Tönen kann nach WHIPPLE bedingt sein durch einen eigentümlichen Vertrautheitscharakter des Vergleichstones.

Verwandt hiermit ist die Ansicht, daß die letzte Grundlage der Sukzessivvergleichsurteile eigenartige Gefühls oder Empfindungserlebnisse sind, die beim Übergang der Aufmerksamkeit von einem Objekt zum andern eintreten sollen und vom tatsächlichen Verhältnis zwischen den Objekten funktionell in ihrer wechselnden Eigenart abhängen, ohne jedoch selbst eine eigentliche Verhältniswahrnehmung zu sein. So sollten Gleichheitsgefühle dem Gleichheitsurteil zugrunde liegen, Unterschiedsempfindungen die Behauptung von Verschiedenheit bedingen.

Es ist nun, wie ich meine, zunächst klar, daß all diese Urteilsfaktoren nur sekundär möglich sind und bereits eine anderswo stattgefundene direkte Verhältniswahrnehmung, und zwar auch gegenüber sukzessiven Inhalten voraussetzen.

Denn das resultierende Urteil behauptet ja nicht bloß etwa: Beim zweiten Objekt wird ein Nebeneindruck oder ein Übergangserlebnis erlebt, sondern es behauptet, eventuell gestützt auf solche Eindrücke: Zwischen beiden Objekten besteht das und das Verhältnis z. B. die "Zeitstrecke B ist kürzer als A." Mag man sich nun das Urteil bewußt "stützen" lassen auf den Nebeneindruck, oder mag man es sich durch denselben bloß kausal "ausgelöst" denken, immer sind vermittelnde Erlebnisse vorausgesetzt, die an einen solchen Nebeneindruck ein solches Urteil knüpften. Daß der Nebeneindruck tatsächlich von einem vorhandenen Verhältnis abhängt und ein Symptom desselben ist, nützt dem Urteilende ja nur dann etwas, wenn ihm dieser Zusammenhang durch Erfahrung geläufig ist. Nur dann, wenn die Abhängigkeit des Nebeneindrucks vom Bestehen eines solchen Verhältnisses erfahren wurde, kann sich eine Assoziation zwischen ihm und dem entsprechenden Urteil bilden, nur dann kann er als Grund der Gewißheit ein überzeugtes Urteil bilden, nur dann kann er als Grund der Gewißheit ein überzeugtes Urteil stützen.

Diese indirekte Relationserkenntnis setzt aber ein direkte voraus.

Es ist ganz unmöglich, primär auf einen bloßen Gefühlseindruck hin zu einem Urteil zu kommen, das Gleichheit oder eine bestimmte Verschiedenheit zweier Objekte behauptet!

Man wird daher mindestens auf den Simultanvergleich bzw. auf den Vergleich mit einem Gedächtnisbild rekurrieren müssen und dort in direkter Verhältniswahrnehmung die Bedeutung jener Nebeneindrücke erkannt denken müssen. So nimmt z. B. SCHUMANN an, die Bedeutung der Nebeneindrücke beim Streckenvergleich durchs Auge, auf die wir uns jetzt nach ihm stützen, hätte man als Kind im Simultanvergleich und im Nebeneinanderlegen der Gedächtnisbilder kennen gelernt; später sie bei den meisten Personen diese Vermittlung als überflüssig weggefallen, und allein die Nebeneindrücke reproduzierten das richtige Urteil.

Das könnte vielleicht bei Raumstrecken noch möglich sein, aber wie soll es etwa bei solchen Objekten wie Zeitstrecken gewesen sein? Zwei Zeiten kann man doch ihrer Natur nach nur nacheinander wahrnehmen, und irgendwo muß doch auch das eigenartige Verhältnis: "zeitlich kürzer" direkt wahrgenommen worden sein, damit später auf Nebeneindrücke hin dasselbe behauptet werden kann. Etwas Transzendetes, Hypothetisches meinen wir doch damit nicht.

Die Benutzung von Nebeneindrücken setzt also schon eine direkte Verhältniserkenntnis von nacheinander erfaßten Inhalten voraus. Diese möchte aber SCHUMANN gerade als "mythisch" ablehnen.

Soweit also die Theorie der Nebeneindrücke des Anspruch machen will, das Problem des Sukzessivvergleichsurteils ohne Annahme eines unmittelbaren Unterschiedsbewußtseins für sukzessive Inhalte zu lösen, befindet sie sich vollkommen im Irrtum.

Eine andere Frage ist, wieweit sich etwa tatsächlich das normale Vergleichsurteil doch auf solche Nebeneindrücke sekundär stützt.

Die meisten experimentellen Beobachter geben nun an, daß sich mit Ausnahme der Fälle, wo mit einem Gedächtnisbild verglichen wird, im Moment der Urteilsbildung eben tatsächlich im Bewußtsein nichts weiter vorfinden läßt, als der zweite Vergleichsinhalt; das Urteil könne sich also nur auf ihn, bz. auf gewisse bei genauerer Analyse an oder bei ihm hervortretende Nebeneindrücke gestützt haben.

Wir werden demgegenüber nachzuweisen suchen, daß jene Ansicht auch die tatsächliche Bedeutung der Nebeneindrücke weit überschätzt, und daß es vor allem durchaus unrichtig ist, zu glauben, in all den Fällen, wo das Urteil direkt nach der Perzeption des zweiten Reizes fertig ist, liege nichts als eben diese Wahrnehmung des zweiten Reizes dem Urteil zugrunde. Diese Beobachter unterliegen einer mehrfachen Täuschung. Erstens suchen und beobachten sie in einer einseitigen Aufmerksamkeitseinstellung, der die wahre normale Urteilsgrundlage beim Sukzessivvergleich ewig unsichtbar bleiben muß; zweitens verkennen sie die wahre psychologische Natur mancher "Nebeneindrücke" und "Übergangserlebnisse", und endlich provoziert gerade die experimentelle Versuchsanordnung eine im gewöhnlichen Vergleichen nicht so häufig vorkommende vorzugsweise Benutzung von Nebeneindrücken.

Um sich über die normale Grundlage des Sukzessivvergleichsurteils klar zu werden, sind gehäufte Experimente trotz aller begleitenden Exaktheit eben nicht immer der beste Weg.

Wir werden später nachzuweisen suchen, daß die normale Grundlage des Sukzessivvergleichsurteils in einer direkten Verhältniswahrnehmung besteht, die bereits in der Anschauung eines Vergleichsobjekts möglich ist. Hier handelt es sich uns zunächst um die Erklärung der gegenteiligen Angaben vieler Beobachter, die immer nur indirekte Urteilskriterien vorzufinden behaupten.

Das liegt zunächst an einer sehr naheliegenden einseitigen Richtung der Aufmerksamkeit bei der Selbstbeobachtung, und zwar auf sinnlich greifbare, gegenständlich vorfindbare Inhalte. So finden diese Beobachter im Moment der Urteilsbildung zwar den zweiten Vergleichsinhalt im Bewußtsein vor, entdecken vielleicht auch an ihm gewisse sinnliche Modifikationen und anhängende Charaktere sowie in sich selbst gewisse Gefühlserlebnisse; aber die Wahrnehmung des Verhältninsses dieses zweiten Objekts zum ersten kann, auch wenn sie vorhanden ist, bei einer solchen Aufmerksamkeitsrichtung sicher nicht vorgefunden werden. Denn ein Verhältnis als fundierter Inhalt läßt sich in keiner Weise nach Art eines dem einen Inhalt anhaftenden sinnlichen Nebeneindrucks fassen und wahrnehmen. Schon die übliche Frage: "Woran erkennt man bei B, daß zwischen B und A das behauptete Verhältnis besteht?" suggeriert eine falsche, bzw. einseitige Richtung der inneren Aufmerksamkeit. Die Antwort kann dann nur lauten: Natürlich an etwas an oder bei B, und zwar an etwas anderem als dem, was behauptet wird, d. h. an einem indirekten Kriterium, sei es eine sinnliche Modifikation von B oder ein in uns verspürtes Gefühl. Man sucht also bei einer solchen Frage notwendig in falscher Richtung, wenn es eine direkte Verhältniswahrnehmung gibt. Freilich bleibt dieses Suchen nicht vergeblich, es gibt allerhand Nebeneindrücke, die einer direkten Verhältniswahrnehmung noch parallel laufen, und von diesen kann man dann eventuell eine reiche Ausbeute als vermeintliche Urteilsgrundlage heimtragen; aber die wahre Grundlage, die direkte Verhältniswahrnehmung, müßte auf diesem Weg immer verborgen bleiben. Daher beweisen alle Angaben, man finde eben nichts anderes als Nebeneindrücke trotzt sorgfältigster Untersuchung im Bewußtsein vor, gar nichts, wenn der Beobachter nur in der charakterisierten einseitigen Richtung sucht.

Wir werden später sehen, daß man z. B. bei Sukzessivvergleich gesehener Strecken dies, daß B größer ist als A, für gewöhnlich nicht an etwas anderem erkennt (z. B. an einer sinnlichen Verstärkung der Enden von B, wie SCHUMANN angibt), sondern daß man das Größersein von B selbst direkt wahrnimmt, und daß eine solche eigentliche Wahrnehmung des beurteilten Verhältnisses, obwohl nur B sinnlich gegenwärtig ist, weder sinnlos noch theoretisch unmöglich ist.

Für die eigenartige Wirklichkeit der Relations- und Sachverhaltswahrnehmung ist aber der psychologische Sensualismus blind.

Damit hängt zusammen, daß viele Beobachter die wahre Natur gewisser von ihnen bemerkter Nebeneindrücke und Übergangserlebnisse verkennen.

So spricht man davon, daß man die Gleichheit eines gegenwärtigen Inhalts mit einem früheren an einem eigentümlichen Gefühl erkennt, und daß die im Übergang von einem Objekt zu einem anderen verspürte "Unterschiedsempfindung" das Urteil: "Verschieden!" bedingt.

Diese Gefühle und Empfindungen denkt man sich dann als zwar von Gleichheit bzw. Verschiedenheit gesetzmäßig abhängige, aber in sich von diesen Verhältnissen natürlich nichts enthaltende eigenartige, womöglich den Organ- oder Muskelempfindungen verwandte Erlebnisse. Wie solche Gleichheitsgefühle und Unterschiedsempfindungen dann ein Urteil über die betreffenden Verhältnisse herbeiführen können, bleibt freilich schwer begreiflich, da Gefühle ja doch keinen Zettel über ihre Herkunft an sich zu tragen pflegen.

Wir werden später sehen, daß hinter diesen Relationsgefühlen und Empfindungen sich in Wahrheit eigentliche Relationswahrnehmungen verstecken, von denen aber in die Blickrichtung jener Beobachter nur ein den Körperempfindungen verwandter Teil fällt.

Die echten Gleichheitsgefühle und Unterschiedsempfindungen sind nicht von den objektiven Relationen bloß bedingte Empfindungszustände, sondern intentionale Fühlens- und Empfindensakte, die Gleichheit, bzw. Unterschied selbst zum Gegenstand haben.

Nicht hinblickend auf ein in sich stummes Gleichheitsgefühl bei B, sondern die Gleichheit des B mit A selbst fühlend, d. h. wahrnehmend, urteile ich B = A; nicht Unterschiedsempfindungen, sondern wahrgenommene Unterschiede selbst sind die Grundlage des Verschiedenheitsurteils.

Während des Daseins dieser Erlebnisse läßt sich von ihnen freilich nur ihre peripherste empfindungsartige Seite gegenständlich beobachten, nicht der Akt selbst, in dem wir leben; es ist daher nicht zu verwundern, wenn viele Selbstbeobachter ihn nicht vorzufinden behaupten; zumal der Vorstellungspsychologie Akterlebnisse theoretisch unfaßbar sind.

Die echten "Übergangserlebnisse", aus denen primär die Relationsurteile hervorgehen, werden sich uns als wirkliche Relationswahrnehmungen herausstellen, die erst sekundär durch heterogene indirekte Urteilsmotive ersetzt werden können. Eine primäre "Unterschiedsempfindung" ist nicht dadurch charakterisiert, daß sie von einem Unterschied herrührt und im Übergang erlebt wird, sondern dadurch, daß sie ein bewußtes Empfinden, d. h. Wahrnehmen eines Unterschieds ist. Auch das Erlebnis, das primär dem Urteil "Kürzer" beim Zeitvergleich zugrunde liegt, ist kein Nebeneindruck der Überraschung, der bloß bedingt ist durch das objektive Kürzersein der zweiten Zeitstrecke, sondern enthält eine Überraschung über das wahrgenommene Kürzersein, d. h. eine Relationswahrnehmung, erst sekundär kann diese fundierende Relationswahrnehmung fortfallen und der Nebeneindruck allein das Urteil bedingen.

Wir kommen damit auf einen dritten Punkt, der die Beliebtheit der Theorie der Nebeneindrücke verständlich macht.

Bei experimentellen Vergleichsversuchen stützt sich tatsächlich das Urteil sehr häufig auf Nebeneindrücke und indirekte Kriterien, aber einfach infolge der gewöhnlichen Versuchsanordnung bei derartigen Experimenten!

Man gibt hier meist einen längere Zeit gleichbleibenden Normalreiz und einen wechselnden Vergleichsreiz. An den festen Normalreiz findet aber bald von Seiten der Versuchsperson eine innere Anpassung statt, die keine volle Relationswahrnehmungen, sondern nur noch wechselnde Nebeneindrücke bei den Vergleichsreizen ins Bewußtsein treten läßt, an die sich das fast mechanisch gewordene Urteil anschließt. Auf diesem Weg aber Aufschluß erhalten zu wollen über die normalen Vergleichsurteilsfaktoren, wäre natürlich ein großer Irrtum; man findet nur die besonderen indirekten Kriterien wieder, deren Benutzung man durch die besonderen Versuchsbedingungen selbst herbeiführte, darf dieses Ergebnis aber nicht verallgemeinern.

Ein Teil der bei solchen Beobachtungen entdeckten Nebeneindrücke dürfte überhaupt in der Urteilsbildung keine Rolle spielen, sondern nur neben ihr hergehen oder gar erst durch die Beobachtung erzeugt werden; namentlich die, von denen wir für gewöhnlich nichts merken; denn es wäre doch seltsam, wenn wir die Gewißheit für unsere Urteile aus etwas schöpfen sollten, dessen aktuelles Vorhandensein im Bewußtsein wir gar nicht gewahr wurden.

Die Theorie der Nebeneindrücke betrachtet es zuweilen auch als einen besonderen Vorzug, daß sie auch gewisse Täuschungen beim Urteil ohne weiteres verständlich macht. So z. B. SCHUMANN gegenüber MEUMANN, wobei letzterer beim Zeitvergleich ein für die Erklärung der Täuschungen "unfruchtbares" unmittelbares Unterschiedsbewußtsein annimmt. Allein dieser vermeintliche Vorzug ist vielmehr ein Gegenargument. Die legitime Grundlage sicherer und richtiger Urteile kann und darf gar nicht auch noch die Täuschungen miterklären, sonst wäre sie eben nicht die letzte und direkte Erkenntnisquelle. Täuschungen können nur durch indirekte Kriterien entstehen.

Die angeführten Gründe machen es, wie ich glaube, wahrscheinlich, daß nicht nur die prinzipielle Bedeutung, sondern auch die tatsächliche Häufigkeit der auf Nebeneindrücke gestützten Vergleichsurteile von vielen Experimentalpsychologen weit überschätzt wird. Die letzte Urteilsgrundlage beim Sukzessivvergleich ist in ihnen jedenfalls nicht gefunden, ebensowenig wie von der Gedächtnisbildtheorie.

Bei einigen Psychologen läßt sich nun die Tendenz zu einer noch radikaleren Theorie erkennen, welche überhaupt jede subjektive Grundlage der Sukzessivvergleichsurteile leugnet. Man erkennt hier nur die zwei Vergleichsinhalte und das resultierende sprachliche Urteil als vorhanden an und meint, es genügt, wenn objektiv zwischen den Inhalten ein bestimmtes Verhältnis besteht, damit durch ihre Abfolge ein Urteil ausgelöst wird, das dieses Verhältnis richtig bezeichnet. Die objektive Ähnlichkeit zweier nacheinander gesehener Farben z. B. kann wohl auch das Urteil bedingen: "Sie sind ähnlich". Die objektive Tatsache, daß in zwei Tonfolgen gleiche Relationen vorkommen, kann wohl auch das Urteil erzeugen: "Die Melodie in beiden ist gleich", ohne daß die Gleichheit, ja ohne daß die gleichen Melodien erfaßt werden. (SCHUMANN) Ein Urteil über das Verhältnis von Unterschieden erfordert kein Erfassen der Unterschiede.

Wir erwähnen diese in Ansätzen vorhandene Theorie nur, weil sie der konsequenteste Versuch ist, das Vergleichsurteil nach Analogie eines mechanischen Auslösungsprozesses zu verstehen.

Alles eigentlich Psychische ist hier übersehen. Das Urteil ist rein äußerlich als motorischer Vorgang verstanden: daß es eine Überzeugung ausdrückt, daß diese bewußt aus der Vergleichserfahrung ihre Gewißheit schöpft, wird nicht beachtet. Gewiß kann eine Relation zwischen zwei erfaßten Inhalten allerhand psychische Wirkungen ausüben, ohne selbst erfaßt zu sein; aber daß sie so auch noch das ihr Vorhandensein mit Gewißheit behauptete Urteil auslösen kann, werden wir doch nicht für möglich halten. Im Streben nach vermeintlicher Exaktheit und getäuscht durch den Schein mechanischer Urteilsfällung in experimentellen Versuchsreihen macht diese Theorie aus einem einsichtig gefällten Urteil das Zauberprodukt einer unbewußten Maschinerie.


9. Prinzipielle Mittelbarkeit
der Relationserkenntnis

Man findet vielfach die Ansicht verbreitet, die Relationserkenntnis aller oder zumindest gewisser Inhalte sei eigentlich immer und notwendig eine mittelbare; das Urteil über ihr Verhältnis stütze sich nie auf die Wahrnehmung ihres Verhältnisses selbst, sondern auf das Verhältnis gewisser begleitender Inhalte oder aber der Auffassungsakte. Es wird dann auch beim Sukzessivvergleich vielleicht zwar eine Relationswahrnehmung zugegeben, aber nicht für die eigentlich zu vergleichenden Inhalte.

So soll z. B. beim Vergleich gesehener Strecken nach dem Augenmaß nicht eigentlich die Größenverschiedenheit dieser optischen Inhalte selbst wahrgenommen sein und diese Wahrnehmung dem Urteil zugrunde liegen, sondern nur das Verhältnis der Augenmuskelempfindungen bzw. die Wahrnehmung dieses Verhältnisses soll das Urteil über jene optischen Inhalte reproduzieren. In analoger Weise rekurriert man beim Vergleich von Tönen hinsichtlich der Höhe auf die begleitenden Kehlkopfspannungsempfindungen, beim Vergleich von Zeitstrecken oder von rhythmischen Schlagreihen auf die begleitenden Gefühle.

Bei dieser Form jener These verfällt man also auf andere, subjektivere Inhalte als mittelbare Urteilsfaktoren für die Beurteilung der objektiveren Inhalte.

Eine neue Lösung des Problems des Sukzessivvergleichs ist nun mit dieser Ausflucht jedenfalls nicht gegeben. Denn auch jene subjektiven Begleitinhalte sind sukzessiv, und entweder denkt man sich ihr Verhältnis wirklich erfaßt, dann ist zumindest für sie die Annahme jener direkten sukzessiven Unterschiedswahrnehmung nötig, die man für die eigentlichen, objektiven Inhalte nicht zugeben wollte.

Oder man läßt das Urteil nur durch das tatsächliche, nicht erfaßte, Verhältnis jener Begleitinhalte bedingt sein, dann fällt man wieder in die im vorigen Kapitel kritisierte Theorie der Nebeneindrücke oder der blinden Urteilsauslösung zurück und häuft noch deren Schwierigkeiten. In beiden Fällen ist es aber unmöglich, daß primär an die subjektiven Begleitinhalte ein Urteil über das Verhältnis der objektiven Inhalte geknüpft ist, vielmehr muß auch deren Verhältnis irgendwo, und zwar auch bei sukzessiver Auffassung, direkt selbst wahrgenommen worden sein, damit sich eventuell sekundär an indirekte Kriterien ein Urteil über sie knüpfen kann. Denn das Urteil "Ton B ist höher als A" meint doch kein Verhältnis von Muskelspannungsempfindungen, sondern eben von Tönen, akustischen Inhalten, und die eigenartige Idee einer Tonhöhenverschiedenheit kann nur aus deren Erlebnis selbst gewonnen worden sein. Töne sind aber nur im Nacheinander vergleichbar. Also muß auch im Nacheinander eine direkte Relationserkenntnis objektiver Inhalte möglich sein.

Es ist ja auch gar nicht einzusehen, warum es leichter und verständlicher sein sollte, subjektive Empfindungen und Gefühle als objektive, optische und akustische Inhalte als gleich und verschieden direkt zu erkennen.

Auch die tatsächliche sekundäre Rolle solcher indirekten Kriterien wird weit überschätzt. Es besteht bei manchen eine förmliche Manie, immer auf solche zu rekurrieren. Aber schon STUMPF wies mit Recht darauf hin, daß doch unsere Empfindlichkeit für Unterschiede von Muskelempfindungen usw. weit stumpfer ist, wie unsere so feine optische und akustische Unterscheidungsfähigkeit, so daß die Heranziehung jener Inhalte zur Beurteilung dieser von vornherein unwahrscheinlich ist.

Den Grund der Tendenz, zumindest für bestimmte Vergleichsobjekte, speziell für Zeitstrecken und Taktreihen, auf einen Vergleich der begleitenden Gefühle indirekt das Urteil basiert zu denken, werden wir später genauer untersuchen. Er liegt in der Voraussetzung, daß ein Verhältnis nur dann wahrnehmbar ist, wenn seine beiden Glieder simultan im Bewußtsein gegenwärtig sind. Zwei Zeitstrecken oder gar zwei Taktreihen gleichzeitig im Bewußtsein anwesend zu denken, ging aber doch nicht gut an, und so ließ man hier ihr Verhältnis indirekt an dem der begleitenden Gefühle erkennen, die, bzw. deren Gedächtnisbilder, man sich noch als zusammen bewußt vorstellen konnte. (WUNDT)

Die Unrichtigkeit des Versuches, zumindest das Urteil über das Verhältnis der Steigerung auf indirekte Motive zurückzuführen, haben wir bereits in Kapitel 4 der Voruntersuchungen erwiesen. Das Verhältnis der Steigerung ist eben schon in den Qualitäten selbst fundiert und daher auch an ihnen direkt erfaßbar.

Uns bleibt noch eine kurze Kritik der Tendenz, das Verhältnis aller vorgefundenen Inhalte indirekt am Verhältnis der sie auffassenden Akte erkannt zu denken.

So meinte LOTZE, daß wir an der Veränderung der vergleichenden Tätigkeit die Verschiedenheit zweier verglichener Inhalte erkennen, und nach LIPPS ("Einheiten und Relationen") ist z. B. das Bewußtsein der Ähnlichkeit zweier Inhalte gleich dem Bewußtsein der teilweisen Deckung der zwei auf sie gerichteten Apperzeptionsakte; das der Verschiedenheit gleich dem ihrer Sonderung.

Sofern mit derartigen Äußerungen eine grundsätzliche Mittelbarkeit aller Relationserkenntnis gegenüber Inhalten behauptet und nur für die subjektiven Akte selbst eine direkte Unterschiedswahrnehmung anerkannt sein soll, müßten wir sie entschieden bekämpfen. Es ist nicht nur für Akte, sondern auch für Inhalte eine direkte Relationserkenntnis auch im Nacheinander möglich, und das Bewußtsein des Verhältnisses der Inhalte ist nicht gleich dem der Akte.

Erst sekundär kann indirekt an der nötigen Änderung der auffassenden Tätigkeit die Verändertheit der Inhalte erkannt werden, und zwar geschieht dies besonders dann, wenn die dem ersten Vergleichsobjekt angemessene Auffassungstätigkeit unverändert über die Pause hin bis zum Auffassen des zweiten festgehalten werden kann.

Ursprünglich aber muß das Verhältnis auch sukzessiver Inhalte direkt erfaßbar sein.

Die Absicht der obigen Darstellung ist aber wohl mehr die, das Erlebnis der Relationswahrnehmung selbst nach seiner Aktseite hin zu charakterisieren. Aber auch demgegenüber muß man ähnlich wie bei den "Übergangserlebnissen" darauf hinweisen, daß z. B. das Bewußtsein der Ähnlichkeit nicht dadurch gekennzeichnet ist, daß in ihm ein bestimmtes Verhältnis der Akte im Übergang von einem Objekt zu anderen erlebt wird, sondern nur durch seinen Gegenstand, d. h. dadurch, daß es eben eine Bewußtsein der Ähnlichkeit dieser Objekte ist!

Die These der prinzipiellen Mittelbarkeit aller Relationserkenntnis läßt sich also in keiner Form durchführen; irgendwo müssen schließlich doch Verhältnisse direkt erkannt sein, und zwar auch Verhältnisse objektiver nacheinander wahrgenommener Inhalte.

LITERATUR: Alfred Brunswig, Das Vergleichen und die Relationserkenntnis, Leipzig und Berlin 1910