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JOHANN ZAHLFLEISCH
Einige Vorbemerkungen zu einer
neuen Erkenntnistheorie


"Die große Gefahr, von der man fortwährend hinsichtlich unserer unaufhaltsamen Wissensvermehrung, unseres Vollpfropfens der Jugend mit einem sogenannten Wissensballast und dgl. spricht, steckt weniger in dieser Vermehrung und in diesem Ballast, als vielmehr in der falschen Methode, die zu dem Zweck angewandt wird, das dabei gesammelte Material zu verstehen und zu beherrschen."

"Derjenige aber ... täuscht sich, wenn er gesicherte Verhaltensregeln für die ganze Menschheit oder nur für einen kleinen Teil derselben gegeben zu haben glaubt. Deshalb ist der Intellektualismus zu verurteilen, ebenso zu verurteilen ist die Aufstellung von für die ganze Menschheit gültigen Begriffen, zu verurteilen also auch jener Konventionalismus, welcher keine Pforte offen läßt zu dem allein sichere Resultate liefernden Individualismus, insofern wir nur in unserem Inneren eine solche Hierarchie von Erfahrungen haben, welche uns besagt, daß wir nur mit der größten Vorsicht Behauptungen aufzustellen das Recht besitzen und stets unserem Mitunterredner Einwendungen zu machen das Recht einräumen müssen."

"Sind ja doch auch die Empfindungen nicht etwas mit einem Schlag Gegebenes. Wir wissen aus der Psychologie, daß allen Empfindungen auch ein für jede einzelne derselben besonderer Gefühlswert zukommt. Wie nun, wenn gerade dieser Gefühlswert als das die besondere Art jeder Empfindung Bestimmende und Begründende angesehen werden müßte?"

Es wurde von mir in meiner Darlegung über die schon so oft ventilierte Frage: "Ist die Lüge erlaubt?" (Archiv für systematische Philosophie 1912, Seite 241f) der Grundsatz verfochten, daß, entgegen der Annahme KANTs, daß jedes Gefühl von pathologischer Bedeutung ist, mit diesem Wort (Gefühl) ein Seelenzustand gegeben ist, dessen genauere Untersuchung uns auf wertvolle Ergebnisse in erkenntnistheoretischer Hinsicht hinausführt. Um das hiermit Angedeutete einigermaßen dem Leser mundgerecht zu machen, will ich Folgendes zu erwägen geben (1).

Wenn ein Laie, d. h. ein Mensch, der sich mit einem besonderen Geschäft, sagen wir mit dem eines Kaufmanns, nie abgegeben hat, plötzlich in die Notwendigkeit versetzt wird, eine Arbeit des Kaufmanns auszuführen, z. B. zu wägen, dann wird er spüren, daß die Handhabung der Waage kein so einfaches Ding ist, als es beim ersten Anblick zu sein scheint. Das Emporschnellen oder Sichsenken der einen von beiden Zungen der Dezimalwaage vor allem bewirkt in uns keinen einheitlichen Ergebniserfolg, sondern wir schwanken als Neulinge bei dieser Handlung wiederholt hin und her: Sollen wir das Sichemporheben oder das Sichsenken hierbei im Sinne des zu großen Gewichts gelten lassen? Wir müssen uns gewöhnlich hierbei ordentlich in die zu wägende Last einfühlen (wobei es mir insbesondere stets so vorkommt, als säße ich selbst im Lasthebel), um ermessen zu können, daß das Emporschnellen der Gewichtsabteilung die Vergrößerung, ihr Sichniedersenken die Verringerung des Gewichtsmaßes bedeutet und nicht umgekehrt. Und da sich dies eben nicht immer schnell genug findet, so schwanken wir und probieren wir, wobei übrigens die Art der, nach dem von mir Gesagten, als notwendig sich erweisenden Einfühlung in suspenso [ausgesetzt - wp] bleiben mag. Außerdem dürfte sich daraus erhellen, daß wir es hier nicht mit einer der beiden Äußerungen eines pathologischen Gefühls zu tun haben. Solche intellektuellen Gefühle gibt es aber viele.

In dem obigen Beispiel von der Waage hatten wir nämlich die Möglichkeit des Messens und Wägens auf unser Gefühl, d. h. auf die gefühlsmäßige Vorstellung des Gewichts, der Gewichtsvermehrung und -verminderung stützen müssen, somit, insofern die Ursache und der Grund dieser Gefühle der Begriff des natürlichen Messens und Wägens ist, von verständigen oder intellektuellen Gefühlen gesprochen werden muß. Ganz dasselbe besagt nun eine Stelle bei ABICHT (Neues philosophisches Magazin, Erläuterungen und Anwendungen des kantischen Systems bestimmt, Bd. II, Leipzig 1790, Seite 87f):
    "Gefühle nun, deren Gründe Begriffe sidn, nenne ich verständige Gefühle; man könnte sie aber auch Gefühle der Urteilskraft nennen, insofern man mehr auf ihre Wirklichkeit und deren nächsten Grund als auf ihre Möglichkeit sehen will. Die Erklärung ihrer Entstehungsart hat ... keine Schwierigkeit mehr. Mit Begriffen bestimmen wir nämlich unser Bewußtsein sowohl des Objekts als auch des Subjekts" im Verhältnis "zu einem bestimmten Bewußtsein dessen, was das Objekt oder Subjekt für uns ist. Mit verschiedenen Begriffen bestimmen wir unser Bewußtsein der Gegenstände verschieden und erzeugen dadurch verschiedene Erkenntnisse des verschiedenen Eigentümlichen der Gegenstände, wenn und insofern wir die Begriffe im Bewußtsein auf die Gegenstände beziehen."
Damit ist das verständige Gefühl für die Gegenstände gegeben.
    "Auf gleiche Weise bestimmen wir auch mit verschiedenen Begriffen unser Bewußtsein des Subjekts (des Ich) verschieden und erzeugen dadurch verschiedene Arten des Bewußtseins der verschiedenen Eigentümlichkeiten des Ich oder, kürzer: wir bringen verschiedene Arten des Selbstbewußtseins hervor, wenn und insofern wir die Begriffe im Bewußtsein auf das Ich beziehen. So entsteht eine andere Art des bestimmten Selbstbewußtseins durch die Beziehung des Begriffs Größe oder Stärke, Überfluß und dgl." "auf das Ich und wieder eine andere durch die Beziehung des Begriffs Mangel."
Damit ist das verständige Gefühl für alle Zustände unseres eigenen Wesens, unseres Ich bezeichnet.
    "Ich nenne Begriffe, insofern sie auf das Ich bezogen werden und das Selbstbewußtsein bestimmen, pathische Begriffe, weil sie sich als solche zu Gefühlsgründen qualifizieren."
Stellen wir diese zuletzt gemachte Äußerung von den "pathischen" oder "gefühlvollen" Begriffen mit der ersten von den "verständigen Gefühlen" zusammen, für welche letztere, wie ABICHT behauptet, der Grund in Begriffen gesucht werden muß, welche Begriffe aber hier nicht genauer determiniert wurden, so muß man, insofern für das Zustandekommen der "verständigen Gefühle" nach ABICHT Begriffe die Ursache sind, auf die Vermutung kommen, daß schon ABICHT, wie KANT in seiner formalen Anschauung, auf deren Grund alle Antinomistik entsteht, vom Vorhandensein eines ganz besonderen Erkenntniselements überzeugt war, das vielleicht als die Mitte von Begriff und Gefühl gelten darf und deshalb etwas vom weniger deutlichen Gefühl und etwas von der Anschaulichkeit des Begriffs an sich hat.

Schon daraus müssen wir entnehmen, daß es sich überall darum handelt, zu bestimmen, ob am Ende nicht unseren sogenannten wissenschaftlichen Terminus etwas anhaftet, was uns gebietet, daß wir uns davon in Acht nehmen, in ihnen nur das zu sehen und mit ihnen nur das zu bestimmen, was wir intellektualistischerweise in sie hineinlegen. Und das geschieht gewöhnlich unter Aufwendung von allerhand Definitionen, Divisionen, Distinktionen, von denen bei genauerem Nachsinnen keine den Zweck erfüllt, uns in bewußter Weise auch derjenigen Gefühle teilhaft werden zu lassen, welche wir eigentlich nach ABICHT benötigen, um eine uns befriedigende Erkenntnisbestimmung aufgrund der lebendigen oder erlebnisvollen Auffassung der Dinge zu treffen.

Es muß nun schon frühzeitig im Kind das Identitätsbewußtsein, sei es in Form eines "verständigen Gefühls" oder eines "pathischen Begriffs", entstehen, weil von da an das Bewußtsein von der Kraft dieses Identitätsbewußtseins zum Zweck immer neue Erfahrungen zu sammeln, immer stärker und mächtiger wird, insofern wir ohne jene Identität nichts zustande zu bringen vermögen. Wir können uns freilich den hierbei zugrunde zu legenden Vorgang nur am Bild dessen vergegenwärtigen, was wir in der außerorganischen Welt wahrnehmen. Überall vereinigen sich die gleichen Effekte von Kräften oder zumindest die homogenen leichter als die ungleich-heterogenen. So entsteht die Adhäsion, die Kohäsion, die chemische Synthese, die Anziehung, Verdichtung. Es muß ein geheimer Zug in der Natur liegen, der es bewirkt, daß die Atome, welche sich unter einem dieser Titel verbinden, schon den Zug zu dieser Vereinheitlichung mittels einer, dieser Vereinheitlichung vorarbeitenden Einheits- oder Identititätsempfindlichkeit in sich tragen. Es muß also auch auf dem Gebiet des Organischen und Menschlichen so sein. Und der Anstoß zur Wiederholung von zweckdienlichen Bewegungen liegt doch wohl schon in jenen Teilen des Organischen, welche sich aus dem Anorganischen rekrutieren, in welchem, wie wir soeben sagten, die Wiederholung, Vereinheitlichung, Verdichtung, Identifizierung etwas ganz Gewöhnliches ist.

Darauf basiert nun aber, zumal im feiner angelegten Organischen, diejenige Empfindlichkeit, mit welcher wir zeitlich-räumliche Unterschiede zwischen den einzelnen identischen Eindrücken machen. Denn wenn etwas identifiziert werden soll, so muß immer von zwei Sachen gesprochen werden, womit die Empfindlichkeit für den Raum herangezogen werden muß, weil die beiden Sachen, da sie noch nicht beisammen sind, sondern erst vereinigt werden sollen, verschiedene Plätze einnehmen, was dann wieder weiter zur Folge hat, daß, wegen des Fortwirkens der einen identifizierenden Kraft, zwischen dem Wirken auf die erste und dem auf die zweite Sache eine meßbare Zeit verstreicht. Es ist nicht abzusehen, weshalb dem Organischen nicht auch für diesen Vorgang eine Empfindlichkeit beiwohnen soll.

Nennen wir den dem Subjekt, z. B. des Menschen, bemerkbaren Erfolg dieser Empfindlichkeiten "Gefühlsanschauung" (GA), dann wäre hiermit vielleiht etwas, wenn auch nur in nuce [im Kern - wp] Gegebenes vorhanden, das in seiner, durch allmähliche Erfahrung des Menschen ermöglichten, weiteren Entwicklung mit ABICHTs verständigem Gefühl oder pathischem Begriff verwandt oder gar identisch ist. Denn daß Empfindlichkeit auf Gefühl und daß die Besonderung der Empfindlichkeit gewissen Bildern analog gedeutet werden muß, versteht sich nach dem Gesagten von selbst. Namen sind nun gerade nicht absolut verbindlich; daher können wir den ersten Bestandteil immerhin "Gefühl", den zweiten "Anschauung", womit wir alle bisher erwähnten Empfindlichkeiten mit dem Namen GA zu belegen das Recht haben, nennen.

Zumindest dürfen wir nicht in Abrede stellen, daß so etwas, wie diese GA, durch die ganze Natur geht, weil Verneinung in philosophischen Dingen, wie KANT gelehrt hat, stets verhängnisvoll werden kann.

Der primitive Mensch und das Kind bilden sich aber außer den oben erwähnten, durch den nun einmal nicht abzuweisenden Introjektionismus selbst in die sogenannten anorganischen Dinge hinein zu ergänzenden GA von Raum, Zeit, Identität noch manch andere grundlegende. Vor allem ist es der, die ganze Natur durchziehende Optimismus, welcher das Kind zum Interesse für die bereits erfahrenen Dinge und für etwa in der Zukunft noch zu erfahrende treibt. Dieser Optimismus macht sich schon beim Kind dadurch kund, daß es nach allerlei Möglichkeiten ausschaut, wie es die ihm übergebenen Dinge nach seinem Gutdünken ändert, andere zum Vergleich heranzieht, mit einem Wort: das ihm zur Verfügung stehendes Sinnes- oder Geistesmateriale (Märchen) nach außen (durch Experimente) oder nach innen (durch Phantasie) vervollkommnet. Auch beim Tier und bei der Pflanze, ja auch bei stofflichen Wesen (Lufterwärmung, Anhäufung von Elektrizität an gewissen Orten des atmosphärischen Raumes, Entstehung von Verschiebungen der Erdrinde) muß ein solches Vervollkommnungsstreben konstatiert werden. Daß hierzu, nämlich zu jener Entstehung unseres Interesses, Reproduktion, Vorstellung, Ideenassoziation mitwirken, aber nur so, wie man sich diese Vermögen auch bei nicht "psychischen" Wesen denken muß, nämlich durch Wiedererzeugen, Vor (-sich-hin-)stellen und Verbindungen mancherlei Art, wie uns durch die Analogie der Vereinigung chemischer Elemente gezeigt wird (SCHELLING), muß hinzugefügt und zugleich bemerkt werden, daß auch diese Methodologismen gefühlsanschaulich gefärbt sein müssen, gerade so, wie wir dies bei der Entstehung der GA der Identität, des Raumes und der Zeit gesehen haben.

Man hat jedoch immer zu bedenken, daß alle diese Methodologismen wie Optimismus, Reproduktion, Assoziation, Vorstellung, Phantasie, Interesse, Identität, Raum, Zeit von uns nur nach dem Prinzip der allgemeinen Verständigung (Konventionalismus) genannt und so benannt werden müssen, wie wir es tun. Der genauere Grund ihrer Unterscheidung ist aber derselbe, wie der für die Unterscheidung von Hand und Fuß, Kopf und Rumpf, oder für die Abteilung der Geschichte nach den europäischen Völkern, insofern Deutschland, Österreicht, Rußland usw. jedes seine eigene Geschichte haben soll, während doch, dort die menschlichen Körperteile, hier die einzelnen Länder und Völker in eine einheitliche Verbindung deshalb gebracht werden müssen, weil man von einem Wirken eines einzelnen körperlich für sich ebensowenig sprechen kann (2), wie von der Geschichte eines einzelnen Volkes ohne Rücksicht auf seine Nachbarn. Daher kommt es, daß wir von einer Vorstellung ohne Phantasie und von dieser letzteren ohne die erstere, daß wir von Raum nicht ohne Zeit und umgekehrt nicht sprechen können.

Die nähere Ursache dafür aber, warum wir jene psychologischen Methodologismen unterscheiden, beruth auf demselben Grund, auf welchem wir die Arme von den Beinen begriffsmäßig trennen, nämlich darauf, daß wir mittels der Sinne uns dazu genötigt sehen, insofern z. B. Bewegung und Gestalt der Beine für sich anders aussieht als Bewegung und Gestalt der Arme. Denn genau so verhält es sich, wenn wir die zahllosen Eigenschaften alles Psychischen, der Fähigkeit des Denkens und Verständigseins, des Geistes und Gemütes auf einige besonders hervorragende reduzieren und dabei vom Recht der aus der Analogie mit äußeren Momenten erstehenden Unterscheidung jener Eigenschaften voneinander eingehend Gebrauch machen. Und da möchte ich nun vor allem einem Gedanken Raum geben, der zwar bei oberflächlicher Betrachtung absurd klingt, in Wahrheit aber das Recht aller philosophischen Behandlung für sich in Anspruch nimmt. Wäre es nämlich nicht denkbar, daß die Menschheit, bevor sie Unterschiede und Methodologismen im Bereich der sie umgebenden Welt erfand, nichts von Einzeldingen wußte, sondern nur einen höchst dunklen und schwachen Begriff von diesen hatte, während der Menschheit eigentlicher Grundzug das, nicht auf Einzelheiten angewiesene "Glück", jener "goldene", im goldenen Zeitalter verkörperte Paradieszustand war, in welchem der erste Mensch gleichsam nur zum Vergnügen den ihm umgebenden Tieren, wie es in der Bibel heißt, Namen gegeben hat?

Setzen wir also den Fall, der Mensch habe ursprünglich von den Konturen, Farben, Tönen, Gerüchen usw. gar keine Notiz genommen, er habe nur seinem "Glück" nachgelebt, so können wir ganz gut ermessen, wie beim Aufhören dieses Paradieszustandes, beim Erwachen des Konventionalismus, der eben nur als ein notwendiges Übel erschien, nicht bloße Konturen und Farben usw. Namen erhielten, sondern auch das, was räumlichen und zeitlichen, reproduziblen und assoziatorischen und dgl. Verhältnissen im Denken und überhaupt in dem im Menschen von Anfang an, wie den Tieren, ja auch den Pflanzen und Anorganismen angelegten Empfindlichkeits- oder, wie wir sagen "Gefühlsanschauungsvermögen", auf der Basis zugrunde liegenden Objektivismen entspricht, welche Objektivismen doch vor allem beim Auftreten jenes Konventionalismus, bei der Entstehung aller Verständigung unter den Menschen (durch Worte) jedem gleichsam plötzlich vor Augen treten mußten. Dieser Konventionalismus war aber von jeher gegeben; er liegt in der ganzen Natur als pure Angelegenheit; denn wie sollten wir uns die einzelnen Naturkräfte, den Magnetismus von der Elektrizität, die Akustik von der Optik, den Chemismus von der Schwere und jedes derselben von jedem getrennt denken? Das ist doch der bedeutsamste Konventionalismus, der ja nur in dem, in diese Natur hinein gearbeiteten Menschen seine Fortsetzung findet. -

Wie wir uns die Entstehung der damit verbundenen Sensualismen, Empfindungen, Vorstellungen, Begriffen zu denken haben? Vor allem steht fest, daß wir die eigentliche Wesensbedeutung der uns in der Natur entgegentretenden Dinge nicht kennen; wir leben nur so, daß die Natur in uns Einwirkungen erregt, von denen wir behaupten, daß sie bei anderer Gestaltung unserer physiologischen Einrichtung anders beschaffen sein müßten. Die gleiche Gestaltung dieser Einrichtung bei allen Menschen aber verbürgt uns den gleichen seelischen und Erkenntniserfolg in allen Individuen. Schon hieraus ergibt sich, daß wir aus der Frage nach der Entstehung unserer Sensualismen, Vorstellungen usw. nur mutmaßen können. Aber sicher ist, daß die intellektualistische Psychologie und Erkenntnistheorie allein nicht ausreicht, um hier einen Wandel zu schaffen. Wir werden unten zeigen, wie es von Jugend auf stets Gefühlsbilder sind, welche mit jeder, von außen kommenden Reizeinwirkung, der immer auch ein von innen her stammende Reaktion parallel geht, verbunden sein müssen, sobald wir etwa auf den Reiz mit unseren Kräften der Seele gleichsam antworten. Da sich nun der auf dieser ersten Stufe unserer Entwicklung stattfindende Vorgang im Laufe unseres Lebens sich fortwährend entsprechend den stets neu auftretenden Einwirkungen von außen und innen auf unsere Erkenntniskraft wiederholt, wobei die bleibenden Eindrücke von früher zugleich eine das sonst für sich allein eindeutig wirkende Reizgebilde mit einer sonst nicht vorausgesehenen Veränderung begleiten, so sind es stets Gefühlsbilder, welche hier zutage gefördert werden. Wir haben aber weiter oben schon gesehen, wie es kommt, daß diese Gefühlsbilder mit den allmählich bei unserer Entwicklung sich uns ebenfalls als "Gefühlsanschauung" kund tuenden Methodologismen der Identität, des Raumes, der Zeit, der Kausalität, des Zwecks und dgl. dazu gelangen, die Gestalt von Gegenständen, Objektivismen zu erhalten.

Und wenn diese einmal gegeben waren, so konnte der Denker dieselben wieder dazu verwenden, bloß innerlich, seelisch produzierte GA mit solchen Gegenstandsbeziehungen zu versehen. Ich nenne die damit verbundene eigenartige Erkenntnistheorie GAL (= Gefühlsanschauungslehre). Da z. B. das Wiederauftauchen von Vorstellungen (die Reproduktion) auch in der sinnlichen Außenwelt vorkommt, so hat man diese Benennung auf die Innenwelt übertragen, gerade so wie Assoziation, Einbildung und dgl., während Raum und Zeit in ähnlicher Weise von, aus dem entsprechenden, jedem Psychologen bekannten Verhalten der äußeren Dinge und ihrer Elemente sich als weitere Methodologismen dadurch in noch vertiefterer Gestalt ergeben haben. Ich glaube, daß nur auf diesem Weg der Betrachtung aller Dinge der so lange vergeblich gesuchte Weg zurück zur Natur gefunden werden kann, und daß nur so sich erklärt, mit welcher Energie, aber auch mit welchem Recht gegen den herrschenden Rationalismus von verschiedenen Seiten her (ich nenne z. B. nur MAUTHNERs Lexikon Front gemacht wird. Ich will ferner damit nur anzeigen, daß die große Gefahr, von der man fortwährend hinsichtlich unserer unaufhaltsamen Wissensvermehrung, unseres Vollpfropfens der Jugend mit einem sogenannten Wissensballast und dgl. spricht, weniger in dieser Vermehrung und in diesem Ballast steckt, als vielmehr in der falschen Methode, die zu dem Zweck angewandt wird, das dabei gesammelte Material zu verstehen und zu beherrschen.

Doch ich will mir diese Frage auf eine spätere Gelegenheit zur Beantwortung aufsparen. In erster Linie handelt es sich hier vor allem darum, daß wir uns darüber klar werden, daß nicht bloß der Mensch im Paradies vor dem Sündenfall, sondern auch jeder heutige Mensch überhaupt nie gesagt und unmißverständlich angedeutet bekommt, ob er, falls ihm seine Unternehmungen bis zu einem gewissen Punkt gediehen sind, sein Ziel erreicht hat und welchen Gewinn er davon zu tragen vermag, sondern stets lebt und webt der Mensch in einem Unfaßbaren ("nach einem glücklichen, goldenen Ziel sieht man sie rennen und jagen"). Und dieser Tatbestand setzt sich in alle menschlichen, moralischen und Wissensmomente hinein fort, wie wir noch genauer sehen werden. So z. B. spricht der Katechismus vom Zorn als einer der sieben Hauptsünden. Nun verstehen wir allerdings, was damit gemeint ist. Aber in Wahrheit könnte doch ein Quidproquo [dieses für jenes - wp] dann entstehen, wenn man davon ausgeht, daß dem Wort Zorn eine Äquivocatio [Vergleichbares - wp] zukommt in einer Art, daß wir an diesem Beispiel erkennen, daß kein Wort, kein Begriff von der Möglichkeit einer Äquivocatio freigesprochen werden kann. Was aber allem zukommt, kann kein unterscheidendes Merkmal sein: und der Tat ist diese Äquivocatio eine unter den mannigfachen Grundursachen der "Gefühlsanschauungslehre", wie wir sogleich am Beispiel des Zorns zeigen werden. Es gibt auch einen heiligen, also berechtigten Zorn, so gut wie es einen berechtigten Stolz, ein berechtigtes Ehrgefühl, eine berechtigte Nacheiferung, feine Klugheit, tollkühne Tapferkeit gibt. Wer bestimmt hier die Grenzen des Erlaubten, ja Geforderten vom Unerlaubten und Sündhaften? Es gibt ein radikales Böses in uns, aber: "wer sich rein von Schuld und Fehde weiß, hebe den ersten Stein".

Bei der Beurteilung solcher Fälle muß man sich stets gegenwärtig halten, daß in einer GA mehrere zugleich gegenwärtig sind, wie schon aus der oben angedeuteten Urteilstheorie hervorgeht, welcher zufolge einem Subjekt mehrere, ja viele GA-Prädikate zukommen, je nachdem man die Situation, in welcher das Urteil Gültigkeit haben soll, aufzufassen hat. Dabei wäre noch zu bemerken, daß wir in allen unseren Entscheidungen das Intelligible zugleich vom ästhetischen, moralischen, harmonischen Gesichtspunkt, von dem Erhabenen und dgl. zu bilden uns bemühen müssen. Denn was hilft der glücklichste Gedanke, wenn wir ihn nicht z. B. unserer Zuhörerschaft vom ästhetischen, harmonischen Standpunkt richtig und plausibel genug darzustellen vermögen? Schon der kleine Knabe hat die Vorstellung davon, daß er die von ihm getragene Fahne nicht bloß ästhetisch schön findet, sondern sie auch hoch trägt, so daß man in dem Jungen schon neben der Anlage zur ästhetischen Beurteilung die zum Erhabenheitsgefühl merkt. Ganz ebenso erkennen wir diese Gefühlsanschauung im Halbwüchsigen, wenn er meint, weiß Gott was er leistet, wenn er etwa Pferde lenkt oder einen Wagen führt. Aber diese GA sind dem jungen Menschen ebenso notwendig wie dem Tier, welches ein Rad schlägt, um seine Schönheit zu zeigen zu dem Zweck, das Weibchen anzulocken, damit wir unser Interesse an den Dingen zu befördern vermögen, um uns dazu zu veranlassen, den Eigenschaften der Dinge eifrig nachzuforschen und Wissenschaften zu begründen. So erscheint alles orgiastische Bemühen eine gute Seite zu haben und somit auch der Enthusiasmus, wie er sich als Ergebnis des heiligen Zorns kundgibt. Ist doch in demselben Ästhetisches, Erhabenes, Harmonisches, Interessantes, Wissenschaft, Kunst, Moral, Recht und Norm nach allen Richtungen wie in einem Knoten vereinigt oder wie in einem Samenkorn, dem die mannigfaltigsten Farben und Gestaltungen entwachsen.

Es ist das ein sehr wichtiges Ergebnis, weil man sich auf intellektualistischer Seite nie darin genug zu können glaubt, um möglichst einfache Elemente, Empfindungen, Merkmale und dgl. als Grundfaktoren der erkenntnistheoretischen und logischen Methoden anzunehmen, während doch schon die zweite Antinomie KANTs es nahe legen konnte, daß mit bloßem absolut Einfachen, das überhaupt nicht existiert, niemand etwas anzufangen weiß, abgesehen davon, daß es gar nicht existiert, und daß, wenn man seiner so sicher wäre, nach denen in der Philosophie alles unsicher und nichts sicher sein soll. Anstatt dessen besteht unser ganzes Leben, Denken und Tun aus lauter Fragen und Problemen, was auch gut ist, weil sonst unserem Interessestreben, wie ich es eben geschildert habe, ein Ende gesetzt wäre. Und wie sollte auch der Mensch streben, wenn er sich nicht vor Probleme gestellt sähe? Diese Probleme werden schon den Kind aufgegeben, und der erwachsene Mensch, der sie lösen soll, sieht plötzlich vor sich wieder neue Probleme, von deren Lösung, was besonders wunderbar erscheint, die der ersteren sich abhängig erweist. Derjenige aber, welcher diese oder nur eines dieser Probleme gelöst haben will, täuscht sich, zumal wenn er gesicherte Verhaltensregeln für die ganze Menschheit oder nur für einen kleinen Teil derselben gegeben zu haben glaubt.

Deshalb ist der Intellektualismus zu verurteilen, ebenso zu verurteilen ist die Aufstellung von für die ganze Menschheit gültigen Begriffen, zu verurteilen also auch jener Konventionalismus, welcher keine Pforte offen läßt zu dem allein sichere Resultate liefernden Individualismus, insofern wir nur in unserem Inneren eine solche Hierarchie von Erfahrungen haben, welche uns besagt, daß wir nur mit der größten Vorsicht Behauptungen aufzustellen das Recht besitzen und stets unserem Mitunterredner Einwendungen zu machen das Recht einräumen müssen. Auf diese Weise lassen sich also konventionalistische Normen nur dann aufrecht erhalten, wenn sie in unserem Inneren ein uns damit zufrieden findendes Echo erwecken, was uns wieder nicht unmöglich ist, weil wir von Natur aus mit KANT und FICHTE (3) zu einer Introjektion oder Einfühlung gehalten sind, aufgrund welcher wir auf dem Weg unserer, gerade dadurch wirder einen Grund erhaltenden "Gefühlsanschauung" uns mit unserem Mitmenschen identifizieren und in diesen unseren Mitmenschen andererseits uns selbst wieder finden, was ungefährt dasselbe ist, wie wenn wir uns in unserem Selbstbewußtsein und unser Selbstbewußtsein in uns wieder erkennen, sehen und fühlen. Und weil sich dieses unser Sympathisieren auch auf die Natur überhaupt ausdehnt, so verstehen wir erst, wie wir in der Tat nur ein integrierender Bestandteil der ganzen Natur sein müssen, und daß wir nur im Glauben an diesen Pannaturalismus, welcher vom Standpunkt des Unerforschlichen, Göttlichen mit dem Namen Pantheismus belegt zu werden pflegt, am sichersten im All der Natur festgewurzelt sind.

Und wenn der Intellektualismus richtig wäre, wie käme es, daß nicht selten am meisten durch Schweigen und durch Sichentwickelnlassen der Verhältnisse ausgerichtet wird, insofern die Natur bei allzu groben Ausschreitungen des damit sich entwickelnden Ergebnisses nur gubernierend [herrschen, regieren, verwalten - wp] und steuernd, nicht tonangebend und gebietend auftritt? So in der Pädagogik und Politik, im Rechtsverfahren und in der Theologie. Überall finden wir, daß das selbstherrliche Auftreten von den übelsten Folgen begleitet ist. Darauf führen die Konsequenzen des berüchtigten "l'état c'est moi" [Der Staat bin ich. - wp], die Entstehung der Reformation, der französischen Republik, der Kinderfürsorge und der milderen Handhabung der Rechtspflege, Dinge, die von einem gewissen Standpunkt eigentlich einen Rückschritt bedeuten, aber nur als ein geheimnisvoller Ausschlag des Weltgefühls gefaßt werden können. Darauf führt die Tatsache, daß, der wahrhaft es mit sich und den Seinen ernst meint, stets in einem Zustand lebt, welcher zwischen Hoffnung und Furcht schwankt, so Mann, so Weib, also daß man in keinem Lebensalter, in keinem Stand vor unvorhergesehenen Fällen sicher zu bleiben vermag. Derjenige also, welcher immer das "Glück" im Munde führt und sich darunter einen besonderen, durch nichts getrübten Zustand vorstellt, geht sehr in die Irre.

Wenn einer glaubt, durch die Ergreifung eines Berufes, durch Verheiratung, durch Unternehmungen von was auch immer für einer Art gesichert zu sein, dann könnte er dies nur insofern behaupten, als jeder Mensch zur Begründung solcher Etappen nach Naturgesetzen berufen ist; was er aber innerhalb dieser Etappen zu erwarten hat, ist nichts weniger als sicher. Er hat nur das eine Gute dabei, daß seine Lebensentwicklung ihm die Durchführung seiner Aufgaben nicht erschwert, sondern erleichtert. Aber die Gefühlsanschauung (4) der Schwierigkeiten und der nach ihrer Überwindung etappenweise eintretenden Erleichterung, die man wegen vorläufiger Verzichtleistung auf eine beständige Leichtigkeit des Lebens mit dem Namen Resignationismus belegen könnte, bleibt während des ganzen Einzellebens. Aber daß wir ja richtigt die Etappen des letzteren im Auge behalten! Es dauert nicht lange nach den allerersten Eindrücken der frühen Kindheit und wir gelangen zu einer Gefühlsanschauung der Zukunft, welche offenbar dem Zweck dient, der Furcht und Hoffnung Vorschub zu leisten, die die Grundlage der Resignation zu bilden haben. Natürlich kommt diese Zukunft selbst nur unter der Voraussetzung der bereits, wenn auch in noch so geringem Maß, erfahrenen Begebenheiten in unserem Leben zustande. Müssen sich ja, nach dem Gesagten, auch später zu allen unseren Erfahrungen die Reminiszenzen [Erinnerungen - wp] an all dasjenige gesellen, was uns bisher an Erwägungen und endgültigen Resultaten bekannt geworden ist und nun als Reproduktion zum Vorschein kommt.

Und so lebt der Mensch der Vergangenheit und Zukunft zugleich, wodurch uns die eigentümliche Strebekraft, die, kurz gesagt, wenn normal geübt, stets zwischen Furcht und Hoffnung schwankt, erwächst. Aber die Neuheit der auf uns einstürmenden Äußerlichkeiten und unserer eigenen Entwicklung kann uns zu schaffen machen, weil sie uns vor stets neue Probleme führt. Was ist hier Leitstern und Führung? Es kann nichts anderes als ein geheimes Ineinanderwirken der sämtlichen menschlichen Angelegenheiten sein, ein Ineinanderwirken, das unter einem, vor unseren physiologischen Angelegtheiten und von unserer Umgebung (Nahrung, Luft, Licht, menschliche Gesellschaft) herrührenden Zwang steht, wie wir ihn entsprechend auch bei den Tieren vorauszusetzen haben. Hierbei mag das Signal dazu, daß wir uns in der richtigen Indifferenz- oder Resignationslage befinden, von unserem jeweiligen Lebensgefühl, in welchem sowohl ein anschaulicher Konzeptualismus steckt, als auch nach dem oben Gesagten, das Denken und Fühlen und Streben unserer Mitmenschen konzentriert sein muß, ausgehen. Dieses wird doch wohl dem Empfindlichkeitszustand einer Pflanze, eines anorganischen Stoffes insofern gleichen, als ihm diejenige, endgültig alle seine Sonderempfindlichkeiten einigende "Gefühlsanschauung" zukommt, welche als von uns zu fühlendes Bild dieser gesamten Lage bezeichnet werden kann.

Nehmen wir aber an, daß die einzelnen Lebensetappen auch noch so verschieden sind, so daß man keinen Anhalts- oder Meßpunkt aufzeigen kann, um ein einigendes Band für sie alle zu gewinnen, so muß doch alle Bestrebung des lebenden Wesens überhaupt auf einen, in seinen Angelegenheiten bestimmt auftretenden Ausgangspunkt zurückgeführt werden und darin wurzeln. Es verhält sich damit doch so, wie etwa mit der Achsendrehung eines Planeten gegenüber seiner Bewegung um den Zentralkörper. Es muß sich eine wurzelhafte "Gefühlsanschauung" durch alle unsere Etapenn der Lebensentwicklung von der Jugend bis zum Alter durch das ganze menschliche Einzelleben hindurchziehen, schon deshalb, weil sonst der Einheitlichkeit des Bewußtseins und des Ich eine Hemmung entgegengesetzt wäre. Aber sie, diese wurzelhafte Gefühlsanschauung, ist uns nicht schon gegeben, wir müssen sie selbst gestalten, allerdings so, daß uns all jene den Sonder-Gefühlsanschauungen angehörigen Eigentümlichkeiten in zwei vorwiegend gegebene Teile zerfallen, von denen der eine mit den wurzelhaften Gefühlsanschauungen der, ohne Rücksicht auf Etappen gegebenen Lebensrichtung zusammenfällt, der andere mit der Gefühlsanschauung von der durchaus nicht direkt beeinflußbaren Umwelt. Überall, bei allen unseren Tätigkeiten, scheidet sich so unser Lebenswerk in beide besagte Teile, von denen der erste immer für unser Fühlen identisch bleibt. Und diese Identität ist es, welche von KANT mit dem Selbstbewußtsein, von FICHTE mit demjenigen Ich bezeichnet wird, welches, analogisch genommen, in allen Naturdingen steckt.

Nennen wir jene Gefühlsanschauung das Weltgefühl, d. h. diejenige unserer Empfindlichkeiten, mit welcher wir uns, wie schon vom objektiven Standpunkt angenommen werden muß, in das große Ganze der Natur einreihen, dann mag jeder Eindruck der Natur auf uns in gleicher Weise vonstatten gehen, wie dort, wo uns der Sinnesreiz in unverhoffter Weise trifft. Setzen wir den Fall, wir gingen in dunkler Nacht durch einen finsteren Wald und wir hörten ein eigentümliches Knacken in den Ästen der Bäume. Jeder wird mir zustimmen, daß in diesem Moment tausenderlei Gedanken, Gefühle und Strebungen unseren Geist durchzucken. Bei dem ein oder anderen derselben bleibt unser Gemüt stehen, wenn auch im nächsten Augenblick der Eindruck wieder verworfen wird.

Ganz ähnlich sind jene Fälle, in denen von uns ein Fehlschlag, eine nicht schon im Voraus berechnete Handlung erfolgt: Ich halte z. B. ein Zeitungsblatt mit den Händen fest. Auf einmal entgleitet mir dasselbe und ich gebe mir die größte Mühe, es im Fallen aufzuhalten. Ich bin sicher, daß in diesem Moment eine große Zahl von Vorstellungen uns durchfahren, meist solche, mittels welcher wir uns indigniert zeigen, durch welche also in gewissem Grad, aber jedenfalls unserem Wohl oder Übel, unserer Hoffnung oder Furcht innerlich Ausdruck gegeben werden soll. Daß wir überall dort, wo wir neuen Empfindungen begegnen, als Kinder oder Erwachsene derartige angenehme oder unangenehme Schocks erleiden, versteht sich von selbst. Aber wer soweit in seine Jugendzeit zurückzudenken vermag, wird mir beistimmen, wenn ich behaupte, daß der unverhoffte Anblick einer noch nie gesehenen Blume, das Kosten einer neuen Nahrung und dgl. in uns die mannigfachsten Erregungen und Vorstellungsbilder verursacht hat und zwar so, daß wir uns im Innersten ergriffen fühlten. Und auch heute bringt ein nie oder selten gesehenes Ereignis, ein Ballonaufstieg, eine Flugmaschine u. a. in einem Erwachsenen derartige Erregungen und Gefühlsbilder hervor, welche, ganz ähnlich unserem ersten Beispiel von der Waage, es notwendig erscheinen lasen, daß wir uns in die gesehene oder sonstwie wahrgenommene Sache einfühlen und bei dieser Gelegenheit eine Reihe von Gefühlsbildern erzeugen, welche offenbar aus unserem Lebensgefühl stammen und daher neben ihrer Besonderung durch Empfindungen, die auf dem gleichen Weg, wenn auch in anderer Richtung, entstanden sind, mit unserem innersten Wesen in Zusammenhang stehen. Und wenn wir sehen, wie der Mensch und die Person schon seit ihrem Existenzbeginn mittels echt menschlichen Sinnes und Trachtens sich mit den Dingen der Welt bekannt macht, so daß bei all diesem Denken und Tun das Individuum derjenige Zug durchweht, den wir den spezifisch menschlichen nennen, so ensteht, abgesehen von jenen Gefühlsbildern, auch noch der Eindruck, den wir mit dem Namen des Resignationismus ebenso bezeichnen, wie wir etwa den Eindruck derselben Weltdinge auf das Tier, auf die Pflanze, wenn sie auch wegen einer anderen physiologischen Gestaltung der letzteren beiden nur unter Ausschluß der höheren menschlichen Arbeiten operieren, mit der Eigentümlichkeit des Tierischen, des Vegetativen und dgl. versehen, in der Weise, daß auch dieser tierische, vegetative Resignationismus in einem allgemeinen Weltgefühl aufgeht.

Doch könnte jemand einwenden, es sei nicht angängig, Eigenschaften, welche dem anorganischen und überhaupt denjenigen Naturreichen zukommen, welche außerhalb der Menschensphäre liegen, als identisch mit denjenigen zu nehmen, welche dieser letzteren Sphäre eigen sind. Aber wer ist es, muß darauf erwidert werden, der dem Anorganismus, der Pflanze, dem Tier die Bedeutung zuerkennt, welche wir mit unseren Begriffen erfassen, mit unseren Worten hören, mit unseren Affektionen erfühlen? Ist es nicht die Empfindung des Menschen, in welcher sich all jene Reize zusammenfinden, welche den Dingen zukommen? Und was ist Empfindung?

Zunächst ist sie doch nur etwas echt Menschliches? Denn wie käme sie zustande, wenn nicht menschliche Kräfte hierbei wirksam wären? Vor allem also hat eine vorausgesetzte, ansich seiende Welt hierbei nichts zu sagen; ich spreche das noch einmal aus: "nichts", nicht etwa bloß teilweise nichts hat sie zu sagen. Denn wenn es sich, wie hier, um Erkenntnis handelt, so sind wir berechtigt, anzunehmen, daß von unseren menschlichen Angelegenheiten aus über die Natur eine ganz spezifisch menschliche Decke gebreitet wird, mittels welcher allein wir die Dinge in ihrer für uns unterscheidbaren, plastischen, wenn auch mit mannigfachen Eigenschaften begabten Gestalt verstehen, begreifen, erfassen, uns vorstellen und denken. Dieses echt menschliche Auffassen der Dinge aber muß aufgrund einer Menschenkraft erfolgen, die wir nicht direkt darstellen oder aus den gegebenen Tatsachen, wie der Chemiker aus reinem Stoffgemisch herausdestillieren können, sondern nur dadurch uns vergegenwärtigen können, daß wir uns in die Art und Weise vertiefen, in welcher wir von Jugend auf unsere Vorstellung von den Dingen gebildet haben.

Um das genauer durchzuführen, müssen wir auf zweierlei achten, auf einfache "Gefühlsbilder" und auf Methodologismen nach der Weise dieser Gefühlsbilder, obwohl die Grenze zwischen beiden keine scharfe ist. Denn nicht bloß einfache Gefühlsbilder, sondern auch Methodologismen, wie Identität, Raum, Zeit usw., sind, wie auch einzelne Gefühle, z. B. das der Scham oder Reue, in ihrem Kern nicht mehr in Bestandteile zerlegbar, außer wir suchen bildlich bei der Identität nach den beiden identisch sein sollenden Bestandteilen, beim Raum nach den Dimensionen usw. So rechnen wir also mit Zeit, Kausalität, Zweck und vielen anderen Methodologismen genau so, wie mit jenen Gefühlen, woher es, da die letzteren nur dem Menschen zugehören, kommt, daß auch die ersteren, die sogenannten intellektuellen Gefühle oder GAA Anthropomorphismen sind mit allen Beihilfen, welche vom Subjekt zum Zweck, die sogenannten Außendinge zu verstehen, herangezogen werden. Wir entfernen uns damit gar nicht von jenen Versuchen, die Natur zu erklären, welche auf Animismen, Fetischismen und dgl. beruhen. Denn man verstehe uns nur recht. Sicherlich macht es auf den mit den Gesetzen der Mathematik nicht Vertrauten einen frappierenden Eindruck, wenn er hört, daß man das Problem der Gedankenlesung ohne Fehler lösen kann, wenn man sich an die folgende Form derselben hält: Man denke sich eine Zahl, die man doppelt nimmt, dann 10 dazuzählt und die Hälfte aufsucht, dann die gedachte Zahl von der jetzigen abzieht, dann bleiben noch? Denn daß hier 5 oder überhaupt die Hälfte der dazu zählenden 10 oder einer anderen Zahl jedesmal herauskommt, ist ein Behelf dafür, auch ohne besondere Rechnung das Resultat auszusprechen. Ist es etwas anderes als wenn ein Lehrer dem Zögling einen Würfel Kochsalz zeigt, denselben zerschlägt und plötzlich dadurch eine Unzahl von solchen kleinen Würfeln zum Vorschein kommt? Die, stets für Gleichheiten, Ähnlichkeiten und dgl. aufgrund menschlich physiologischer Einrichtung empfängliche Menschenseele hat bald die Gleichheit dieser kleinen Würfel entdeckt, ohne den Grund dafür zu wissen, und vermag das damit als GA entstandene Identitätsbewußtsein vielleicht mit einem Fetisch zu verdeutlichen, sowie jener alte Mathematiker das eben erst erfundene oder gefundene Pentagondekaeder für einen Gott erklärte (vgl. meine Abhandlung aus dem Jahr 1898 im "Archiv für systematische Philosophie" über Analogie und Phantasie.)

Und so geht es mit allen Methodologismen. Nun brauchen wir allerdings nicht so weit zu gehen, daß wir gefundene Axiome, Logizismen, Naturgesetze von demselben Standpunkt überall behandeln, wie entsprechend dem eben von mir Gesagten, BASTIAN den Zustand des aus der gewöhnlichen Natur herausragenden und doch Natürliches darstellenden Epileptikers erklärt ("Beiträge zur vergleichenden Psychologie", Berlin 1868, Seite 115f), nämlich mit Göttliches oder zumindest Animistisches enthaltenden Normen; aber Normen sind sie einmal und, weil ihre Urgründe nach oben hin nicht erklärbar, nach unten hin, d. h. zum Zweck unserer praktischen Verwertung dagegen uns das Bekannteste sind, was es gibt, da sie in uns unter der Form von persönlich erfühlten GAA auftreten, und da wir diese GAA als etwas in das Resignatorische als in das Heiligtum des Menschen Einzuordnendes zu betrachten haben, so wüßte ich nicht, was man gegen die Annahme einwenden könnte, gemäß welcher jeder ein solcher Methodologismus, wie unsere Empfindungen und Gefühle, als ein Unikum und daher als ein nur von uns subjektiv Erfühltes und in diesem Erfühlen Wahrgenommenes, aber auch zu der allgemeinen Verwendung bei der Herstellung unseres Lebensglücks Gelangendes ist in der Weise, wie man von Sterngöttern und Monaden spricht, nur daß jetzt diese Sterngötter und Monaden nur in unserer Brust wohnen und hier einer ungleich natürlicheren Verwertung entgegensehen als außen. Sind ja doch auch die Empfindungen nicht etwas mit einem Schlag Gegebenes. Wir wissen aus der Psychologie, daß allen Empfindungen auch ein für jede einzelne derselben besonderer Gefühlswert zukommt. Wie nun, wenn gerade dieser Gefühlswert als das die besondere Art jeder Empfindung Bestimmende und Begründende angesehen werden müßte?

Notwendig ist es ja nicht, daß das die Empfindung auffassende Kind schon gleich anfangs desselben Eindrucks teilhaftig wird, wie der Erwachsene. Allerdings, die Schocks beim unerwarteten Ansichtigwerden eines ihm neuen Gegenstandes werden Gültigkeit haben, aber das nächste wird nicht die volle Auffassung der sämtlichen Konturen und Abschattierungen, z. B. einer Schlüsselblume sein, wessen sich das Kind bewußt wird, auch nicht einmal die gleiche Auffassung der gelben Farbe, die dem Erwachsenen zu seiner Empfindung verhilft, sondern sicher ein ungleich, in gewisser Weise verschwommener, nur mittels einer sehr primitiven GA aufzufassender Eindruck.

Vielleicht wird sich der Leser nun anhand des von mir über die zugleich mit den GAA (intellektuellen Gefühlen) aufkeimenden Methodologismen Gesagten von selbst die weitere Gestaltung der ontogenetischen, menschlichen Erkenntnis, wie wir sie uns durch die Empfindung denken sollen, zurechtlegen; wenn nicht, werde ich das in einem anderen Artikel beleuchten.

LITERATUR: Johann Zahlfleisch, Einige Vorbemerkungen zu einer neuen Erkenntnistheorie, Archiv für systematische Philosophie, Neue Folge, Bd. 20, viertes Heft, Berlin 1914
    Anmerkungen
    1) Abkürzungen für "Gefühlsanschauung" = GA; für "Gefühlsanschauungslehre" = GAL; für "Trägheitsmaxime" = TM;
    2) Außer unter der Voraussetzung einer vorläufig gültigen Anschauung oder Trägheitsmaxime (TM).
    3) Denen Avenarius und andere nachfolgten.
    4) Das uns in unnennbarer Weise stets unfaßbare Erfühlen.