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THOMAS ACHELIS
Das Zweckprinzip
in der Philosophie

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"Die jetzt in Mode stehende Verketzerung des teleologischen Prinzips beruth in der Tat nur darauf, daß man kein mit dem Kausalprinzip solidarisches Prinzip der Tendenz, wohin es zielt, zu finden weiß. Im Prinzip der Tendenz zur Stabilität aber hat man ein solches Prinzip."

WUNDT resümiert deshalb den allgemeinen Standpunkt für die methodische Erforschung dieser Vorgänge so:
    "Vorläufig steht nur die eine Forderung fest, daß diese Ursachen (nämlich der ersten Entstehung) zunächst individuelle sein müssen und daß daher durch die Wechselbeziehungen der Individuen zwar gewisse Wirkungen verstärkt, niemals aber als solche hervorgebracht werden können. In beiden Fällen dürfte ein Moment bisher allzusehr der Beachtung entzogen geblieben sein. Dasselbe besteht im Einfluß, welchen die  Willenshandlungen  tierischer Wesen direkt auf ihre eigene Organisation und indirekt auf die Organisation anderer Wesen, mit denen sie in Wechselwirkung stehen, ausüben. Beim Kampf ums Dasein hat man, insoweit es sich bei demselben um einen Wettstreit um Nahrung und Fortpflanzung handelt, diesem Einfluß bereits Rechnung getragen, ohne daß freilich an die psychologische Natur desselben gedacht wurde. Wenn man bedenkt, daß schon die niedersten Organismen einfachste Triebäußerungen erkennen lassen, die eine unbefangene Beobachtung als Willenshandlungen auffassen muß, so dürfte dieser Einfluß bei den Vorgängen der funktionellen Anpassung kaum hoch genug veranschlagt sein und vielleicht können dereinst noch die fundamentalsten Probleme einer zusammengesetzten Organisation hierauf zurückgeführt werden. Das ist auch logisch umso bedeutsamer, je mehr damit der Zweck jene  objektive  Bedeutung gewinnt, bei welcher Zweckvorstellungen als die Ursachen bestimmter Naturvorgänge auftreten? (Logik II, Seite 449)
Wir haben in der bisherigen Betrachtung LOTZE häufig angeführt, wo es sich um Einwürfe gegen die harmlose Teleologie handelte, die ohne ernstere Kritik vielfach den Standpunkt persönlicher Annehmlichkeit zum Maßstab objektiver Beurteilung der Dinge nimmt: um nicht ungerecht zu sein, sind wir deshalb zu einer kurzen Ergänzung genötigt, damit es nicht etwa den Anschein gewinnt, als ob jener Denker in der Tat das Zweckprinzip fallen gelassen habe und somit seiner von ihm selbst so treffend charakterisierten Lebensaufgabe nicht genügt, nämlich nachzuweisen, wie ausnahmslos universell die Ausdehnung und zugleich wie völlig untergeordnet die Bedeutung der Sendung sei, welche der Mechanismus am Bau der Welt zu erfüllen habe. Grade darin besteht ja der anerkannte Wert seiner weitreichenden Wirksamkeit, daß er sich bemühte, den eingewurzelten Irrtum der Unverträglichkeit der mechanischen und teleologischen Auffassung zu beseitigen und das konnte zum großen Teil nur dadurch geschehen, daß die gegenseitigen Übergriffe und Fehlschlüsse möglichst klar gelegt wurden. Das mußte sich für die naturwissenschaftliche Anschauung namentlich in der nach dem Muster der antiken Atomistik gedachten Weltentstehung zeigen, in welcher statt einer organischen, planvollen Entwicklung der Dinge der blindeste Zufall im bunten Chaos der Elemente herrschte.
    "Ein solcher zugleich engherziger und unbesonnener Übergriff war es, wenn die mechanischen Theorien der Vorzeit die Elemente, aus denen sie die Welt zu erbauchen suchten, von jeder inneren Eigentümlichkeit, jeder verborgenen Eigenschaft ihres Wesens völlig zu entleeren suchten und sie nur als gleichartige, im Raum verstreute Anknüpfungspunkte für Wirkungen, ja nicht einmal das, sondern nur als Punkte fassen wollten, die einen Stoß aufzufangen und dadurch in Bewegungen zu geraten fähig wären. Es ist nur ein geringer Schritt zur Umkehr, die innere Leerheit dieser Punkte wenigstens mit anziehenden und abstoßenden Kräften wieder zu füllen, so lange auch diese Kräfte nur als hinzukomend, nicht als hervorgehend aus der Natur der Elemente gelten sollten." (Mikrokosmus II, Seite 37)
An diese leere Stelle setzt nun LOTZE seine Idee der inneren Zweckmäßigkeit in dem Sinn,
    "daß ein Zusammentreffen oder eine Reihenfolge verschiedener Bedingungen, die auf ein Element wirken, in ihm Tätigkeit entzünde, die neben der Selbsterhaltung eine Vervollkommnung der inneren Zustände erstreben. ... Ungebrochen wird die strenge Notwendigkeit noch immer über die Bildung der Dinge herrschen, nur daß sie nicht ausschließlich an äußere Zustände andere äußere Zustände knüpft, sondern an jedem Punkt ihres Verlaufs in das Innere der Elemente hinabsteigt und den vernünftigen Regungen, die sich dort entwickeln, einen gesetzlich abgemessenen Einfluß auf die Gestaltung der weiteren Zukunft zugesteht. Einzelne glückliche Fälle wird es daher geben können, in denen viele Elemente, ursprünglich durch einen Zufall zusammengeführt, in einer und derselben Anordnung, der sie sämtlich zustreben, alle zugleich die Befriedigung der neuen Bedürfnisse finden, die ihre Begegnungen in ihrem Inneren erweckte. Diese glücklichen Erzeugnisse, in welchen sich das, was für die einzelnen Teile zweckmäßig ist, zum zweckmäßigen Gleichgewicht eines Ganzen summiert, werden die lebendigen Geschöpfe sein und ebenso wie hier ihre erste Entstehung, werden wir auch den Mechanismus ihrer Fortpflanzung und Erhaltung von dieser inneren zweckmäßigen Regsamkeit durchdrungen glauben? (Mikrokosmus II, Seite 38)
Indem ich nur im Vorübergehen auf die von dem schon oben erwähnten Naturforscher K. E. von BÜR durch das Prinzip der "Zielstrebigkeit" versuchte Reform der teleologischen Auffassung hinweise, kann ich mich der Verpflichtung nicht entziehen, auf den eigentümlichen Standpunkt FECHNERs, der wie LOTZE bemüht war, zwischen den widerstreitenden Ansprüchen der Naturwissenschaft und eines gefühlvollen Idealismus zu versöhnen, näher einzugehen. Bei seiner ganzen Weltanschauung und Gemütsart - die aber trotzdem so exakte Arbeiten wie die Elemente der Psychophysik nicht ausschloß - verstand es sich von selbst, daß das Feldgeschrei, mit welchem die vulgäre naturwissenschaftliche Aufklärung den Sieg über die Zweckursachen feierte, für ihn ihm besten Falle nur eine törichte Übereilung war, weder wissenschaftlich haltbar, noch auch sonst geraten. Zunächst teilt er vollständig die Auffassung KANTs, in erster Linie mechanischen Grundsätzen zu willfahren, aber es fragt sich nur, ob damit überhaupt und auf die Dauer auszukommen ist.
    "Meines Erachtens liegt die Aufgabe der Naturwissenschaft als solcher darin, die Welt und das Geschehen darin im Zusammenhang vom äußeren Standpunkt zur Seite der äußeren Erscheinung ins Auge zu fassen und zu verfolgen und man hat unstreitig Recht, nicht mit geistigen Mächten, die bloß Sache der Betrachtung vom inneren Standpunkt und mithin Sache der inneren Erscheinlichkeit sind, da hinein zu stören. Jede der beiden Betrachtungsweisen hat ihre eigene Konsequenz. Also ist einer naturwissenschaftlichen Schöpfungsgeschichte als solcher nicht zuzumuten, sich mit geistigen Schöpfungskräften zu befassen; aber mit der Behauptung, daß es kein schöpferisches Bewußtsein als innere Erscheinung des materiellen Weltprozesses gebe, sollte sie sich eben so wenig befassen; denn es liegt gar nicht auf ihrem Weg, ein Urteil darüber zu haben." (Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen, Seite 99)
Die bisher häufig verfehlte Vermittlung zwischen kausaler und teleologischer Betrachtung findet FECHNER nun im Prinzip zur Tendenz der Stabilität, d. h. in dem Bestreben, möglichst stabile, bestandfähige Zustände herbeizuführen.
    "Die Organismen sind sozusagen ganz auf Periodizität ihrer Funktionen, hiermit auf stabile Verhältnisse ihres Lebens angelegt. Dabei sehen wir allerdings in Betracht des Stoffwechsels, welchem die Organismen unterliegen, daß es nicht immer dieselben, sondern nur gleichtgeltende Teilchen sind, welche periodisch in dieselbe Lage zurückkehren; es hindert aber auch nichts, den Begriff der Stabilität so zu verallgemeinern, daß dieser Fall darunter tritt." (FECHNER, a. a. O., Seite 32)
Namentlich der verwickelte Prozeß der Anpassung, der im Kampf ums Dasein ja eines so bedeutende Rolle spielt, selbst die mannigfachen dysteleologischen [unzweckmäßigen - wp] Erscheinungen lassen sich aufgrund jenes Prinzips ganz ungezwungen erklären.
    "In der Tat überlegen wir es näher, so bezeichnen wir die Entwicklungsgänge, Einrichtungen und Außenbedingungen eines Organismus nur eben insofern als zweckmäßig, als sie zu einem approximativ stabilen organischen Zustand zu führen und einen solchen innerhalb gewisser Zeitgrenzen, wenn auch mit größeren oder geringeren Abänderungen, fortzuerhalten vermögen; denn das Sterben eines Organismus beruth nach der materiellen Seite hin auf dem Verlust der organischen Stabilität. Hiernach fällt das Prinzip zur Tendenz der Stabilität mit dem teleologischen Prinzip, soweit dieses auf die materielle Seite der organischen Welt beziehbar is, zusammen. Damit aber, daß die Tendenz zum Ziel noch nicht die Erreichung des Zieles bedeutet und das Ziel überhaupt nur in Approximationen [Annäherungen - wp] erreichbar ist, gewinnen wir auch den Gesichtspunkt dafür, daß die organische Welt trotz des Waltens des teleologischen Prinzips in ihr doch fortgehend noch so vielen Störungen unterliegt, die den Charakter der Unzweckmäßigkeit tragen. ... Indem nun die Tendenz zur Stabilität sich im Sinne des Kausalprinzips durch eine gesetzliche Wirkung von Kräften vollzieht, liegt darin die so oft vermißte Vereinbarkeit beider Prinzipien auf physischem Gebiet, indem sich beide nur dadurch unterscheiden, daß man beim Kausalprinzip den Grund, beim teleologischen das Ziel einer und derselben gesetzlichen Aufeinanderfolge im Auge hat. Die jetzt in Mode stehende Verketzerung des teleologischen Prinzips beruth in der Tat nur darauf, daß man kein mit dem Kausalprinzip solidarisches Prinzip der Tendenz, wohin es zielt, zu finden weiß. Im Prinzip der Tendenz zur Stabilität aber hat man ein solches Prinzip." (FECHNER, a. a. O., Seite 90)
Die wirkliche Handhabung dieses Grundsatzes wird dann so näher bestimmt:
    "Um das vereinbarte Prinzip der Kausalität und Teleologie mit auf die physische Seite der Existenz zu übertragen, hat man nur anzunehmen, daß die physische Tendenz zur Stabilität Träger einer psychischen Tendenz zur Herbeiführung und Erhaltung eben der Zustände, worauf die physische geht, sei, dabei aber zu berücksichtigen, daß die psychische Tendenz teils über, teils unter der Schwelle des Bewußtseins ist und teils instinktiv, teils mit der Vorstellung des äußeren Mittels, wodurch sie sich vollzieht und des Zwecks selber behauptet sein kann." (FECHNER, a. a. O., Seite 92)
Dieser letztere Gesichtspunkt ist insofern bedeutsame, als dadurch eine annähernd genaue psychologische Bestimmung der dabei wirksamen Faktoren ermöglicht wird nach den bekannten psychologischen Prinzipien. Indem nämlich jede Lust mit einem ins Bewußtsein fallenden Streben verbunden ist, denselben Zustand zu erhalten, bzw. zu verbessern und dementsprechend die Unlust mit einem Streben ihn zu beseitigen oder zu vermindern, so lassen sich nach Intensität und Quantität der Reize die Beziehungen der Stabilität und Instabilität zu einander abgrenzen. Doch würde mich selbstredend die Entwicklung dieses für die Ethik sehr wertvollen Gedankens an dieser Stelle zu weit führen.

Nur mit einigen flüchtigen Andeutungen sei es uns gestattet, den teleologischen Standpunkt an Männern zu charakterisieren, die für die Entwicklung der modernen Philosophie und ihres Verhältnisses zur Naturwissenschaft - denn nur darauf kommt es uns ja an - sich nahmhafte Verdienste erworben; wir möchten eben dadurch der Geschichte jener Theorie gerecht werden, wenn wir auch, wie oben bemerkt, weit davon entfernt sind, auf lückenlose Vollständigkeit Anspruch zu erheben. In erster Linie nennen wir FRIEDRICH TRENDELENBURG ,dessen ganze philosophische Weltanschauung auf den Begriff des Zwecks gegründet ist. Betrachten wir zunächst das Verhältnis der Kausalität zum Zweckbegriff.
    "Wir unterscheiden im Vorgang der wirkenden Ursache die Ursache als das Frühere, die Wirkung als das Spätere. Wenn der Begriff der Kausalität, in dem der Zusammenhang der Erkenntnis ruht, den Sturm der Skepsis zu bestehen hatte, so rettete man sich häufig in diesen Unterschied hinein als in den letzten festen Punkt. Im Urteil der wirkenden Ursache heißt das: Die Reibung des Bernsteins erzeugt Elektrizität, geht die hervorbringende Ursache der Zeit nach voraus (das Reiben) und die hervorgebrachte Wirkung (die Elektrizität) schließt sich nachfolgend an. ... Vergleichen wir mit diesem Grundverhältnis die Wirksamkeit des Zwecks. Wir verwandeln jenes Beispiel in ein Urteil des Zwecks, inden wir etwa sagen: wir reiben den Bernstein, damit Elektrizität entstehe. Die Wirkung ist hier Zweck und dieser Zweck ist wieder Ursache. Das Nachfolgende wird zu einem Früheren; die Zukunft, die noch nicht da ist, regiert die Gegenwart. Das Verhältnis der wirkenden Ursache dreht sich gern dazu um und es verschwindet die Ordnung der Zeit, die sonst in der Kausalität als das Feste angeschaut und als die Ordnung der Dinge gepriesen wird; denn das Ende wird zum Anfang." (Logische Untersuchungen II, Seite 21)
Indem die vielfach angewandte Formel von einer bewußtlosen Zweckmäßigkeit als ein neues Rätsel verworfen wird, stellt sich der den ganzen Prozeß beherrschende Gedanke als das eigentliche Grundprinzip jeder zwecksetzenden Tätigkeit heraus.
    "Die wirkende Ursache, wie sie in der Bewegung erschien, schloß zuerst den Zweck aus. Der Zweck stellte sich ihr geradezu entgegen, indem er ihr Zeitgesetz umkehrte und das Spätere zum Früheren, das Frühere zum Späteren machte. Der vorauseilende Gedanke schien den Widerspruch zu heben; aber damit er ihn heben kann, fordert er die Einheit mit der wirkenden Ursache. Diese Durchdringung von Kraft und Zweck, Sein und Denken ist daher ebensosehr das einfache Faktum, als die Voraussetzung allen Verständnisses derselben." (TRENDELENBURG, a. a. O., Seite 31)
Diese Betrachtung wird dann auf die verschiedenen Stufen des organischen Lebens angewandt:
    "Erst mit dem Begriff des Zwecks im Lebendigen tritt der eigentliche Sinn eines Selbst heraus. Wir leihen dem Leblosen nur von uns aus ein Selbst. ... Erst im Lebendigen, wo bewegende Kraft und innerer Zweck zusammenfallen, wo dem Tätigen das, was er tut, zugute kommt oder zum Schaden wird, kommt das Selbst zu vollem Recht. ... Wir haben in der ganzen Sphäre des Lebens die allgemeine Erscheinung, daß sich Bewegungen nach einem Ziel richten und das Richtende dem innewohnt, was gerichtet wird und sich in ihm mitbewegt. In der Maschine bleibt das Bewegende und Richtende außerhalb. Was nun, die Sache angesehen, der Zweck ist, bildend, bauend, lenkend, das ist im Individuum (subjektiv) die Seele, den Zweck verwirklichend, empfindend, begehrend, denkend. Insofern läßt sich die Seele als ein sich verwirklichender Zweckgedanke erklären. In der Maschine wird ein solcher verwirklicht, im Lebendigen verwirklicht er sich von selbst." (TRENDELENBURG, a. a. O., Seite 79).
Oder im Hinblick auf die sittliche Welt:
    "Der Gedanke, der den Dingen der Welt zugrunde liegt, wird erkannt und gewollt; er erzeugt, um sich zu verwirklichen, neue Gedanken, welche dem ersten untergeordnet von Neuem Mittelpunkt des Wollens und Handelns werden. Der Zweck, der in den Gebilden der Natur nur objektiv erscheint, wird im Menschen subjektiv, ja im Willen gleichsam persönlich; er bewegt die erfinderische Erkenntnis und treibt in neuen Taten zu immer vollendeterer Verwirklichung; er erweitert seine Organe und bildet sich die Dinge als Werkzeug aus; er treibt das Bewußtsein dahin, sich zu vertiefen und das Wissen zu bereichern. ... So wächst die Macht und die Herrschaft der Vernunft über die Erde und die ethische Welt hat im Gegensatz gegen das Einerlei der Natur und der organischen Entwicklung und Geschichte. Wo sie bildet, bildet sie organische und selbst Organismen. Aber die sittlichen Organismen haben auch da, wo sie, wie die Familie, noch der Natur nahe stehen, den Trieb sich selbst bewußt zu werden. Ihre letzten Elemente sind nicht, wie in den Organismen der Natur, selbstlose Teile, sondern Individuen im Mittelpunkt eigener Zwecke gegründet." (TRENDELENBURG, a. a. O., Seite 91)
An zweiter Stelle führen wir die Ausführungen JOHANN HERMANN FICHTEs aus, der besonders in seiner Anthropologie dem Zweckbegriff eine längere Untersuchung gewidmet hat. Auch er streitet gegen die flache Lehre des Mechanismus, der überall herrschen soll, sogar im organischen Leben; dafür setzt der die innere Zweckmäßigkeit, mit der jeder Organismus sich selbst erhält.
    "Diese lebendige Tätigkeit nach einem inneren, allgegenwärtigen Zweck trägt das Gepräge vollkommener Vernunftgemäßheit. ... Die Lebensäußerungen sind in ihrem individuellen Umkreis nicht nur überhaupt zweckmäßige, sondern sie sind in jedem bestimmten Fall, wie durch bewußte Wahl geleitet, die zweckmäßigsten. Alle Verrichtungen des organischen Lebens tragen, je tiefer erkannt, desto entschiedener das Gepräge, als ob sie eine höchst vollkommene Intelligenz mit bewußter Überlegung gewählt hätte. Diese Vernunft braucht jedoch nicht, wie die bewußt menschliche, wirklich zu wählen zwischen verschiedenen Mitteln, zwischen dem mehr oder weniger Zweckmäßigen, sondern ununterbrochen und mit bewußtloser Sicherheit trifft sie das Vollkommene." (Anthropologie, Seite 452)
Für die Erklärung der verwickelten biologischen Erscheinungen im individuellen Dasein genügen aber die allgemeinen Bezeichnungen: organische Gesetze, Maschinerie des körperlichen Lebens usw., nicht:
    "Keinerlei allgemeine Formel oder äußerliche Veranstaltungen von Gesetzen reicht aus, um das Leben des Individuums in seinem eigentümlichen Bestand zu erklären. Und wenn wir dem Organismus eine Vorsehung, einen instinktiv schützenden Genius eingebildet finden mußten, so sind dieselben abermals nicht als bloß allgemeine Kräfte zu denken. Das höchste Wunder des organischen Lebens besteht nicht darin, daß es überhaupt nur mit höchster Weisheit eingerichtet sei, sondern daß diese Weisheit, diese Vorsehung nicht eine über ihm schwebdne, gleich allgemeinen Naturkräften, sondern ihm eingepflanzt und innewohnende sei, eben seine Seele selbst. Nur wer das erkannt hat und entschlossen ist, trotz allen Widerstrebens bisheriger Wissenschaft, welche jener dem Tatsächlichen allein genügenden Anschauung unaufhörlich ihre abstrakt künstlichen Vorstellungen unterschiebt, - nur wer entschlossen ist, diese Einsicht zugleich in allen ihren Konsequenzen durchzuführen, der ist dem eigentlichen Erklärungsgrund der Lebenserscheinungen auf die Spur gekommen." (J. H. FICHTE, a. a. O., Seite 462)
Um nicht zu langatmig zu werden, fügen wir schließlich in knappen Umrissen die Ansicht ULRICIs hinzu. Nachdem er in höchst detaillierter Weise die Bildungsstufen der organischen Schöpfung besprochen hat, faßt er das Resultat so zusammen:
    "Nach all dem kann es keinem Zweifel unterliegen, daß im Allgemeinen ein planmäßiger Fortschritt der Entwicklung vom Niederen zum Höheren durch die ganze organische Schöpfung hindurchgeht und auf ein Ziel hinweist, welches, da die Stufenfolge mit dem menschlichen Wesen schließt, offenbar in der Hervorbringung von eines geistigen, selbstbewußten Lebens zu setzen ist. Aber auch in der Gestaltung und Struktur der einzelnen Organismen, namentlich des Tierreichs, spiegelt sich dieselbe Planmäßigkeit ab und erhält hier die Form einer durchgängigen Zweckmäßigkeit der Bildung, einer berechneten Übereinstimmung zwischen den einzelnen Teilen untereinander und mit dem Ganzen wie zwischen der inneren Organisation und den äußeren Verhältnissen (Lebensbedingungen). In der Tat liefert jedes Lehrbuch der Botanik, der Zoologie und Physiologie den Beweis, daß die Naturforschung auf dem Gebiet des Organischen sich fast auf jedem Schritt zur Anwendung dieses Grundsatzes der Endursachen genötigt sieht, indem derselbe, wie CUVIER sagt, oft zu allgemeinen Gesetzen führt, die ebenso klar abgeleitet sind wie diejenigen, welche die Resultate einer Berechnung oder eines Experiments sind. Selbst Naturforscher von materialistischer Tendenz, die prinzipiell alle Plan- und Zweckmäßigkeit in der Natur leugne, können nicht umhin sie im Einzelnen unwillkürlich anzuerkennen." (HERMANN ULRICI, Gott und Natur, Seite 314)
Dasselbe gilt für die Kosmologie im Allgemeinen:
    "Aber nicht nur in der organischen Schöpfung, sondern auch in der organischen Schöpfung, sondern auch in der unorganischen Natur, in der gesamten Weltbildung, soweit wir sie nach den kosmologischen Ergebnissen der Naturforschung kennen, spiegelt sich dieselbe Plan- und Zweckmäßigkeit, dieselbe Übereinstimmung der Teile untereinander und mit dem Ganzen ab. Das eine Grundgesetz der Gravitation beherrscht zwar im allgemeinen die sämtlichen Bewegungserscheinungen unseres Sonnensystems. Aber damit dieses Gesetz bestehe und wirke, dazu war eine bestimmte Verknüpfung der Umstände und eine ursprüngliche Bestimmtheit des Weltkörpers selbst erforderlich, ohne welche, trotz der Anziehungskraft und ihrer gesetzlichen Wirkung, niemals die herrschende Regelmäßigkeit der Bewegungen sich ergeben haben würde." (ULRICI, a. a. O., Seite 317)
Daß dasselbe Gesetz vollends für die höheren Stufen des organischen Lebens zu Recht besteht, versteht sich danach von selbst.

Schon hin und wieder waren wir in der Lage, in diesem Kampf der Ansichten uns auf die Beweisführungen WUNDTs zu beziehen, dem für die Herstellung eines ehrlichen Friedens zwischen den alten Erbfeinden, Philosophie und Naturforschung, unstreitig ein nicht zu unterschätzendes Verdienst zukommt. Es ist deshalb nur unsere Pflicht, jene flüchtigen Andeutungen durch eine sorgfältigere Begründung zu ergänzen; beginnen wir mit der psychologischen Ableitung der Zweckvorstellung, die, wie schon früher erwähnt, die Reihe der kausalen Monumente geradezu umkehrt und die angestrebte Wirkung zum Motiv des Geschehens erhebt. WUNDT definiert diese Beziehung knapp so: "Das Wesen der teleologischen Betrachtung besteht darin, daß eine eingetretene Wirkung in der Vorstellung antizipiert wird." (Logik I, Seite 578). Daraus geht hervor, daß jener Begriff zunächst und eigentlich auf dem organischen Gebiet seine Geltung besitzt, insbesondere für alle diejenigen Vorgänge, welche irgendwie willkürliche genannt werden können. Denn wenn es auch möglich ist, eine Reihe mechanischer Grundsätze, z. B. die Erhaltung der Kraft oder das Prinzip der kleinsten Aktion unter eine teleologische Perspektive zu bringen (Logik II, Seite 255f), und ist, wie auch bei ULRICI angedeutet, die allgemeine kosmologische Anschauung der Universums und seiner Kräfte einer abschließenden Würdigung unleugbar nur unter dieser Beleuchtung fähig, so erinnern doch andererseits die vielfachen Übergriffe, welche früher sich die Forschung gerade in dieser Sphäre erlaubt hat, an eine vorsichtige Handhabung dieser Erklärungsformen. Unumgänglich notwendig wird aber diese Ergänzung der kausalen Anschauung durch die teleologische Deutung, sobald wir es mit Zweckvorstellungen zu tun haben, d. h. in allen psychischen Beziehungen. Die gesamte Entwicklungslehre, wie sie die moderne Deszendenztheorie [Abstammungslehre - wp] aufstellt, ist schlechterdings unverständlich ohne die Wirksamkeit von Zweckvorstellungen, sofern man sich wenigsten nicht zu der kritischen Naivität versteigen will, alle Vorgänge nur aus äußeren Bedingungen herzuleiten. Die stufenweise Differenzierung der organischen Wesen aus einfachen Formen - die materielle Richtigkeit dieser Hypothese steht hier nicht in Frage - ist keineswegs, wie noch immer behauptet wird, ein lediglich mechanischer Prozeß, sondern ebensosehr ein teleologischer. "Es zeigt sich", bemerkt unser Gewährsmann,
    "daß bei den Willenserscheinungen der Zweck deshalb eine objektive Bedeutung gewinnt, weil hier wirklich - was die anthropomorphische [vermenschlichte - wp] Teleologie unberechtigt verallgemeinert - die Zweckvorstellung selbst zur Ursache wird. So weit Willenshandlungen auf das äußere Geschehen Einfluß erlangen, ist daher auch der Zweck nicht bloß eine rückwärts gekehrte Kausalbetrachtung, sondern zugleich die vorwärts gerichtete Bedingung des Geschehens. In dieser Beziehung ist besonders darauf hinzuweisen, daß noch über das menschliche Handeln hinaus in den willkürlichen Handlungen der Tiere Ereignisse gegeben sind, in denen Zweckvorstellungen in den objektiven Verlauf der Naturerscheinungen eingreifen. Zwar ist nicht alles, was DARWIN als Kampf ums Dasein bezeichnet hat, hierher zu rechnen, ... überall aber, wo Triebe und Vorstellungen willkürlich handelnder Wesen in Frage kommen, besonders aber im Wettkampf der Tiere der nämlichen und verschiedenen Spezies um Nahrung und um die Fortpflanzung kann die kausale und objektive Bedeutung der Zweckvorstellung nicht verkannt werden. Wenn viele Anhänger der DARWINschen Theorie behaupten, durch dieselbe sei auch für das Gebiet der Entwicklungserscheinungen die teleologische Betrachtung widerlegt, so ist das irrig. Gerade der wesentlichste Bestandteil dieser Theorie, die Hypothese des Kampfes ums Dasein, ist durchaus teleologischer Art, ja es ist ein großes Verdienst DARWINs gezeigt zu haben, inwiefern Zweckvorstellungen als kausale Momente in den Verlauf der tierischen Entwicklung einzugreifen vermögen." (WUNDT, Logik I, Seite 583)
Man könnte von diesem Gesichtspunkt aus die früher erörterte Theorie des Instinkts wieder aufnehmen und berichtigen: einerseits wird man mit Recht das stumpfe Erklärungsmittel der Gewohnheit als völlig unbrauchbar beseitigen, andererseits der zu einseitigen Betonung der Überlegung und zwar einer bewußten entgegentreten. Aber ist denn damit die Wirksamkeit einer psychischen Funktion überhaupt verneint? Faßt man also, um die übliche Bezeichnung beizubehalten, die Instinkte als formelle Dispositionen des Nervensystems zu bestimmten Bewegungen, so ist doch nicht einzusehen, warum dabei nicht, wenn auch in fast unmeßbaren Schwingungen, eine Vorstellung mit funktionieren soll. Schon die unleugbare psychologische Tatsache einer gelegentliche Unsicherheit, eines Tastens und Irrens seitens des fälschlich als fehllos ausgegebenen Instinktes zeigt zur Genüge die Tätigkeit eines über dem bloßen mechanischen Verlauf stehenden Faktors. Wenn irgendein äußerer Reiz diesen Trieb auslöst, so ist dieser Vorgang logisch gar nicht denkbar ohne die Annahme einer gleichzeitig eintretenden dunklen Empfindung und Vorstellung, falls man wenigstens nicht diesen ganzen Prozeß rein mechanisch auffassen will.

Man gestatte ein kurzes Schlußwort. Unsere Darstellung war wie auch ausdrücklich bemerkt, nur darauf gerichtet, die Geltung des Zwecks und der Zweckursache innerhalb der Naturwissenschaft zur Anerkennung zu bringen, insbesondere für die Probleme der Biologie. Ist uns hier der Nachweis gelungen, so versteht sich die enstprechende Anwendung auf die sogenannten Geisteswissenschaften von selbst. Je differenzierter und reicher sich das organische Leben auf den höheren Stufen der Entwicklung entfaltet, desto einflußreicher und umfassender wird selbstredend die Wirksamkeit dieses Faktors, der in der Ethik gipfelt. Bei den Willenshandlungen und deren Erzeugnissen, bemerkt WUNDT, liegt der Schwerpunkt in der Vergleichung der objektiven Resultate mit den in uns gelegenen Zweckvorstellungen. Hier gehen wir daher von den letzteren aus, entwickeln aus ihnen die Folgerungen, die sich für das objektive Geschehen ergeben, um sodann erst die tatsächliche Beschaffenheit des letzteren an den an dasselbe herangebrachten Forderungen zu messen. (Logik I, Seite 582) Gerade dieser Begriff des Postulates ist es, welcher jede sittliche Beurteilung konstituiert und deshalb hat auch noch keine Moraltheorie (abgesehen von der auf einer eigenartigen Basis errichteten des SPINOZA) das Moment des Zwecks entbehren können, einerlei natürlich wie der Inhalt und das Ziel dieses Strebens aufgefaßt wurde. Die über und neben dem Reich der Tatsachen und Dinge schwebende Welt der Werte, die freilich im einzelnen so abweichend gegliederte Fülle der sittlichen Ideale und endlich die apriorische, über und vor jeder inhaltlichen Bestimmung stehende Verpflichtung des Individuums im Sollen, diese ganze Entwicklung und Manifestierung des menschlichen Willens ist bestimmt und beherrschaft durch Zweckvorstellungen, wenn sie uns auch oft nur mit mangelhafter Klarheit vor die Seele treten mögen. Ja, so mächtig wirkt dieser Impuls auf unser Gefühl, daß wir ja nicht selten unsere Bewunderung auch solchen Repräsentanten eines konsequenz durchgeführten teleologischen Prinzips zuwenden, das wir inhaltlich betrachtet aus voller Seele verabscheuen - man denke an Figuren, wie RICHARD III. -: Nur diese formelle Technik der Wahl der Mittel und der angestrebten Realisierung des fraglichen Zwecks ist es, welche uns, charakteristisch genug, für einen Augenblick die materielle Nichtswürdigkeit ihres Beginnens vergessen lassen kann.
LITERATUR - Thomas Achelis, Das Zweckprinzip in der modernen Philosophie, Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 4, Berlin 1891