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RICHARD WAHLE
Zur Psychologie der Frage

"Worauf kommt es denn einer Wissenschaft an? Zuerst, zur Vorbereitung, sind die verschlungenen Phänomene derselben und deren Verlauf zu deskribieren, dann Zusammenhang und Ursachen zu ergründen. Letzteres kann aber die Psychologie nimmermehr dadurch erreichen, daß sie die Phänomene selber nur bemerkt. Ersteres wiederum, was wohl durch Wahrnehmung geschehen kann, wäre eine so leichte Aufgabe, daß sie gar nicht der Rede wert wäre, wenn nicht die Psychologen - was ja dem Wesen der Wissenschaft ganz zufällig und fremd ist - durch die Sprache verwirrt, vollkommen fiktive Kategorien geschaffen hätten, die man jetzt aus dem Weg räumen muß."

"Die Sprache sucht so vieles als möglich, z. B. alle Eigenschaften eines organisierten Dings, mit einem Wort zusammenzufassen. Wie viele, vorgestellte Summanden bedeutet Mensch, Staat, musikalisch, etc.! Kein Mensch denkt bei einem Wort dasselbe, wie ein anderer Mensch. Wir kommen nur zusammen in den äußeren Dingen und Handlungen und in den terminologisch präzisierten Wissenschaften, sonst aber in Poesie, dem gewöhnlichen Reden, den Mitteilungen der Gefühle etc. versteht eigentlich keiner den anderen."

Es sei mir gestattet, ehe ich das vorgesetzte Thema in Angriff nehme, einige einleitende Bemerkungen über die Psychologie im allgemeinen voranzuschicken.

Die Psychologie wird auch heutzutage noch von vielen Psychologen, trotz der Anerkennung einer gewissen Berührung dieser Wissenschaft mit der Physiologie, in einer unklaren Separation von letzterer gedacht. Der und jener glaubt z. B., daß ein Teile eben und derselben psychophysischen Frage dem Psychologen, ein anderer Teil dem Physiologen zufalle. Ich will micht nicht beim Falschen aufhalten; die richtigen Verhältnisse zwischen diesen Wissenschaften scheinen mir folgende zu sein. Physiologie, im Sinne wissenschaftlicher Betrachtung in der Beschränkung auf Bewegungsvorgänge an organisierter Materie, ist abgetrennt von Psychologie, als der Betrachtung von Bewußtseinsvorgängen. Physiologie andererseits, im Sinne der wissenschaftlichen Betrachtung und Erklärung von Lebensvorgängen überhaupt, schließt Psychologie ein. Doch auf diese gewiß richtigen Distinktionen [Unterscheidungen - wp] lege ich selbst gar keinen Wert. Sie sind gar nicht orientierend, denn sie sind zu abstrakt und verraten gar nichts vom positiven Gang der Forschung. Wichtig ist nur die Darlegung der konkreten Beziehungen der beiden Wissensgebiete. Physiologie ist eine auf das Leben gerichtete Forschung, welche sich nur physikalischer Methoden (im weitesten Sinne) bedient; Psychologie aber - ihrem Wesen nach auf das Bewußtsein gerichtet - erhält von der psychischen Wahrnehmung zwar ihren Stoff, ist aber in der wissenschaftlichen Durcharbeitung desselben auf die physiologischen Operationen angewiesen.

Dieser unserer Auffassung steht die andere entgegen, welche die Methode, die Waffe, das Vehikel der Forschung für die Physiologie in der Physik, für die Psychologie aber in der inneren Wahrnehmung sieht und so zwischen beiden einen Trennungsgraben zieht. Auch wir können natürlich nicht bestreiten, daß ja das Material der Psychologie im Bewußtsein liegt, aber dieses Bewußtwerden der Vorkommnisse ist ohnmächtig für die Eruierung ihrer Gesetze. Worauf kommt es denn einer Wissenschaft an? Zuerst, zur Vorbereitung, sind die verschlungenen Phänomene derselben und deren Verlauf zu deskribieren [beschreiben - wp], dann Zusammenhang und Ursachen zu ergründen. Letzteres kann aber die Psychologie nimmermehr dadurch erreichen, daß sie die Phänomene selber nur bemerkt. Ersteres wiederum, was wohl durch Wahrnehmung geschehen kann, wäre eine so leichte Aufgabe, daß sie gar nicht der Rede wert wäre, wenn nicht die Psychologen - was ja dem Wesen der Wissenschaft ganz zufällig und fremd ist - durch die Sprache verwirrt, vollkommen fiktive Kategorien geschaffen hätten, die man jetzt aus dem Weg räumen muß. - An dieser Aufgabe habe ich in meinem "Gehirn und Bewußtsein" (Wien 1884) gearbeitet, mich bemüht, den Schein von separaten Bewußtseinsakten zu zerstören, das Wunder der Einheit des Bewußtseins aufzulösen und alles Psychische als verschiedene Summen aufzuzeigen von extensiven Vorstellungen, wozu ich die wirklichen Objekte, die Körperempfindungen und die Erinnerungsminiaturen rechne. Auch die folgende Analyse soll zeigen, welches der wahre psychische Bestand ist, der dem Namen "Frage" entspricht. Diese Analysen müssen aber bald beendet sein und was kann dann das innere Wahrnehmen ergründen? Nichts! Wir kennen die Formen der Ideenassoziationen; man hat sie gewiß in einer halben Stunde des Nachdenkens gefunden; (1) aber was nützt es uns, daß wir wissen, die  a-Vorstellung folgt der  b-Vorstellung, weil ihre entsprechenden Objekte einmal zusammen wahrgenommen wurden oder einander ähnlich sind - wenn wir doch nicht wissen, warum von der Unzahl der Vorstellungen, die in eben solchen Verhältnissen zu  b  stehen, gerade  a  erschien. HERBART hat einen genialen aber ganz unzulänglichen Versuch gemacht, das zu erklären und dem bloßen inneren Anschauen wird es niemals gelingen. Für die Psychologie ist die innere Wahrnehmung die conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp], aber sie ihr Forschungsmittel zu nennen, ist so lächerlich, als wenn man den Gesichtssinn als Vehikel der Chemie bezeichnen würde. - "Psychologie" hat die klare Aufgabe der Eruierung der Gesetze des Psychischen; aber "physiologisch" ist keine Bezeichnung für irgendeine Methode; die innere Wahrnehmung könnte man allenfalls das rein psychologische Verfahren nennen, das aber nichts, als den zu durcharbeitenden Stoff liefert; die physiologischen Operationen jedoch sind ein  Mittel  der Psychologie. Alles, was sich z. B. auf das Sehen bezieht, gehört zur Psychologie, wird aber durch Physiologie, d. h. physiologisch angewandte Physik, eruiert. Geräusche und Töne werden vom inneren Wahrnehmen natürlich schon unterschieden, aber ohne physikalische Analysen ist der Unterschied kaum präzisierbar und für die Auffindung von Gesetzen gar nicht fruktifizierbar [verwertbar - wp]. Es ist freilich reine innere Wahrnehmung, wenn wir merken: "jetzt spüre ich wieder eine neue Empfindung, " (2) aber das bleibt nichtig, ohne eine Bestimmung der Bedingungen dieses "jetzt", - und diese werden geliefert nur durch physikalisch-physiologische Forschung. - Es ist eine Folge unserer Charakteristik, daß man es unterlassen sollte, einen Namen "Psychophysik" zu gebrauchen; denn, was man darunter versteht, ist nichts, als Psychologie mit selbstverständlichem, experimentierendem Betrieb. - Der Tendenz nach gibt es für das Bewußtsein nur die Bewußtseinswissenschaft, d. h. die Psychologie; diese aber muß sich, nachdem sie die zu erklärenden Phänomene nett herausgestellt hat, zur Erklärung anderer Methoden, als des bloßen Anschauens bedienen und zwar in hervorragendster Weise der physiologisch-physikalischen. Ich sage "in hervorragender Weise"; denn es ist im allgemeinen gar nicht abzusehen, auf welchen Wegen man zur Entdeckung von psychischen Gesetzen kommen kann. Vielleicht erschließen sich durch Hypnose und Suggestion Gesetze des Gedächtnisses. Vielleicht hilft uns die Einführung einer Hypothese oder eines Begriffes. Nur um ein Beispiel zu geben, führe ich eine Idee an, im psychologischen Raisonnement [Begründung - wp], für einzelne Vorstellungen - besonders für diejenigen des Kindesalters, zur Zeit ihrer ersten Aquirierung [Erwerbung - wp] - ihre physiologische Potenz einzusetzen, das heißt, ihre Häufigkeit des Auftretens und ihre Wirkungsstärke, ihre Macht, Bewegungen zu erzeugen. Diese hängt z. B. ab von der relativen Leere des Bewußtseins im Moment des Eintritts der Vorstellung. Das Bild eines widerlichen Tieres, das uns nachts aus dem Schlaf weckt, kann bis weit in den Tag hinein, ja für Jahre von mächtigster Wirkung sein. Oder man denke an das Kräftigwerden eines Klangs im Zustand der Hypnose (3). Kurz, über die Methoden sage man lieber nichts; nur das bleibt sicher, daß es ohne physikalisch-physiologische Operationen so gut wie keine Psychologie gibt, denn was ohne diese geschehen ist, z. B. hier von mir geschehen soll, ist lediglich vorbereitenden Arbeit.

Die Psychologie hat - der Idee nach - einen allgemeinen Teil, welcher die Gesetze der geistigen Sukzessionen im allgemeinen darlegt. Dann hat sie spezielle Teile, welche die Gesetze besonderer Funktionen z. B. die Gesetze der Leidenschaften, des Charakters - einzelner und Völker -, der Talente etc. darlegen sollen. Alles, was bisher hierin geschehen ist, hat den Wert, den ein guter Roman besitzt. Man kann ja alle Eigentümlichkeiten analysierend auf gewisse Assoziationsreihen zurückfürhen - aber das ist wenig mehr, als vorbereitende Arbeit für die kommende Zeit der Erklärung. Ein Fundamentalunterschied der Menschen offenbart sich bei den Kindern; die einen sind bedrückt durch Eindrücke, scheu, die anderen ergreifen sie offen; die einen werden grübelnd, theoretisch, sentimental, auf sich gestellt, oft eitel etc., die anderen licht, praktisch, naiv, schlicht, gesellig etc. Wieviel ließe sich da reden und wie vage wäre das Gerede - ehe die Physiologie diese eventuellen Fundamentalunterschiede wissenschaftlich fundiert hätte. Von den Sprachen, Sitten und Ideen der Völker kann die Psychologie nichts lernen; im Gegenteil all dies bildet Teile der Psychologie, welche erst, nachdem wir eine wissenschaftliche allgemeine Psychologie haben werden, mit guten Aussichten in Angriff zu nehmen sind. Von den verschiedenen sprachlichen Formen des Urteils z. B. werden wir für die Erkenntnis der Urteilsfunktion nichts lernen, sondern die Kenntnis des Urteilens könnte uns über die Gründe der Auswahl verschiedener Ausdrucksweisen belehren.

Somit haben wir das Verhältnis der Psychologie zu Physiologie bestimmt ausgesprochen und auch die dereinstige Struktur der psychischen Wissenschaft angedeutet und wollen nur noch davor warnen, daß man, beim Sprechen über die Wissenschaften, nicht diese mit den zufällig ihnen an verschiedenen Fakultäten gewidmeten Lehrkanzeln verwechsle. - Länger will ich meinem Hauptthema nicht fern bleiben; es ist die Frage, welches ist das psychische Vorkommnis oder die Summe von Vorkommnissen, die man "eine Frage" nennt? Sowie der Physiologe nicht mit dem vulgären Begriff der Haut z. B. und der Chemiker nicht mit der vulgären Vorstellung des Wassers rechnet, sondern alle auf die letzten ihnen erreichbaren Elemente eingehen, so darf sich der Psychologe nicht früher beruhigen, als bis er die einzige Aufgabe, die durch einfaches Achthaben überhaupt gelöst werden kann, vollendet hat, nämlich bis er zu Ende analysiert hat. - Die Sprache sucht so vieles als möglich, z. B. alle Eigenschaften eines organisierten Dings, mit  einem  Wort zusammenzufassen. Wie viele, vorgestellte Summanden bedeutet "Mensch", "Staat", "musikalisch", etc.! Kein Mensch denkt bei einem Wort dasselbe, wie ein anderer Mensch. Wir kommen nur zusammen in den äußeren Dingen und Handlungen und in den terminologisch präzisierten Wissenschaften, sonst aber in Poesie, dem gewöhnlichen Reden, den Mitteilungen der Gefühle etc. versteht eigentlich keiner den anderen.

HUME lehrte am nachhaltigsten, daß man das wahre Substrat der sprachlichen Ausdrücke suchen muß, indem er fragte, was man unter "Ursache" versteht, wenn er auch eine ungenügende Antwort gab. Das ganze psychische Inventar kann man nicht ohne weiteres aufnehmen, - wie Leute, die mit dem Empirismus flunkern, vorgeben. Die Wegweiser für die Analyse und für die völlige Aufnahme der psychischen Landschaft werden anfangs die sprachlichen Kategorien sein und so wenden wir uns zur "Frage". Der Laie wird zunächst meinen: eine Frage ist eben eine Frage; er ist natürlich gegen das Aufgestörtwerden aus seinem ruhigen, leichten Gebrauch der Worte; deshalb wenden sich an ihn mit Glück jene Psychologen, welche die Seele mit möglichst vielen irreduziblen Akten ausgestattet sein lassen, den "Willen" und das "Ähnlichfinden" etc. als lauter "Letztes", "Eigenartiges" bezeichnen. Bald wird aber der Laie einsehen, daß vor allem der sprachliche Ausdruck für die Frage wesentlich ist; denn es wird wohl auch der Stumme in seinem Geist fragen. Er wird dann vielleicht glauben, diese wortlose Frage ist ein "Wissenwollen" und das Wollen ist ihm wahrscheinlich ein Letztes. Wir haben aber gezeigt (4), daß Wollen nur ein Ausdruck ist für eine bestimmte Art von Reihen, gebildet aus kommenden und gehenden Vorstellungen, Aktionsvorstellungen etc.; wir wollen das nicht verfolgen und haben es nur angeführt, um zu zeigen, daß man solche Analysen nicht in sicherem, geraden Fortschritt unternehmen kann, sondern immer wieder auf neue Analysierungsaufgaben stößt. Nur wenn man schon viel Übung erlangt hat im Auflösen dieser wie aus lauter einzelnen Fäden gebildeten Fragen-Knäuel, kann man eine Darstellung geben, die hier hoffentlich für ganz einfach und simpel gehalten werden wird, welche übrigens leider, der Natur der Sache nach, eine etwas gewundene Schreibweise mit sich bringt.

Der psychische Zustand der Frage, welcher sich die mannigfachsten sprachlichen und sonstigen Äußerungen verschaffen kann, besteht in einem "während einer Unentschiedenheit Sichbereithalten für eine Wahrnehmung der Entscheidung".

Doch dieser Satz, wie er Resultat einer Analyse ist, bedarf noch weiterer Einsätze elementaren psychischen Materials in seine Ausdrücke. (Wir wollen dies zuerst, wie im Kampf mit einem entgegengesetzt Gesinnten geben, dann aber einfach die Tatsachen zusammenstellen.) Zuerst: was heißt Unentschiedenhit, was ist das psychische Substrat für diesen Namen? Man könnte glauben, daß "Unentschiedenheit" bereits das "Bedürfnis der Entscheidung" voraussetzt, daß dieses aber identisch ist mit einer "Frage" und daß wir also fehlerhafterweise das zu Erklärende in die Erklärung aufgenommen hätten. Aber dem gegenüber halte man fest, daß "Unentschiedenheit" ja allerdings einen Teil der "Frage" selbst bildet, daß es aber selbst schon etwas Zusammengesetztes ist, was wir jetzt eben darlegen wollen.

"Unentschiedenheit" ist eine "Unsicherheit", "eine Flucht von Vorstellungen, welche Gegensätze enthalten". Nun wird man sagen, ein bloßes Vielerlei von Vorstellungen ist als solches ein rechtmäßiges historisches Faktum; wieso gilt es als unbefriedigende Unsicherheit? Diese kommt dadurch hinein, daß eine Vorstellung, durch gleich zu bezeichnende Umstände, als die interessierende Zielvorstellung fungiert, im Verhältnis zu welcher die anderen als feindliche gelten. Wir werden mit einem Wort die Negierung, das "nicht" psychisch aufzuzeigen haben; den sic, ja und non, nein, gibt eben "Unsicherheit". Jene Vorstellungen, welche sich positiv anstatt der "interessanten" einstellen, sind, in Bezug auf sei, das "nicht". Es gibt nicht psychisch ein aktuelles "nicht", sondern "nicht" bedeutet nur "ein anderes". - Wodurch wird nun das "Interesse" konstituiert? Man wird sagen, durch ein "Bedürfnis" und das wird man wie einen "Wunsch" für etwas halten, was primär, irreduzibel, nicht durch Vorstellungen ausdrückbar ist. Das ist aber unrichtig. Ein kleines Beispiel wird das zeigen. Ein Kind verspürt Hunger, eine extensive Leibesempfindung, es schreit; es erhält Nahrung, man bringt sie oder es greift danach und das Hungergefühl verschwindet, angenehme Empfindungen treten auf. Nach einigen solchen Sukzessionen oder wahrscheinlich schon nach einer einzigen, ist diese Reihe assoziiert. Wenn das Kind nun Hunger verspürt, reiht sich weiter daran z. B. "Vorstellung der Nahrung und Danach-greifen" oder "Schreien und Vorstellen des Herbeibringens derselben"; - und will man noch mehr, um einen Wunsch beim Kind zu statuieren? Wir sehen also hiermit, wie "Bedürfnis" durch eine Reihe von Vorstellungen, darunter Aktionsvorstellungen gebildet wird. Ein solches Bedürfnis ist auch etwas, was man ein "Interesse an etwas" nennt. Doch kann "Interesse" auch durch andere Verhältnisse gebildet werden. Jedes Objekt, auf welches hin wir unsere Ichtätigkeit, also das Hindrehen des Kopfes, das Hingreifen etc., gerichtet wissen, ist ein "interessantes Objekt" oder wie wir sagen wollen, ein "Zielobjekt", ein "pointiertes". Ebenso ist jede Vorstellung, auf welche rekurriert wird, eine "pointierte". Nun können wir unsere Analyse des "nicht" abschließen: was anders ist, als das Pointierte, - was z. B., während ein Raum fixiert ist, an diesen nur angrenzt oder was seine eben fixierte Form verändert oder was statt des Dienstlichen (die Nahrung z. B.) eintritt - heißt, in Erinnerung an das Pointierte, dessen "nicht". - Jetzt können wir einfach sagen, was "Unsicherheit" und "Schwanken" ist; es ist der Wechsel von pointierter, interessierender und negativer Vorstellung. Holen wir unser Kinderbeispiel wieder hervor, so wird der Hunger, die Vorstellung der Nahrung, das Heranbringen, bzw. Forttragen derselben, Wiederbringen etc. ein "Schwanken" des Geisteszustandes des Kinders konstituieren.

Was heißt nun "Entscheidung"? Die Menschen sind sich eines höchst einfachen und tiefgreifenden Unterschiedes in ihren Vorstellungen bewußt, die einen sind verschwommen, blaß, klein, zerrissen, nicht komplett, die Phantasie- und Erinnerungsvorstellungen - ich nannte sie Miniaturen -; die anderen haben jenen Habitus, den man eben "Wirklichkeit" nennt. Das vorgestellte Empfangen des Briefes ist etwas anderes, als das wirkliche leuchtende Papier, das feste Greifen nach demselben; die Wehmut, deren Eintritt ich erst befürchte, etwas anderes, als die wirkliche Wehmut.

Eine "Entscheidung" wird nun geboten durch etwas, was den Habitus der "Wirklichkeit" trägt oder bleibende, stabile Konsequenzen nach sich zieht; wie z. B. wenn einer bei sich überlegt, ob er an Gott oder sein Talent glauben soll oder nicht und hierauf einer Annahme entsprechend sich weiter geriert [aufführt - wp].

Jetzt erst halte ich es für angemessen, darauf aufmerksam zu machen, daß "pointiert" nicht soviel bedeutet, wie "wirklich". Wenn ich z. B. nach Hause gehen will, um zu schlafen, so ist mein Haus, das jetzt meine Schritte zu sich lenkt und mein Bett in der Phantasie en miniature, die pointierte Vorstellung, aber nocht nicht das "Wirkliche".

Eine besondere Erläuterung des Begriffs "sich bereit halten zur Wahrnehmung der Wirklichkeit" ist hier kaum nötig. Man muß die Augen öffnen, hinblicken, hingreifen, hingehen etc., um ein Wissen zu erreichen. In den Kreis dieser Erscheinungen gehört auch das Stutzen, Aufschauen, Lauern; auch die entsprechenden Stellungen und Empfindungen der Tiere, die gewiß ebenfalls die "Frage" haben.

Die "Entscheidung" muß eine Übereinstimmung einer "Wirklichkeit" mit einer Phantasievorstellung enthalten. Wie wir selbst hervorgehoben haben, kann Wirklichkeit (abnorme Fälle ausgenommen) nicht der Phantasie gleichen; es handelt sich hier also um größtmögliche stellvertretende Ähnlichkeit der Form. Die Korrespondenz des Psychischen, das en miniature auftritt, mit dem Wirklichen müßte man natürlich noch ex professo [professionell - wp] abhandeln.

Nun geben wir in einem ununterbrochenen Zug das psychische Schema der Frage: Eine pointierte Vorstellung, ein Wechsel derselben mit ihren negativen Vorstellungen, d. h. ein Wechsel mit anderen an die pointierte Vorstellung sich anschließenden Vorstellungen, ein Bereithalten für eine Wahrnehmung einer Wirklichkeit, welche auf die pointierte Vorstellung paßt und dem Wechsel in der Phantasie ein Ende macht.

Ein Beispiel! Das Bild: "Wird das Boot die Landspitze umsegeln?" Seemänner stehen am Strand. Sie haben das Phantasiebild, Miniaturbild des Schiffes hier und dort, nah und fern der Landspitze, also immer von der Landspitze aus gemessen; sie lugen aus und wissen, es wird eine Wahrnehmung des Wirklichen, korrespondent dem Vorgestellten, eintreten, worauf ihre Miniaturbilder verschwinden werden.

Ein solches Aggregat von Vorstellungen, welches eben eine eigenartige Konstellation hat, heißt eine Frage; aber von eigenartigen Akten und Bewußtseinsweisen ist nichts zu beobachten.

Es kann weiter verschiedene Arten von Fragen geben; z. B. die Frage: was wird überhaupt geschehen? bedeutet die Erwartung, das Bereitsein für eine Wahrnehmung, welche dem Nichts-Geschehen ein Ende machen wird, der Vorstellung von "etwas" entspricht. (Das Abstrakte müßte besonders behandelt werden.) Neugierig zum Fenster hinaussehen ist eine an die Gasse gerichtete Frage. - - Einen an nervöser Spannung sehr reichen Zustand gibt es, in welchem nämlich, obwohl die Frage schon entschieden ist, die geistigen Vorgänge wie  vor  der Entscheidung immer wiederkehren, die immer wieder behobene Unsicherheit nachzittert.

Ein Urteil ist oft nichts anderes, als ein Name für eine Tatsache oder ein Ereignis, sei es einem wirklichen oder einem in der Phantasie, der Erinnerung nachgebildeten, z. B. es regnet oder es regnete. Es enthält psychisch gar nichts anderes, als bloße Vorstellungen; nur enthält es oft die Vorstellungen des betreffenden Wahrnehmens des Gegenstandes auch noch. - Von nennenswerter Wichtigkeit sind meist nur solche Urteile, welche auf einen Zustand der Unsicherheit folgen. Die Psychologie der Frage steht demnach in innigstem Konnex mit der des Urteilens und der der Aufmerksamkeit. Letztere bildet ja nur ein schon behandeltes Element der Frage und es bliebe eigentlich noch übrig, die Operation und die Arten des Aufmerkens im Detail darzulegen. Das soll aber hier nicht mehr geschehen. Das Wichtigste für die Analyse ist "das Interesse", die "Pointierung" einer Vorstellung, welche, ohne ein aparter psychischer Akt zu sein, wie wir gesehen haben, durch Schmerzen oder Freuden, durch ihre Verwendung als Mittel etc., durch die Richtung des Blickes oder des Ergreifens etc. zu einer uns okkupierenden wird.

Durch die Aktionen wird von Kindheit an in das Gewoge einzelner Vorstellungen eine Richtung, quasi eine Polarisation gebracht. Bemerkenswert ist es für meine Methode, daß so viele sogenannte psychische Funktionen ineinander überzufließen scheinen. Das ist auch hauptsächlich der Fall und stellt sich bei der Gruppierung der verschiedenen Schemata deutlich heraus. So ist z. B. der Zustand beim Wollen ganz verwandt dem der Frage.

Ich werde im Anschluß an mein "Gehirn und Bewußtsein" die wirklichen psychischen Tatsachen für alle Begriffe geben und aus einer solchen vollständigen Aufzählung ergibt sich ein System von psychischen Gruppen, mit wechselseitigen Übergängen, welches, mit seinem Überstreifen der gewöhnlichen psychologischen Abteilungen, für die physiologische Erklärung und auch für die Psychiatrie von einiger Brauchbarkeit sein dürfe.
LITERATUR - Richard Wahle, Zur Psychologie der Frage, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Nr. 1, Leipzig 1890
    Anmerkungen
    1) Feineres, wichtiges Detail in WAHLE, Über Ideenassoziationen, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1885 und Höffding, a. a. O., 1890
    2) Ich habe in "Gehirn und Bewußtsein" und "Über Intensität und Ähnlichkeit", Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1890, zu zeigen versucht, daß es nicht gleiche Qualität bei verschiedenen Intensitäten, sondern  nur wechselnde Qualitäten gibt  und daß somit alle sogenannten psychophysischen Maßbestimmungen eine andere, genauere Terminologie erhalten müßten.
    3) Wenn ich hier gewöhnlichen Schlaf und Hypnose zusammenstelle, so geschieht das nicht, weil sie mir sonst sehr ähnlich erscheinen. Der Schlaf ist ein Zustand der Ermüdung des ganzen Körpers, im Zustand seiner chemischen Veränderung, Hypnose eine partielle Ruhe an einer Stelle eines arbeitskräftigen Körpers; Schlaf ist Ohnmacht, Hypnose eigentlich mächtige Konzentrierung.
    4) WAHLE, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 92, sowie "Gehirn und Bewußtsein".