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GIDEON SPICKER
Über das Verhältnis der Naturwissenschaft zur Philosophie
[Mit besonderer Berücksichtigung der kantischen "Kritik der reinen Vernunft" und der "Geschichte des Materialismus" von Albert Lange.]
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"Hier stehen wir vor dem großen Problem, das seit 200 Jahren die besten Köpfe beschäftigt hat und welches dessenungeachtet noch zu keinem befriedigenden Abschluß gekommen ist. Es ist die Fundamentalfrage aller Philosophie; mit ihr steht und fällt die Metaphysik aber auch die Philosophie selbst."
"Daß Kantdurch sein apriorisches Verfahren (denn das ist ja der Sinn des aller Erfahrung Vorhergehens) lediglich Erfahrungserkenntnis möglich gemacht hat, hat sich nach meiner Beweisführung und seinen eigenen Worten schlechterdings nicht bestätigt. Wenn also alle Erkenntnis aus bloß reinem Verstand oder reiner Vernunft nichts als lauter Schein, und nur in der Erfahrung Wahrheit ist, so ist etweder die Kritik der reinen Vernunft lauter Schein oder der Satz: daß nur in der Erfahrung Wahrheit ist, ist eine leere, der ganzen Kritik widersprechende Phrase." |
Im zweiten Buch der Geschichte des Materialismus führt Herr Professor LANGE zwei Sätze aus KANT an, die nicht nur geeignet sind, den philosophischen Standpunkt des großen Denkers, sondern auch den unseres berühmten Autors am schönsten zu beleuchten und die Widersprüche, die daraus hervorgehen, kritisch zu entwickeln. Diese beiden Sätze lauten:
"Der Satz aller echten Idealisten von der eleatischen Schule an bis zu Bischof Berkeley ist in dieser Formel enthalten: Alle Erkenntnis durch Sinne und Erfahrung ist nichts als lauter Schein, und nur in der Idee des reinen Verstandes und Vernunft ist Wahrheit."
"Der Grundsatz, der meinen Idealismus durchgängig regiert und bestimmt, ist dagegen: Alle Erkenntnis von Dingen aus bloßem reinen Verstand oder reiner Vernunft ist nichts als lauter Schein und nur in der Erfahrung ist Wahrheit." (1)
LANGE scheint ein ganz besonderes Gewicht in diese beiden von KANT ausgesprochenen Sätze zu legen, daß er dem Leser empfiehlt, "hier einen Augenblick Atem zu schöpfen und die letzte Zeile noch einmal zu lesen." (2) Diese letzte Zeile lautet: "Nur in der Erfahrung ist Wahrheit." Dieses einzige Sätzchen könnte als Motto für alle Wissenschaften dienen. Schade nur, daß wir noch nicht so recht wissen, was Erfahrung ist. Die meisten nehmen dieselbe zum Ausgangspunkt, ohne eigentlich sich je klar gemacht zu haben, was man darunter versteht. Die Antwort auf die Frage: Was ist Erfahrung? ist das Ziel und die Aufgabe nicht nur der Philosophie der nächsten Zukunft, sondern es ist eine Fundamentalfrage der Philosophie überhaupt. Sie bildet den Kernpunkt der Erkenntnistheorie, welche seit PROTAGORAS, der den Menschen als Maß aller Dinge aufgefaßt hat, bis auf KANT, der unseren ganzen Vorstellungskreis bloß als etwas allgemein Subjektives betrachtete, das Grundthema der Philosophie war. (3)
Allein trotz aller Anerkennung des vortrefflichen Verfassers der "Geschichte des Materialismus" muß ich gestehen, daß ich in obigen zwei Sätzen weder die "Mäßigung" noch "die Schärfe des großen Denkers" bewundern kann, sondern bei näherer Betrachtung sogar zum Gegenteil mich veranlaßt fühlen könnte. Wenn sie am meisten geeignet sein sollen, "auch für den Blindesten noch über das Wesen der kritischen Philosophie einen Funken zu schlagen", so mag dies für den Blindesten sehr wohl gelten, nicht aber für denjenigen, der sich mittels des kantisch-kritischen Apparats eines schärferen Gesichts zu erfreuen hat. Denn diese beiden Sätze bilden gerade die Quintessenz des Widerspruchs, wie er durch die ganze "Kritik der reinen Vernunft" sich hindurchzieht und welchen KANT vergeblich zu überwinden sucht. Der erste Satz, welchen er den Idealisten vorwirft, gilt, namentlich in Bezug auf den letzten Teil, auch wesentlich von KANT selbst. Denn nach ihm ist das Kriterium der Wahrheit: Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit. "Erfahrung gibt aber", sagt KANT, "ihren Urteilen niemals wahre oder strenge, sondern nur angenommene oder komparative Allgemeinheit."
"Wird also ein Urteil von strenger Allgemeinheit gedacht, so ist es nicht von der Erfahrung abgeleitet, sondern schlechterdings a priori gültig."
"Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit sind also sichere Kennzeichen einer Erkenntnis a priori und gehören auch unzertrennlich zueinander." (4)
Somit ist auch nach KANT die Wahrheit nur in den "Ideen" (Begriffen, Kategorien) des reinen Verstandes zu suchen.
"Wenn wir", sagt er in den Prolegomenen, "Ursache finden, ein Urteil für notwendig allgemeingültig zu halten, welches niemals auf der Wahrnehmung, sondern dem reinen Verstandesbegriff beruth, unter dem die Wahrnehmung subsumiert ist, so müssen wir es auch für objektiv halten, d. h. daß es nicht bloß eine Beziehung der Wahrnehmung auf ein Subjekt, sondern eine Beschaffenheit des Gegenstandes ausdrückt." (5)
In dem, was wahrgenommen wird, ist also nicht das Kriterium der Wahrheit oder die Wahrheit selbst zu finden, sondern in den Begriffen des reinen Verstandes, d. h. in den Kategorien. Erst durch Subsumtion des Empirischen unter das Apriorische, unter die Kategorien, bekommen die sinnlichen Wahrnehmungen Allgemeingültigkeit.
"Die gegebene Anschauung muß unter einen Begriff subsumiert werden, der die Form des Urteilens überhaupt in Anbetracht der Anschauung bestimmt, das empirische Bewußtsein der letzteren in einem Bewußtsein überhaupt verknüpft und dadurch den empirischen Urteilen Allgemeingültigkeit verschafft; dergleichen Begriff ist ein reiner Verstandesbegriff a priori." (6)
Daß also der Satz, welchen KANT den Idealisten vorwirft, auch ihm selbst vorzuwerfen ist, erhellt sich aus seinen eigenen Worten. Nur Eines dürfte ihn scheibar vor dem gänzlichen Idealismus retten, nämlich: die Unterscheidung von Schein und Erscheinung.
"Alle echten Idealismus von der eleatischen Schule bis zu Bischof Berkeley behaupten: Alle Erkenntnis durch Sinne und Erfahrung ist nichts als lauter Schein."
Hierin glaubt man gewöhnlich, weiche KANT von den Idealisten ab. Nicht Schein ist es, was wir durch die Sinne und Erfahrung erkennen, sondern Erscheinung; diese aber ist nach KANT das Produkt zweier Faktoren:
1. der subjektiven Form, die a priori im Gemüt bereit liegt (7) (Raum, Zeit, Kategorien);
2. der Materie, worunter er dasjenige versteht, was in der Erscheinung der Empfindung korrespondiert (8).
Ich werde aber unten zeigen, daß KANT jenes der Empfindung Korrespondierende nicht erwiesen und durch die Erfahrung, in der doch allein Wahrheit sein soll, gezeigt, sondern bloß durch eine Denkfunktion darauf geschlossen hat. (9) Allein durch das bloße Denken werden uns, nach KANTs eigener Behauptung, keine Gegenstände gegeben. (10) Somit fällt der zweite Hauptfaktor, die Materie, die einzig und allein den Schein zur Erscheinung macht und KANT von den Idealisten unterscheiden soll, gänzlich weg und der so sehr gefürchtete und von KANT verworfene Idealismus tritt auch bei ihm in seiner ganzen Stärke und Unüberwindlichkeit hervor.
Hiermit ist auch der zweite Satz, der KANTs "Idealismus durchgängig regiert und bestimmt", nämlich: "Alle Erkenntnis von Dingen aus bloß reinem Verstand oder reiner Vernunft ist nichts als lauter Schein" vollständig gerichtet. Denn da, wie wir soeben gehört haben
1. das Kriterium der Wahrheit (Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit) nur in den apriorischen Begriffen zu suchen ist und
2. diese apriorischen Formen auf die Materie keine Anwendung finden, weil diese im subjektiven Idealismus Kants gar nicht erreicht wird,
so fällt die Behauptung: "nur in der Erfahrung ist Wahrheit" von selbst als unhaltbar weg. Wenn aber wirklich alle Erkenntnis aus reinem Verstand und reiner Vernunft nichts als lauter Schein ist, so ist es unbegreiflich, wie KANT dessenungeachtet eine Kritik der reinen Vernunft schreiben mochte oder überhaupt nur schreiben konnte. Statt daß ich also den Satz: alle Erkenntnis aus reiner Vernunft ist nichts als lauter Schein, mit dem vorhergehenden, der das Gegenteil aussagt, mit LANGE für einen Funken halte, der auch noch den Blindesten über das Wesen der kritischen Philosophie aufklären könnte, behaupte ich vielmehr, daß er, wenn es KANT wirklich Ernst damit war, als ein förmlicher Widerruf der ganzen Kritik betrachtet werden muß; oder aber, daß er weiter nichts als eine gedankenlose, wahrscheinlich bloß aus Ärger ausgestoßene, jedenfalls aber seiner ganzen Kritik widersprechende Phrase ist. Denn wenn es ihm in der Tat damit Ernst gewesen wäre, wie wollte man damit folgende Äußerungen vereinbaren:
"In der Erwartung, daß es vielleicht Begriffe geben könnte, die sich a priori auf Gegenstände beziehen mögen, nicht als reine oder sinnliche Anschauungen, sondern bloß als Handlungen des reinen Denkens, die folglich Begriffe, aber weder empirischen noch ästhetischen Ursprungs sind, so machen wir uns zum Voraus die Idee von einer Wissenschaft der reinen Verstandes- und Vernunfterkenntnis, dadurch wir Gegenstände völlig a priori denken. Eine solche Wissenschaft, welche den Ursprung, den Umfang und die objektive Gültigkeit solcher Erkenntnisse bestimmt, würde transzendentale Logik heißen müssen." (11)
"Der reine Verstand sondert sich nicht allein von allem Empirischen, sondern sogar von aller Sinnlichkeit völlig aus. Es ist also eine für dich selbst beständige, sich selbst genugsame und durch keine äußerlich hinzukommenden Zusätze zu vermehrende Einheit." (12)
Wir brauchen diese Zitate nicht durch eine Menge ähnlicher des gleichen Inhalts zu vermehren. Genug, daß KANT in seiner Kritik eine "Wissenschaft der reinen Verstandes- und Vernunfterkenntnisse" begründen will und zwar von "objektiver Gültigkeit"; daß er ferner den "reinen Verstand" unabhängig "von allem Empirischen" und "von aller Sinnlichkeit" als eine für sich selbst seiende Einheit betrachtet, aus welcher das ganze Gebäude der Kritik erwachsen und zu einer in sich vollendeten unumstößlichen Wissenschaft, von welche alle übrigen abhängen, sich erheben soll. Ist nun alle Erkenntnis aus reinem Verstand und reiner Vernunft nichts als lauter Schein, wie KANT behauptet, so ist auch seine Kritik nichts als lauter Schein. Ist sie das nicht, so ist KANT ein Idealist wie alle von der eleatischen Schule bis auf Bischof BERKELEY, deren Idealismus in der Behauptung besteht: "Alle Erkenntnis der Sinne und Erfahrung ist nichts als lauter Schein und nur in den Ideen des reinen Verstandes und der Vernunft ist Wahrheit." Ist KANT aber ein Idealist, so ist er auch ein Metaphysiker. Denn Alles, was nicht durch sinnliche Wahrnehmung, sondern nur auf dem Weg des Denkens erkannt und erreicht werden kann, ist metaphysisch. Ihr Hauptziel ist also, über das Sinnliche und Empirische hinauszugehen. Dasselbe tut aber auch KANT. Er will eine "Wissenschaft des reinen Verstandes von objektiver Gültigkeit", unabhängig "von allem Empirischen und aller Sinnlichkeit" begründen (13). Denn unter "Kritik der reinen Vernunft" versteht er
"nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt, in Anbetracht aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag, folglich die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt." (14)
LANGE hat also offenbar zu großes Gewicht auf diese beiden Sätze gelegt. Denn hat KANT etwas damit bewiesen, so ist seine ganze Kritik aufgehoben. Hat er aber nichts damit gesagt, so ist "die Schärfe des großen Denkers" hierin, nämlich in diesen beiden Sätzen, die eben LANGE gerade im Auge hat, und in denen er jedenfalls das Hauptresultat der kantischen Untersuchung sieht, nicht zu bewundern.
Überhaupt scheint LANGE keine Gestalt aus der Geschichte der Philosophie so sehr zu imponieren, wie die des "großen Königsbergers". Schon durch die Einteilung seines Werkes hat er ihm eine besonders hervorragende Stelle angewiesen, und es scheint, daß sich des Verfassers Anschauung noch nicht verändert hat, indem er in der zweiten Auflage den zweiten Band wiederum mit KANT beginnen läßt. Die Verehrung für denselben dürfte aber hauptsächlich dadurch zum Ausdruck gekommen sein, daß der Verfasser der Geschichte des Materialismus behauptet:
"Wenn mein Buch nach fünf Jahren vergessen ist, wird mich das nicht schmerzen; wohl aber, wenn ich hören muß, daß meine Leser den jetzt folgenden Abschnitt, welcher etwas tiefer in die Abgründe der Metaphysik hineinführt, überschlagen. Eher wollte ich ihnen noch das Kapitel über die aristotelische Philosophie und die Scholastik schenken; obwohl auch das schwer zu missen ist. Um Kant aber ist nicht herumzukommen. Hier liegt der Anfang vom Ende des Materialismus; die Katastrophe der Trägödie." (15)
Ich will dem Verfasser nun beweisen, daß ich diesen Abschnitt nicht überschlagen, sondern ihm wirklich in die Abgründe der Metaphysik gefolgt bin. Möge es ihn aber auch nicht schmerzen, wenn ich gerade durch diese Abgründe eine Katastrophe in seiner eigenen Philosophie herbeiführe, indem ich ihm die Widersprüche, die da und dort in seinem Werk zum Vorschein kommen, aufzeige und zugleich beweise, daß man entweder um KANT herumkommen oder alles weitere Philosophieren aufgeben muß.
LANGE erklärt sich zu einem Kantianer. Sowohl in Bezug auf den Standpunkt, als auf die Methode, als auch auf das Ziel alles philosophischen Forschens, lehnt er sich an den großen Königsberger an. Den Standpunkt betreffend sagt LANGE:
"Unter allen Kantianern ist derjenige, welcher meiner Auffassung am nächsten geht, kein Geringerer als Schiller." (16)
Da es nun manchen unter denjenigen (17), für welche LANGE schreibt, nicht bekannt sein dürfte, in welchem Verhältnis SCHILLER zu KANT steht, so ist es sehr zu bedauern, daß er nicht wenigstens in den Hauptzügen den Standpunkt SCHILLERs näher beleuchtet und bestimmt hat, zumal, selbst bei wiederholter Lektüre der Geschichte unseres Autors, der Leser manchmal den Eindruck bekommt, als ob der Verfasser bald zu den Materialisten, bald zu den Idealisten, bisweilen sogar zu den Skeptikern hinneigt.
Betreffs der Methode hat er sich bestimmter für das kritische Verfahren ausgesprochen. Wir sehen, sagt er im Gegensatz zu SCHLEIDEN, der behauptete, durch KANT und seine Nachfolger seien die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit ebenso sicher festgestellt, wie durch NEWTON, KEPLER, LAPLACE die Gesetze des Sternenlaufs,
"wie es allein Kants Grundgedanken, oder genauer bezeichnet der Ausgangspunkt seines kritischen Denkens ist, dem eine epochemachende und für alle Zeiten gültige Bedeutung zuzuschreiben ist, während die ganze Ausführung des Systems von der luftigen Begriffsarchitektur der meisten deutschen Philosophen sich nur durch etwas solideres Gefüge unterscheidet." (18)
Wie sehr er aber in Bezug auf das Hauptziel der Philosophie ganz auf kantischem Boden steht, erhellt sich aus Folgendem: Was LANGE vom Naturforscher verlangt, ist: "höhere philosophische Bildung", worunter er aber nicht etwa Metaphysik oder Spekulation versteht, sondern
"philosophische Kritik, die ihm gerade deswegen unentbehrlich ist, weil er selbst doch niemals in seinem eigenen Denken, trotz aller Exaktheit der Spezialforschung, die metaphysische Spekulation ganz wird unterdrücken können." (19)
Nun fährt er in echt kantischem Geist weiter:
"Eben um seine eigenen transzendenten Ideen richtiger als solche zu erkennen und sie sicherer von dem zu unterscheiden, was die Empirie gibt, bedarf er der Kritik der Begriffe."
In gleicher Weise sagt KANT:
"Ein großer Teil und vielleicht der größte vom Geschäft unserer Vernunft besteht in der Zergliederung der Begriffe, die wir von den Gegenständen haben." (20)
"Irgendeine Metaphysik ist immer in der Welt gewesen und wird auch wohl ferner, mit ihr aber auch eine Dialektik der reinen Vernunft" (worunter er eine Logik des Scheins, eine sophistische Kunst versteht), "weil sie ihr natürlich ist, darin anzutreffen sein (21). Es ist also die erste und wichtigste Angelegenheit der Philosophie, ein für allemal ihr dadurch, daß man die Quelle der Irrtümer verstopft, allen nachteiligen Einfluß zu benehmen." (22)
Ebenso stimmt auch unser Verfasser mit KANT vollständig überein hinsichtlich der beiden Erkenntnisquellen: Sinnlichkeit und Verstand.
"Die ganze Weltauffassung des Materialisten", sagt Lange, "ist vermittelt durch die Sinnlichkeit und durch die Kategorien des Verstandes. Gerade diese Organe unseres Geistes sind aber vorwiegend sachlicher Natur. Sie geben Dinge, wenn auch kein Ding-ansich. Die tiefere Philosophie kommt dahinter, daß diese Dinge unsere Vorstellungen sind; sie kann aber nichts daran ändern daß gerade die Klasse derjenigen Vorstellungen, welche sich durch Verstand und Sinnlichkeit auf Dinge beziehen, die größte Beständigkeit, Sicherheit und Gesetzmäßigkeit hat und ebendeshalb auch vermutlich den strengsten Zusammenhang mit einer von ewigen Gesetzen geregelten Außenwelt." (23)
KANT:
"Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen" (Sinnlichkeit), "die zweite das Vermögen, durch jene Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen" (Verstand). (24)
Was endlich den Wert der Ideen betrifft, als reiner Vernunftprodukte, so herrscht auch hierin zwischen beiden Autoren die vollkommenste Harmonie. LANGE Seite 345-348 und im ganzen dritten Abschnitt "der ethische Materialismus und die Religion". KANT Kritik, Seite 37, 616-620 und überhaupt das ganze zweite Hauptstück der transzendentalen Methodenlehre, so wie auch einige Abschnitte aus dem ersten Hauptstück, Kritik Seite 556 bis 632.
Was KANT mit seiner Kritik beabsichtigte, war: "Dem Materialismus, Idealismus, Skeptizismus, der Schwärmerei und dem Aberglauben die Wurzel abzuschneiden." (25) Dieselbe Tendenz verfolgt aber auch LANGE. Er
"will nicht nur theoretische Wahrheiten enthüllen - sondern wirken, direkt wirken und zwar unter einem Leserkreis, von dessen Aufklärung, von dessen gesunder Weltanschauung, von dessen frischer Beteiligung an wissenschaftlichen Zeitfragen nichts Geringeres abhängt, als das geistige Fortleben der Nation." (26)
Er will den kantischen Grundgedanken wieder aufnehmen, will die Metaphysik zerstören und mit ihr natürlich auch den Idealismus. "Denn der Idealismus ist von Haus aus metaphysische Dichtung." (27) Aber gerade an diesem vorzüglichen Autor zeigt es sich, wie schwer es ist, über die Metaphysik und den Idealismus hinauszukommen. Wie KANT sich gegen beide sträubt, ohne sie zu überwinden, ebenso auch LANGE. Wie sehr er auch dem Materialismus das Wort redet, so kommt er doch schließlich zu einer durchaus realistischen, d. h. metaphysischen Weltauffassung. Auf die Frage: Was ist der Körper oder der Stoff oder das Physische, lautet seine Antwort: "Dies alles sind nur unsere Vorstellungen, notwendige Vorstellungen, nach Naturgesetzen erfolgende Vorstellungen, aber immerhin nicht die Dinge selbst." (28) Wenn Körper und Materie bloß unsere Vorstellungen sind und nicht etwas real außerhalb von uns selbst Existierendes, so kann nicht einmal behauptet werden, daß diese Vorstellungen nach "Naturgesetzen" erfolgen, außer man versteht unter diesen Naturgesetzen lediglich unsere eigene, rein geistige Natur, also wieder nach kantischem Sprachgebrauch, reinen Verstand oder reine Vernunft. Das scheint dann auch in der Tat LANGEs wirkliche Ansicht zu sein.
"Die konsequent materialistische Betrachtung schlägt dadurch sofort um in eine konsequent idealistische. Es ist keine Kluft in unserem Wesen anzunehmen. Wir haben nicht einzelne Funktionen unseres Wesens einer physischen, andere einer geistigen Natur zuzuschreiben, sondern wir sind in unserem Recht, wenn wir für alles, auch für den Mechanismus des Denkens physische Bedingungen voraussetzen und nicht rasten, bis wir sie gefunden haben. Wir sind aber nicht minder in unserem Recht, wenn wir nicht nur die uns erscheinende Außenwelt, sondern auch die Organe, mit denen wir diese auffassen, als bloße Bilder des wahrhaft Vorhandenen betrachten. Das Auge, mit dem wir zu sehen glauben, ist selbst nur ein Produkt unserer Vorstelluhng, und wenn wir finden, daß unsere Gesichtsbilder durch die Einrichtungen des Auges hervorgerufen werden, so dürfen wir nie vergessen, daß auch das Auge samt seinen Einrichtungen, der Sehnerv samt Hirn und all den Strukturen, die wir dort noch etwa als Ursachen des Denkens entdecken möchten, nur Vorstellungen sind, die zwar eine in sich zusammenhängende Welt bilden, jedoch eine Welt, die über sich selbst hinausweist." (29)
So wäre dann wirklich, wie LANGE noch in einer folgenden Behauptung obige bestätigt,
"der Streit zwischen Körper und Geist zugunsten des letzteren geschlichtet und damit erst die wahre Einheit des Bestehenden gesichert. Denn während es stets eine unüberwindliche Klippe für den Materialismus geblieben ist, zu erklären, wie aus stofflicher Bewegung eine bewußte Empfindung werden kann, so ist es dagegen keineswegs schwer zu denken, daß unsere ganze Vorstellung von einem Stoff und seinen Bewegungen das Resultat einer Organisation von rein geistigen Empfindungsanlagen ist." (30)
Hier steht der Idealismus in vollster Blüte. Aber oft nagt der Wurm des Frühlings Kinder an, noch ehe sie zur Knospe sich entfaltet. Und dieser Wurm, der nimmer stirbt - das ist der Widerspruch. LANGE behauptet, es sei dem Materialismus unmöglich, aus stofflicher Bewegung eine bewußte Empfindung zu erklären; mit demselben Recht aber kann der Materialist darauf bestehen, es sei dem Idealismus unmöglich, aus rein geistigen Anlagen, d. h. doch wohl aus reiner Vernunft die [Existenz der - wp] Materie und ihre Bewegung abzuleiten. Wo sind die Beweise, daß das Eine eher möglich ist als das Andere? Ich habe bei LANGE keine gefunden. Wenn aber seine Behauptung "keineswegs schwer zu denken", d. h. wenn es richtig ist (denn ein Widerspruch ist doch wohl schwer zu denken!)
"daß unsere ganze Vorstellung von einem Stoff und seinen Bewegungen das Resultat einer Organisation von rein geistigen Empfindungsanlagen ist",
so hat er nicht nur den kantischen Standpunkt verlassen, sondern sich vollständig dem Idealismus BERKELEYs in die Arme geworfen, den er doch, wie wir oben gehört haben, so sehr verworfen hat, indem er KANT gerade deshalb gepriesen hat und "die Schärfe des großen Denkers bewunderte", weil er BERKELEY gegenüber den Satz aufstellte: "Nur in der Erfahrung ist Wahrheit." Eine Belegstelle aus BERKELEY selbst mag meinen Vorwurf rechtfertigen.
"Daß weder unsere Gedanken, noch unsere Gefühle, noch unsere Einbildungen außerhalb des Geistes existieren, wird ein jeder zugeben. Es scheint aber nicht weniger evident zu sein, daß die verschiedenen Sinnesempfindungen oder den Sinnen eingeprägte Vorstellungen, wie auch immer dieselben miteinander vermischt oder verbunden sein mögen (d. h. was für Objekte sie auch immer bilden mögen) nicht anders existieren können, als in einem Geist, der sie perzipiert."
Dies wird nun an einem Beispiel nachgewiesen. Was heißt Existieren? "Sage ich: der Tisch, an dem ich schreibe, existiert, so heißt das: ich sehe und fühle ihn." Dies gilt auch von allen übrigen Sinnesempfindungen. "Es war ein Geruch da, heißt: derselbe wurde wahrgenommen; ein Ton fand statt, heißt: derselbe wurde gehört." Das ist der einzige verständliche Sinn dieser und aller ähnlichen Ausdrücke.
"Denn was von einer absoluten Existenz undenkender Dinge ohne irgendeine Beziehung auf ihr Perzipiertwerden gesagt zu werden pflegt, scheint durchaus unverständlich zu sein. Das Sein (esse) solcher Dinge ist Perzipiertwerden (percipi). Es ist nicht möglich, daß sie irgendeine Existenz außerhalb der Geister oder denkenden Wesen haben, durch welche sie perzipiert werden."
Es sei unmöglich, sagt BERKELEY weiter, die Abstraktion noch höher zu treiben,
"als bis zur Unterscheidung der Existenz sinnlicher Dinge von ihrem Perzipiertwerden, so daß man sich vorstellt, sie existieren unperzipiert? Licht und Farben, Hitze und Kälte, Ausdehnung und Figuren, mit einem Wort: die Dinge, welche wir sehen und fühlen, was sind sie anderes als verschiedenartige Sinnesempfindungen, Vorstellungen, Ideen oder Eindrücke auf die Sinne, und ist es möglich, auch nur in Gedanken irgendeine derselben vom Perzipiertwerden zu trennen?" (31)
Daß hiernach LANGE mit seiner obigen Behauptung vollständig dem Idealismus BERKELEYs verfällt, ist klar. Ja, ich gehe noch einen Schritt weiter und behaupte, daß auch selbst KANT trotz aller Anstrengung nicht über BERKELEY hinausgekommen ist. Denn wodurch unterscheidet sich die kantische Philosophie von der Erkenntnistheorie BERKELEYs? Lediglich durch das "Ding-ansich". Es soll außer unserem Geist noch eine wirkliche, reelle, von uns unabhängige Welt geben, deren wahres, d. h. objektives, ansich seiendes Wesen wir nicht erkennen, sondern nur, wie sie durch unsere Sinne uns vermittelt wird. Allein wie kommen wir nun zu dieser Welt ansich oder wie wird sie vermittelt? Es gibt nach KANT nur zwei Erkenntnisquellen: Sinnlichkeit und Verstand. (32) Durch die Sinnlichkeit kommen wir aber nicht dazu.
"Denn als Erscheinungen machen sie" (nämlich die Dinge-ansich, bzw. die außer unserem Geist existierenden Objekte) "einen Gegenstand aus, der bloß in uns ist, weil eine bloße Modifikation unserer Sinnlichkeit außerhalb von uns gar nicht angetroffen wird." (33)
"Materie und körperliche Dinge sind lediglich Erscheinungen, d. h. bloße Vorstellungsarten, die sich jeder Zeit nur in uns befinden und deren Wirklichkeit auf dem unmittelbaren Bewußtsein ebenso, wie das Bewußtsein meiner eigenen Gedanken beruth." (34)
Wenn aber diese Erkenntnisquelle nicht ausreicht, "durch welche die Dinge gegeben werden", so noch viel weniger die andere, der Verstand, wodurch sie bloß "gedacht" werden (35).
"In der Tat", sagt Kant, "wenn man äußere Erscheinungen als Vorstellungen ansieht, die von ihren Gegenständen, als ansich außerhalb von uns selbst befindlichen Dingen in uns gewirkt werden, so ist nicht abzusehen, wie man dieser ihr Dasein anders als durch den Schluß von der Wirkung auf die Ursache erkennen kann, bei welchem es immer zweifelhaft bleiben muß, ob die letztere in uns oder außerhalb unser ist." (36)
Ein Schluß ist bloß eine Denkfunktion, durch welche wir nicht weder aus uns, noch über uns hinauskommen. Das Ding-ansich ist also bloß ein Gedanke und hat als solcher nur, unter der Voraussetzung, daß wir alle geistig gleich organisiert sind, einen allgemein subjektiven, aber keinen allgemein objektiven Wert. Daß KANT selbst auch dieser Ansicht ist, erhellt sich aus einer Anmerkung in der Vorrede zur zweiten Auflage.
"Einen Gegenstand erkennen dazu wird erfordert, daß ich seine Möglichkeit (es sei nach dem Zeugnis der Erfahrung aus seiner Wirklichkeit, oder a priori durch Vernunft) beweisen kann. Aber denken kann ich was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche, d. h. wenn mein Begriff nur ein möglicher Gedanke ist, ob ich zwar dafür nicht stehen kann, ob im Inbegriff aller Möglichkeiten auch ein Objekt korrespondiert oder nicht. Um einen solchen Begriff aber objektive Gültigkeit (reale Möglichkeit, denn die erstere war bloß die logische) beizulegen, dazu wird etwas mehr erfordert." (37)
Abgesehen also davon, daß das Schließen von einer Wirkung auf die Ursache eine bloße Denkfunktion ist, wodurch mir keine Gegenstände "gegeben" werden, sind auch selbst "Ursache" und "Wirkung" nur Kategorien, denen nach KANTs eigenem Ausspruch keine "objektive Gültigkeit" zukommt (38).
"Ein reiner Gebrauch der Kategorien ist zwar möglich, d. h. ohne Widerspruch, aber hat gar keine objektive Gültigkeit; denn die Kategorie ist doch eine bloße Funktion des Denkens, wodurch mir kein Gegenstand gegeben, sondern nur, was in der Anschauung gegeben werden mag, gedacht wird." (39)
Ich kann also mittels der Kategorien die Dinge-ansich nur denken, aber nicht erkennen.
"Sich einen Gegenstand denken und einen Gegenstand erkennen ist aber nicht einerlei. Zur Erkenntnis gehören nämlich zwei Stücke: erstens der Begriff, dadurch überhaupt ein Gegenstand gedacht wird, die Kategorie, und zweitens die Anschauung, dadurch er gegeben wird, denn könnte dem Begriff eine korrespondierende Anschauung gar nicht gegeben werden, so wäre er ein Gedanke der Form nach, aber ohne allen Gegenstand und durch ihn gar keine Erkenntnis von irgendeinem Ding möglich." (40)
Nun haben wir aber oben gehört, daß
"Materie und körperliche Dinge lediglich Erscheinungen, d. h. bloße Vorstellungsarten sind, die sich jederzeit nur in uns befinden - weil eine bloße Modifikation unserer Sinnlichkeit außerhalb von uns selbst gar nicht angetroffen wird"; (41)
folglich können die Kategorien, bei ihrer Anwendung auf die Erscheinungen, bloß auf unsere eigene Sinneserregtheit angewendet werden, d. h. etwas, das in uns ist (Kategorie), kann auf etwas, das wieder nur in uns ist (Sinnlichkeit) angewendet werden und folglich bewegt sich KANT in einem Zirkel, kommt nie aus sich heraus und eine objektive, außerhalb seiner vorhandene Welt, ein Ding-ansich, existiert konsequenterweise für ihn nicht. Dies hat er dann auch in einem lichten Moment selbst gefühlt und in seiner Wahrheitsliebe offen ausgesprochen.
"Alle Vorstellungen werden in der Tat durch den Verstand auf irgendein Objekt bezogen, und da Erscheinungen nichts als Vorstellungen sind, so bezieht sich der Verstand auf ein Etwas als den Gegenstand der sinnlichen Anschauung; aber dieses Etwas ist insofern nur das transzendentale Objekt. Dieses bedeutet aber ein Etwas = X, wovon wir gar nichts wissen, noch überhaupt, nach der jetzigen Einrichtung unseres Verstandes, wissen können." (42)
Ist nun KANT wirklich kein Idealist, kein Metaphysiker? Hat er den Standpunkt BERKELEYs siegreich überwunden? Darf er dem englischen Bischof "schwärmerische Absicht" (43) oder dem Rezensenten, der in KANTs Kritik "höheren, d. h. transzendenten Idealismus" zu finden glaubte, mit LANGE "höheren Blödsinn" vorwerfen? (44)
"Bei Leibe nicht der höhere", sagt Kant. "Hohe Türme und die ihnen ähnlichen metaphysisch-großen Männer, um welche beide gemeinhin viel Wind ist, sind nicht für mich. Mein Platz ist das fruchtbare Bathos [Gegenüberstellung eines höheren Wertes zu einem niedrigeren - wp] der Erfahrung, und das Wort transzendental bedeutet nicht etwas, das über alle Erfahrung hinausgeht, sondern was in ihr a priori zwar vorhergeht, aber doch zu nichts Mehrerem bestimmt ist, als lediglich Erfahrungserkenntnis möglich zu machen." (45)
Nun, transzendent oder transzendental! Es wird sich wohl gleich bleiben. Transzendental ist, was aller Erfahrung vorhergeht, transzendent, was über alle Erfahrung hinausgeht. Beides ist metaphysisch. Denn "aller Erfahrung vorher" ist auch "über alle Erfahrung hinaus". Daß er aber durch sein apriorisches Verfahren (denn das ist ja der Sinn des aller Erfahrung Vorhergehens) lediglich "Erfahrungserkenntnis" möglich gemacht hat, hat sich nach meiner Beweisführung und seinen eigenen Worten schlechterdings nicht bestätigt. Wenn also alle Erkenntnis aus bloß reinem Verstand oder reiner Vernunft nichts als lauter Schein, und nur in der Erfahrung Wahrheit ist, so ist etweder die "Kritik der reinen Vernunft" lauter Schein oder der Satz: daß nur in der Erfahrung Wahrheit ist, ist eine leere, der ganzen Kritik widersprechende Phrase.
Ich denke, daß das, was ich bis jetzt vorgebracht habe, eher geeignet sein dürfte, "auch für den Blindesten noch über das Wesen der kritischen Philosophie einen Funken zu schlagen", als was LANGE dafür ausgibt. Und ebenso möchte ich den Leser ersuchen, "hier einen Augenblick Atem zu schöpfen", aber statt "die letzte Zeile: "nur in der Erfahrung ist Wahrheit" noch einmal zu lesen, oder wegen des Widerspruchs "die Schärfe des großen Denkers zu bewundern", ihn vielmehr auffordern, die ganze Argumentation noch einmal zu überlegen, und die Schwierigkeit der Aufgabe zu bedenken, da es ja selbst einem KANT nicht gelungen ist, dieselbe zu lösen, sondern nur sie anzudeuten.
Wissen wir jetzt, was Erfahrung ist? Liegt sie in der Sinnlichkeit oder im Verstand, oder in beiden zugleich? Wenn sie in diesen beiden Erkenntnisquellen nicht zu finden ist, so existiert sie für uns überhaupt gar nicht. Unsere Sinneserregung, als bloße Gefühlsmodifikation, und die Kategorien, als bloße Denkfunktionen führen uns nie aus uns heraus, sondern alles, was wir empfinden und denken, gibt uns nur innere Erfahrung, aber keine äußere. Und solange diese Schwierigkeit nicht überwunden ist, gibt es für uns keine äußere Welt, d. h. es existieren keine Dinge außerhalb und unabhängig von uns, sondern die Idealisten haben vollständig Recht, wenn sie behaupten:
"Alle Erkenntnis durch Sinne und Erfahrung ist nichts als lauter Schein, und nur in den Ideen des reinen Verstandes und der Vernunft ist Wahrheit."
Hier stehen wir vor dem großen Problem, das seit 200 Jahren die besten Köpfe beschäftigt hat und welches dessenungeachtet noch zu keinem befriedigenden Abschluß gekommen ist. Es ist die Fundamentalfrage aller Philosophie; mit ihr steht und fällt die Metaphysik aber auch die Philosophie selbst. Wir wollen nun sehen, wie LANGE sich zu dieser Fundamentalfrage verhält und ob er etwas zur Lösung jenes Problems beigetragen hat oder nicht.
Soviel steht mir bereits fest, daß, wenn "unsere ganze Vorstellung von einem Stoff und seinen Bewegungen das Resultat einer Organisation von rein geistigen Empfindungsanlagen" ist, hat uns LANGE auch nicht um den kleinsten Ruck vorwärts gebracht, sondern steht noch mitten im Berkeleyanismus. Doch LANGE bleibt nicht bei dieser Äußerung stehen, sondern er will auch der Empirie und den Naturwissenschaften gerecht werden und behauptet deshalb, wir seien in unserem Recht,
"wenn wir für alles, auch für den Mechanismus des Denkens, physische Bedingungen voraussetzen und nicht rasten, bis wir sie gefunden haben".
Wir sind also doppelt im Recht:
1. indem wir für das Denken einen "physischen Mechanismus" und
2. indem wir für diesen physischen Mechanismus eine "rein geistige Empfindungsanlage" voraussetzen. (46)
So erkläre ich also den Geist aus der Materie und die Materie wieder aus dem Geist. Wir haben somit zwei Auffassungen oder zwei Elemente: ein "idealistisches", welches er als ein "persönliches" und ein "materialistisches", welches er als das "sachliche" bezeichnet. Wie können nun beide, die idealistische und die materialistische Auffassungsweise, gleichermaßen im Recht sein? Wir werden annehmen müssen, daß es zwei real voneineinander unabhängige Standpunkte sind, und dann haben wir den ausgesprochensten Dualismus. Das will nun aber LANGE nicht. "Es ist keine Kluft in unserem Wesen anzunehmen". (47) So müssen dann diese beiden Standpunkte sich entweder miteinander vereinigen lassen, oder einander ausschließen. LANGE entscheidet sich für das Letztere. "Die konsequent materialistische Betrachtung schlägt in eine konsequent idealistische um". Also stehen wir wieder da, wo wir vorher waren.
Wie KANT und BERKELEY scheitert auch er an den beiden Klippen "Wirklichkeit und Kausalität. Zuerst nämlich, behauptet LANGE, müsse noch untersucht werden, ob wir mit KANT Raum und Zeit als bloß menschliche Formen der Anschauung auffassen, oder ob wir denken dürften, daß wenigstens die Materie mit ihrer Bewegung objektiv vorhanden und Grund aller Entscheidungen ist. Ohne aber diese so wichtige Untersuchung selbst anzustellen, entscheidet er sich sofort für das Letztere.
"Ohne Objektivität von Raum und Zeit kann in keinem Fall etwas unserer Materie und der Bewegung Ähnliches gedacht werden." (48)
Wie kann ein so kritischer Geist mit dieser positiven Äußerung die andere ebenso positive vereinigen, nämlich: daß
"es keineswegs schwer zu denken ist, daß unsere ganze Vorstellung von einem Stoff und seinen Bewegungen das Resultat einer Organisation von rein geistigen Empfindungsanlagen ist?" (49)
Wir wollen also annehmen, daß ohne Objektivität von Raum und Zeit keine Materie oder Bewegung denkbar ist. Aber nun fragt es sich: wie kommen wir denn zu dieser Objektivität, oder zu einer Außenwelt? Nicht anders als durch einen Schluß!
"Nun müssen wir allerdings aus dem Zusammenhang der Dinge in uns mit Notwendigkeit auf einen korrespondierenden Zusammenhang der Dinge außerhalb von uns schließen; allein dieser Zusammenhang braucht eben keineswegs Übereinstimmung zu sein." (50)
Das ist kantische Argumentation, und alle Schwierigkeiten, die ich oben gegen KANT vorgebracht habe, gelten natürlich auch für LANGE. Die Sinnlichkeit geht nicht auf das Ding-ansich, sondern nur der Verstand. Aber dieser kann sie bloß denken, wobei es uns ungewiß bleibt, ob diesem Gedachten auch in Wirklichkeit, d. h. objektiv, Etwas entspricht oder nicht.
"Die Sinnlichkeit und ihr Feld, nämlich das der Erscheinungen, wird selbst durch den Verstand dahin eingeschränkt, daß sie nicht auf die Dinge-ansich, sondern nur auf die Art geht, wie uns vermöge unserer subjektiven Beschaffenheit Dinge erscheinen. Dies war das Resultat der ganzen transzendentalen Ästhetik, und es folgt auch natürlicherweise aus dem Begriff einer Erscheinung überhaupt, daß ihr etwas entsprechen muß, was ansich nicht Erscheinung ist, weil Erscheinung nichts für sich selbst und außerhalb unserer Vorstellung sein kann, folglich, wenn kein beständiger Zirkel herauskommen soll, das Wort Erscheinung schon eine Beziehung auf Etwas anzeigt, dessen unmittelbare Vorstellung zwar sinnlich ist, was aber ansich auch ohne diese Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit Etwas, d. h. ein von der Sinnlichkeit unabhängiger Gegenstand sein muß." (51)
Wenn er das "sein muß", so bleibt ihm freilich keine andere Wahl und es wird das Beste sein, wenn er, dieser "unabhängige Gegenstand", wahrscheinlich gerade vermöge seiner Unabhängigkeit, sich dem leidigen Zwang fügt und sich gutwillig der Notwendigkeit unterzieht, als Substrat all unserer Sinnesaffektionen zu dienen, oder - es wird von den Kritikern noch mehr auf ihn geschlossen.
Kommen wir jetzt wieder auf LANGE zurück. Aus dem Zusammenhang der Dinge in uns, sagt er, müssen wir auf einen korrespondierenden Zusammenhang der Dinge außerhalb von uns schließen. Nun frage ich, wie ist das möglich, wenn Raum und Zeit in uns zwar "Realität" haben, ihm aber dennoch "ein ganz bestimmter Fehler darin zu liegen scheint, daß die Realität der Zeit in uns auf die Realität der Zeit außerhalb unser selbst übertragen wird?" (52) Wenn er das nicht zugibt, so kann er natürlich auch nicht aus dem Zusammenhang der Dinge in uns auf einen korrespondierenden derselben außerhalb von uns schließen. Denn Raum und Zeit sind ja die Bedingungen des Zusammenhangs, weil ein solcher ohne Aufeinanderfolge (Zeit) oder ohne Neben- und Miteinander (Raum), d. h. ohne räumliche und zeitliche Kontinuität gar nicht denkbar ist. Ist es also ein "ganz bestimmter Fehler", von der inneren Realität auf eine entsprechende äußere zu schließen, so gibt es für ihn keine Außenwelt, keine Materie, keine Bewegung, wie er dann auch selbst sagt:
"Ohne Objektivität von Raum und Zeit kann in keinem Fall etwas unserer Materie und Bewegung Ähnliches gedacht werden."
Man sieht hieraus, wie dieser scharfsinnige Kritiker sich auf ein und derselben Seite in einem Atemzug in Widersprüche verwickelt, bloß weil er seinem eigenen Prinzip: "schärfere Kritik der Begriffe" nicht treu bleibt.
Was aber von den Begriffen Raum, Zeit, Wirklichkeit, Materie und Bewegung zu sagen war, das gilt im gleichen Grad auch vom Begriff der Kausalität. Gesetzt auch, ich könnte vom Zusammenhang der Dinge in mir auf einen korrespondierenden außerhalb meiner selbst schließen, "so braucht doch dieser Zusammenhang eben keineswegs Übereinstimmung zu sein". Wenn die Übereinstimmung keineswegs notwendig ist, auf was schließe ich denn dann? Ich schließe von einer Wirkung auf eine mit ihr keineswegs übereinstimmende Ursache; mit anderen Worten: ich schließe entweder auf Nichts - oder auf Etwas, von dem ich gar nichts weiß, auf ein unbekanntes X. Gerade so weit und nicht weiter ist auch KANT gekommen.
"Alle unsere Vorstellungen werden in der Tat durch den Verstand auf irgendein Objekt bezogen, und da Erscheinungen nichts als Vorstellungen sind, bezieht sie der Verstand auf ein Etwas, als den Gegenstand der sinnlichen Anschauung; aber dieser Gegenstand ist insofern nur das transzendentale Objekt. Dieses bedeutet aber ein Etwas = X, wovon wir gar nichts wissen, noch überhaupt nach der jetzigen Einrichtung unseres Verstandes wissen können." (53)
Dieser Schluß von einer Empfindung in uns auf etwas dieser Empfindung Korrespondierendes außerhalb von uns ist aber völlig unbegreiflich, und zwar nicht bloß nach den Gründen, die ich bereits angeführt habe, sondern auch noch nach einem andern, nicht weniger wichtigen. Denn das Ich ist mir ebenso unbekannt, wie das Ding-ansich. Wie kann ich nun behaupten, daß meine Empfindungen oder Sinnesaffektionen eher von einem Gegenstan außerhalb meiner selbst, als von einem in mir, d. h. von mir selbst herrühren? Wo ist das Kriterium, das eine Ding-ansich vom andern zu unterscheiden? Und wenn sich überdies noch die Möglichkeit denken ließe, daß das Ding-ansich bloß unser eigenes Produkt, bloß eine selbstgemachte Bestimmung wäre, so haben wir nicht einmal das Recht, es uns auch nur als ein unbekanntes X vorzustellen. Soviel aber steht unter allen Umständen fest, daß das Ding ansich, gleichviel ob es subjektiv oder objektiv genommen wird, nicht in der Empfindung, sondern bloß in Gedanken existiert. Denn die Empfindung gibt uns keine Kunde von der Außenwelt, sondern sie ist bloß eine Zustand unseres Gefühls, das in keinem Fall unabhängig von uns vorhanden ist. Ist sie aber bloß innerlich, bloß ein subjektiver Zustand, und komme ich nie aus meiner eigenen Haut heraus, so kann ich kraft der bloßen Sinnlichkeit nie etwas von einem Außending erfahren. Also bleibt nur noch der Gedanke. Das Ding-ansich kann folglich bloß gedacht werden. Nach KANT und LANGE wird ja auf dasselbe nur geschlossen. Wenn ich nun vermöge des Denkens noch weniger oder mindestens ebensowenig aus mir herauskomme, als vermöge der Sinnlichkeit (denn meine Gedanken sind doch ebensowenig außerhalb von mir wie die Empfindungen), was hindert mich dann noch, das Ding-ansich, oder den Schluß auf dasselbe für eine bloße Funktion des Denkens und nicht für die Einwirkung eines Außendings zu halten? Wie kann somit LANGE behaupten, daß wir
"vom Zusammenhang der Dinge in uns mit Notwendigkeit auf einen korrespondierenden Zusammenhang der Dinge außerhalb von uns schließen müssen",
wenn es doch
"keineswegs schwer zu denken ist, daß unsere ganze Vorstellung von einem Stoff und seinen Bewegungen das Resultat von rein geistigen Empfindungsanlagen ist?" (54)
Wenn das keine Widersprüche sind! Ist nun nach LANGE die Vorstellung von Materie wirklich nur das Resultat einer rein geistigen Organisation, so fällt der Begriff der Kausalität, wie der der Wirklichkeit (objektiv, materiell genommen) vollständig weg. Denn wozu die unnütze Behauptung, daß der Begriff der Kausalität bloß auf die Erfahrung Anwendung findet, wenn es gar keine empirische (sondern bloß "rein geistige" Erfahrung gibt, wenn alle unsere Vorstellungen von Stoff und Bewegung das Produkt eines "rein geistigen" Wesens sind, wenn "keine Kluft in unserem Wesen anzunehmen" und
"der Streit zwischen Körper und Geist zugunsten des letzteren geschlichtet und damit erst die wahre Einheit des Bestehenden gesichert ist?" (55)
LANGE erkennt die "tiefgreifende Bedeutung" des Kausalitätsbegriffs und stellt deshalb die verschiedenen Ansichten über denselben und zuletzt seine eigene in vier kurzen Sätzen übersichtlich zusammen.
I. Die alte Metaphysik: Der Kausalitätsbegriff stammt nicht aus der Erfahrung, sondern aus der reinen Vernunft und ist dieses seines höheren Ursprungs wegen auch jenseits der Grenzen menschlicher Erfahrung gültig und anwendbar.
II. Hume: Der Kausalitätsbegriff läßt sich aus der reinen Vernunft nicht ableiten, er stammt vielmehr aus der Erfahrung. Die Grenzen seiner Anwendbarkeit sind zweifelhaft, jedenfalls aber läßt er sich auf nichts anwenden, was über die Erfahrung hinausgeht.
III. Kant: Der Kausalitätsbegriff ist ein Stammbegriff der reinen Vernunft und liegt als solcher unserer ganzen Erfahrung zugrunde. Er hat ebendeshalb im Gebiet der Erfahrung unbeschränkte Gültigkeit, aber jenseits derselben keine Bedeutung.
IV. Lange: Der Kausalitätsbegriff wurzelt in unserer Organisation und ist der Anlage nach vor jeder Erfahrung. Er hat ebendeshalb auf dem Gebiet der Erfahrung unbeschränkte Gültigkeit, aber jenseits derselben gar keine Bedeutung. (56)
Hier habe ich zu bemerken:
1. gibt es nicht vier Begriffsbestimmungen von Kausalität, sondern bloß drei. Denn die unseres Autors fällt vollständig mit dem kantischen zusammen, nur daß Lange statt des Ausdrucks "reine Vernunft" den Ausdruck "Organisation wählt (57), was aber, wenn derselbe nicht eine Zweideutigkeit involvieren soll, wie wir gleich sehen werden, auf dasselbe hinausläuft.
2. Bedarf Humes Behauptung keiner Widerlegung, da ja, wie wir bis jetzt gesehen haben, die Erfahrung erst durch einen Schluß von unserer Empfindung auf etwas derselben (außerhalb von uns) Korrespondierendes entsteht, also jedenfalls nicht a posteriori, sondern a priori seinen Ursprung ableitet. Zuerst muß es eine Erfahrung, eine äußere nämlich, geben, ehe wir die Kausalität aus derselben ableiten. Wenn zudem die Grenzen seiner Anwendung "zweifelhaft" sind, so kann nicht behauptet werden, daß er sich "jedenfalls" auf nichts anwenden läßt, was über die Erfahrung hinausgeht. Endlich
3. unterscheidet sich die alt-metaphysische Definition von der kantischen dadurch, daß Kant nur innerhalb der Erfahrung, die alte Metaphysik aber auch außerhalb derselben, der Kausalität Gültigkeit zuschreibt. Außerhalb der Erfahrung, d. h. nach kantischem Sprachgebrauch "vor aller Erfahrung" (transzendental), soll aber, wie wir gehört haben, "eine Wissenschaft des reinen Verstandes mit objektiver Gültigkeit" möglich sein. Es ist dies die Untersuchung unseres Erkenntnisvermögens, oder die "Kritik der reinen Vernunft", durch welche erst gezeigt werden soll, wie Erfahrung überhaupt möglich ist. Folglich unterscheidet sich die kantische Begriffsbestimmung dem Wesen nach durchaus nicht von der altmetaphysischen.
LANGE aber sieht jedenfalls die im ersten Satz vorgetragene Ansicht als einen überwundenen Standpunkt an, und wird die vierte, als seine eigene, für die beste halten. Genauer betrachtet muß ich aber gerade die erste (die schlechteste nach LANGEs Darstellung) für die beste halten, und sie sogar nach einer kleinen Veränderung, indem ich bloß an die Stelle des Wörtchens "jenseits" den Ausdruck "diesseits" setze, für LANGEs eigene und richtigere Auffassung erklären. In dieser Fassung würde also die erste von den vier aufgestellten Ansichten lauten: Der Kausalitätsbegriff stammt nicht aus der Erfahrung, sondern aus der reinen Vernunft und ist dieses seines höheren Ursprungs wegen nur diesseits der Grenzen menschlicher Erfahrung gültig und anwendbar. Daß er nicht aus der Erfahrung stammt, sagt er selbst. Denn er ist "der Anlage nach vor jeder Erfahrung". Also ist er wie bei KANT a priori. Unsere Anlage aber ist "rein geistig" (58). Daß er ferner nur diesseits der Erfahrung gültig und anwendbar ist, folgt einfach daraus, weil es konsequenterweise für LANGE gar keine Erfahrung gibt. Denn
"unsere ganze Vorstellung vom Stoff und seinen Bewegungen ist das Resultat einer Organisation von rein geistigen Empfindungsanlagen".
Und in dieser "Organisation wurzelt der Kausalitätsbegriff." (59) Überlegen wir uns daher noch einmal folgende inhaltsschweren Worte:
"Wir sind aber nicht minder in unserem Recht, wenn wir nicht nur die uns erscheinende Außenwelt, sondern auch die Organe, mit denen wir diese auffassen, als bloße Bilder des wahrhaft Vorhandenen betrachten. Das Auge, mit dem wir zu sehen glauben, ist selbst nur ein Produkt unserer Vorstellung, und wenn wir finden, daß unsere Gesichtsbilder durch die Einrichtungen des Auges hervorgerufen werden, so dürfen wir nie vergessen, daß auch das Auge samt seinen Einrichtungen, der Sehnerv samt dem Gehirn und all den Strukturen, die wir dort noch etwa als Ursachen des Denkens entdecken möchten, nur Vorstellungen sind, die zwar eine in sich selbst zusammenhängende Welt bilden, jedoch eine Welt, die über sich selbst hinausweist". (60)
Was ist das für eine Welt, die über sich selbst hinausweist? Ist es eine geistige, oder ist es eine materielle? Letztere kann es nicht sein. Denn wir haben ja gehört, daß durch einen bloßen Schluß, d. h. durch eine bloße Denkfunktion, uns keine Dinge "gegeben", sondern nur "gedacht" werden. Werden sie durch unseren Sinn nicht gegeben, so werden sie überhaupt nicht gegeben. Nun sind unsere Sinne und die durch dieselben wahrgenommenen Außendinge, oder um mit LANGE zu reden:
"nicht nur die uns erscheinende Außenwelt, sondern auch die Organe, mit denen wir diese auffassen, nur als Bilder des wahrhaft Vorhandenen zu betrachten".
Wir können somit bloß sagen, daß uns Bilder, d. h. Vorstellungen gegeben sind; aber woher diese kommen, von Innen oder von Außen, ob aus uns selbst oder von einer außerhalb und unabhängig von uns existierenden Welt, kann gar nicht ausgemacht werden. Die Vorstellung kann "das Bild eines unbekannten Sachverhalts" oder "das Resultat einer Organisation von rein geistigen Empfindungsanlagen sein." (61) Folglich hat die Kausalität nur diesseits der Erfahrung, d. h. "vor jeder Erfahrung" Gültigkeit, und wir müssen daher nicht, wie LANGE behauptet,
"aus dem Zusammenhang der Dinge in uns mit Notwendigkeit auf einen korrespondierenden Zusammenhang der Dinge außerhalb von uns schließen."
Mit Notwendigkeit ließe sich bloß schließen, daß die Vorstellung der Dinge entweder durch uns selbst oder durch den Einfluß äußerer Dinge auf uns hervorgebracht wird. Für dieses Entweder-Oder können wir sogar seine eigenen Worte anführen:
"Die Notwendigkeit des Kausalitätsbegriffs liegt nicht darin, daß immer bestimmte Arten von Ursachen den Erscheinungen untergelegt werden, sondern darin, daß überhaupt jede Erscheinung in irgendeinem Zusammenhang von Ursache und Wirkung gedacht wird, die nähere Bestimmung derselben möge sein, welche sie will." (62)
Diese Worte passen ebensogut für den rein subjektiven Idealismus, wie für den Objektivismus, d. h. für die Annahme einer unabhängig von uns existierenden Außenwelt. Die Erscheinungen sind unsere Vorstellungen, wenn nun die Notwendigkeit des Kausalitätsbegriffs darin liegt, daß überhaupt jede Erscheinung in irgendeinem Zusammenhang von Ursache und Wirkung gedacht wird, so kann ja dies ganz gut auch stattfinden, wenn die Vorstellungen bloß aus uns selbst (und nicht durch den Einfluß von Außendingen) erzeugt werden. Was den Zusammenhang bedingt, sind Raum und Zeit. Ohne zeitliche Aufeinanderfolge ist keine Kausalität denkbar. Denn die Wirkung kann doch nicht vor der Ursache, sondern nur mit oder nach derselben stattfinden. Simultaneität und Sukzession [Aufeinanderfolge - wp] sind aber Zeitbestimmungen. Ebenso kann ohne räumliches Neben- und Auseinander kein Zusammenhang vorgestellt werden. Raum und Zeit haben aber nach LANGE wenigstens Realität in uns (wenn auch nicht mit Sicherheit von dieser Realität in uns auf eine gleiche außerhalb von uns geschlossen werden darf). Also können sehr wohl unsere Vorstellungen "in irgendeinem Zusammenhang von Ursache und Wirkung gedacht werden", ohne dabei noch eine Außenwelt annahmen zu müssen. Ja, wenn
"unsere Vorstellungen vom Stoff und seinen Bewegungen das Resultat einer Organisation von rein geistigen Empfindungsanlagen"
sind, so müssen sogar unsere Vorstellungen als bloß innerlich zusammenhängend und ursächlich aufeinander folgend gedacht werden (63). LITERATUR Gideon Spicker, Über das Verhältnis der Naturwissenschaft zur Philosophie,
Berlin 1874
Anmerkungen
1)
Kant, "Prolegoma", Seite 141. Ich zitiere die Prolegomena und die Kr. d. r. V. nach der Kirchmann-Ausgabe.
2)
F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, erste Auflage, 1866, Seite 241^. Diese Seite, welche eine Erklärung und Rechtfertigung über die Stellung, welche Kant in der "Geschichte des Materialismus" einnimmt, enthält, ist in der neuen Auflage weggefallen, aus Gründen, welche Lange in folgenden Worten ausspricht: "Die hervorragende Stellung, welche wir Kant schon durch die Einteilung unseres Werkes angewiesen haben, bedarf heute schon weit weniger der Rechtfertigung, oder auch nur der Erklärung, als beim Erscheinen der ersten Auflage vor nun fast acht Jahren." (zweite Auflage, 2. Buch, Seite 1)
3)
siehe Lange, a. a. O., zweite Auflage, 2. Buch, Seite 148.
4)
Kr. d. r. V., Seite 48.
5)
Prolegomena, Seite 51.
6)
Prolegomena, Seite 53.
7)
Kr. d. r. V., Seite 72
8)
Kr. d. r. V., Seite 71
9)
Kr. d. r. V., Seite 259
10)
Kr. d. r. V., Seite 261
11)
Kr. d. r. V., Seite 104
12)
Kr. d. r. V., Seite 110
13)
Kr. d. r. V., Seite 104
14)
Kr. d. r. V., Seite 16
15)
Lange, a. a. O., Seite 241. Siehe Zitat 2. Daß nicht um Kant herumzukommen ist, wird auch in der neuen Auflage wieder behauptet (1. Buch, Seite 103 und 147).
16)
Lange, a. a. O., Vorrede, Seite 5
17)
Lange, a. a. O., Seite 261. Auch in der neuen Auflage hat er sich nicht bestimmter über dieses Verhältnis ausgesprochen (2. Buch, Seite 62).
18)
Lange, a. a. O., Seite 233
19)
Lange, a. a. O., Seite 333 (siehe auch 344, 261, 269)
20)
Kr. d. r. V., Seite 59.
21)
Kr. d. r. V., Seite 107
22)
Kr. d. r. V., Seite 37, 616, 617.
23)
Lange, a. a. O., Seite 345
24)
Kr. d. r. V., Seite 99, 68, 161
25)
Kr. d. r. V., Seite 39
26)
Lange, a. a. O., zitiert nach der zweiten Auflage, 2. Buch, Seite 91
27)
Lange, a. a. O., Seite 346
28)
Lange, a. a. O., Seite 496
29)
Lange, a. a. O., Seite 497
30)
Lange, a. a. O., Seite 500
31)
George Berkeley, Über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis (übersetzt von Überweg in der "Philosophischen Bibliothek" hg. von Kirchmann) Seite 22-23.
32)
Kr. d. r. V., Seite 68
33)
Kr. d. r. V., Seite 681
34)
Kr. d. r. V., Seite 699
35)
Kr. d. r. V., Seite 68, 99, 161.
36)
Kr. d. r. V., Seite 698
37)
Kr. d. r. V., Seite 34, 148
38)
Kr. d. r. V., Seite 121
39)
Kr. d. r. V., Seite 261
40)
Kr. d. r. V., Seite 149
41)
Kr. d. r. V., Seite 681
42)
Kr. d. r. V., Seite 251
43)
Prolegomena, Seite 142
44)
Lange, a. a. O., Seite 240; Prolegomena, Seite 140.
45)
Prolegomena, Seite 140 Anmerkung
46)
Lange, a. a. O., Seite 500
47)
Lange, a. a. O., Seite 496
48)
Lange, a. a. O., Seite 497
49)
Lange, a. a. O., Seite 500
50)
Lange, a. a. O., Seite 498
51)
Lange, a. a. O., Seite 260
52)
Lange, a. a. O., Seite 498
53)
Kr. d. r. V., Seite 259
54)
Lange, a. a. O., Seite 500
55)
Lange, a. a. O., Seite 499
56)
Lange, a. a. O., Seite 263
57)
Gegen diesen Vorwurf hat sich Lange in der zweiten Auflage, 2. Buch, Seite 125, Anmerkung 25 verwahrt, indem er sich deutlicher über die Anwendung dieses Ausdrucks erklärt. Allein diese Note ist nicht imstande, unsere ganze Beweisführung aufzuheben, und ich sehe mich deshalb nicht veranlaßt, näher auf dieselbe einzugehen. Vgl. meine "Kritik der kantischen Erkenntnistheorie", § 4.
58)
Lange, a. a. O., Seite 500
59)
Lange, a. a. O., Seite 264
60)
Lange, a. a. O., Seite 497
61)
Lange, a. a. O., Seite 500
62)
Lange, a. a. O., Seite 265. Siehe auch in der zweiten Auflage, 2. Buch, Seite 125, Anmerkung 25.
63)
Lange gibt selbst zu in besagter Note, daß der Begriff der Ursache bis nicht bis zum Ding-ansich reicht.
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