tb-1ra-1LangeBaumannRussellHölderSteckelmacherSpicker    
 
GIDEON SPICKER
Über das Verhältnis der
Naturwissenschaft zur Philosophie

[Mit besonderer Berücksichtigung der kantischen "Kritik der reinen Vernunft"
und der "Geschichte des Materialismus" von Albert Lange.]

[3/4]

"Es war eine große Torheit, die empirische Welt bloß aus Gedanken konstruieren zu wollen; aber nicht weniger groß ist der Irrtum, zu glauben, daß man alle geistige Tätigkeit des Menschen lediglich aus materiellen Vorgängen ableiten und erklären kann."

"Die Naturwissenschaft kann sich eines exakten Wissens rühmen, wenn sie sich damit begnügt, aus der Beobachtung der Erscheinungen die Gesetze derselben zu finden, und die quantitativen Verhältnisse, welche unmittelbar in diesen gefundenen Gesetzen enthalten sind, zu formulieren."

Wir könnten uns mit diesen Bemerkungen über den Kausalitätsbegriff begnügen, wenn wir uns mit den schwankenden Bestimmungen, welche LANGE über dessen Ursprung und Anwendbarkeit gegeben hat, auch befriedigen könnten. Wir wollen uns aber seine eigenen Grundsätze zum Vorbild nehmen und gerade in diesem höchst wichtigen Punkt zur Anwendung bringen. "Eine strengere Kritik mach auch größere Freiheit möglich." (64)
    "Die genauere Untersuchung kann ihren Zweck nur in dem rein theoretischen Interesse haben, und wo es sich viel um Begriffe handelt, ist eine scharfe Logik ebenso unerläßlich, als eine genaue Analyse in der Chemie." (65)
Der eigentliche Nerv aller Logik aber ist die Konsequenz. Diese unter allen Umständen zur Geltung zu bringen, ist eine Forderung des wissenschaftlichen Gewissens.

Ich habe gesagt, daß LANGE in gewissen Kardinalpunkten, worüber man am meisten Aufklärung sich wünscht und von einem so scharfsinnigen und umfassenden Denker am zuverlässigsten erwarten könnte, beständig schwankt. So heißt es z. B. vom Idealismus, er sei "metaphysische Dichtung", Metaphysik selbst aber ein "welthistorischer Tummelplatz", eine "erbauliche Kunst der Begriffsfügung" (66) oder "Begriffsdichtung" (67). Dem Umhertappen in der Metaphysik" habe er ein "Ende" gemacht (68). Er habe sie als "demonstrierte Wissenschaft ungleich schärfer gerichtet, als Kant es beabsichtigt hatte." (69) Trotzdem er aber dem Idealismus als metaphysischer Dichtung ein Ende gemacht hat, läßt er doch die konsequent materialistische Betrachtung in eine "konsequent idealistische" umschlagen und alle unsere Vorstellungen und Empfindungen nicht aus dem Körper, sondern aus dem "Geist" oder einer "geistigen Natur", oder einer "rein geistigen Empfindungs-Anlage", oder aus "rein geistigen Verhältnisse" entstehen (70).
    "Man könnte sagen: a priori ist der Körper, wenn nur der Körper selbst nicht wieder bloß eine a priori gegebene Auffassungsweise rein geistiger Verhältnisse wäre." (71)
Daß er dem Idealismus huldigt, geht schon aus seiner hohen Verehrung, die er für LICHTENBERG an den Tag legt, hervor. Er betrachtet ihn als den selbständigsten und unabhängigsten von allen Nachfolgern KANTs. Er stimmt ihm vollständig bei, wenn derselbe erklärt, daß "es unmöglich ist, den Idealismus zu widerlegen". (72) Ihre fast wörtliche Übereinstimmung ergibt sich aus folgender Parallele:

LICHTENBERG:
    1. "Wenn wir glauben, wir sähen Gegenstände, so sehen wir bloß uns."

    2. "Wir können von Nichts in der Welt etwas eigentlich erkennen, als uns selbst und die Veränderungen, die in uns vorgehen."

    3. "Wenn etwas auf uns wirkt, so hängt die Wirkung nicht allein vom wirkenden Ding ab, sondern auch von dem, auf welches gewirkt wird." (73)
LANGE:
    1. "Die Sinnenwelt ist ein Produkt unserer Organisation."

    2. "Unsere sichtbaren (körperlichen) Organe sind gleich allen anderen Teilen der Erscheinungswelt nur Bilder eines unbekannten Gegenstandes."

    3. "Unsere wirkliche Organisation bleibt uns daher ebenso unbekannt, wie die wirklichen Außendinge. Wir haben stets nur das Produkt von beiden vor uns." (74)
Im letzten Satz ist schon zu viel behauptet. Denn wenn es wahr ist, daß unsere Organisation uns ebenso unbekannt ist, wie die wirklichen Außendinge, so kann die Welt unserer Vorstellungen ebensowohl bloß durch uns selbst, als auch bloß durch die Außendinge erzeugt sein. Mit welchem Recht will man sich denn eher für das eine als für das andere entscheiden, wenn uns beide gleichermaßen unbekannt sind? "Niemand", sagt der alten KANT, "kann von einem unbekannten Gegenstand ausmachen, was er tun oder nicht tun kann." (75) Und ferner:
    "Man kann allgemein bemerken, daß, wenn ich unter Seele ein denkendes Wesen ansich verstehe, die Frage ansich schon unschicklich ist: ob sie nämlich mit der Materie, die gar kein Ding ansich, sondern nur eine Art Vorstellung in uns ist, von gleicher Art ist oder nicht? Denn das versteht sich schon von selbst, daß ein Ding-ansich von anderer Natur ist, als die Bestimmungen, die bloß einen Zustand ausmachen. Vergleichen wir ab der denkende Ich nicht mit der Materie, sondern mit dem Intelligiblen, welches der äußeren Erscheinung, die wir Materie nennen, zugrunde liegt, so können wir, weil wir von letzterem gar nichts wissen, auch nicht sagen, daß die Seele sich von diesem irgendworin innerlich unterscheidet." (76)
Schon im ersten Satz ist behauptet, daß die Sinnenwelt ein Produkt unserer Organisation ist. Wenn nun im dritten behauptet wird, daß unsere Vorstellungen ein Produkt von beiden sind (der Organisation und der Außendinge), so hebt entweder der erste Satz den dritten, oder der dritte den ersten auf. Nach einer anderen schon oft erwähnten Äußerung ist das Erstere der Fall, anch der Äußerung nämlich, daß unsere ganze Vorstellung vom Stoff und seinen Bewegungen nur das Resultat einer "Organisation von rein geistigen Empfindungs-Anlagen" ist. "Empfindungs-Anlage" klingt zwar etwas zweideutig, weil man unter Empfindungen gewöhnlich sinnliche Eindrücke versteht. Da sie aber eine "rein geistige" sein soll, so ist damit natürlich jegliche Vorstellung von etwas Empirischem oder Sinnlichem ausgeschlossen (77).

Ich hierbei nicht umhin, zu bemerken, daß gerade in solchen zweideutigen oder allzu unbestimmten Ausdrücken das Schwanken unseres Autors zwischen Empirie und Spekulation, zwischen Naturwissenschaft und Philosophie, wie es sich durch das ganze Buch zieht, am unverkennbarsten zutage tritt. Als Beispiel eines allzu unbestimmten Ausdrucks darf ich bloß den schon zitierten Satz anführen:
    "Man könnte sagen: a priori ist der Körper, wenn nur der Körper selbst nicht wieder bloß eine a priori gegebene Auffassungsweise rein geistiger Verhältnisse wäre."
Der Körper ist eine Auffassungsweise rein geistiger Verhältnisse!? Faßt denn der Körper auf? Nein! er ist ja eine a priori gegebene Auffassungsweise. A priori aber ist das, was vor aller Erfahrung, folglich auch vor aller Sinnlichkeit (nach kantischer Auffassung) vorhergeht. Also faßt nicht der Körper auf, sondern er wird aufgefaßt. Aber von Wem? Ist unter "Auffassungsweise" das Auffassende, das Subjekt verstanden, welches nur "geistige Verhältnisse" erkennt, oder ist unter "Verhältnis" das Subjekt, der Geist verstanden und unter Auffassungsweise bloß die Art, wie dieser Geist auffaßt, so daß statt Verhältnisse - Geist oder rein geistiges Wesen zu setzen wäre? Zweideutig bleibt die Ausdrucksweise aber immerhin. Doch scheint aus dem, was darauf folgt, die letztere Ansicht die wahrscheinlichere zu sein. "Wenn erst der naive Glaube an die Wirklichkeit der Erscheinung verdrängt ist, so ist der Schritt vom Physischen zum Geistigen nicht mehr groß." (78) "Der Streit zwischen Körper und Geist ist zugunsten des letzteren geschlichtet und damit erst die wahre Einheit des Bestehenden gesichert." (79)

Diese Unentschiedenheit zeigt sich ferner jedesmal, wo LANGE ebensowohl dem Materialismus, wie dem Idealismus, der Empirie wie der Spekulation "Recht" geben will. Wir haben ja gehört, daß er sagt:
    "Wir sind in unserm Recht, wenn wir für Alles, auch für den Mechanismus des Denkens, physische Bedingungen voraussetzen, und nicht rasten, bis wir sie gefunden haben. Wir sind aber nicht minder in unserm Recht, wenn wir nicht nur die uns erscheinende Außenwelt, sondern auch die Organe, mit denen wir diese auffassen, als bloße Bilder des wahrhaft Vorhandenen betrachten."
So hat auch HELMHOLTZ vollkommen Recht,
    "wenn er die Sinnestätigkeit auf eine Art von Schluß zurückführt. Wir haben wiederum Recht, wenn wir bemerken, daß dadurch die Forschung nach einem physikalischen Mechanismus des Empfindens wie des Denkens nicht überflüssig oder unzulässig wird. Endlich aber sehen wir ein, daß ein solcher Mechanismus gleich jedem anderen vorgestellten Mechanismus doch selbst wieder nur ein mit Notwendigkeit auftauchendes Bild eines unbekannten Sachverhaltes sein muß." (80)
Im ersten Zitat werden sowohl die Außenwelt, als auch unsere Organe als bloße Bilder des wahrhaft Vorhandenen betrachtet. Im letzteren dagegen sind diese Organe als Mechanismus das "Bild eines unbekannten Sachverhalts". Ist nun jenes wahrhaft Vorhandene die Außenwelt, das Ding-ansich, oder ist es unser eigener Geist? Wenn es die Außenwelt ist, die ich nur in Bildern erkenne, wie kann ich dann von jener, im Gegensatz zu dieser, als dem wahrhaft Vorhandenen sprechen und den "bloßen Bildern" gegenüberstellen? Wie kann ich denn wissen, daß jene das wahrhaft Vorhandene ist, wenn es nicht das Bild ist, durch welches und mit welchem ich einzig und allein die Außenwelt gegenwärtig habe? Gerade umgekehrt: das Bild ist das wahrhaft Vorhandene und was hinter diesem steckt, davon habe ich weder eine Anschauung, noch einen Begriff, d. h. ich kann es weder durch die Sinne, noch durch den Verstand näher bestimmen. Ist aber jenes wahrhaft Vorhandene nicht die Außenwelt, sondern der eigene Geist, so wird hoffentlich die Wirkung der Ursache entsprechen. Oder wenn jene "bloßen Bilder" etwas anderes sind, als das wahrhaft Vorhandene, der Geist, so ist in der Wirkung etwas, das in der Ursache gar nicht vorhanden ist; dann kann ich aus den Bildern als meinen Produkten nicht erkennen, was mein Geist, der Produzierende, ist. Wenn ich mich als Produzierenden nicht erkenne, wie soll ich mich dann in den Produkten erkennen, wie soll mir die Wirkung klar sein, wenn sie mir nicht klar wird aus der Ursache, während doch alles wahrhaft wissenschaftliche Bestreben gerade darin besteht, zu jeder Wirkung oder Erscheinung die ihr zugrunde liegende Ursache aufzufinden? Wie kann nun der Physiologe Recht haben, wenn er für das Denken physische Bedingungen voraussetzt, und ebensogut der Philosoph, wenn er all diese Erscheinungen zu bloß subjektiven Vorstellungen erklärt; wie können beide Recht haben, wenn doch
    "keine Kluft in unserem Wesen anzunehmen ist und nicht einzelne Funktionen unseres Wesens einer physischen, andere einer geistigen Natur zuzuteilen sind" und "der Streit zwischen Körper und Geist zugunsten des letzteren geschlichtet ist?"
Es sind hiernach nicht mehr zwei Standpunkte, ein empirischer und ein spekulativer möglich. Durch das Aufsuchen von immer neuen physischen Bedingungen können wir unsere Erkenntnis dem Wesen, der Art nach unmöglich vermehren, wenn doch alles "mit Notwendigkeit auftauchende Bilder eines unbekannten Sachverhaltes" oder nur "das Resultat einer rein geistigen Anlage" ist, oder "unsere wirkliche Organisation uns ebensogut unbekannt bleibt, wie die wirklichen Außendinge". Wenn also auch der Physiologe durch rastloses Vorwärtsdringen im Aufsuchen natürlicher, d. h. materieller Bedingungen für den Gedankenprozeß bis ins Unendliche fortginge, so würde er doch nur die Summe unserer Vorstellungen vermehren, aber kein Licht in die Art und Weise unserer Erkenntnis bringen. Das Ziel der empirischen Forschung ist aber gerade dieses: für jede geistige Regung ein materielles Substrat nachzuweisen. Wenn nur bei diesem Suchen das Denken nicht immer schon vorausgesetzt würde; wenn nur eine größere Zahl von Vorstellungen auch einen größeren Einblick in die Art des Vorstellens gewähren würde! Aber ein ganzer Berg von Gold gibt mir keinen klareren Begriff von demselben als ein einziges Korn.

Trotz dieser unvermeidlichen Konsequenzen, die einem LANGE nicht entgehen konnten, verfällt er immer wieder dem Empirismus. Kaum hat er zugegeben, daß der Körper "bloß eine a priori gegebene Auffassungsweise rein geistiger Verhältnisse" ist, so fährt er dessenungeachtet, in der Hoffnung, daß das rein Geistige vielleicht doch einmal auf ein rein Sinnliches oder gar Halbsinnliches zurückgeführt werden könnte, unmittelbar weiter:
    "Vielleicht läßt sich der Grund des Kausalitätsbegriffs einst in einem Mechanismus der Reflexbewegung und der sympathischen Erregung finden und dann hätten wir Kants reine Vernunft in Physiologie übersetzt und dadurch anschaulicher gemacht." (81)
Was hätten wir aber dadurch gewonnen? Ist denn das Sinnliche anschaulicher als das Geistige, wenn doch der Körper selbst "bloß eine a priori gegebene Auffassung rein geistiger Verhältnisse" oder
    "unsere ganze Vorstellung von einem Stoff uns seinen Bewegungen das Resultat einer Organisation von rein geistigen Empfindungs-Anlagen ist?"
Den Glauben an die Wirklichkeit der Erscheinungen nennt LANGE "naiv". Wenn nur dieser einmal verdrängt wäre, dann würde der Schritt vom Physischen zum Geistigen nicht mehr groß sein".
    "Nur daß freilich", fährt er weiter, "das rein Geistige immer das Unbekannte bleiben wird, eben weil wir es nur unter einem sinnlichen Bild erfassen können." (82)
Wenn das wirklich der Fall sein sollte, daß der Schritt vom Physischen zum Geistigen für uns bloß ein Fortschritt zum Unbekannten und Rätselhaften ist, dann tun wir besser, wir bleiben bei dem naiven Glauben an die Wirklichkeit der Erscheinungswelt. Da jedoch alles, nach LANGEs Voraussetzung, unsere eigene Sinnlichkeit, wie die ganze Außenwelt, nur das Produkt unseres Geistes ist, wie kann mir dann dieses Produkt oder die sinnlichen Bilder klarer sein, als der Produzierende selbst, wie sollen mir meine Handlungen oder Tätigkeiten einleuchtender oder unmittelbar gewisser sein, als ich, der Handelnde, der Tätige es mir selbst bin? Und wenn doch alles Sinnliche nur des Geistes Produkt ist, wie kann ich dann das rein Geistige wieder "nur unter einem sinnlichen Bild erfassen"? Vom rein Geistigen unter einem sinnlichen Bild gilt dasselbe, was oben von der rein geistigen "Empfindungs-Anlage" gilt. Mit ebensoviel oder mit noch viel größerem Recht kann ich den Satz:
    "Das rein Geistige wird immer das Unbekannte bleiben, eben weil wir es nur unter einem sinnlichen Bild erfassen können",
gerade umkehren und sagen: Das rein Sinnliche wird immer das Unbekannte bleiben, eben weil wir es nur unter einem geistigen Bild (Idee, Vorstellung) erfassen können. Wenn nämlich "der Streit zwischen Körper und Geist zugunsten des letzteren geschlichtet ist" und nicht einzelne Funktionen unseres Wesens einer physischen und andere einer geistigen Natur zuzuschreiben sind", so wird der Geist eben nur Geistiges erzeugen; er wird, selbst wenn es ein Sinnliches oder Materielles gibt, dasselbe nur in seiner Art, d. h. geistig erfassen, oder mit anderen Worten: unter einem geistigen Bild sich vorstellen. Ist aber dies nicht der Fall, sondern "bleibt unsere Organisation uns ebenso unbekannt, wie die wirklichen Außendinge", so ist uns das Geistige zumindest nicht unbekannter, als die Wirklichkeit der Erscheinungswelt. Entweder wissen wir also von beiden gleichviel, d. h. gar nichts, oder der Geist ist uns das Bekannteste, das Unmittelbarste, das Gewisseste. Das ist die einfache Konsequenz, welche sich aus den Prämissen, welche LANGE aufgestellt hat, naturnotwendig ergibt. Vor der Allgewalt der Logik hört alles Schwanken und alle Unentschiedenheit auf. Der Naturwissenschaft zuliebe kann man mit diesen Folgerungen nicht hinter dem Berg halten. Sie wird entweder bei der bloß sinnlichen Auffassung stehen bleiben und über die letzten Fragen nichts entscheiden, oder aber konsequent sein und somit auf ein anderes Gebiet, nämlich auf die Philosophie hinüberweisen. Nun fragt es sich, ob wir diese Fragen mit einem stolzen "Ignoramus" [wir wissen es nicht - wp] oder "Ignorabimus" [wir werden es nicht wissen - wp] abweisen oder aber dieselben auf dem Weg der Kritik weiter verfolgen wollen. Hier stehen wir auf der Grenzscheide zwischen der Empirie und Philosophie. Wenn sie von da aus ihre Hebel nicht ansetzt oder ansetzen kann, so ist sie als Wissenschaft verloren. Man muß sich endlich klar werden, wo das eine Gebiet aufhört und das andere anfängt. Was nicht auf dem Weg der Beobachtung und des Experiments erforscht werden kann, das muß dich durch das Denken erreichen lassen oder unbeantwortet bleiben. Die Philosophie aber ist und war von jeher nichts anderes als die Wissenschaft des Geistes. Die Verachtung der Naturwissenschaft von Seiten der Philosophie und die der Philosophie von Seiten der Naturwissenschaft stammt lediglich aus der Verkennung dieser Grenzen und ihrer Gebiete. Es war eine große Torheit, die empirische Welt bloß aus Gedanken konstruieren zu wollen; aber nicht weniger groß ist der Irrtum, zu glauben, daß man alle geistige Tätigkeit des Menschen lediglich aus materiellen Vorgängen ableiten und erklären kann. Wie groß und von welcher Tragweite die Verkennung sowohl der Mittel als auch der Gebiete dieser beiden Wissenschaften ist, beweisen nicht nur die meisten Naturforscher, sondern auch höchst verdiente Männer auf dem Gebiet der Spekulation selbst, wie z. B. JOHN STUART MILL, DAVID FRIEDRICH STRAUSS, LUDWIG FEUERBACH und andere. Wie stellt sich aber LANGE dieser Alternative gegenüber? Steht er auf dem Standpunkt der sinnlichen Erfahrung oder der Spekulation, hat er seine Geschichte des Materialismus als Empiriker oder als Philosoph geschrieben?

LANGE ist Kantianer, und unter allen Kantianern, sagt er, sei derjenige, welcher seiner Auffassung am nächsten geht, kein Geringerer als SCHILLER. Dieser große Dichter aber verkannte die Verschiedenheit der Gebiete zwischen den "Naturforschern und Transzendentalphilosophen" nicht. Seine wahre Ansicht hat er in folgendem Distichon ausgesprochen:
    "Feindschaft sei zwischen euch! Noch kommt das Bündnis zu früh;

    Wenn ihr im Suchen euch trennt, wird erst die Wahrheit erkannt."
Es würde gegen den Zweck dieser Kritik sein, wenn ich nachweisen wollte, daß dies wirklich die Grundanschauung von SCHILLERs Philosophie ist, und daß LANGE sich im Irrtum befindet, wenn er glaubt, auf dem gleichen Standpunkt zu stehen (83). Auch würde bei der Lektüre seines Werkes wahrscheinlich Niemand auf diesen Gedanken gekommen sein, wenn er in der Vorrede nicht selbst darauf aufmerksam gemacht hätte. Doch hieran liegt am Ende wenig. Aber das kann uns nicht gleichgültig sein, mit welchem Recht er das kantische System in der Hauptsache annimmt und es doch zugleich in seinen Konsequenzen verwirft. Seite 267-268 sind in dieser Beziehung zu interessant, als daß ich mir nicht erlauben sollte, das Einschlagendste für meine Behauptung im Auszug kritisch mitzuteilen.

Zuerst gibt er ÜBERWEG, einem "unserer scharfsinnigsten Logiker" (84), der aus Anlaß des Kausalitätsbegriffs KANT den Vorwurf des Widerspruchs gemacht hatte, vollständig recht, weil dieser Widerspruch "stark genug ist, um das ganze System zu stürzen". Worin besteht nun dieser tiefgreifende Widerspruch? ÜBERWEG wirft KANT vor, er bediene sich des Kausalitätsgesetzes, um zu beweisen, daß es Dinge ansich gibt, während jenes Gesetz doch nur für die Erscheinungswelt gelten soll.
    "Gegen diesen Einwurf", sagt nun Lange, "ist keine direkte Abwehr möglich. Er zerschmettert in der Tat den Panzer des Systems vollständig; an dem ist nichts mehr zu halten." (85)
Ich weiß nun nicht, auf welchen dieser beiden Sätze ich mich verlassen soll. Erstens heißt es, daß der Widerspruch stark genug ist, um das ganze System zu stürzen. Dann wird aber diese Behauptung sofort wieder gemildert, indem er bloß noch sagt, daß keine direkte Abwehr gegen diesen Vorwurf möglich ist. Also eine indirekte möchte es vielleicht wohl noch geben. Und zerschmettert dieser "Widerspruch" in der Tat nur den Panzer des Systems, so geht damit nur das Äußerliche in Brüche, der Kern, der Inhalt kann dabei noch ganz gut bestehen. Unter diesem Panzer versteht nämlich LANGE
    "die ganze Ausführung des Systems, die von der luftigen Begriffsarchitektur der meisten deutschen Philosophen sich nur durch ein etwas solideres Gefüge unterscheidet." (86)
Ich will aber einstweilen gegen diese letztere Behauptung die erstere, nämlich: daß miot diesem Widerspruch das ganze System umstürzt, in Schutz nehmen. Denn wenn die Kausalität sich nur auf die Erscheinung erstreckt, und das Ding-ansich, wie KANT sich ausdrückt, als Erscheinung einen Gegenstand ausmacht, der bloß in uns ist (87), weil eine bloße Modifikation unserer Sinnlichkeit außerhalb von uns gar nicht angetroffen wird, so wird das Ding-ansich gar nicht erreicht; es kann von ihm gar nichts gewußt, noch behauptet werden. Es fällt somit für unsere Erkenntnissphäre gänzlich weg und damit ist allerdings das kantische System nicht nur im Fundament erschüttert, sondern in der Tat aufgehoben. Denn ohne das Ding-ansich ist die kantische Philosophie undenkbar.

Weiter fährt LANGE fort:
    "Wir könnten mit dem Kausalitätsbegriff wohl das ganze Reich der Erfahrung durchmessen und finden, daß jenseits desselben etwas anderes ist, ein unseren Organen unzugängliches Gebiet (88). Nun aber kehrt Überwegs Einwand in einer neuen und schrecklichen Form wieder: Wenn die ganze Erscheinungswelt nur eine Folge unserer Begriffe ist, und wenn unsere Verstandesbegriffe sich nur auf die Erscheinungswelt beziehen, so gehört auch mit unabänderlicher Notwendigkeit das Ding-ansich zur Erscheinungswelt; es ist mit einem Wort nur eine versteckte Kategorie."
Wenn nun wirklich dieser Einwand so "schrecklich" ist und das Obige stark genug, um "das ganze System zu stürzen", wie kann dann LANGE dessenungeachtet noch in aller Gemütlichkeit fortfahren und sagen: "Wir aber unsererseits wollen uns bei der Anschauung, die sich daraus ergibt, beruhigen?" (89) Nein! bei einem solchen Widerspruch kann ich mich nicht beruhigen. Es wäre ein Verstoß gegen das wissenschaftliche Gewissen, das sicherlich jeder Wahrheitsfreund ebenso hochachten muß, wie der Tugendfreund das moralische Bewußtsein. Doch worin besteht denn die Anschauung, die sich daraus ergibt und bei der wir uns beruhigen sollen?
    "Die Forschung anhand des Kausalitätsbegriffs zeigte uns, daß die Welt für das Ohr nicht der Welt für das Auge entspricht, daß die Welt der logischen Folgerungen anders ist, als die der unmittelbaren Anschauung." (90)
Dagegen ist einzuwenden:
    1. Weil die Welt für das Ohr nicht der Welt für das Auge entspricht, so kann daraus nicht geschlossen werden, daß deshalb die Welt des Verstandes eine andere ist als die der Sinnlichkeit. Denn es ist wissenschaftlich erwiesen, daß nur für den unmittelbaren Anblick und für die oberflächliche Betrachtung die Ton- und Farbenwelt in zwei verschiedene Gebiete auseinanderfalen, für den besser Unterrichteten aber beiderlei Anschauungen aus ein und derselben Quelle stammen.

    2. Wenn der Glaube an die Wirklichkeit der Erscheinungswelt als "naiv" bezeichnet wird, so wird hoffentlich die Unterscheidung in Ton- und Farbenwelt als Wirklichkeit der Erscheinung wohl auch unter den naiven Glauben fallen. Daß aber die Welt der logischen Forschung anders ist, als die der unmittelbaren Anschauung oder der Sinnlichkeit, hat Lange schon vorher als einen heutzutage überwundenen Standpunkt bezeichnet.
KANT nahm zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis an: Sinnlichkeit und Verstand (91).
    "Mit tiefem Blick bemerkt er" (setzt Lange hinzu), "daß beide vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, uns unbekannten Wurzel entspringen. Heutzutage kann diese Vermutung bereits als bestätigt angesehen werden und zwar durch Experimente der Physiologie der Sinnesorgane etc."
LANGE nennt die Trennung von Sinnlichkeit und Verstand eine "doktrinäre", einen "Abweg", und siehe da, er wird trotz dieser Einsicht ebenso doktrinär und gerät auf denselben Abweg. Denn wenn die Welt der "logischen Folgerungen anders ist, als die der unmittelbaren Anschauungen", so haben wir zweierlei Welten, wobei wir nicht entscheiden können, welche vor der anderen den Vorzug verdient. Denn wie wir oben gehört haben, gibt LANGE beiden Recht, dem Empiriker, wenn er für das Denken ein materielles Substrat aufsucht, und dem Philosophen, wenn er dann dieses gefundene Substrat bloß für ein Bild oder für das Produkt einer "rein geistigen Natur" erklärt. Aber bei diesem doppelten Recht bleibt LANGE nicht stehen, sondern verwirft die eine Seite der Auffassung vollständig und läßt ihr gar keine wissenschaftliche Bedeutung zukommen.
    "Es muß immer wieder bekämpft werden, wenn die Prätension [Anmaßung - wp] wieder auftaucht, als sei das spekulative Wissen ein höheres und glaubwürdigeres, als das empirische, zu dem es sich einfach wie eine höhere Stufe zur niederen verhält." (92)
Ferner glaubt er sogar, es gehöre zu den "Kernwahrheiten" einer hereinbrechenden neuen Periode der Menschheit, nicht gerade die Spekulation abzuschaffen, aber ihr doch
    "ein für allemal ihren Platz anzuweisen, daß man wisse, was sie für das Wissen leisten kann und was nicht."
Leider soll sie nach seiner Ansicht für die Wissenschaft gar nichts leisten. Sie ist ihm ein Zwitterding, zusammengesetzt aus Logik und Poesie, ein "Tempel von Begriffen", "Begriffsdichtung" und wer sich diesem Bautrieb hingibt,
    "verzichtet damit auch notwendig darauf, das wahre und bleibende Wissen, auf welchem Feld auch immer, auch nur um einen einzigen Schritt zu befördern." (93)
Das stimmt wohl nicht mit jener Äußerung, daß
    "keine Kluft in unserem Wesen anzunehmen, daß der Streit zwischen Körper und Geist zugunsten des letzteren geschlichtet ist", daß die "konsequent materialistische Betrachtung in eine konsequent idealistische umschlägt",
sondern umgekehrt schlägt hier die idealistische wieder in eine materialistische um, nur daß diesem Umschlagen die "Konsequenz" fehlt. Ich dagegen werde nach allem, was ich oben für die Spekulation vorgebracht habe, mit SCHALLER sagen müssen:
    "Die Naturwissenschaft kann sich eines exakten Wissens rühmen, wenn sie sich damit begnügt, aus der Beobachtung der Erscheinungen die Gesetze derselben zu finden, und die quantitativen Verhältnisse, welche unmittelbar in diesen gefundenen Gesetzen enthalten sind, zu formulieren. Natürlich steht es jedem frei, mit diesem exakten Wissen sich zu begnügen; damit resigniert er aber auch notwendig auf die Beantwortung all der Fragen, mit welchen sich von jeher die Philosophie beschäftigt hat." (94)
"Nun dann !" fügt LANGE hinzu und verzichtet in der Tat in diesem Augenblick auf alles, was die Philosophie von PLATO bis auf KANT geleistet hat.
    "Wir verschieden die Philosophie diese Fragen beantwortet hat, mit denen sie sich von jeher beschäftigte, ist bekannt genug."
Als ob die Fragen in Bezug auf Moral, Recht, Religion, Kunst, Poesie etc. auf naturwissenschaftlichem Weg beantwortet werden können, oder gar nicht beantwortet zu werden verdienen, oder für den Menschen nicht von ebenso großen Interesse wären, als die Naturwissenschaften! Es ist wirklich weit gekommen! Selbst unsere besten Köpfe haben sogar den Sinn für das Wesen und die Aufgabe der Philosophie verloren. Wenn denn doch unseres Autors Resignation so groß ist in Betreff der philosophischen Fragen, für was stellt er sich dann auf kantischen Boden und sucht durch eine "zeitgemäße Umbildung, welche sein Grundgedanke zuläßt", denselben nicht nur von der starren Form seines Systems zu befreien, sondern vor Allem eine Wichtigkeit "für die Fragen des Materialismus" aufzuzeigen? Er gibt ja selbst zu, daß hier "der Anfang vom Ende des Materialismus, die Katastrophe der Tragödie liegt". Nun frage ich: Ist die kantische Philosophie etwa weniger spekulativ als jede andere? hat sie nichts beantwortet, wenn es wahr ist, was LANGE sagt, daß "um Kant nicht herumzukommen ist?" (95) In der Tat scheint KANT für LANGE eine Grenze zu sein, die er bis jetzt nicht zu überschreiten vermochte. Trotz aller Einsicht und aller Zugeständnisse, daß dadurch der Panzer zerschmettert und das System umgestürzt sei, bleibt er doch im Kantianismus befangen, nimmt seinen Dualismus, seine Sinnenlehre, die Kategorien, das Ding-ansich und die Ideenlehre an, gleich als ob in all diesen Punkten seither gar nichts geschehen und wirklich um KANT gar nicht herumzukommen wäre.
    "Das Ganze unserer Erscheinungswelt hängt von unseren Organen ab, und Kant hat das bleibende Verdienst, gezeigt zu haben, daß unsere Kategorien dieselbe Rolle spielen, wie unsere Sinne."
Wie ist das zu verstehen? Sind die Kategorien und die Sinne im Wesen identisch, oder spielen jene wie diese jedes eine eigene Rolle für sich und laufen sie ganz parallel und unabhängig nebeneinander? Nach LANGE kann man sowohl das Eine wie das Andere annehmen, ob wohl gewiß beide Annahmen sehr voneinander verschieden, ja völlig entgegengesetzt sind. Daß Sinnlichkeit und Verstand aus einer gemeinschaftlichen Wurzel entspringen, wie KANT mit richtigem Instinkt ahnte, "diese Vermutung könne heutzutage bereits als bestätigt angesehen werden".
    "Es ist keine Kluft in unserem Wesen anzunehmen; wir haben nicht einzelne Funktionen unseres Wesens einer physischen, andere einer geistigen Natur zuzuschreiben." (96)
Für das Gegenteil dieser Ansicht aber sprechen folgende Äußerungen:
    "Die Forschung anhand der Kausalitätsbegriffs zeigte uns, daß die Welt der logischen Folgerungen anders ist, als die der unmittelbaren Anschauung." (97)
Zur Welt der logischen Folgerungen wird wohl die Spekulation gehören, d. h. die Anwendung der Kategorien über die Erfahrung hinaus, was LANGE so sehr perhorresziert [ablehnt - wp], weil dadurch "das wahre und bleibende Wissen auch nicht um einen einzigen Schritt" gefördert wird. (98) Der Naturforscher hat es mit der "Erfahrung", der Philosoph aber bloß mit einem "Bedürfnis des Gemüts", mit einem "Naturtrieb" zu tun.
    "Der Philosoph muß den Physiologen verstehen; für diesen aber ist es Geschmackssache, oder wenn man will, Bedürfnisfrage, ob er dem Metaphysiker noch länger zuhören will." (99)
Wird hoffentlich Keiner so albern sein und mit der Anhörung von so leerem Geschwätz seine kostbare Zeit vertrödeln! Wie nur ein so wissenschaftlicher und gemessener Geist so respektvoll von dem Einen und so verächtlich vom Andern reden, ja, am Ende das Respektvolle und Verächtliche von ein und derselben Person und sogar von sich selbst behaupten mag! Ich möchte bloß fragen: Ist die exakte Forschung etwas anderes als ein "Naturtrieb" und ein "Bedürfnis des Gemüts"? Wenn sie nichts anderes ist und am Ende jeder Trieb in unserer Natur gleichviel Berechtigung hat, wie mag man dann das Eine dem Andern vorzuziehen? Wenn LANGE überdies zugibt, "
    daß der Naturforscher selbst doch niemals in seinem eigenen Denken, trotz aller Exaktheit der Spezialforschung, die metaphysische Spekulation ganz wird unterdrücken können;" (100) wenn die "Metaphysik ein allgemeines Bedürfnis des menschlichen Geistes und fast alle Forscher irgendwo und irgendwie Metaphysiker sind." (101)
wie mag er da die bessere Einsicht ganz unterdrücken und so gegen den eigenen Stachel ausschlagen! Wenn nun die Metaphysik ein so allgemeines Bedürfnis des menschlichen Geistes ist, daß noch fast kein einziger Naturforscher sich gänzlich davon losmachen konnte: so wäre diese eigentümliche Erscheinung gewiß ebenso wert, näher untersucht zu werden, als irgendein Mineral oder eine Pflanze. LANGE gehört selbst trotz all seines Widerstrebens unter die Metaphysiker, wie ich schon oben nachgewiesen habe, und es mag jetzt für den Leser "Geschmackssache sein, noch länger diesem Metaphysiker zuzuhören."
    "Führt uns nun die umfassende Betrachtung der Erscheinungswelt darauf, daß auch diese in ihrem gesamten Zusammenhang von unserer Organisation bedingt ist; müssen wir selbst annehmen, daß da, wo wir kein neues Organ mehr gewinnen können, um die andern zu ergänzen und zu verbessern, noch eine ganze Unendlichkeit verschiedener Auffassungen möglich; ja, daß endlich all diesen Auffassungsweisen verschieden organisierter Wesen eine gemeinsame unbekannte Quelle zugrunde liegt, das Ding-ansich, im Gegensatz zu den Dingen der Erscheinung: dann mögen wir uns dieser Anschauungm, sofern sie eine notwendige Folge unseres Verstandesgebrauchs ist, nur ruhig hingeben, obgleich derselbe Verstand uns bei einer weiteren Untersuchung bekennen muß, daß er diesen Gegensatz selbst geschaffen hat. Wir finden überall nichts als den gewöhnlichen empirischen Gegensatz zwischen Erscheinung und Wesen, der ja bekanntlich dem Verstand unendliche Grade zeigt. Was auf dieser Stufe der Betrachtung Wesen ist, zheigt sich auf einer anderen im Verhältnis zu einem tiefer verborgenen Wesen wieder als Erscheinung. Das wahre Wesen der Dinge, der letzte Grund aller Erscheinungen, ist uns aber nicht nur unbekannt, sondern es ist auch der Begriff desselben nicht mehr und nicht weniger als die letzte Ausgeburt eines von unserer Organisation bedingten Gegensatzes, von dem wir nicht wissen, ob er außerhalb unserer Erfahrung irgendeine Bedeutung hat." (102)
So glaubt LANGE voll und ganz an das "Ding ansich im Gegensatz zu den Erscheinungen!" Das ist dualistisch. Denn das Ding-ansich ist kein Gegenstand der Erfahrung, womit es die exakte Forschung zu tun hat. Es kann bloß gedacht werden und gehört somit der "Welt der logischen Folgerungen an, die anders ist, als die der unmittelbaren Anschauung". Auch daß der Verstand "diesen Gegenstand selbst geschaffen" hat, ist nicht experimentell nachzuweisen. Folglich ist es eine Frucht der Spekulation. "Wir finden überall nichts als den empirischen Gegensatz von Erscheinung und Wesen." Dieser Gegensatz ist nicht empirisch, sondern rein spekulativ. Die Sinne machen keine Gegensätze, sondern der Verstand. Noch kein Naturforscher als solcher hat derartige Gegensätze gemacht, ebensowenig ein echter Materialist. Metaphysiker, wie PARMENIDES, PLATO und KANT, sind die Urheber dieser Unterscheidung, aber nicht ein THALES, DEMOKRIT oder EPIKUR. LANGE selbst schreibt diesen Gegensatz nicht der empirischen Auffassungsweise zu, sondern dem "menschlichen Denken".
    "In der Tat zieht sich der Gedanke, daß die Erscheinungswelt nur das getrübte Abbild einer anderen Welt der wahren Objekte ist, durch die ganze Geschichte des menschlichen Denkens hindurch."

    "Plato glaubte an die Welt der Ideen, der ewigen und vollendeten Urbilder allen Geschehens. Kant nennt ihn den vornehmsten Philosophen des Intellektuellen und Epikur dagegen den vornehmsten Philosophen der Sinnlichkeit."
Nimmt LANGE diese Unterscheidung von Wesen und Erscheinung an, glaubt er an das Ding-ansich, so steht er wie alle Metaphysiker auf dem Boden der Spekulation. Denn es hat noch nie etwas Metaphysischeres gegeben, als das Ding-ansich, zumal wenn uns dasselbe, wie LANGE mit KANT behauptet, gänzlich "unbekannt" ist. (103) Gleichwohl meint er hiermit "dem Umhertappen in der Metaphysik ein Endet" (104) und dieselbe "als demonstrierte Wissenschaft ungleich schärfer gerichtet zu haben, als Kant beabsichtigt hatte." (105) Daß er die Metaphysik nicht gerichtet, ja nicht einmal seinem eigenen Umhertappen in derselben ein Ende gemacht hat, glaube ich durch die ganze bisherige Darstellung gezeigt zu haben. Was er aber hinsichtlich der philosophischen Kritik den Naturforschern so "dringend empfiehlt", das wird unser Autor bei seinem aufrichtigen Streben wohl nicht von sich selbst abweisen!
    "Eben nun seine eigenen transzendentalen Ideen richtiger als solche zu erkennen und sie sicherer von dem zu unterscheiden, was die Empirie gibt, bedarf er der Kritik der Begriffe." (106)

    "Eine strengere Kritik macht auch größere Freiheit möglich und der eherne Arm der Skepsis bedroht nicht die edle Form einer geistigen Schöpfung, sondern nur die Bande, mit welchen der ewig schaffende Geist an ein vorzügliches Symbol gekettet wirde." (107)
Was wollte ich denn nun eigentlich beweisen? Nichts weiter als dies: Es ist gegen die Natur des logischen Denkens, sich bei einem klar erkannten Widerspruch zu beruhigen. Das aber scheint LANGE nicht bloß selbst zu tun, sondern will es auch noch anderen empfehlen. Wenn ÜBERWEG KANT den Widerspruch nachweist, daß er sich des Kausalitätsgesetzes bedient, um zu beweisen, daß es Dinge-ansich gibt, während jenes Gesetz doch nur für die Erscheinungswelt gelten soll, und LANGE zugibt, daß gegen diesen Vorwurf keine direkte Abwehr möglich und der Panzer des Systems dadurch vollständig zerschmettert ist; wenn er ferner ÜBERWEGs Einwand, daß das Ding-ansich auch nur zur Erscheinungswelt gehört und es folglich kein Ding-ansich mehr gibt, für einen "schrecklichen" hält: so ist es unbegreiflich, wie er dessenungeachtet sagen kann: "Wir aber wollen uns bei der Anschauung, die sich daraus ergibt, beruhigen." Diese Unbegreiflichkeit steigert sich umso mehr, als wir hören, daß die Anschauung, welche sich aus diesen Einwürfen ergeben soll, darin besteht, daß man das Ding-ansich annehmen muß, weil es eine "notwendige Folge unseres Verstandesgebrauchs" ist. Sind denn ÜBERWEGs Einwürfe, gegen die keine direkte Abwehr möglich ist, die, selbst wenn eine indirekte stattgefunden, "in einer neuen schrecklichen Form wiederkehren", nicht auch Folgen eines notwendigen Verstandesgebrauchs? Wenn wir ferner "überall nichts finden, als den gewöhnlichen empirischen Gegensatz zwischen Erscheinung und Wesen" und dieser "Gegensatz eine notwendige Folge unseres Verstandesgebrauchs" ist, und da, wo die Sinnlichkeit uns im Stich läßt, d. h. "wo wir kein neues Organ mehr gewinnen können, um die andern zu ergänzen und zu verbessern, noch eine ganze Unendlichkeit verschiedener Auffassungen möglich ist": dürften wir dann jenes "Wesen" als Gegensatz der Erscheinung nicht auch unter die "Unendlichkeit verschiedener Auffassungen" rechnen, zumal jener "Gegensatz vom Verstand selbst geschaffen" wurde und also in letzter Instanz der Verstand, der Geist oder das Metaphysische das Prinzip aller Erkenntnis und Wahrheit ist? Unter jene "Unendlichkeit verschiedener Auffassungen" gehört vor allem die Spekulation, d. h. also das reine Denken oder die Metaphysik, damit, "wo wir kein neues Organ mehr gewinnen können, um die andern zu ergänzen und zu verbessern", wir kraft des Denkens, als dem höchsten Organ, die andern ergänzen und verbessern. Wenn es nicht leere Phrasen sind, was LANGE am Schluß seines Werkes ausgesprochen hat, nämlich
    "daß wir im Recht sind, wenn wir nicht nur die uns erscheinende Außenwelt, sondern auch die Organe, mit denen wir diese auffassen, als bloße Bilder des wahrhaft Vorhandenen betrachten, daß also das Auge, mit dem wir zu sehen glauben, selbst nur das Produkt unserer Vorstellung, und der Sehnerv samt dem Hirn und all den Strukturen, die wir dort noch etwa als Ursachen des Denkens entdecken möchten, nur Vorstellungen sind, die zwar eine in sich zusammenhängende Welt bilden, jedoch keine Welt, die über sich selbst hinausweist"; daß somit

    "keine Kluft in unserem Wesen anzunehmen ist; daß wir nicht einzelne Funktionen unseres Wesens einer physischen, andere einer geistigen Natur zuzuteilen haben, sondern daß der Streit zwischen Körper und Geist zugunsten des letzteren geschlichtet und erst damit die wahre Einheit des Bestehenden gesichert ist" -
ich sage: wenn das keine leeren Phrasen sind, so hat LANGE selbst nicht mit sinnlichen, sondern mit geistigen Organen, also durch das bloße Denken, durch die Metaphysik, die sinnlichen Organe ergänzt und verbessert. Erst so schlägt "die konsequent materialistische Betrachtung um in eine konsequent idealistische". Aber dann wollen wir auch endlich einmal bei diesen Behauptungen bleiben, wollen zu unserem Denken Vertrauen fassen, oder, wenn wir immer zwischen unseren Behauptungen und Folgerungen hin- und herschwanken, so müssen wir am Ende an unserem Gedächtnis oder an der Energie des Denkens verzweifeln. Wir wollen die daraus folgenden Konsequenzen nicht weiter treiben. Nur eine Bemerkung will sich nicht ganz unterdrücken lassen; sie betrifft den "schrecklichen" Einwurf ÜBERWEGs, der da lautet:
    "Wenn die ganze Erscheinungswelt nur eine Folge unserer Begriffe ist und wenn unsere Verstandesbegriffe sich nur auf die Erscheinungswelt beziehen, so gehört auch mit unabänderlicher Notwendigkeit das das Ding ansich zur Erscheinungswelt; es ist mit einem Wort nur eine versteckte Kategorie." (108)
Diesen Einwand nun finde ich gar so schrecklich nicht, sondern muß ihn für ein gewöhnliches idem per idem [dieses für jenes - wp] halten. Denn wenn die Erscheinungen nur eine Folge unserer Begriffe sind und sich unsere Begriffe nur auf die Erscheinungen beziehen, so heißt dies in letzter Instanz: Unsere Begriffe beziehen sich auf unsere Begriffe, d. h. sie beziehen sich auf sich selbst. Auf diese Weise kann allerdings das Ding-ansich als eine versteckte Kategorie betrachtet werden. Wollte man nach dieser Auffassung wirklich über Begriffe hinaus zu einem Ding-ansich kommen, so wäre das in der Tat ebenso possierlich und lächerlich, als wenn jemand versucht, über seinen eigenen Schatten zu springen. So aber hat KANT die Sache nicht aufgefaßt. Die Erscheinungswelt ist nicht bloß eine Folge unserer Begriffe, sondern unserer Anschauungen und Begriffe. Unsere Erscheinungswelt ist doch die Welt der Erfahrung. Erfahrung ist aber nach KANT "das Produkt der Sinne und des Verstandes" (109)
    "Erfahrung besteht aus Anschauungen, die der Sinnlichkeit angehören, und aus Urteilen, die lediglich ein Geschäft des Verstandes sind." (110)

    "Anschauungen und Begriffe machen also die Elemente all unserer Erkenntnis aus, so daß weder Begriffe ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe eine Erkenntnis abgeben können." (111)
Bei dieser dualistischen Auffassung von Sinnlichkeit und Verstand hat es also noch einen Sinn, wenn KANT von Beziehungen der Verstandesbegriffe auf die Erscheinungswelt spricht. Bei LANGE aber hat es keinen Sinn, wenn er die Vermutung, daß Sinnlichkeit und Verstand eine gemeinschaftliche Wurzel haben, als eine "heutzutage bereits bestätigte" ansieht. (112) Auch hat es keinen Sinn, wenn er trotz dieser Ansicht noch den "Gegensatz von Wesen und Erscheinung" (113) annimmt. Denn wenn Sinn und Verstand als Ursache unserer Erkenntnis im Wesen dasselbe sind, so werden es wohl auch die Wirkungen sein!

Was ich ferner gegen LANGE in Bezug auf diesen Punkt noch vorzubringen habe, ist: daß er seine Anerkennung der Einwürfe gegen das kantische System nicht auch denjenigen zollt, die es ebenso gut verdienen als ÜBERWEG und vielleicht noch mehr. Wer auf historisch-kritischem Weg "Aufklärung über die Prinzipien", (114) also über die höchsten und wichtigsten Wahrheiten in ihrer Entstehung und gegenwärtigen Bedeutung einem Leserkreis geben will,
    "von dessen Aufklärung, von dessen gesunder Weltanschauung, von dessen frischer Beteiligung an wissenschaftlichen Zeitfragen nichts Geringeres abhängt, als das geistige Fortleben der Nation." (115):
von dem dürfen wir auch erwarten, daß er uns über jene Punkte orientiert, von denen eben das geistige Fortleben einer Generation oder eines Volkes bedingt ist. Und wenn dieses geistige Leben einer Nation nicht vor allem in seiner Philosophie, seiner Religion, seinen Moral- und Rechtsbegriffen besteht, so ist nimmer einzusehen, was LANGE unter Geist versteht. Er hat uns also den Entwicklungsprozeß dieser Ideen und zugleich auch die vorzüglichsten Träger desselben möglichst unparteiisch und sachgemäß darzustellen. Dieser Forderung ist aber LANGE nicht vollkommen gerecht geworden. Er hat Persönlichkeiten wie BERKELEY, SCHULZE (Aenesidemus), MAIMON, JACOBI, FICHTE, SCHOPENHAUER und andere, die gerade in Bezug auf das "Prinzip" der Erkenntnis die höchste Frage in der Philosophie überhaupt und in der kantischen insbesondere, das Schwierigste und Scharfsinnigste vorgebracht haben, keineswegs hinlänglich gewürdigt, ja oft kaum nur erwähnt (116). Wenn aber unser Autor seinem Lesepublikum es eher verzeihen könnte, wenn es das halbe Buch überschlägt, als daß es den Abschnitt über KANT ungelesen läßt, ja, daß es ihn nicht so sehr schmerzt, wenn sein ganzes Buch nach fünf Jahren schon vergessen wäre, als wenn er hören müßte, daß seine "Leser den jetzt folgenden Abschnitt" (über KANT), "welcher etwas tiefer in die Abgründe der Metaphysik hineinführt, überschlagen": so sollte man denken, daß bei einer solchen Wichtigkeit der Sache der Autor auch Alles in Erwägung gezogen und womöglich widerlegt hat, was gegen dasselbe vorgebracht worden ist. Unser Verfasser nennt ÜBERWEG gerade seiner Einwürfe wegen, die er gegen KANT vorbrachte, "einen unserer scharfsinnigsten Logiker", "einen Logiker von eminenter Befähigung" (117), dessen Bemerkungen "genial" (118), dessen Einwürfe "schrecklich" sind. Ich bestreite dies vorderhand nicht. Aber wenn sich beweisen läßt, daß all das, was ÜBERWEG gegen KANT eingeworfen hat, schon AENESIDEMUS, BERKELEY, SCHOPENHAUER etc. in höchst zutreffender und scharfsinniger Weise entwickelt haben, so gehören sie doch wohl auch mit unter die Logiker von eminenter Befähigung und verdienen zumindest eine eingehendere Berücksichtigung. Zudem haben sie noch die Priorität voraus, und wenn LESSING von einem so erfinderischen Geist, wie es LEIBNIZ war, vermuten durfte, er möchte den SHAFTESBURY in Bezug auf die Ideen von der besten Welt, welches Buch doch nur ein Jahr vor der "Theodizee" von LEIBNIZ erschienen ist, "ein wenig ausgeplündert haben" (119), so dürfen wir wohl auch annehmen, daß ÜBERWEG speziell als Historiker sich mit jenen Einwürfen bekannt gemacht und wenigstens den Anstoß für seine eigene Behauptung durch jene empfangen hat. Ich finde nicht, daß seine Einwendungen etwas wesentlich Neues enthalten, sondern, bei Licht besehen, schon von jenen ausgesprochen wurden (120).
    "Sonne, Mond und Sterne mitsamt ihren regelmäßigen Bewegungen und samt dem ganzen Universum sind ja nach Überwegs eigener genialer Bemerkung nicht nach Außen reflektierte Bilder, sondern Elemente, gleichsam Teile unseres Innern." (121)
Zur Vervollständigung dieses Gedankens fügt LANGE ergänzend hinzu:
    "Wenn Überweg sagt, sie seien Bilder in unserem Gehirn, so darf man dabei nicht vergessen, daß unser Gehirn auch nur ein Bild oder die Abstraktion eines Bildes ist, nach den Gesetzen entstanden, welche unser Vorstellen beherrschen. Es ist ganz in der Ordnung, wenn man zur Vereinfachung der wissenschaftlichen Reflexion in der Regel bei diesem Bild stehen bleibt; allein man darf nie vergessen, daß man damit nur eine Relation zwischen den übrigen Vorstellungen und der Gehirnvorstellung hat, aber keinen festen Punkt außerhalb dieses subjektiven Gebietes. Es läßt sich aus diesem Kreis durchaus nicht anders herauskommen, als durch Vermutungen." (122)
Hiermit haben sich ÜBERWEG wie auch LANGE (von Letzteren habe ich es schon oben bewiesen) ganz auf den Standpunkt BERKELEYs gestellt. Lassen wir BERKELEYs Urgeist, der die Quelle unserer Vorstellungen sein soll, auch nur als eine "Vermutung" gelten und halten wir uns bloß an das bis dahin Vorgebrachte, so werden folgende Äußerungen meine Behauptung bestätigen.
    "Einige Wahrheiten", sagt Berkeley, "liegen so nahe und sind so einleuchtend, daß man nur die Augen des Geistes zu öffnen braucht, um sie zu erkennen. Zu diesem rechne ich die wichtige Wahrheit, daß der ganze himmlische Chor und die Fülle der irdischen Objekte, mit einem Wort, alle die Dinge, die das große Weltgebäude ausmachen, keine Subsistenz außerhalb des Geistes haben, daß ihr Sein ihr Perzipiertwerden oder Erkanntwerden ist, daß sie also, solange sie nicht wirklich durch mich erkannt sind, oder in meinem Geist, oder im Geist irgendeines anderen geschaffenen Wesens existieren, entweder überhaupt keine Existenz haben oder im Geist eines ewigen Wesens existieren müssen, da es etwas völlig Undenkbares ist und alle Verkehrtheit der Abstraktion in sich schließt, wenn irgendeinem Teil derselben eine vom Geist unabhängige Existenz zugeschrieben wird. Um sich hiervon zu überzeugen, braucht der Leser nur durch eigenes Nachdenken den Versuch zu machen, in Gedanken das Sein eines sinnlich wahrnehmbaren Dings von dessen Perzipiertwerden zu trennen." (123)
Und an einer anderen Stelle:
    "Sonne, Mond und Sterne und alle anderen Sinnesobjekte sind nur ebensoviele Wahrnehmungen in den Geistern und haben keine andere Existenz als ihr Perzepiertwerden." (124)
ÜBERWEG ist ein gründlicher Historiker und hat überdies diese Abhandlung übersetzt. Er wird folglich diese und ähnliche Stellen wohl auch gekannt haben. Der Kerngedanke der Philosophie BERKELEYs lautet nach ÜBERWEGs Darstellung folgendermaßen:
    "Daß unser Denken existiert, ist unmittelbar gewiß; daß Körper, die von unseren Ideen (Vorstellungen) verschieden wären, existieren, schließen wir."
So weit geht auch KANT und mit ihm LANGE. BERKELEY geht jedoch noch einen Schritt weiter und sagt:
    "Aber dieser Schluß ist trüglich; er hat nichts Zwingendes und wird widerlegt durch die Unmöglichkeit, das Zusammenwirken völlig heterogener Substanzen zu erklären." (125)
Daß dieser Schluß nichts Zwingendes hat, habe ich hinlänglich bewiesen und wird auch von LANGE zugestanden, wenn er sagt: daß "aus diesem subjektiven Kreis durchaus nicht anders herauszukommen ist, als durch Vermutungen". Dann aber ist die ganze Erscheinungswelt oder die Annahme einer reell und unabhängig von uns existierenden Welt auch nur eine Vermutung, und wie LANGE hiernach konsequenterweise sich zur Spekulation stellen mag, muß ihm überlassen bleiben.

Daß also jene "geniale Bemerkung" ÜBERWEGs nicht neu ist, leuchtet ein. Daß ÜBERWEG BERKELEY genau gekannt, ihn sehr hoch verehrt und sich von ihm nicht wenig beeinflussen hat lassen, ist ebenfalls klar. Er stellt diese Abhandlung DESCARTES' Hauptwerk an die Seite. Er nennt den philosophischen Standpunkt BERKELEYs einen "relativ berechtigten", den er "mit unübertroffener Klarheit begründet und mit vollster Strenge und Konsequenz entwickelt hat", so daß dieses Hauptwerk als eines der "klassischen Dokumente moderner Spekulation" (126) von ihm angesehen wird. Überdies steht BERKELEY mit KANT
    "in einer so nahen Beziehung, daß ein Jeder, der über den gegenwärtigen Zustand auch der deutschen Philosophie orientiert sein und ein begründetes Urteil über die darüber schwebenden philosophischen Verhandlungen gewinnen will, auch sie zu berücksichten genötigt ist." (127)
Nun ist gerade dies der Hauptzweck LANGEs: "Aufklärung über die Prinzipien". Hat er nun BERKELEY gehörig berücksichtigt oder was versteht er unter diesen Prinzipien?
    "Mein Zweck war kein geringerer, als zu einer definitiven Erledigung gewisser Kardinalpunkte in der Streitfrage des Materialismus anzuregen, und da diese Punkte gerade den Gegensatz von Materialismus und Idealismus, Wissen und Dichten, Empirie und Transzendenz betreffen, so reicht der Gegenstand des Werkes wohl weiter, als der Titel andeutet." (128)

LITERATUR Gideon Spicker, Über das Verhältnis der Naturwissenschaft zur Philosophie, Berlin 1874
    Anmerkungen
    64) Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus, zweite Auflage, Seite 269
    65) a. a. O., Seite 267; Bd. 2, Seite 48
    66) a. a. O., Seite 268
    67) a. a. O., Vorrede
    68) a. a. O., Seite 269
    69) a. a. O., Seite 268, zweite Auflage, 2. Buch, Seite 176, 178, 66, 67.
    70) a. a. O., Seite 263
    71) zweite Auflage, 2. Buch, Seite 44.
    72) a. a. O., Seite 484
    73) a. a. O., Seite 484
    74) a. a. O., Seite 493
    75) Kant, Kr. d. r. V., Seite 712
    76) Kant, Kr. d. r. V., Seite 690.
    77) siehe zweite Auflage, 2. Buch, Seite 127. Hier wird die "Organisation" nicht mehr "rein geistig" gefaßt, sondern der Autor versteckt sich hinter einer neuen Zweideutigkeit. "Nimmt man die Organisation als Erscheinung, also mit dem Vorbehalt, daß sie die Erscheinung eines unbekannten Dings-ansich sein möge, so schwindet nicht nur der Materialismus, sondern es hört auch jedes Recht auf, diese Annahme mit den Erfindungen der Metaphysiker zu koordinieren." Nur schade, daß diese Annahme ebensosehr in der Luft hängt, wie jede andere metaphysische Behauptung.
    78) Lange, a. a. O., Seite 263.
    79) a. a. O., Seite 499 (siehe zweite Auflage, 2. Buch, Seite 44).
    80) a. a. O., Seite 500.
    81) a. a. O., Seite 263
    82) ebd.
    83) siehe zweite Auflage, 2. Buch, Seite 62
    84) siehe a. a. O., Seite 355. Zweite Auflage, 2. Buch, Seite 293.
    85) a. a. O., Seite 267. Diese Behauptung wird in der neuen Auflage, 2. Buch, Seite 48 zurückgenommen und dadurch motiviert, daß das Ding-ansich als bloßer "Grenzbegriff" aufzufassen ist. Eine gründliche Widerlegung dieser Ansicht findet sich in meiner "Kritik der kantischen Erkenntnistheorie", § 4.
    86) Lange, a. a. O., Seite 233
    87) Kant, Kr. d. r. V., Seite 681, 699, 690.
    88) Lange, a. a. O., Seite 267 (zweite Auflage, 2. Buch, Seite 49, 63)
    89) zweite Auflage, 2. Buch, Seite 50.
    90) a. a. O., Seite 268 (zweite Auflage, 2. Buch, Seite 49)
    91) Kant, Kr. d. r. V., Seite 68.
    92) Lange, a. a. O. Seite470 (zweite Auflage, 2. Buch, Seite 67; 1. Buch, Seite 56, 69)
    93) a. a. O., Seite 471 (zweite Auflage, 2. Buch, Seite 66, 67)
    94) Lange, a. a. O., Seite 470
    95) Lange, a. a. O., Seite 241. Daß er auch jetzt noch nicht um Kant herumgekommen ist, beweist seine neue Auflage fast auf jeder Seite. Siehe insbesondere Seite 76, 103, 147, 228, 236, 239. Ferner Seite 1, 3, 18, 35, 42, 49, 65, 98, 99, 276, 306 Anm. 82.
    96) Lange, a. a. O., 497
    97) a. a. O., Seite 268
    98) a. a. O., Seite 471
    99) a. a. O., Seite 333 (zweite Auflage, 2. Buch, Seite 290)
    100) a. a. O., Seite 333
    101) a. a. O., Seite 331, siehe auch Seite 86 (zweite Auflage, 2. Buch, Seiten 106, 142, 290)
    102) Lange, a. a. O., Seite 268 (zweite Auflage, 2. Buch, Seite 50)
    103) Lange, a. a. O., zweite Auflage, 2. Buch, Seite 50. "Wir wissen wirklich nicht,m ob ein "Ding ansich" existiert. Wir wissen nur, daß die konsequente Anwendung unserer Denkgesetze uns auf den Begriff eines völlig problematischen Etwas führt, welches wir als Ursache der Erscheinungen annehmen" etc.
    104) Lange, erste Auflage, Seite 269
    105) a. a. O., Seitge 268
    106) a. a. O., Seite 333
    107) a. a. O., Seite 269.
    108) Lange, a. a. O., Seite 268.
    109) Kant, Prolegomena, Seite 53
    110) Kant, Prolegomena, Seite 57, 59
    111) Kr. d. r. V., Seite 100
    112) Lange, a. a. O., Seite 251
    113) Lange, a. a. O., Seite 268
    114) Lange, a. a. O., Vorwort, Seite VIII
    115) Lange, a. a. O., Seite 241
    116) Auch in der neuen Auflage wird ihrer kaum gedacht, obwohl im zweiten Band, wo Kant eingehend behandelt wird, die geeignetste Stelle gewesen wäre. Nur ein Einziger und zwar der unbedeutendste unter den nachkantischen Philosophen wird erwähnt, nämlich Reinhold und auch dieser bloß in einer Anmerkung (zweite Auflage, 2. Buch, Seite 126).
    117) Lange, a. a. O., Seite 355 (zweite Auflage, 2. Buch, Seite 239).
    118) a. a. O., Seite 498
    119) vgl. meine Darstellung der Philosophie des Grafen von Shaftesbury, Seite 69
    120) Wenn auch Überweg diese Rolle nicht mehr spielt in der neuen Auflage, so sind dennoch diese Vorwürfe gerecht, da sie nicht bloß die Einwürfe Überwegs, sondern auch das kantische System selbst betreffen.
    121) Lange, a. a. O., Seite 468.
    122) a. a. O., Seite 498
    123) "Berkeleys Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis", übersetzt von Überweg, Seite 24
    124) ebd. § 94, Seite 71. Siehe meine Abhandlung "Kritik der kantischen Erkenntnistheorie", Abschnitt: Berkeleys Idealismus.
    125) Friedrich Überweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. III, Seite 94.
    126) Berkeley, a. a. O., Vorrede, Seite V
    127) ebd. Seite VII
    128) Lange, a. a. O., Vorrede, Seite III