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GEORGE BERKELEY
(1685-1753)
Abhandlung über die Prinzipien
der menschlichen Erkenntnis

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Ausdehnung, Figur und Bewegung sind nur Ideen. Der Begriff von dem, was Materie oder körperliche Substanz genannt wird, schließt einen Widerspruch in sich.

§ 1. Jedem, der einen Blick auf die Gegenstände der menschlichen Erkenntnis wirft, leuchtet ein, daß sie teils den Sinnen gegenwärtig eingeprägte Ideen sind, teils Ideen, welche durch ein Aufmerken auf das, was die Seele leidet und tut, gewonnen werden, teils endlich Ideen, welche mittels des Gedächtnisses und der Einbildungskraft durch Zusammensetzung, Teilung oder einfache Vergegenwärtigung der ursprünglich in einer der beiden vorhin angegebenen Weisen empfangenen Ideen gebildet werden. Durch den Gesichtssinn erhalte ich die Licht- und Farben-Ideen in ihren verschiedenen Abstufungen und qualitativen Modifikationen, durch den Tastsinn perzipiere ich z. B. Härte und Weichheit, Hitze und Kälte, Bewegung und Widerstand, und von diesem allem mehr oder weniger hinsichtlich der Quantität oder des Grades. Der Geruchssinn verschafft mir Gerüche, der Geschmackssinn Geschmacksempfindungen, der Sinn des Gehörs führt dem Geist Schallempfindungen zu in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit nach Ton und Zusammensetzung. Da nun beobachtet wird, daß einige von diesen Empfindungen einander begleiten, so geschieht es, daß sie mit einem Namen bezeichnet und infolge hiervon als ein Ding betrachtet werden. Ist z. B. beobachtet worden, daß eine gewisse Farbe, Geschmacksempfindung, Geruchsempfindung, Gestalt und Festigkeit vereint auftreten, so werden sie für ein bestimmtes Ding gehalten, welches durch den Namen 'Apfel' bezeichnet wird. Andere Gruppen von Ideen (collections of ideas) bilden einen Stein, einen Baum, ein Buch und ähnliche sinnliche Dinge, die, je nachdem sie gefallen oder mißfallen, die Gefühle des Hasses, der Freude, des Kummers usw. hervorrufen.

§ 2. Aber neben all dieser endlosen Mannigfaltigkeit von Ideen oder Erkenntnisobjekten existiert ebensowohl auch etwas, das sie erkennt oder perzipiert und verschiedene Tätigkeiten wie wollen, sich einbilden, sich wiedererinnern an ihnen ausübt. Dieses perzipierende tätige Wesen ist dasjenige, was ich Gemüt, Geist, Seele oder mich selbst nenne. Durch diese Worte bezeichne ich nicht irgend eine meiner Ideen, sondern ein von ihnen allen ganz verschiedenes Ding, worin sie existieren, oder, was dasselbe besagt, wodurch sie perzipiert werden; denn die Existenz einer Idee besteht im Perzipiertwerden.

§ 3. Daß weder unsere Gedanken noch unsere Gefühle noch unsere Einbildungsvorstellungen außerhalb des Geistes existieren, wird ein jeder zugeben. Es scheint aber nicht weniger evident zu sein, daß die verschiedenen Sinnesempfindungen oder den Sinnen eingeprägten Ideen, wie auch immer sie miteinander vermischt oder verbunden sein mögen (d.h. was für Objekte auch immer sie bilden mögen), nicht anders existieren können als in einem Geist, der sie perzipiert. Dies kann, glaube ich, von einem jeden anschaulich erkannt werden ( an intuitive knowledge may be obtain'd of this, by any one),  der darauf achten will, was unter dem Ausdruck existieren bei dessen Anwendung auf sinnliche Dinge zu verstehen ist. Sage ich: der Tisch, an dem ich schreibe, existiert, so heißt das: ich sehe und fühle ihn; wäre ich außerhalb meiner Studierstube, so könnte ich seine Existenz in dem Sinne aussagen, daß ich, wenn ich in meiner Studierstube wäre, ihn perzipieren könnte, oder daß irgend ein anderer Geist ihn gegenwärtig perzipiert. Es war da ein Geruch, heißt; er wurde wahrgenommen; ein Ton fand statt, heißt: er wurde gehört; eine Farbe oder Gestalt: sie wurde durch den Gesichtssinn oder durch den Tastsinn perzipiert. Dies ist der einzige verständliche Sinn dieser und aller ähnlichen Ausdrücke. Denn was von einer absoluten Existenz nichtdenkender Dinge ohne irgend eine Beziehung auf ihr Perzipiertwerden gesagt zu werden pflegt, scheint durchaus unverständlich zu sein. Das Sein ( esse)  solcher Dinge ist Perzipiertwerden ( percipi).  Es ist nicht möglich, daß sie irgend eine Existenz außerhalb der Geister oder denkenden Wesen haben, von denen sie perzipiert werden.

§ 4. Es besteht in der Tat eine auffallend verbreitete Meinung, daß Häuser, Berge, Flüsse, mit einem Wort, alle sinnlichen Objekte eine natürliche oder reale Existenz haben, die von ihrem Perzipiertwerden durch den Verstand verschieden ist. Mit wie großer Zuversicht und mit wie allgemeiner Zustimmung aber auch immer dieses Prinzip behauptet werden mag, so wird doch, wenn ich nicht irre, ein jeder, der den Mut hat, es in Zweifel zu ziehen, finden, daß es einen offenbaren Widerspruch in sich schließt. Denn was sind die vorhin erwähnten Objekte anderes als die sinnlich von uns wahrgenommenen Dinge, und was perzipieren wir anderes als unsere eigenen Ideen oder Sinnesempfindungen? - und ist es nicht ein vollkommener Widerspruch, daß irgend eine von diesen oder irgend eine Verbindung von ihnen unwahrgenommen existieren sollte?

§ 5. Wenn wir diese Annahme gründlich prüfen, so wird sich vielleicht herausstellen, daß sie sich schließlich auf die Lehre von den abstrakten Ideen zurückführen läßt. Denn kann wohl die Abstraktion auf eine größere Höhe getrieben werden als bis zur Unterscheidung der Existenz sinnlicher Dinge von ihrem Perzipiertwerden, so daß man sich vorstellt, sie existieren unperzipiert? Licht und Farben, Hitze und Kälte, Ausdehnung und Figuren, mit einem Wort, die Dinge, welche wir sehen und fühlen, was sind sie anderes als verschiedenartige Sinnesempfindungen, Vorstellungen, Ideen oder Eindrücke auf die Sinne, und ist es möglich, auch nur in Gedanken irgend eine derselben vom Perzipiertwerden zu trennen? Ich für meine Person könnte ebenso leicht ein Ding von sich selbst abtrennen. Ich kann in der Tat vermöge meines Denkens solche Dinge voneinander abtrennen oder gesondert auffassen, die ich vielleicht niemals durch die Sinne in solcher Trennung perzipiert habe. So stelle ich mir den Rumpf eines menschlichen Körpers ohne die Glieder vor oder den Geruch einer Rose, ohne an die Rose selbst zu denken. Insoweit, das leugne ich nicht, vermag ich zu abstrahieren, wenn anders der Ausdruck Abstraktion hier noch im eigentlichen Sinne gilt, wo es sich nur darum handelt, solche Objekte gesondert zu denken, welche in der Tat voneinander getrennt existieren oder wirklich eins ohne das andere perzipiert werden können; aber meine Fähigkeit zu denken oder vorzustellen erstreckt sich nicht weiter als die Möglichkeit einer realen Existenz oder Perzeption. So unmöglich es mir ist, ein Ding ohne seine wirkliche Wahrnehmung zu sehen oder zu fühlen, ebenso unmöglich ist es mir hiernach, irgend ein sinnlich wahrnehmbares Ding oder Objekt gesondert von seiner sinnlichen Wahrnehmung oder Perzeption zu denken.

§ 6. Einige Wahrheiten liegen so nahe und sind so einleuchtend, daß man nur die Augen des Geistes zu öffnen braucht, um sie zu erkennen. Zu diesen rechne ich die wichtige Wahrheit, daß der ganze himmlische Chor und die Fülle der irdischen Objekte, mit einem Wort alle die Dinge, die das große Weltgebäude ausmachen, keine Subsistenz außerhalb des Geistes haben, daß ihr Sein ihr Perzipiertwerden oder Erkanntwerden ist, daß sie also, so lange sie nicht wirklich durch mich erkannt sind oder in meinem Geist oder im Geist irgend eines anderen geschaffenen Wesens existieren, entweder überhaupt keine Existenz haben oder im Geist eines ewigen Wesens existieren müssen, da es etwas völlig Undenkbares ist und alle Verkehrtheit der Abstraktion in sich schließt, wenn irgend einem ihrer Teile eine vom Geist unabhängige Existenz zugeschrieben wird. Um sich hiervon zu überzeugen, braucht der Leser nur durch eigenes Nachdenken den Versuch zu machen, in Gedanken das Sein eines sinnlich wahrnehmbaren Dinges von dessen Perzipiertwerden zu trennend.

§ 7. Aus dem Gesagten folgt, daß es keine andere Substanz gibt als den Geist oder das, was perzipiert. Zum vollständigeren Erweis dieses Satzes aber möge in Erwägung gezogen werden, daß die sinnlichen Qualitäten Farbe, Figur, Bewegung, Geruch, Geschmack und ähnliche sind, d.h. die durch die Sinne perzipierten Ideen. Nun ist es ein offenbarer Widerspruch, daß eine Idee in einem nicht perzipierenden Dinge existiert; denn dasselbe, was perzipieren ist; dasjenige also, worin Farbe, Figur und die ähnlichen Qualitäten existieren, muß sie perzipieren; hieraus ist klar, daß es keine nicht denkende Substanz oder kein nicht denkendes Substrat dieser Dinge geben kann.

§ 8. Aber, sagt ihr, obschon die Ideen selbst nicht außerhalb des Geistes existieren, so kann es doch ihnen ähnliche Dinge, deren Kopien oder Ebenbilder sie sind, geben, und diese Dinge existieren außerhalb des Geistes in einer nichtdenkenden Substanz. Ich antworte: eine Idee kann nur ,einer Idee ähnlich sein, eine Farbe oder Figur nur einer anderen Farbe oder Figur. Wenn wir auch noch so wenig auf unsere Gedanken achten, so werden wir es unmöglich finden, eine andere Ähnlichkeit als die zwischen unseren Ideen zu begreifen. Außerdem frage ich, ob diese vorausgesetzten Originale oder äußeren Dinge, deren Abbilder oder Darstellungen unsere Ideen sein sollen, selbst perzipierbar sind oder nicht. Sind sie es, dann sind sie Ideen, und wir haben erreicht, was wir wollten; sagt ihr dagegen, sie sind es nicht, so gebe ich jedem Beliebigen die Entscheidung anheim, ob es einen Sinn hat zu behaupten, eine Farbe sei ähnlich etwas Unsichtbarem, Härte oder Weichheit ähnlich etwas Untastbarem usw.

§ 9. Einige machen einen Unterschied zwischen primären und sekundären Qualitäten: unter den ersten verstehen sie Ausdehnung, Figur, Bewegung, Ruhe, Solidität oder Undurchdringlichkeit und Zahl; mit dem anderen Ausdruck aber bezeichnen sie alle übrigen sinnlichen Qualitäten, wie z. B. Farben, Töne, Geschmacksempfindungen und so fort. Sie erkennen an, daß die Ideen, welche wir von diesen Qualitäten haben, nicht die Ebenbilder von irgend etwas sind, das außerhalb des Geistes oder unperzipiert existiert; sie behaupten aber, unsere Ideen der primären Qualitäten seien Abdrücke oder Bilder von Dingen, die außerhalb des Geistes existieren in einer nichtdenkenden Substanz, welche sie Materie nennen. Unter Materie haben wir demgemäß eine träge, empfindungslose Substanz zu verstehen, in welcher Ausdehnung, Figur und Bewegung wirklich existieren. Aber es geht aus dem schon Gesagten deutlich hervor, daß Ausdehnung, Figur und Bewegung nur Ideen sind, die im Geist existieren, daß eine Idee nur einer Idee ähnlich sein kann, und daß demgemäß weder sie selbst noch auch ihre Urbilder in einer nicht perzipierenden Substanz existieren können. Hieraus ist offenbar, daß eben der Begriff von dem, was Materie oder körperliche Substanz genannt wird, einen Widerspruch in sich schließt.

§ 10. Diejenigen, welche behaupten, daß Figur, Bewegung und die übrigen primären oder ursprünglichen Qualitäten außerhalb des Geistes in undenkenden Substanzen existieren, erkennen gleichzeitig an, daß von Farben, Tönen, Hitze, Kälte und derartigen sekundären Qualitäten nicht dasselbe gilt; sie behaupten, diese sind Sinnesempfindungen, die nur im Geist existieren und von der verschiedenen Größe, Struktur und Bewegung der kleinen Teile der Materie abhängig sind oder veranlaßt werden. Sie halten dies für eine unzweifelhafte Wahrheit, für die sie Beweise, die keine Widerrede zulassen, zu führen vermögen. Wenn es nun aber gewiß ist, daß diese sog. ursprünglichen Qualitäten untrennbar mit den anderen sinnlichen Qualitäten vereinigt sind und sogar nicht in Gedanken von ihnen abgesondert werden können, so folgt offenbar, daß sie nur im Geist existieren. Ich bitte aber einen jeden nachzudenken und zu erproben, ob er durch irgendeine Abstraktion des Denkens die Ausdehnung und Bewegung eines Körpers ohne alle anderen sinnlichen Qualitäten denken kann. Ich für meine Person sehe deutlich, daß es nicht in meiner Macht steht, die Idee eines ausgedehnten und bewegten Körpers zu bilden, ohne ihm zugleich eine Farbe oder eine andere sinnliche Qualität zuzuschreiben, welche anerkanntermaßen nur im Geist existiert. Kurz, Ausdehnung, Figur und Bewegung sind undenkbar, wenn sie von allen anderen Eigenschaften durch Abstraktion gesondert werden. Wo also die anderen sinnlichen Eigenschaften sind, da müssen sie auch sein, d. h. im Geist und nirgendwo anders.

§ 11. Ferner sind anerkanntermaßen Größe und Kleinheit, Raschheit und Langsamkeit nur in unserm Geist, da sie völlig relativ sind und sich ändern, so wie die Gestalt oder Lage der Sinnesorgane sich ändert. Die Ausdehnung demgemäß, welche außerhalb des Geistes existiert, ist weder groß noch klein, die Bewegung weder rasch noch langsam, d. h. diese Ausdehnung und diese Bewegung sind überhaupt nichts. Aber, sagt ihr, sie sind Ausdehnung im allgemeinen und Bewegung im allgemeinen. So zeigt sich, wie sehr die Annahme, daß es ausgedehnte, bewegbare Substanzen außerhalb des Geistes gibt, von jener seltsamen Lehre der abstrakten Ideen abhängt. Und bei dieser Gelegenheit kann ich nicht umhin zu bemerken, wie sehr die vage und unbestimmte Vorstellung einer Materie oder körperlichen Substanz, zu der die neueren Philosophen durch ihre eigenen Voraussetzungen gedrängt werden, jenem antiquierten und so viel verlachten Begriff einer  materia prima  gleicht, den man bei ARISTOTELES und seinen Anhängern findet. Ohne Ausdehnung kann Solidität nicht gedacht werden. Ist demnach gezeigt worden, daß Ausdehnung nicht in einer nichtdenkenden Substanz existiert, so muß das gleiche von der Solidität wahr sein.

§ 12. Daß die Zahl durchaus ein Produkt des Geistes ist, auch wenn man zugeben würde, daß die anderen Qualitäten außerhalb des Geistes existieren, wird einem jeden einleuchten, der bedenkt, daß dasselbe Ding eine verschiedene Zahlbezeichnung erhält, wenn der Geist es in verschiedenen Beziehungen betrachtet. So ist z. B. dieselbe Ausdehnung 1 oder 3 oder 36, je nachdem der Geist sie im Verhältnis zu einer Elle (einer engl. Elle von 3 Fuß) oder zu einem Fuß oder zu einem Zoll betrachtet. Die Zahl ist so augenscheinlich relativ und vom menschlichen Verstand abhängig, daß es kaum zu denken ist, daß irgend jemand ihr eine absolute Existenz außerhalb des Geistes zuschreiben kann. Wir sagen Ein Buch, Eine Seite, Eine Linie; diese alle sind gleich sehr Einheiten, obschon einige von ihnen mehrere der anderen enthalten. Und in jedem Betracht ist es klar, daß die Einheit sich auf eine besondere Kombination von Ideen bezieht, die der Geist willkürlich zusammenstellt.

§ 13. Ich weiß, daß einige der Meinung sind, die Einheit sei eine einfache oder unzusammengesetzte Idee, die alle anderen Ideen in unserem Geist begleitet. Ich finde nicht, daß ich irgend eine solche Idee habe, die dem Worte Einheit entspräche, und ich denke doch, daß es, wenn ich sie hätte, nicht fehlen könnte, daß ich sie fände; es müßte vielmehr mein Geist mit ihr am allervertrautesten sein, da sie ja, wie behauptet wird, alle anderen Ideen begleiten und durch alle Weisen der äußeren und inneren Wahrnehmung (sensation and reflexion) perzipiert werden Soll. Um alles auf einmal zu sagen: sie ist eine abstrakte Idee.

§ 14. Ich füge hinzu, daß in derselben Weise, wie neuere Philosophen beweisen, daß gewisse sinnliche Eigenschaften keine Existenz in der Materie oder außerhalb des Geistes haben, das gleiche auch von allen anderen sinnlichen Eigenschaften bewiesen werden kann. So wird z. B. gesagt, daß Hitze und Kälte nur psychische Affektionen sind und durchaus nicht Abdrücke von wirklichen, in den körperlichen Substanzen, durch welche sie angeregt werden, existierenden Wesen; denn derselbe Körper, welcher einer Hand als warm erscheine, erscheine einer anderen als kalt. Warum sollen wir nun nicht ebensowohl schließen, daß Figur und Ausdehnung nicht Abdrücke oder Ähnlichkeiten von in der Materie existierenden Eigenschaften sind, da sie demselben Auge von verschiedenen Punkten aus oder von demselben Punkte aus Augen von verschiedener Struktur verschieden erscheinen und daher nicht Bilder von etwas außerhalb des Geistes unwandelbar Bestimmtem sein können? Ferner wird bewiesen, daß Süßigkeit nicht wirklich in dem wohlschmeckenden Dinge ist, weil ohne Veränderung dieses Dinges die Süßigkeit sich in Bitterkeit umwandelt, z. B. beim Fieber oder einer anderweitigen Beeinträchtigung des Gaumens. Ist es nicht ebenso vernunftgemäß zu sagen, daß Bewegung nicht außerhalb des Geistes stattfindet, da, wenn die Aufeinanderfolge von Vorstellungen im Geist rascher wird, die Bewegung anerkanntermaßen, ohne daß irgend eine Veränderung in irgend einem realen Objekt stattgefunden hat, langsamer zu sein scheinen wird?

§ 15. Kurz, wenn jemand jene Argumente recht erwägt, von denen man glaubt, daß sie deutlich erweisen, daß Farben und Geschmacksempfindungen bloß im Geist existieren, so wird er finden, daß sie mit gleicher Kraft dasselbe von der Ausdehnung, Figur und Bewegung darzutun vermögen. Doch muß zugegeben werden, daß diese Argumentationsweise nicht sowohl beweist, daß es keine Ausdehnung oder Farbe in einem äußeren Objekt gibt, als vielmehr nur, daß wir nicht durch die Sinne erkennen, welches die wahre Ausdehnung oder Farbe des Objekts ist. Aber die vorhergehenden Argumente zeigen deutlich die Unmöglichkeit, daß überhaupt irgend eine Farbe oder Ausdehnung oder sinnlich wahrnehmbare Eigenschaft irgend welcher Art in einem nichtdenkenden Substrat außerhalb ,des Geistes existiert, oder vielmehr die Unmöglichkeit, daß es irgend etwas derartiges wie ein äußeres Objekt gibt.

§ 16. Prüfen wir jedoch noch ein wenig die herrschende Ansicht. Man sagt, Ausdehnung sei ein Modus oder ein Akzidens der Materie, und diese sei das Substrat, welches jene trage. Nun möchte ich gern, daß mir erklärt würde, was unter dem der Materie zugeschriebenen Tragen der Ausdehnung zu verstehen ist. Sagt ihr, ich habe keine Idee von der Materie und kann dies daher nicht erklären, so antworte ich: mögt ihr auch keine positive Idee der Materie haben, so darf doch zum mindesten eine negative euch nicht fehlen, wenn ihr überhaupt irgend einen Sinn mit dem Worte verknüpft; obschon ihr nicht wißt, was sie ist, so muß doch vorausgesetzt werden dürfen, daß ihr wißt, in welcher Beziehung sie zu ihren Akzidentien steht und was unter ihrem Tragen derselben zu verstehen ist. Offenbar kann das Wort "tragen" hier nicht in seinem gewöhnlichen oder buchstäblichen Sinn genommen werden, wie wenn wir sagen, daß Säulen ein Gebäude tragen; in welchem Sinne ist es denn nun zu verstehen?

§ 17. Prüfen wir das, was die sorgfältigsten Philosophen selbst unter dem Ausdruck materielle Substanz zu verstehen erklären, so finden wir, daß sie bekennen, keinen anderen Sinn mit diesen Lauten zu verknüpfen als die Idee eines Wesens (eines Etwas, eines Seienden) überhaupt, zusammen mit dem relativen Begriff seines Tragens von Akzidentien. Mir scheint diese allgemeine Idee abstrakter und unbegreiflicher als alle anderen zu sein, und was das Tragen von Akzidentien betrifft, so kann dies, wie vorhin bemerkt worden ist, nicht in dem gewöhnlichen Wortsinn verstanden, muß also in einem anderen Sinne genommen werden, der unerklärt bleibt. Demgemäß gelange ich, wenn ich die beiden Teile oder Seiten der Bedeutung der Worte materielle Substanz betrachte, zu der Überzeugung, daß damit gar kein bestimmter Sinn verbunden ist. Doch warum sollen wir uns noch weiter bemühen mit der Erörterung dieses materiellen Trägers (Substrats) von Figur, Bewegung und anderen sinnlichen Qualitäten? Setzt er nicht voraus, daß sie eine Existenz außerhalb des Geistes haben? Und ist dies nicht ein direkter Widerspruch und durchaus unbegreiflich?
LITERATUR - Berkeleys Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Kirchmanns "Philosophische Bibliothek", Bd. 12, Berlin 1869