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CARL MENGER
Die Methode der Sozialwissenschaften
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"Die wichtigsten und grundlegendsten unter den theoretischen Naturwissenschaften leiden an denselben Gebrechen, welche unsere historischen Nationalökonomen den bisherigen sozialwissenschaftlichen Theorien zum Vorwurf machen; auch die Chemie, die Physik, nicht weniger aber auch eine Reihe anderer exakter Wissenschaften, wie die Mechanik, die Mathematik usw. erscheinen, mit dem Maßstab der Kritik unserer Historiker gemessen, als der Wirklichkeit widerstreitend, unempirisch und daher einer gleichen Reform bedürftig, wie die theoretische Nationalökonomie."

"So wenig die reine Mechanik die Existenz mit Luft erfüllter Räume, der Reibung usw., so wenig die reine Mathematik die Existenz realer Körper, Flächen und Linien leugnet, welche von den mathematischen abweichen, so wenig die reine Chemie den Einfluß physikalischer und die reine Physik den Einfluß chemischer Faktoren bei der Gestaltung der realen Erscheinungen negiert, obgleich jede dieser Wissenschaften nur eine Seite der realen Welt berücksichtigt und von allen anderen abstrahiert: so wenig behauptet ein Nationalökonom, daß die Menschen  faktisch  nur vom Eigennutz geleitet oder aber unfehlbar und allwissend sind, weil er die Gestaltungen des sozialen Lebens unter dem Gesichtspunkt des freien, durch Nebenrücksichten, durch Irrtum und Unkenntnis unbeeinflußten Spiels des menschlichen Eigeninteresses zum Gegenstand seiner Forschung macht."


Erstes Buch

5. Kapitel
Über das Verhältnis der exakten zur
realistisch-empirischen Richtung der Forschung
auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften

Wir möchten unsere Untersuchungen über das Wesen der beiden obigen Grundrichtungen der theoretischen Forschung auf dem Gebiet der ethischen Erscheinungen nicht schließen, ohne mit einigen Worten noch des Verhältnisses zu gedenken, in welchem dieselben, bzw. ihre Ergebnisse, zueinander stehen. Es geschieht dies aber nicht nur um des Interesses willen, welches die hier einschlägigen Fragen an sich für die Methodik unserer Wissenschaft haben, sondern auch aus dem Grunde, um einigen naheliegenden Mißverständnissen der im vorigen Abschnitt vorgetragenen Lehren von vornherein vorzubeugen.

Die Ergebnisse der exakten und jene der realistischen Richtung der theoretischen Forschung haben gemeinsam, daß sie uns das generelle Wesen und den generellen Zusammenhang der Erscheinungen lehren; im übrigen weisen dieselben jedoch, was ihre formale Natur betrifft, wie wir sahen, auch nicht unwesentliche Verschiedenheiten auf. In der wissenschaftlichen  Darstellung  werden jedoch die exakten und realistischen Erkenntnisse nur selten getrennt behandelt.

Der Grund hiervon ist ein wesentlich praktischer. Die theoretischen Wissenschaften sollen uns das Verständnis, eine über die unmittelbare Erfahrung hinausreichende Erkenntnis und eine gewisse Voraussicht der Phänomene verschaffen, lauter Aufgaben, deren Lösung, wenn auch in verschiedenem Sinne, sowohl durch die Ergebnisse der exakten, als auch durch jene der realistischen Richtung der theoretischen Forschung gefördert wird. Bei dieser Sachlage entspricht es dem praktischen Bedürfnis, die sämtlichen auf ein Gebiet der Erscheinungswelt (z. B. auf die Volkswirtschaft) und, innerhalb eines solchen, alle auf eine bestimmte Materie (z. B. den Wert, den Güterpreis, das Geld usw.) bezüglichen theoretischen Erkenntnisse, die realistischen sowohl wie die exakten, in der Darstellung zusammenzufassen, und so bieten uns dann die theoretischen Wissenschaften zumeist in der Tat das Bild einer, Erkenntnisse von teilweise verschiedener formaler Natur, kombinierenden Darstellung. Die Physik und die Chemie z. B., ihren Grundlagen nach exakte Wissenschaften, schließen doch die Aufnahme einzelner nur in empirischer Weise gewonnener Erkenntnisse keineswegs aus, während die Physiologie, ihrer Grundanlage nach ein Ergebnis realistischer Forschung, ihrerseits wiederum nicht nur realistische, sondern auch zahlreiche exakte Erkenntnisse in den Kreis ihrer Darstellung zieht. Ähnlich verhält es sich mit der theoretischen Nationalökonomie. Auch diese umfaßt sowohl die exakten, als auch die realistischen Ergebnisse der theoretischen Forschung, und steht auch, wie selbstverständlich, kein prinzipielles Hindernis einer getrennten Darstellung der beiden obigen Gruppen von theoretischen Erkenntnissen entgegen, läßt sich vielmehr eine solche hinsichtlich der exakten Ergebnisse der Forschung (eine  exakte  Nationalökonomie), eine andere hinsichtlich der bezüglichen realistischen Erkenntnisse überhaupt und der Gesetze der geschichtliche Entwicklung der volkswirtschaftlichen Phänomene, der Gesetze der großen Zahlen etc. insbesondere denken: so spricht doch das oben hervorgehobene praktische Interesse so sehr für eine zusammenfassende Darstellung aller auf bestimmte Materien der Volkswirtschaft bezüglichen theoretischen Wahrheiten, daß eine solche in universellen Darstellungen der theoretischen Nationalökonomie dann auch tatsächlich überall mehr oder weniger in Aufnahme gekommen ist. Beispielsweise werden in der Lehre vom Preis nicht nur die Ergebnisse der exakten, auf die obige Materie bezüglichen Forschung, sondern zumeist auch die hier einschlägigen empirischen Gesetze überhaupt und die bezüglichen Entwicklungsgesetze, die bezüglichen Gesetze der großen Zahl etc. insbesondere in zusammenfassender Darstellung behandelt.

Indem die Erkenntnisse der exakten und der realistischen Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiet der Volkswirtschaft in der Darstellung zusammengefaßt werden, folgen die nationalökonomischen Schriftsteller jedoch, wie gesagt, nur praktischen Rücksichten, ohne daß, wie selbstverständlich, die eigentümlich formale Natur der bezüglichen Erkenntnisse hierdurch aufgehoben würde.

Dies alles berührt nur das äußere Verhältnis zwischen den exakten und den realistischen Ergebnissen der theoretischen Sozialforschung. Es könnte jedoch auch die Frage nach dem inneren Verhältnis der exakten und der realistischen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Sozialerscheinungen überhaupt und der Volkswirtschaft insbesondere entstehen, und hier ist es ganz vorzugsweise, daß wir einigen verbreiteten Irrtümern über die Natur dieses Verhältnisses entgegentreten möchten.

In der theoretischen Nationalökonomie, wie in den theoretischen Wissenschaften überhaupt, sind die exakten und die realistischen Erkenntnisse das Ergebnis einer in gewissen Hinsichten verschiedenen Richtung der theoretischen Forschung, und weisen demnach in formaler Beziehung mancherlei Verschiedenheiten auf. Das Gebiet der Forschung ist jedoch beiden Richtungen gemeinsam und umfaßt in jedem Fall die gesamte Volkswirtschaft. Sowohl die exakte, als auch die realistische Richtung der theoretischen Forschung, haben die Tendenz, uns  alle  Phänomene der Volkswirtschaft in  ihrer  Weise zum theoretischen Verständnis zu bringen.

Die beiden obigen Richtungen der Forschung ergänzen sich demnach keineswegs etwa in der Art, daß sie uns das Verständnis verschiedener Gebiete der Volkswirtschaft eröffnen; die Funktion jeder derselben besteht vielmehr darin, uns das gesamte Gebiet der volkswirtschaftlichen Erscheinungen in der  ihr  eigentümlichen Weise zum Verständnis zu bringen. Nur wo die eine oder die andere Richtung, sei es nun wegen der mangelhaften objektiven Voraussetzungen oder aus Gründen, welche in der Technik der Forschung liegen, zu keinerlei Ergebnissen gelangt, nur dort, und nur solange wie dieses Verhältnis besteht, herrscht auf bestimmten Gebieten der Volkswirtschaft die eine oder die andere Richtung der Forschung vor.

Je komplizierter ein Gebiet von Erscheinungen ist, umso schwieriger und umfassender die Aufgabe, die bezüglichen Phänomene auf ihre einfachsten Elemente zurückzuführen und den Prozeß zu erforschen, durch welchen die ersteren sich aus den letzteren gesetzmäßig aufbauen, umso schwieriger ein volles und befriedigendes Ergebnis exakter Forschung. So wird dann auch der Umstand erklärlich, daß, gleichwie in den Naturwissenschaften, so auch auf dem Gebiet der Sozialforschung uns hinsichtlich der komplizierten Erscheinungen zumeist nur empirische Gesetze vorliegen, während hinsichtlich der weniger komplizierten Phänomene der Natur und des Menschenlebens das exakte Verständnis eine vorwiegende Bedeutung erlangt. Daher auch die wohlbekannte Tatsache, daß, wo es sich um theoretische Erkenntnisse handelt, welche sich auf komplizierte Phänomene eines Erscheinungsgebietes beziehen, die realistische, hinsichtlich weniger komplizierter Phänomene dagegen die exakte Richtung der Forschung vorherrschend zu sein pflegt. Im Prinzip jedoch sind beide Richtungen der Forschung nicht nur allen Gebieten der Erscheinungswelt, sondern auch allen Stufen der Komplikation der Phänomene adäquat. Wenn ein so ausgezeichneter Denker, wie AUGUSTE COMTE, die Forderung aufstellt, daß die Sozialwissenschaften ihre Gesetze auf empirischem Weg finden, und hierauf aus den allgemeinen Gesetzen der menschlichen Natur beglaubigen mögen, und wenn JOHN STUART MILL dieser Methode, welche er die umgekehrt deduktive nennt, eine geradezu entscheidende Bedeutung für die Sozialforschung beimißt, so liegt diesen Anschauungen in letzter Linie offenbar die unklare Empfindung der oben dargelegten Tatsache zugrunde.

Noch eine andere Frage vermag an dieser Stelle unser Interesse in Anspruch zu nehmen, die Frage nach dem Verhältnis, in welchem die  Bürgschaften  für die Wahrheit der exakten und realistischen Ergebnisse der theoretischen Forschung auf dem Gebiet der Volkswirtschaft zueinanderstehen; dieselbe ist aber deswegen von Wichtigkeit, weil die namentlich unter den deutschen Volkswirten vielfach zutage tretende Unterschätzung der "exakten Nationalökonomie" vornehmlich auf der Verkennung der wahren Natur des obigen Verhältnisses beruth.

Es ist unter den Volkswirten vielfach die Meinung verbreitet, daß die empirische Gesetze, "weil auf der Erfahrung beruhend", höhere Bürgschaften der Wahrheit bieten, als die, wie angenommen wird, doch nur auf dem Weg der Deduktion aus apriorischen Axiomen gewonnenen Ergebnisse der exakten Forschung, und demnach im Fall eines Widerspruchs zwischen beiden Gruppen wissenschaftlicher Erkenntnisse die letzteren durch die ersteren modifiziert und berichtigt werden müßten. Die exakte Forschung erscheint solcherart als methodisch untergeordneteter, der Realismus dagegen als der höher verbürgte Erkenntnisweg, eine Auffassung, welche, wie kaum bemerkt zu werden braucht, die Stellung der exakten Forschung auf dem Gebiet der Politischen Ökonomie in empfindlichster Weise tangiert, ja geradezu die Negation des selbständigen Wertes derselben in sich schließt.

Der Irrtum, welcher der obigen Anschauung zugrunde liegt, beruth auf der Verkennung des Wesens der exakten Richtung der theoretischen Forschung, ihres Verhältnisses zu der realistischen, und in der Übertragung der Gesichtspunkte der letzteren in die erstere.

Nichts ist so sicher, als daß die Ergebnisse der exakten Richtung der theoretischen Forschung, mit dem Maßstab des Realismus gemessen, gleichwie auf allen übrigen Gebieten der Erscheinungswelt, so auch auf jenem der Volkswirtschaft als unzureichend und unempirisch erscheinen. Dies ist jedoch selbstverständlich, indem die Ergebnisse der exakten Forschung, und zwar auf allen Gebieten der Erscheinungswelt, nur unter bestimmten Voraussetzungen wahr sind, unter Voraussetzungen, welche in der Wirklichkeit nicht immer zutreffen. Die Prüfung der exakten Theorie der Volkswirtschaft an der vollen Empirie ist eben ein methodischer Widersinn, eine Verkennung der Grundlagen und Voraussetzungen der exakten Forschung, zugleich aber auch eine solche der besonderen Zwecke, welchen die exakten Wissenschaften dienen. Die reine Theorie der Volkswirtschaft an der Erfahrung in ihrer vollen Wirklichkeit erproben zu wollen, ist ein Vorgang, analog jenem eines Mathematikers, welcher die Grundsätze der Geometrie durch Messungen realer Objekte berichtigen wollte, ohne zu bedenken, daß diese letzteren ja mit den Größen, welche die reine Geometrie supponiert, nicht identisch sind, auch jede Messung notwendig Elemente der Ungenauigkeit in sich schließt. Der Realismus in der theoretischen Forschung ist gegenüber der exakten Richtung der letzteren nicht etwas höheres, sondern etwas verschiedenes.

In einem wesentlich anderen Verhältnis zur Empirie, als die Ergebnise der exakten Forschung, stehen jene der realistischen Richtung. Diese letzteren beruhen allerdings auf der Beobachtung der Erscheinungen in ihrer "empirischen Wirklichkeit" und Komplikation und der Prüfstein ihrer Wahrheit ist demnach allerdings die Empirie. Ein empirisches Gesetz entbehrt von vornherein, d. h. schon seinen methodischen Voraussetzungen nach, der Bürgschaften ausnahmsloser Geltung, es konstatiert gewisse, keineswegs notwendigerweise ausnahmslose Regelmäßigkeiten in der Aufeinanderfolge und Koexistenz der Erscheinungen. Aber dies festgehalten, muß es mit der vollen empirischen Wirklichkeit, aus deren Betrachtung es gewonnen wurde, übereinstimmen, sonst ist es unwahr und wertlos. Diesen Grundsatz auf die Ergebnisse der exakten Forschung übertragen zu wollen, ist aber ein Widersinn, eine Verkennung jenes wichtigen Unterschiedes zwischen exakter und realistischer Forschung, die zu bekämpfen die Hauptaufgabe der vorangehenden Untersuchung ist.

Indem wir dies konstatieren, sind wir fern davon, zu leugnen, daß es höchst wünschenswert wäre, wenn wir  exakte  Erkenntnisse zu gewinnen vermöchten, welche zugleich mit der vollen empirischen Wirklichkeit, im hier entscheidenden Sinn, übereinstimmen, oder, was dem Wesen nach dasselbe ist, empirische Erkenntnisse, welche zugleich die Vorzüge exakter Erkenntnisse aufweisen würden. Die menschliche Erkenntnis, die Voraussicht und die Beherrschung der Phänomene würden hierdurch wesentlich gefördert und vereinfacht werden. Was wir hier klar zu machen suchen, ist jedoch, daß dies unter den faktischen Verhältnissen, welche die Welt realer Erscheinungen regelmäßig darbietet, unerreichbar ist.

Da es sich hier um einen unter den deutschen Nationalökonomen tief eingewurzelten Irrtum und zugleich um einen Gegenstand handelt, über welchen auch in den erkenntnistheoretischen Untersuchungen der besten fremdländischen Schriftsteller vielfach Unklarheit besteht, so soll das Verhältnis zwischen den Ergebnissen exakter und realistischer Forschung auf dem Gebiet unserer Wissenschaft durch ein Beispiel beleuchtet werden, und zwar durch ein solches, welches zugleich die Ursachen der Verwirrung, welche in obiger Hinsicht herrscht, erklären wird.

Die exakte Forschung auf dem Gebiet der Preiserscheinungen lehrt uns z. B., daß die in einem bestimmten Verkehrsgebiet hervortretende Steigerung des Bedarfs nach einer Wahre (sei es nun, daß dieselbe die Folge einer Bevölkerungsvermehrung, oder der größren Intensität ist, in welcher das Bedürfnis nach der bezüglichen Ware bei den einzelnen wirtschaftenden Subjekten auftritt) unter gewissen Voraussetzungen zu einer  dem Maß nach genau bestimmbaren Steigerung der Preise  führt (23). Diese Voraussetzungen, welche sich aus jeder geordneten Darstellung der theoretischen Nationalökonomie von selbst ergeben, sind:
    1) daß alle hier in Betracht kommenden wirtschaftenden Subjekte ihr ökonomisches Interesse vollständig wahrzunehmen bestrebt sind,

    2) daß dieselbe im Preiskampf, sowohl über das bei demselben ökonomisch zu verfolgende Ziel, als auch über die hier einschlägigen Mittel zur Erreichung desselben sich nicht im Irrtum befinden,

    3) daß ihnen die ökonomische Sachlage, soweit sie auf die Preisbildung von Einfluß ist, nicht unbekannt ist,

    4) daß kein die ökonomische Freiheit derselben (die Verfolgung ihrer ökonomischen Interessen) beeinträchtigender äußerer Zwang auf sie geübt wird.
Daß die obigen Voraussetzungen in der realen Wirtschaft nur in seltenen Fällen insgesamt zusammentreffen, und die  realen  Preise von den  ökonomischen  (den der ökonomischen Sachlage entsprechenden) demnach der Regel nach mehr oder minder abweichen, bedarf kaum der Bemerkung. Die Menschen sind in der Praxis der Wirtschaft nur selten tatsächlich bestrebt, ihre ökonomischen Interessen  vollständig  wahrzunehmen; Rücksichten mancherlei Art, vor allem Gleichgültigkeit gegen ökonomische Interessen von geringerer Bedeutung, Wohlwollen gegen anderes usw. veranlassen sie, bei ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit ihr ökonomisches Interesse bisweilen überhaupt nicht, bisweilen nicht vollständig wahrzunehmen. Dieselben befinden sich ferner über die ökonomischen Mittel zur Erreichung ihrer wirtschaftlichen Zwecke, ja nicht selten über diese letzteren selbst in Unklarheit und im Irrtum; auch ist die ökonomische Sachlage, auf deren Grundlage sie ihre wirtschaftliche Tätigkeit entwickeln, denselben oft genug nicht, oder doch nur unvollständig bekannt; schließlich ist ihre ökonomische Freiheit nicht selten durch Verhältnisse verschiedener Art beeinträchtigt. Eine bestimmte ökonomische Sachlage fördert nur in den seltensten Fällen genau die  ökonomischen  Preise der Güter zutage; die  realen  Preise sind vielmehr von den  ökonomischen  mehr oder weniger verschieden.

Ist dies aber richtig, so ist zugleich auch klar, daß in dem obigen typischen Fall die reale Steigerung des Bedarfs an einer Ware nicht notwendig eine der so geänderten ökonomischen Sachlage genau entsprechende  reale  Steigerung, ja unter Umständen überhaupt keine Steigerung der Preise zur Folge haben wird. Das Gesetz, daß der erhöhte Bedarf auch eine ihrem Maß nach bestimmte Steigerung der Preise zur Folge hat, ist demnach, an der Wirklichkeit in ihrer vollen Komplikation geprüft, unwahr - unempirisch. Was beweist dies aber anderes, als daß Ergebnisse der exakten Forschung an der Erfahrung im obigen Sinne eben nicht ihren Prüfstein finden? Das obige Gesetz ist trotz alledem wahr, durchaus wahr, und von der höchsten Bedeutung für das theoretische Verständnis der Preiserscheinungen, sobald man es nun unter dem der exakten Forschung adäquaten Gesichtspunkt betrachtet. Zieht man dasselbe unter dem Gesichtspunkt der realistischen Forschung in Betracht, dann gelangt man allerdings zu Widersprüchen; der Irrtum liegt jedoch in diesem Fall nicht im obigen Gesetz, sondern in der falschen Betrachtungsweise desselben.

Suchen wir nun das analoge Gesetz der Preiserscheinungen unter dem realistischen Gesichtspunkt der Betrachtung zu gewinnen, so bedarf es wohl für keinen in wirtschaftlichen Dingen Erfahrenen der besonderen Bemerkung, daß dasselbe jenem, welches das Ergebnis der exakten Forschung ist, scheinbar sehr ähnlich ist. Es ist eine allbekannte Beobachtung, daß die Erhöhung der Nachfrage nach einer Ware regelmäßig (wenn auch nicht immer) eine Steigerung des Preises derselben zur Folge hat. Dieses "empirische" Gesetz weist jedoch, trotz seiner äußeren Ähnlichkeit, eine fundamentale Verschiedenheit von dem vorhin dargestellten auf, eine Verschiedenheit von dem vorhin dargestellten auf, eine Verschiedenheit, die umso belehrender ist, als die äußere Ähnlichkeit der beiden hier in Rede stehenden Gesetze dieselbe bei flüchtiger Beobachtung nur allzuleicht übersehen läßt. Das exakte Gesetz besagt, daß,  unter bestimmten Voraussetzungen,  einer dem Maß nach bestimmten Steigerung des Bedarfs eine dem Maß nach genau bestimmte Steigerung der Preise folgen muß; das empirische Gesetz: daß auf eine Steigerung des Bedarfs  der Regel nach  eine solche der  realen  Preise tatsächlich folgt und zwar eine Steigerung, welche der Regel nach in einem gewissen, wenn auch keineswegs exakt bestimmbaren Verhältnis zur Steigerung des Bedarfes steht. Das erstere Gesetz gilt für alle zeiten und Völker, welche einen Güterverkehr aufweisen; das letztere läßt selbst bei einem bestimmten Volk Ausnahmen zu und ist, was das  Maß  der Einwirkungen der Nachfrage auf die Preise anbetrifft, für jeden Markt leicht ein anderes, erst durch Beobachtung zu ermittelndes.

Wir haben oben nicht ohne Absicht ein Beispiel gewählt, in welchem ein exaktes und ein empirisches Gesetz der Volkswirtschaft eine äußere Ähnlichkeit aufweisen, um eben an einem solchen den tief liegenden Unterschied theoretischer Erkenntnisse darzulegen. Es wäre jedoch leicht zu zeigen, daß in zahllosen anderen Fällen die exakten und die analogen empirischen Gesetze auch schon in der äußeren Form Verschiedenheiten aufweisen, und es ist somit klar, daß dieselben mit einander keineswegs verwechselt, noch viel weniger aber unter den gleichen Gesichtspunkten geprüft werden dürfen.

Diejenigen, welche an die Ergebnisse der exakten Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiet der Volkswirtschaft den Maßstab des empirischen Realismus und der theoretischen Ergebnisse dieses letzteren legen, übersehen den geradezu entscheidenden Umstand, daß die exakte Nationalökonomie, ihrer Natur nach, uns  die  Gesetze der Wirtschaftlichkeit, die empirisch-realistische Volkswirtschaftslehre dagegen die Regelmäßigkeiten in der Aufeinanderfolge und Koexistenz der  realen  Erscheinungen der menschlichen Wirtschaft (die in ihrer "vollen empirischen Wirklichkeit" ja auch zahlreiche Elemente der  Unwirtschaftlichkeit  enthalten!) zum Bewußtsein zu bringen hat.

Den Prüfstein für die Bürgschaften der exakten Gesetze der Volkswirtschaft in ihrer Kongruenz mit den empirischen Gesetzen der letzteren suchen zu wollen, bedeutet die Verkennung der elementarsten Grundsätze wissenschaftlicher Methodik. Ein solcher Vorgang wäre jenem eines Naturforschers vergleichbar, welcher an den empirischen Gesetzen der Naturerscheinungen die Gesetze der Physik, der Chemie und der Mechanik, oder etwa gar nach den in ihrer Art jedenfalls höchst nützlichen Bauernregeln, wie man sie in den für das Landvolk bestimmten Schriften finden, - deshalb, weil sie zumeist auf sehr alter Erfahrung gegründet sind, - die Ergebnisse der exakten Forschung eines NEWTON, LAVOISIER oder HELMHOLTZ prüfen und berichtigen wollte!


Sechstes Kapitel
Über die Theorie, daß die volkswirtschaftlichen
Erscheinungen in einem untrennbaren Zusammenhang
mit der gesamten sozialen und staatlichen
Entwicklung der Völker zu behandeln sind.

In einem engen Zusammenhang mit den in den vorangehenden Abschnitten dargelegten Irrtümer: der Verwechslung des historischen und des theoretischen Verständnisses der Sozialerscheinungen einerseits, und der einseitigen Auffassung des theoretischen Problems der Sozialwissenschaften als eines ausschließlich realistischen andererseits, steht eine Lehrmeinung, die mehr als irgendeine andere in der neueren deutschen Nationalökonomie zur herrschenden Geltung gelangt ist und nicht nur in den Schriften fast aller hervorragenderen zeitgenössischen Nationalökonomen der historischen Schule wiederkehrt, sondern eingestandenermaßen geradezu den Charakter und die Richtung ihrer Forschung bestimmt.

Ich speche hier von der Meinung jener, welche "die Erscheinungen der Volkswirtschaft nur in einem unzertrennbaren Zusammenhang mit der sozialen und staatlichen Entwicklung der Völker verstanden" wissen wollen (24) und "die Verselbständigung des wirtschaftlichen Elementes, die Loslösung desselben aus dem Gesamtkomplex des Volks- und Staatslebens dem Leben gegenüber als ungeschichtlich und unwirklich und darum als die Ursache irrtümlicher Resultate" bezeichnen, "sobald von jenem Standpunkt aus die volle Wahrheit des wirklichen Lebens durch die Wissenschaft reproduziert werden soll". (25)

Die obige Ansicht (26) ist auf dem Gebiet der  Geschichtsforschung  bekanntermaßen keine neue. Die konkreten Erscheinungen des Völkerlebens sind das Ergebnis zahlloser zusammenwirkender Faktoren, und es gibt wohl kaum eine Erscheinung dieses letzteren, welche nicht den Einfluß aller, die Gestaltung der Menschheitserscheinungen bestimmenden Faktoren erfahren würde. Der Geschichtsforscher, welcher eine komplizierte Erscheinung des Völkerlebens oder gar eine ganze Gruppe von solchen lediglich aus einer einzelnen Tendenz menschlicher Bestrebungen oder ausschließlich aus einem einzelnen Faktor historischer Gestaltung erklären und uns zum Verständnis bringen wollte, ein Historiker, welcher beispielsweise die Tatsachen der auswärtigen Politik der Staaten lediglich aus dem Charakter und den Tendenzen der leitenden Dipolomaten, die Entwicklung der Kunst eines Zeitalters lediglich aus der Individualität der in demselben zur Geltung gelangten Künstler, Schlachtenerfolge lediglich aus dem Talent der Feldherren und in allen obigen Fällen nicht zugleich aus den politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Zuständen der Völker, soweit sie auf jene historischen Tatsachen eingewirkt haben, interpretieren wollte, würde jedenfalls dem Vorwurf der größten Einseitigkeit bei allen sachkundigen Geschichtsforschern nicht entgehen.

Das Gesagte gilt selbstverständlich auch von den geschichtlichen Tatsachen des Rechts und der Volkswirtschaft. Als SAVIGNY daran gint, die Bedeutung historischer Rechtsstudien für das Verständnis des Rechts den deutschen Juristen zum klareren Bewußtsein zu bringen, als dies bis dahin der Fall war, konnte er keinen Moment darüber in Zweifel sein, daß das Recht, "dessen organischer Zusammenhang mit dem Wesen und Charakter des Volkes" (27) ihm klar war, kein Dasein für sich hat, sein Wesen vielmehr, gleich wie jenes der Sprache, das Leben des Menschen selbst ist, von einer besonderen Seite angesehen. (28) Das Recht in seinen konkreten Gestaltungen aus irgendeiner bestimmten Tendenz oder überhaupt aus irgendeinem einseitigen Gesichtspunkt historisch zu interpretieren und dabei den Einfluß aller übrigen kulturellen Faktoren und aller übrigen auf dasselbe einwirkenden historischen Tatsachen zu verkennen, lag ihm so fern, wie beispielsweise einem Geschichtsschreiber der Volkswirtschaft die Idee, die historischen Entwicklungen der letzteren ausschließlich aus irgendeiner bestimmten Tendenz, z. B. aus dem ökonomischen Eigennutz der Völker, bzw. der Volksglieder einseitig erklären zu wollen. Recht und Volkswirtschaft in ihrer konkreten Gestalt sind Teile des Gesamtlebens eines Volkes und können nur im Zusammenhang mit der ganzen Volksgeschichte historisch verstanden werden. Kein vernünftiger Zweifel ist möglich, daß Tatsachen der Volkswirtschaft von einem Geschichtsschreiber auf die Gesamtheit der physischen und kulturellen Faktoren zurückgeführt werden müssen, welche bei der Gestaltung derselben mitwirkten, kein vernünftiger Zweifel, daß das  historische  Verständnis der Volkswirtschaft und ihrer Phänomene "nur im Zusammenhang derselben mit der sozialen und staatlichen Entwicklung der Völker" erreicht zu werden vermag und die Loslösung des wirtschaftlichen Elementes aus dem Gesamtkomplex des Volks- und Staatslebens, die Loslösung desselben in dem oben charakterisierten Sinn unhistorisch und dem realen Leben inadäquat wäre. Über all diese Dinge kann, wir wiederholen es, kein vernünftiger Zweifel obwalten, und sie sind auch - wenn wir von einigen Geschichtsphilosophen absehen, welche die geschichtlichen Tatsachen aus einseitigen Tendenzen zu konstruieren unternahmen, - soweit es sich um das historische Verständnis der volkswirtschaftlichen Erscheinungen handelt, tatsächlich von Historikern nie in Zweifel gezogen worden.

Nur die vollständige Verkennung des Wesens der  theoretischen  Wissenschaften und der wahren Natur des durch dieselben vermittelten, des  theoretischen  Verständnisses der Erscheinungen überhaupt und jenes Verständnisses insbesondere, welches die theoretische Nationalökonomie uns auf dem Gebiet der volkswirtschaftlichen Erscheinungen zu vermitteln die Aufgabe hat, konnte jedoch eine Reihe von nationalökonomischen Schriftstellern verleiten, die obigen auf die Geschichte und das  historische  Verständnis bezüglichen Gesichtspunkte schlechthin, d. h. in durchaus mechanischer Weise auf die Theorie und das  theoretische  Verständnis der volkswirtschaftlichen Erscheinungen zu übertragen.

Wir werden hier aber vom obigen Postulat der Forschung zunächst im Hinblick auf die  exakte,  und hierauf im Hinblick auf die  realistische  Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiet der Volkswirtschaft sprechen.

Es gibt im Kreis der exakten Theorien auch nicht  eine,  welch uns  ansich  das  universelle  theoretische Verständnis der Erscheinungswelt oder irgendeines bestimmten Gebietes der letzteren, ja auch nur eines einzelnen komplizierten Phänomens der realen Welt, in seiner Totalität gedacht, zu verschaffen vermöchte; ein solches vermögen uns vielmehr stets nur die exakten Wissenschaften in ihrer  Gesamtheit  darzubieten, da jede derselben uns ja nur das Verständnis einer besonderen Seite der realen Welt eröffnet.

Wer die Erscheinungen der Natur, wie sie die >Erfahrung uns darbietet, wer eine einzelne Gruppe derselben, ja, wer auch nur ein einzelnes Naturphänomen in exakter Weise, d. h. als eine Exemplifikation der strengen Gesetzmäßigkeit in allen natürlichen Dingen verstehen will, wird dieses Verständnis nicht etwa lediglich in den Gesetzen der Chemie, der Mechanik, oder ausschließlich in jenen der Physik usw. suchen dürfen, sondern nur durch die Gesamtheit oder doch eine Mehrheit der exakten Wissenschaften zu erreichen vermögen. Nur auf diesem Weg wird er nämlich zum exakten Verständnis auch solcher Phasen und Seiten der realen Phänomene gelangen, welche sich unter den Gesichtspunkten einer  einzelnen  exakten Wissenschaft ihm vielleicht als  Unregelmäßigkeiten,  als Ausnahmen von der strengen Gesetzmäßigkeit der Erscheinungswelt darstellen würden. Keine einzelne exakte Wissenschaft schließt eben das universelle theoretische Verständnis auch nur des geringsten Teils der realen Welt in sich - stets lehrt sie uns, wie gesagt, nur  eine besondere Seite dieser Gesetzmäßigkeit  erkennen.

Wird man deshalb etwa die Chemie, die Physik, die Mechanik usw. als einseitige Wissenschaften bezeichnen? Wird es deshalb einem Naturforscher einfallen, jede einzelne der obigen Wissenschaften zu einer Theorie der Naturerscheinungen überhaupt erweitern zu wollen? Oder wird ein in erkenntnistheoretischen Fragen auch nur einigermaßen Unterrichteter die hier in Rede stehenden Disziplinen als "abstrakte" gering achten, weil jede einzelne derselben, für sich genommen, zur Erklärung auch nicht irgendeines komplizierten Naturphänomens in seiner vollen empirischen Wirklichkeit ausreicht?

Daß die einzelnen exakten Wissenschaften uns nur das theoretische Verständnis  einzelner Seiten  der realen Welt eröffnen, ist ein Fundamentalsatz aller Methodik, und wer, statt dahin zustreben, durch die Gesamtheit derselben zum universellen Verständnis der konkreten Erscheinungen zu gelangen, dieses Ziel in der Weise erreichen will, daß er die einzelnen exakten Wissenschaften zu universellen Theorien bestimmter Gebiete der realen Erscheinungen zu ihrer vollen empirischen Wirklichkeit erweitern möchte, verkennt so sehr die elementarsten Grundsätze der Wissenschaftslehre, daß seine Berechtigung, über das hier behandelte schwierige Problem mitzusprechen, geradezu in Frage gestellt werden müßte (29).

Was anderes wollen nun aber die Vertreter der vorhin charakterisierten Lehrmeinung, als die theoretische Nationalökonomie, welche als exakte Wissenschaft doch nur eine Theorie der  wirtschaftlichen  Seite des Volkslebens ist - sein kann" - zum Phantom einer Universaltheorie der sozialen Erscheinungen erweitern?

Sollte je die Menschheit zu einem  universellen  exakten Verständnis der Sozialphänomene überhaupt und der Volkswirtschaft insbesondere (in ihrer vollen empirischen Wirklichkeit gedacht) gelangen, so könnte dies sicherlich nur auf dem Weg einer  Mehrheit  von exakten Sozialwissenschaften geschehen, deren Gesamtheit uns das allseitige exakte Verständnis der Sozialerscheinungen zu eröffnen hätte. Dann würde es uns allerdings möglich sein, in denjenigen realen Phänomenen, welche wir vorzugsweise die Erscheinungen der Volkswirtschaft nennen, die nicht ökonomischen Einflüsse und Wirkungen - nicht durch die reine Nationalökonomie, sondern durch andere Sozialwissenschaften, in deren Bereich die bezüglichen Einflüsse fallen, in exakter Weise, d. h. nicht als Ausnahmen von der Gesetzmäßigkeit der ökonomischen Erscheinungen, sondern als Exemplifikationen sozialer Gesetze, wenn auch, wie selbstverständlich, nicht als solche der Volkswirtschaft, verstehen zu lernen. Den Ausbau dieser Wissenschaften mögen die Nationalökonomen mit ihren besten Wünschen begleiten und nach Kräften fördern. Bis dahin werden wir uns aber, entsprechend der besonderen wissenschaftlichen Aufgabe, die uns zugefallen ist, zu bemühen haben, die exakte Nationalökonomie von  ihren  Irrtümern zu reinigen und  ihre  Lücken auszubauen, um das, was  unser  nächster und, bei dem geradezu kläglichen Zustand der nationalökonomischen Theorie, unser dringendster wissenschaftlicher Beruf ist, die  wirtschaftliche  Seite der Sozialerscheinungen zu einem immer klareren exaktem Verständnis zu bringen.

Diejenigen aber, welche hierin eine Einseitigkeit erblicken und die reine Nationalökonomie zu einer Theorie der Sozialerscheinungen in ihrer Totalität verflüchtigen wollen, verwechseln auch hier die Gesichtspunte historischen und theoretischen Verständnisses miteinander und übersehen, daß die  Geschichte  uns allerdings  alle  Seiten  bestimmter  Erscheinungen, die exakten  Theorien  dagegen stets nur  bestimmte  Seiten  aller  Erscheinungen in ihrer Weise zum Verständnis zu bringen die Aufgabe haben, und eine Wissenschaft nie  einseitig  genannt werden kann, wenn sie  ihrer  Aufgabe voll genügt.

Die Ansicht, daß die volkswirtschaftlichen Erscheinungen in einem unzertrennbaren Zusammenhang mit der gesamten sozialen und staatlichen Entwicklung der Völker zu behandeln seien, ist demnach, zumindest als Postulat für die exakte Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiet der Volkswirtschaft, ein methodischer Widersinn.

Aber auch in der  realistischen  Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiet der menschlichen Wirtschaft kann von einer Behandlung dieser letzteren im untrennbaren Zusammenhang mit der gesamten sozialen und staatlichen Entwicklung der Völker füglich nicht die Rede sein. Auch die "Realtypen" und "empirischen Gesetze" der Volkswirtscahft sind nämlich keineswegs das Ergebnis einer alle Seiten des Volkslebens umfassenden Betrachtung der Sozialerscheinungen, sondern, so realistisch die theoretische Forschung auch immer gedacht werden mag, in mehr als einer Hinsicht, gleichfalls das Ergebnis einer Abstraktion von einzelnen Seiten dieser letzteren.

Gesetze der Erscheinungen besagen, selbst in der denkbar realistischsten Auffassung der theoretischen Probleme, doch stets nichts anderes, als daß Phänomene einer gewissen Erscheinungsform auf solche anderer Erscheinungsformen regelmäßig folgen oder aber mit denselben koexistent sind. Hierin, also schon in der Idee von "Gesetzen", und zwar selbst von empirischen Gesetzen, liegt nun aber bereits nach mehr als einer Richtung hin eine in die Augen springende Abstraktion von der vollen empirischen Wirklichkeit. Eine solche liegt schon in dem Umstand, daß in "Gesetzen", welcher Art dieselben auch immer gedacht werden mögen, nicht (wie in der Geschichte!) die Aufeinanderfolgende oder Koexistenz von  konkreten Phänomenen,  sondern von  Erscheinungsformen  in Frage kommt, somit schon aus diesem Grund eine Abstraktion von gewissen Merkmalen der Erscheinungen in ihrer vollen empirischen Wirklichkeit unausweichlich ist; ferner liegt aber auch in dem Umstand eine Abstraktion, daß "Gesetze", indem sie die Aufeinanderfolge oder Koexistenz von  bestimmten  Erscheinungsformen konstatieren, ohne, wie selbstverständlich, alle erdenklichen sonstigen Erscheinungsformen der Formel einzuverleiben, die ersteren notwendig isolieren, von allen übrigen Erscheinungen abstrahieren. Mit der Idee von "Gesetzen der Erscheinungen" ist somit schlechterdings eine gewisse Abstraktion von der vollen empirischen Wirklichkeit der konkreten Erscheinungen gegeben; dieselbe ist nichts Zufälliges, nicht etwa ein zu vermeidender Mangel einer bestimmten Richtung der theoretischen Forschung, sondern so unausweichlich bei der Feststellung von "Gesetzen der Erscheinungen" irgendwelcher Art, daß der Versuch, der obigen Abstraktion völlig auszuweichen,  die Möglichkeit der Feststellung von Gesetzen der Erscheinungen geradezu aufheben würde. (30)

Selbst die denkbar realistischste Richtung der  theoretischen  Forschung muß demnach mit Abstraktionen operieren, und das Streben nach Typen und typischen Relationen von realen Erscheinungen, welche sich in jedem Fall auf die  "volle  empirische Wirklichkeit" der letzteren beziehen, ist demnach ein solches, welches dem Wesen der theoretischen Forschung, wie sich dieselbe uns auf dem Boden der Wirklichkeit darstellt, schlechterdings widerspricht.

Wenn jedoch von der obigen, aus der Natur der theoretischen Forschung sich notwendig ergebenden Abstraktion abgesehen wird, so ist schwer zu erkennen, welcher Reform die realistische Richtung der theoretischen Forschung, im Sinne einer Berücksichtigung der vollen empirischen Wirklichkeit, dann noch bedarf? Werden die Gesetze der Volkswirtschaft, wie dies der obigen Richtung der theoretischen Forschung entspricht, auf rein empirischem Weg, durch Beobachtung der realen Erscheinungsfolgen und Koexistenzen von Erscheinungen gewonnen, so liegt ja in diesem Vorgehen  ansich  schon eine - von den oben hervorgehobenen Umständen abgesehen - eine vollständige Berücksichtigung der empirischen Wirklichkeit. Die  realen  Preise der Güter, die  realen  Grundrenten, die  realen  Kapitalzinse usw. sind in jedem Fall nicht nur das Ergebnis spezifisch ökonomischer, sondern auch ethischer Tendenzen; indem wir die Regelmäßigkeiten der Erscheinungsfolge und der Koexistenz  dieser  Phänomene auf empirischem Weg feststellen, berücksichtigen wir somit, soweit dies überhaupt denkbar ist, den Einfluß von Recht, Sitte usw. auf die typischen Relationen der Volkswirtschaft, und es ist nicht abzusehen, wie dieser Einfluß noch weiter berücksichtigt werden sollte, insbesondere da es ja von selbst einleuchtend ist, daß  empirische  Gesetze der Erscheinungen nur für jene örtlichen und zeitlichen Verhältnisse ihre Geltung behaupten, aus deren Betrachtung sie gewonnen wurden.

Das Streben nach Berücksichtigung der nicht ökonomischen Faktoren der Volkswirtschaft in der realistischen Richtung der theoretischen Forschung ist somit ein überflüssiges, weil durch die Natur dieser Richtung des Erkenntnisstrebens notwendig gegebenes; es bedarf hierzu keiner besonderen Methode, noch weniger einer besonderen Gelehrtenschule; im Gegenteil, es bedürfte ganz eigentümlich gearteter Geister, um  "empirische  Gesetze" der volkswirtschaftlichen Erscheinungen zu erforschen, in welchen die nicht-ökonomischen Faktoren der menschlichen Wirtschaft in der Weise eliminiert werden würden, wie unsere historischen Volkswirte sich dies vorstellen.

Das obige Postulat ist sowohl im Hinblick auf die exakte als auch auf die empirische Richtung der  theoretischen  Forschung ein seltsames Mißverständnis.

In Wahrheit wurzelt die Forderung, "daß die volkswirtschaftlichen Erscheinungen im Zusammenhang mit der ganzen sozialen und staatlichen Entwicklung der Völker zu behandeln sind", in dem dunklen Streben, die spezifischen Gesichtspunkte der Geschichtsforschung in die theoretische Wissenschaft von der Volkswirtschaft zu übertragen, in einem Streben, das im Widerspruch mit der Natur dieser Richtung des Erkenntnisstrebens liegt. Unsere historischen Nationalökonomen beweisen auch hier ihre geringe methodische Erfahrung, indem sie an eine Richtung der Forschung höhere Ansprüche stellen, als dieselbe ihrer Natur nach zu befriedigen vermag, und aus Furcht,  einseitig  zu erscheinen, von ihrem eigentlichsten Wissensgebiet, von der politischen Ökonomie, auf das Gebiet der Geschichtsforschung abirren, eine Form der Vielgestaltigkeit, welche der deutschen Wissenschaft jedenfalls besser erspart geblieben wäre.


Siebtes Kapitel
Über das Dogma vom Eigennutz in der theoretischen
Nationalökonomie und seine Stellung zu den
erkenntnistheoretischen Problemen dieser letzteren.

    "Der  Privategoismus der Eigennutz, spielt in der Theorie der Nationalökonomie eine so bedeutende Rolle, er ist in eine so unmittelbare und tief eingreifende Verbindung zu der Methode, Gesetze der Volkswirtschaft zu gewinnen, gebracht worden, er hat eine so bedingende Einwirkung auf die ganze Stellung unserer Wissenschaft geübt", daß wir das Verhältnis desselben zu den erkenntnistheoretischen Problemen unserer Wissenschaft hier umso weniger übergehen können, als auch nach unserem Dafürhalten "die historische Methode der politischen Ökonomie in einem ganz besonderen Verhältnis zum Dogma vom unwandelbaren Eigennutz steht." (31)
Unter dem "Dogma vom Eigennutz" wird von einzelnen Volkswirten der Grundsatz verstanden, daß die durch wirtschaftspolitische Regierungsmaßregeln unbeeinflußte Verfolgung des Privatinteresses seitens der einzelnen wirtschaftenden Individuen auch den höchsten Grad des Gemeinwohls im Gefolge haben muß, welcher einer Gesellschaft im Hinblick auf örtliche und zeitliche Verhältnisse erreichbar ist. Von dieser, in ihrer Allgemeinheit jedenfalls irrtümlichen, Meinung denken wir jedoch hier nicht zu handeln, denn sie steht in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit jenen methodischen Fragen, welche uns in diesem Abschnitt beschäftigen werden.

Was unser Interesse an dieser Stelle in Anspruch nimmt, ist vielmehr der unter der obigen Bezeichnung bekannte Satz, daß die Menschen bei ihrer  wirtschaftlichen  Tätigkeit in Wahrheit ausschließlich von der Rücksichtnahme auf ihre individuellen Interessen geleitet werden, ein Satz, welcher, zumindest, wie die Vertreter der historischen Schule deutscher Volkswirte annehmen, von den Anhängern der "unhistorischen" Schulen unserer Wissenschaft gleich einem grundlegenden Axiom an die Spitze ihrer Systeme der politischen Ökonomie gestellt wird. Die Bedeutung desselben für die von uns hier behandelten erkenntnistheoretischen Probleme mag jedoch schon aus dem Umstand hervorgehen, daß seitens der historischen Schule von seiner Richtigkeit die Möglichkeit strenger Gesetze der volkswirtschaftlichen Erscheinungen und somit auch einer Wissenschaft von denselben abhängig gedacht, bzw. unter dem Hinweis auf die Irrtümlichkeit des obigen "Dogmas", die Möglichkeit einer Wissenschaft von den "Gesetzen" der Volkswirtschaft geradezu geleugnet und eine besondere, die historische Methode der Behandlung unserer Wissenschaft, gefordert wird.

Die Argumentation unserer historischen Nationalökonomen ist hierbei nun aber die folgende:

Der Wille des Menschen wird von zahllosen, zum Teil geradezu im Widerspruch miteinanderstehenden Motiven geleitet; dadurch ist jedoch eine strenge Gesetzmäßigkeit der menschlichen Handlungen überhaupt und jener der Wirtschaft insbesondere von vornherein ausgeschlossen. Nur wenn wir uns den Menschen bei seinen wirtschaftlichen Handlungen stets von demselben Motiv, z. B. dem Eigennutz, geleitet denken, erscheint das Moment der Willkür ausgeschlossen, jede Handlung streng determiniert. Nur unter der obigen Voraussetzung sind demnach Gesetze der Volkswirtschaft und somit auch eine Nationalökonomie im Sinne einer exakten Wissenschaft denkbar.

Nun würden aber die Menschen bei ihren Handlungen erfahrungsgemäß, weder überhaupt, noch aber auch insbesondere bei ihren wirtschaftlichen Handlungen, ausschließlich von einem bestimmten Motiv geleitet, indem neben dem Eigennutz, welcher höchstens als hauptsächliche Triebfeder der menschlichen Wirtschaft anerkannt zu werden vermag, auch der Gemeinsinn, die Nächstenliebe, die Sitte, das Rechtsgefühl und andere ähnliche Momente die wirtschaftlichen Handlungen der Menschen bestimmen, und die Voraussetzung, von welcher die (nichthistorischen) Nationalökonomen der SMITHschen Schule ausgehen, ist somit eine falsche. Mit der obigen Voraussetzung fällt dann aber auch die Grundlage von strengen, von zeitlichen und örtlichen Verhältnissen unabhängigen Gesetzen der Volkswirtscahft und damit einer Wissenschaft von solchen, einer theoetischen Nationalökonomie im vorhin gedachten Sinn des Wortes. Die ganze hier charakterisierte Richtung der Forschung ist demnach eine unempirische, eine solche, welche der Wahrheit entbehrt, und nur eine von den obigen irrtümlichen Voraussetzungen gereinigte Forschung vermöchte auf dem Gebiet unserer Wissenschaft zu Resultaten zu gelangen, welche den realen Erscheinungen der Volkswirtschaft entsprechen.

Dies ist ungefähr die Argumentation der historischen Nationalökonomen Deutschlands bei der Bekämpfung des "Dogmas vom menschlichen Eigennutz" (32).

Wir möchten hier vor allem auf eine jedem mit psychologischen Untersuchungen einigermaßen Vertrauten in die Augen springende Lücke der obigen Argumentation hinweisen. Nicht nur der Umstand, daß die Menschen bei ihren wirtschaftlichen Handlungen nicht ausschließlich vom Eigennutz geleitet werden, sondern auch ein anderes ebenso wichtiges Moment schließt, im obigen Sinn, die strenge Gesetzmäßigkeit der menschlichen Handlungen überhaupt, und jener der Wirtschaft insbesondere, und somit auch die Möglichkeit einer strengen Theorie der Volkswirtschaft aus. Ich meine den  Irrtum,  ein Moment, welches vom menschlichen Handeln sicherlich noch viel weniger getrennt gedacht werden kann, als Sitte, Gemeinsinn, Rechtsgefühl und Menschenliebe von der Wirtschaft. Selbst wenn die wirtschaftenden Menschen sich stets und allerorten ausschließlich von ihrem Eigennut leiten lassen würden, die erfahrungsgemäß gegebene Tatsache, daß sie sich in zahllosen Fällen über ihr wirtschaftliches Interesse im Irrtum, oder über die ökonomische Sachlage in Unkenntnis befinden, müßte nichtsdestoweniger die strenge Gesetzmäßigkeit der wirtschaftlichen Erscheinungen ausschließen. Unsere Historiker sind zu nachsichtig gegen ihre wissenschaftlichen Gegner. Die Voraussetzung einer strengen Gesetzmäßigkeit der wirtschaftlichen Erscheinungen, und somit einer theoretischen Nationalökonomie im mehrgedachten Verstand des Wortes, ist nicht nur das Dogma vom stets gleichbleibenden Eigennutz, sondern ein solches von der  "Unfehlbarkeit"  und  "Allwissenheit"  der Menschen in wirtschaftlichen Dingen.

Wir sind weit davon entfernt, zu behaupten, daß mit den obigen Dogmen die ganze Summe der Voraussetzungen einer strengen Theorie der volkswirtschaftlichen Erscheinungen, in dem Sinne, in welchem unsere Historiker sich eine solche denken, bereits erschöpft ist. Es ist vielmehr für jeden in methodischen Untersuchungen nicht ganz Unerfahrenen klar, daß zu denselben noch eine Reihe anderer ähnlicher Dogmen (auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Erscheinungen insbesondere auchnoch das  Dogma der vollen Freiheit von äußeren Zwang usw.!)  treten müßte, Dogmen, welche, wie wir nicht zweifeln, den Vertretern der historischen Schule ein ebenso dankbares wie müheloses Feld geistreicher Kritik zu bieten vermöchten. Aber schon das Gesagte dürfte genügen, um auf das evidenteste nachzuweisen, welchen erstaunlichen Widersinn die größten Geister aller Nationen seit Jahrtausenden zutage gefördert haben, indem sie nach strengen Theorien der Sozialerscheinungen strebten, und in welchen beklagenswerten Irrtümern sich die Menschheit auch heute noch befände, wenn die historische Schule der deutschen Nationalökonomen ihr nicht die Augen geöffnet hätte.

Einigermaßen befremdend muß, gegenüber einer so epochemachenden Umwälzung auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften allerdings der Umstand erscheinen, daß jene Irrtümer, welche den Forschern auf wirtschaftlichem Gebiet zum Vorwurf gemacht werden, in durchaus analoger Weise auch auf allen übrigen Gebieten der theoretischen Forschung, insbesondere aber auch auf dem Gebiet der Naturforschung zu beobachten sind und daß demnach eine ganze Reihe theoretischer Wissenschaften bei näherer Untersuchung hinfällig und wertlos wird, ohne daß sich bisher auch nur eine Ahnung hiervon in den Geistern unserer Naturforschern geregt hätte.

Auch die wichtigsten und grundlegendsten unter den theoretischen Naturwissenschaften leiden nämlich an denselben Gebrechen, welche unsere historischen Nationalökonomen den bisherigen sozialwissenschaftlichen Theorien zum Vorwurf machen; auch die Chemie, die Physik, nicht weniger aber auch eine Reihe anderer exakter Wissenschaften, wie die Mechanik, die Mathematik usw. erscheinen, mit dem Maßstab der Kritik unserer Historiker gemessen, als der Wirklichkeit widerstreitend, unempirisch und daher einer gleichen Reform bedürftig, wie die theoretische Nationalökonomie.

Die Chemie lehrt uns nicht die "Realbegriffe" bestimmter Gruppen konkreter Erscheinungen; ihre Elemente und Verbindungen sind in ihrer vollen Reinheit vielmehr unempirisch, in der von menschlicher Kunst unbeeinflußten Natur nicht zu beobachten, ja zum Teil sogar künstlich nicht darstellbar. Reines Gold, reiner Wasserstoff und Sauerstoff, und die reinen Verbindungen derselben sind, weder ansich, noch auch in jenem ideal strengen Maß, welches die Gesetze der Chemie voraussetzen, empirisch gegeben. Die Chemie operiert mit Faktoren, welche qualitativ, in gewisser Beziehung auch quantitativ unempirisch sind. Sie erfaßt ferner die Körper nicht in der Totalität ihrer Erscheinung; sie bringt uns das Wesen und die Gesetze derselben nicht hinsichtlich aller, sondern nur hinsichtlich einer bestimmten Seite ihres Seins zum Bewußtsein. Die Chemie geht, um mit unseren historischen Volkswirten zu sprechen, von dem Dogma aus, daß die chemischen Grundstoffe und ihre Kombinationen in ihrer vollen Reinheit empirisch vorhanden, daß sie ideal genau meßbar, daß das Gold und der Sauerstoff in ihren  realen  Erscheinungen an allen Orten und zu allen Zeiten genau identisch sind; sie beschäftigt sich überdies nur mit einer einzelnen Seite der realen Welt und ihre Gesetze sind somit, der Totalität der Erscheinungswelt gegenüber, auf willkürlichen Annahmen beruhend und unempirisch.

Das Gleiche gilt, wie wir wohl nicht weiter auszuführen brauchen, von der Physik, insbesondere aber auch von der Mechanik und der Mathematik.

Die reine Mechanik geht bei ihren wichtigsten Gesetzen von der willkürlichen und unempirischen Annahme aus, daß die Körper sich im luftleeren Raum bewegen, daß ihr Gewicht und ihre Bahnen genau gemessen, daß ihr Schwerpunkt genau bestimmt, daß die Kräfte, von welchen die Körper bewegt werden, genau bekannt und konstant sind, daß keine störenden Faktoren ihre Wirksamkeit entfalten, und so - um mit unseren Historikern zu sprechen - von tausend anderen willkürlichen unempirischen Dogmen. Und auch sie, gleich wie die Mathematik, deren unempirische Voraussetzungen (man denke an den mathematischen Punkt, die mathematische Linie, die mathematische Fläche usw.!) wohl keines besonderen Hinweises bedürfen, erfassen die Welt der realen Erscheinungen nicht in ihrer Totalität, sondern nur eine einzelne Seite derselben, und auch in dieser Hinsicht sind sie somit gegenüber der "vollen empirischen Wirklichkeit" willkürlich und unempirisch, beklagenswerte Verirrungen des Menschengeistes!

Und alle diese falschen Dogmen hat bisher kein Mensch geahnt, bis schließlich die historische Schule deutscher Nationalökonomen uns die Augen geöffnet hat, zum Teil mit vollem Bewußtsein, zum Teil mit dem Instinkt des Genies, ohne sich der geradezu epochemachenden Umwälzung auf dem Gebiet der exakten Forschung in ihrer ganzen Tragweite auch nur bewußt zu werden. Wahrhaftig, unsere historischen Nationalökonomen können sich auf diese Errungenschaft etwas zugute halten!

Doch nun zurück zum Ernst der Sache! Die  exakte  Richtung der theoretischen Forschung auf dem Gebiet der Sozialerscheinungen - und nur im Hinblick auf diese kann füglich von einem Dogma des Eigennutzes die Rede sein - hat, wie wir bereits oben desweiteren ausgeführt haben, die Aufgabe, "die Menschheitserscheinungen auf die Äußerungen der ursprünglichsten und allgemeinsten Kräfte und Triebe der Menschennatur zurückzuführen und hierauf zu untersuchen, zu welchen Gestaltungen das freie und durch andere Faktoren (insbesondere auch durch Irrtum, durch Unkenntnis der Sachlage und durch äußeren Zwang) unbeeinflußte Spiel jeder einzelnen Grundtendenz der Menschennatur führt". Indem wir diese Richtung der Forschung verfolgen, gelangen wir zu einer Reihe von Sozialtheorien, deren jede einzelne uns allerdings nur das Verständnis einer besonderen Seite der Erscheinungen menschlicher Tätigkeit eröffnet und demnach von der vollen empirischen Wirklichkeit abstrahiert, deren Gesamtheit uns jedoch die ethische Welt in ähnlicher Weise verstehen lehrt, wie jene theoretischen Wissenschaften, welche das Ergebnis einer analogen Betrachtung der Natur sind (33).

Unter den Bestrebungen der Menschen sind nun jene, welche auf die vorsorgliche Deckung ihres Güterbedarfs gerichtet sind (die  wirtschaftlichen),  die weitaus allgemeinsten und wichtigsten, gleich wie unter den Trieben der Menschen jener, welcher jedes Individuum  seine  Wohlfahrt anzustreben heißt, weitaus der allgemeinste und mächtigste is - und eine Theorie, welche uns lehren würde, zu welchen Gestaltungen menschlicher Tätigkeit, zu welchen Formen der Menschheitserscheinungen die auf die Deckung ihres Güterbedarfes gerichtete Tätigkeit beim freien, durch andere Bestrebungen und durch andere Rücksichten (insbesondere aber auch durch Irrtum und Unkenntnis) unbeeinflußten Spiel jenes mächtigen Faktors der menschlichen Wirtschaft führt, eine Theorie insbesondere, welche uns lehren würde, welches  Maß der Wirkungen  durch ein bestimmtes  Maß der hier in Rede stehenden Einflüsse  bewirkt werden würde: müßte uns demnach das Verständnis - nicht der Menschheitserscheinungen in ihrer Totalität, auch nicht eines bestimmten Teils derselben,  wohl aber einer der wichtigsten Seiten des Menschenlebens  verschaffen. Eine solche Theorie, eine Theorie, welche uns die Äußerungen des menschlichen Eigennutzes in den auf die Deckung ihres Güterbedarfes hinzielenden Bestrebungen der wirtschaftenden Menschen in exakter Weise verfolgen und verstehen lehrt, ist nun die  "exakte Nationalökonomik",  eine Theorie somit, welche nicht die Aufgabe hat, uns die sozialen Erscheinungen oder gar die Menschheitserscheinungen, ja nicht einmal jene Sozialphänomene, welche man gemeinhin "die volkswirtschaftlichen" nennt, überhaupt und in ihrer Totalität verstehen zu lehren, sondern uns nur  das Verständnis einer besonderen, allerdings der wichtigsten, der wirtschaftlichen Seite des Menschenlebens  zu verschaffen, während das Verständnis der übrigen Seiten desselben nur durch andere Theorien erreicht werden könnte, welche uns die Gestaltungen des Menschenlebens unter dem Gesichtspunkt der übrigen Tendenzen desselben zum Bewußtsein bringen würden (z. B. unter dem Gesichtspunkt des Gemeinsinns, des strengen Waltens der Rechtsidee usw.).

Von diesen methodischen Gesichtspunkten sind die großen Theoretiker auf dem Gebiet der ethischen Erscheinungen seit jeher ausgegangen; von diesem Gesichtspunkt aus sind schon PLATON und ARISTOTELES an die Aufgabe geschritten, Theorien der Sozialerscheinungen aufzubauen; von diesem Gesichtspunkt aus hat schließilch auch der große Begründer unserer Wissenschaft sein Werk über den Reichtum der Völker geschrieben, neben demselben aber eine Theorie der moralischen Empfindungen, in welcher er den Gemeinsinn ebenso zum Angelpunkt seiner Untersuchungen machte, als das Eigeninteresse in seinem für die politische Ökonomie so epochemachenden Werk.

Wenn wir nunmehr zu dem sogenannten  "Dogma vom menschlichen Eigennutz zurückkehren, welches nach der Auffassung der historischen Schule deutscher Nationalökonomen einen so störenden Gegensatz zur "vollen empirischen Wirklichkeit" bilden soll, so bedarf es wohl kaum mehr einer weiteren Ausführung, um diese Auffassung als ein Mißverständnis der berechtigten methodischen Gesichtspunkte erkennen zu lassen, von welchem die großen Begründer der ethischen Wissenschaften in ihrer Forschertätigkeit geleitet wurden. So wenig die reine Mechanik die Existenz mit Luft erfüllter Räume, der Reibung usw., so wenig die reine Mathematik die Existenz realer Körper, Flächen und Linien leugnet, welche von den mathematischen abweichen, so wenig die reine Chemie den Einfluß physikalischer und die reine Physik den Einfluß chemischer Faktoren bei der Gestaltung der realen Erscheinungen negiert, obgleich jede dieser Wissenschaften nur eine Seite der realen Welt berücksichtigt und von allen anderen abstrahiert: so wenig behauptet ein Nationalökonom, daß die Menschen  faktisch  nur vom Eigennutz geleitet oder aber unfehlbar und allwissend sind, weil er die Gestaltungen des sozialen Lebens unter dem Gesichtspunkt des freien, durch Nebenrücksichten, durch Irrtum und Unkenntnis unbeeinflußten Spiels des menschlichen Eigeninteresses zum Gegenstand seiner Forschung macht. Das Dogma vom menschlichen Eigennutz in der Auffassung unserer historischen Nationalökonomen ist ein Mißverständnis.

ARISTOTELES und HUGO GROTIUS waren sich sicherlich nicht darüber nicht im Unklaren, daß außer dem Trieb nach Vergesellschaftlichung, bzw. nach Gemeinschaft noch andere Faktoren zur Staatenbildung beitragen; HOBBES war es sicherlich nicht unbekannt, daß der Interessengegensatz der einzelnen Individuen, SPINOZA, daß der Trieb nach Selbsterhaltung nicht die einzigen Motoren sozialer Gestaltungen sind, und HELVETIUS, MANDEVILLE und ADAM SMITH wußten ebensogut wie irgendein Anhänger der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie, daß der Eigennutz nicht ausschließlich die Erscheinungen des Menschenlebens beeinflußt. Hat der letztere doch eine eigene Theorie des Gemeinsinnes geschrieben! Was ihn und seine Schule von unseren Historikern unterscheidet, ist, daß er weder die Geschichte der Volkswirtschaft mit der Theorie derselben verwechselt, noch auch einseitig jener Richtung der Forschung folgt, welche ich oben mit dem Ausdruck der empirisch-realistischen bezeichnete, noch auch schließlich dem Mißverständnis zum Opfer fiel, in theoretischen Untersuchungen unter dem Gesichtspunkt des freien und von sonstigen Potenzen unbeeinflußten Spiels des menschlichen Eigeninteresses, die Anerkennung des "Dogmas" vom menschlichen Eigennutz als der einzigen  faktischen  Triebfeder menschlicher Handlungen zu erkennen, und ich zweifle nicht, daß auch die deutsche Nationalökonomie, sobald das Mißverständnis von dem ich hier handle, den Vertretern derselben zum vollen Bewußtsein gelangt sein wird, die hier in Rede stehende durchaus berechtigte und für das Verständnis der volkswirtschaftlichen Erscheinungen unentbehrliche, wenngleich auch von ihr seit langem arg vernachlässigte Richtung der Forschung wieder einschlagen und auch ihrerseits zum Ausbau derselben ihren Teil beitragen wird. Der im hohen Grad unbefriedigende Zustand der exakten Forschung auf dem Gebiet volkswirtschaftlicher Erscheinungen ist eine mächtige Aufforderung auch für die deutschen Nationalökonomen, den sie vereinsamenden Irrweg der Forschung zu verlassen und, neben dem Streben nach Feststellung realistischer Erkenntnisse auf dem Gebiet der Volkswirtschaft und insbesondere neben dem Streben nach der historischen Interpretation der volkswirtschaftlichen Erscheinungen, dem großen Problem des Aufbaus einer exakten Theorie der Nationalökonomie wieder ihre Kraft zuzuwenden.


Achtes Kapitel
Über den Vorwurf des "Atomismus"
in der theoretischen Nationalökonomie.

Wir möchten noch einer insbesondere unter den deutschen Volkswirten weit verbreiteten Meinung gedenken, welche in letzter Linie, gleichwie die vorhin besprochene, in der mechanischen Übertragung gewisser Gesichtspunkte der historischen Forschung in die theoretische Volkswirtschaftslehre und in der einseitigen Auffassung der Aufgabe dieser letzteren wurzelt und deshalb an dieser Stelle ihre Erledigung finden mag. Wir meinen den Vorwurf des  Atomismus,  welcher in der neueren nationalökonomischen Literatur Deutschlands in frivolster Weise, ja geradezu gegen Jedermann erhoben wird, welcher sich mit den eigentlichen Aufgaben der theoretischen Nationalökonomie befaßt, und darin begründet sein soll, daß die Erscheinungen der Volkswirtschaft in der Theorie in letzter Linie auf individuelle wirtschaftliche Bestrebungen, bzw. auf ihre einfachsten konstitutiven Elemente zurückgeführt und solcherart erklärt werden.

Auch die hier in Rede stehende Lehrmeinung verdankt ihren Ursprung zunächst der historischen Juristenschule, aus deren methodischen Erörterungen sie, gleich manchem anderen Teil der Methodik unserer historischen Schule von Nationalökonomen, in mechanischer Weise entlehnt wurde. "Es gibt" - sagt SAVIGNY - kein vollkommen einzelnes und abgesondertes menschliches Dasein: vielmehr, was als einzeln angesehen werden kann, ist, von einer anderen Seite betrachtet, Glied eines höheren Ganzen. So ist jeder einzelne Mensch notwendig zugleich zu denken als Glied einer Familie, eines Volkes, als die Fortsetzung und Entwicklung aller vergangenen Zeiten." SAVIGNY spricht hierauf von der höheren Natur des Volkes als eines stets werdenden, sich entwickelnden Ganzen, von welchem "höheren Volk" ja auch das gegenwärtige Zeitalter nur ein Glied ist usw. (34)

Niemand, der die bezüglichen Auslassungen der historischen Nationalökonomen Deutschlands mit den obigen vergleicht, wird die Verwandtschaft derselben verkennen, wenn auch die Konsequenzen, zu welchen die beiden hier in Rede stehenden Gelehrtenschulen aus dem obigen Grundgedanken gelangten, wesentlich verschieden sind.

Die historische Juristenschule verwertet den obigen Gedanken, um zu dem Satz zu gelangen, daß das Recht etwas über der Willkür der Einzelnen Stehendes, ja selbst von der Willkür der jeweiligen Generation eines Volkes Unabhängiges, ein "organisches" Gebilde ist, das ,weder von einzelnen Individuen, noch auch von einzelnen Generationen willkürlich gestaltet werden kann und darf, das vielmehr der Willkür der Einzelnen und ganzer Zeitalter, ja der Menschenweisheit überhaupt als ein Höheres gegenübersteht. Aus diesem Satz zog die obige Schule nun weiter ihre zum Teil höchst praktischen Konsequenzen. Sie folgerte, aß das durch die französische Revolution in ganz Europa erwachte Streben nach einer Reform der gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse eigentlich eine Verkennung des Wesens von Recht, Staat und Gesellschaft und ihres "organischen Ursprungs" bedeutet, daß die "unbewußte Weisheit", welche in den in organischer Weise entstandenen staatlichen Einrichtungen sich manifestiert, hoch über der vorwitzigen Menschenweisheit steht, daß die Vorkämpfer der Reformideen somit weniger ihrer eigenen Einsicht und Energie vertrauen, als vielmehr dem "historischen Entwicklungsprozeß" die Umgestaltung der Gesellschaft überlassen möchten und dergleichen konservative, den herrschenden Interessen höchst nützliche Grundsätze mehr.

Der Gedanke einer analogen konservativen Richtung auf dem Gebiet der Volkswirtscahft lag ziemlich nahe, und eine der historischen Juristenschule analoge historische Schule von Nationalökonomen, welche die bestehenden wirtschaftlichen Institutionen und Interessen gegen die Übertreibungen des Reformgedankens auf dem Gebiet der Volkswirtschaft, insbesondere aber auch gegen den Sozialismus vertreten hätte, würde selbst in Deutschland eine gewisse Mission erfüllt und manchem späteren Rückschlag vorgebeugt haben.

Der historischen Schule der Nationalökonomen in Deutschland lag jedoch nichtd ferner, als der Gedanke einer analogen konservativen Richtung auf dem Gebiet der Volkswirtschaft; dazu war die historische Richtung auf dem Gebiet der Volkswirtschaft; dazu war die historische Richtung der deutschen Volkswirte etwas viel zu Äußerliches, jeder tieferen Grundlage Entbehrendes. Im Gegenteil, ihre Vertreter standen in praktischer Beziehung, noch vor kurzem, fast durchweg in einer Reihe mit den liberalen Fortschrittspolitikern auf dem Gebiet der Volkswirtschaft, bis ein nicht geringer Teil derselben in jüngster Zeit sogar das seltsame Schauspiel einer  historischen  Schule von Volkswirten mit  sozialistischen  Bestrebungen bot: ein wissenschaftliches Kuriosum, dessen weitere Entwicklung mehr durch äußere Ereignisse als durch wissenschaftliche Einsichten aufgehalten wurde. Kurz, die organische Auffasseung der Volkswirtschaft blieb für unsere nationalökonomischen Historiker in der obigen Hinsicht etwas durchaus Äußerliches, eine theoretische Anschauung, aus welcher die  praktischen  Konsequenzen, etwa im Sinne der historischen Juristenschule, zu ziehen, denselben auch nicht im entferntesten beifiel. Nicht einma die für die Volkswirtschaft wirklich berechtigten praktischen Konsequenzen des obigen Gedankens sind von unseren historischen Volkswirten gezogen worden.

Die Folgerungen, welche unsere historischen Volkswirte aus der obigen Grundanschauungen vom Wesen der Volkswirtschaft (als eines orgnischen einheitlichen Ganzen) ableiteten, bezogen sich vielmehr ausschließlich auf Fragen der wissenschaftlichen Technik und charakterisieren so recht deutlich den Gesichtskreis dieser Gelehrtenschule.

Wurde die Volkswirtschaft als ein besonderes, von den Singularerscheinungen der menschlichen Wirtschaft verschiedenes Ganzes betrachtet, so lag die Konsequenz nahe, die Erscheinungen derselben als das ausschließliche Objekt der wissenschaftlichen Behandlung in der theoretischen  Volks wirtschaftslehre zu betrachten, die  Singularphänomene  der menschlichen Wirtschaft, dagegen von dieser letzteren auszuschließen. Nicht das generelle Wesen der Erscheinungen der menschlichen Wirtschaft, nicht der generelle Zusammenhang derselben überhaupt, sollten fürderhin der Gegenstand der Forschung auf dem Gebiet der theoretischen Volkswirtschaftslehre sein: nur die Erforschung der  volks wirtschaftlichen Phänomene erschien unter dem obigen Gesichtspunkt der Betrachtung als Aufgabe der theoretischen Nationalökonomie, während die Erforschung des generellen Wesens und des generellen Zusammenhangs der Singularerscheinungen der menschlichen Wirtschaft aus dem Bereich unserer Wissenschaft verbannt, als Verwechslung von  privatwirtschaftlicher  und  volkswirtschaftlicher  Betrachtsweise, ja selbst das Streben nach Zurückführung der  volkswirtschaftlichen  Phänomene auf die Singularerscheinungen der menschlichen Wirtschaft als  "Atomismus"  gekennzeichnet wurde.

Die Irrtümlichkeit dieser Lehrmeinung, deren nächste Veranlassung wohl in der Verwechslung der Gesichtspunkte historischer und theoretischer Forschung (35), deren tiefere Ursachen jedoch in der Verkennung des wahren Wesens der "Volkswirtschaft" in ihrem Verhältnis zu den Singularwirtschaften zu suchen sind, aus welchen die erstere sich zusammensetzt, liegt auf der Hand.

Das  Volk als solches, ist kein großes bedürfendes, arbeitendes, wirtschaftendes und konkurrierendes Subjekt, und was man eine  "Volkswirtschaft"  nennt, ist somit auch nicht die Wirtschaft eines Volkes im eigentlichen Verstand des Wortes. Die "Volkswirtschaft" ist keine den Singularwirtschaften im Volk, zu welchen auch die Finanzwirtschaft gehört, analoge Erscheinung, keine große Singularwirtschaft, ebensowenig aber auch ein den Singularwirtschaften im Volk Entgegengesetztes oder neben denselben Bestehendes. Sie ist in ihrer allgemeinsten Erscheinungsform eine eigentümliche, an anderer Stelle von uns näher charakterisierte Komplikation von Singularwirtschaften (36).

Die Phänomene der "Volkswirtschaft" sind somit auch keineswegs unmittelbare Lebensäußerungen eines Volkes als solchen, unmittelbare Ergebnisse eines "wirtschaftenden Volkes", sondern die  Resultante  all der unzähligen einzelwirtschaftlichen Bestrebungen im Volk, und sie vermögen demnach auch nicht unter dem Gesichtspunkt der obigen Fiktion uns zum theoretischen Verständnis gebracht zu werden. Die Phänomene der "Volkswirtschaft" müssen vielmehr, gleichwei sie sich uns in der Wirklichkeit als Resultante einzelwirtschaftlicher Bestrebungen darstellen, auch unter diesem Gesichtspunkt theoretisch interpretiert werden.

"Scire est per causas scire." [Wirkliches Wissen ist Kenntnis der Ursachen. - wp] Wer die Erscheinungen der "Volkswirtschaft", jene komplizierten Menschheitsphänomene, welche wir mit dem obigen Ausdruck zu bezeichnen gewöhnt sind, theoretisch verstehen will, muß deshalb auf ihre  wahren  Elemente, auf die  Singularwirtschaften im Volk  zurückgehen und die Gesetze erforschen suchen, nach welchen sich die ersteren aus den letzteren aufbauen. Wer aber den entgegengesetzten Weg einschlägt, verkennt das Wesen der "Volkswirtschaft", er bewegt sich auf der Grundlage einer Fiktion, er verkennt aber zugleich auch die wichtigste Aufgabe der exakten Richtung der theoretischen Forschung, die Aufgabe, die komplizierten Phänomene auf ihre  Elemente  zurückzuführen.

Der einseitige  Kollektivismus  in der Betrachtung der Wirtschaftsphänomene ist der exakten Richtung der theoretischen Forschung schlechthin inadäquat und der Vorwurf des  Atomismus  in dem vorhin erwähnten Verstand des Wortes demnach in Rücksicht auf die  exakte Nationalökonomie  ein Mißverständnis. Es trifft der obige Vorwurf diese letztere mit allen übrigen exakten Wissenschaften, und zwar  als  exakte Wissenschaft.

Aber auch im Hinblick auf die  realistische  Richtung der Forschung auf dem Gebiet der Volkswirtschaft ist er unberechtigt. Eine jede Theorie, welcher Art dieselbe auch sein mag und welchen Grad der Strenge der Erkenntnisse sie auch immer anstrebt, hat in erster Linie die Aufgabe, uns die konkreten Erscheinungen der realen Welt als Exemplifikation einer gewissen Regelmäßigkeit in der Aufeinanderfolge der Erscheinungen d. h. genetisch verstehen zu lehren. Eine jede Theorie strebt demnach vor allem danach, uns die komplizierten Erscheinungen des ihr eigentümlichen Forschungsgebietes als Ergebnis des Zusammenwirkens der Faktoren ihrer Entstehung verständlich zu machen.  Dieses genetische Element ist untrennbar von der Idee theoretischer Wissenschaften. 

Die realistische Richtung der Forschung auf dem Gebiet der Volkswirtschaft mag deshalb immerhin danach streben, die empirischen Gesetze der komplizierten Phänomene der menschlichen Wirtschaft festzustellen; der Aufgabe, diese letzteren, so weit und in jener Form, welche mit der Idee der realistischen Forschung vereinbar ist, auf ihre Faktoren, auf die Singularerscheinungen der menschlichen Wirtschaft zurückzuführen, kann sie sich jedoch keineswegs entschlagen. Einen Theoretiker deshalb zu tadeln, weil der das genetische Moment in der Theorie festhält, ist aber geradezu ein Widersinn.

Was schließlich den Vorwurf betrifft, daß durch die obige, die genetische Richtung in der Theorie unserer Wissenschaft, die "Volkswirtschaft" mit der "Privatwirtschaft" verwechselt wird, so wäre er doch nur dann begründet, wenn dieselbe jene Komplikationen der Singularerscheinungen der menschlichen Wirtschaft, welche wir die Erscheinungen der "Volkswirtschaft" nennen, nicht anerkennen und uns die Singularerscheinungen der menschlichen Wirtschaft nicht lediglich als Element der "Volkswirtschaft" betrachten lehren würde. Solange sie jedoch diese Aufgabe zu lösen sucht, kann von einer Verwechslung der Privatwirtschaft mit der Volkswirtschaft vernünftigerweise nicht die Rede sein.

All das ist übrigens so selbstverständlich, daß selbe jene Schriftsteller, welche in ihren methodischen Erörterungen die obige, das Wesen der theoretischen Wissenschaften verkennende Ansicht vortragen, in der systematischen Darstellung der nationalökonomischen Theorie doch die Zurückführung der komplizierteren volkswirtschaftlichen Phänomene auf die Singularerscheinungen der menschlichen Wirtscahft nicht gänzlich zu umgehen vermögen und somit auch in der obigen Rücksicht jener Widerspruch zwischen der Theorie und der Praxis der Forschung hervortritt, welcher für die historische Schule deutscher Nationalökonomen geradezu charakteristisch ist.
LITERATUR - Carl Menger, Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der Politischen Ökonomie insbesondere, Leipzig 1883
    Anmerkungen
    23) Vgl. meine "Grundsätze der Volkswirtschaftslehre", Bd. 1, Seite 172f
    24) KARL AUGUST DIETZEL, Die Volkswirtschaft und ihr Verhältnis zu Gesellschaft und Staat, Frankfurt am Main 1864, Seite 52
    25) KARL KNIES, Die politische Ökonomie vom Standpunkt der geschichtlichen Methode, Braunschweig 1853, Seite 29 und 109f.
    26) Als eine nicht glanz glückliche Formulierung des obigen Grundgedankens muß es bezeichnet werden, wenn SCHMOLLER (Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft*, Jena 1875, Seite 42f) verlangt, daß die Wissenschaft der Nationalökonomie neben den  "technisch-natürlichen"  auch die  "psychologischen und ethischen  Ursachen" "systematisch in ihrer Bedeutung für die Volkswirtschaft" zu erforschen habe. Zwischen den beiden obigen Gruppen von Ursachen besteht nämlich kein strenger Gegensatz. Die menschlichen Bedürfnisse und das aus ihnen resultierende Streben nach Befriedigung derselben, jedenfalls die weitaus wichtigsten Faktoren der menschlichen Wissenschaft, sind z. B. sicherlich ebenso wohl natürliche als auch psychologische Ursachen der volkswirtschaftlichen Erscheinungen, und doch rechnet sie SCHMOLLER, wie aus dem Zusammenhang seiner Darstellung hervorgeht, zu den natürlichen, oder wohl gar zu den "technisch-natürlichen" und stellt sie solcherart in einen Gegensatz zu den psychologischen und ethischen Ursachen der Volkswirtschaft. Ein Gegensatz besteht in Wahrheit zwischen der spezifisch wirtschaftlichen (der auf die Deckung ihres Güterbedarfs gerichteten) Tendenz und anderen, den nicht ökonomischen Bestrebnungen der Menschen, aus deren Zusammenwirken das reale Volksleben und in diesem die Volkswirtschaft entsteht, welche demnach in ihrer realen Erscheinung keineswegs lediglich als das Ergebnis der ersteren Tendenz betrachtet werden darf. Diese ansich höchst einfache Beobachtung wird durch die Kategorien SCHMOLLERs nicht vertieft, sondern verdunkelt.
    27) FRIEDRICH CARL von SAVIGNY, Vom Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, Seite 11
    28) SAVIGNY, a. a. O., Seite 30.
    29) Die Sache ist so klar, daß der obige, nebenbei gesagt, sehr alte Irrtum selbst einem in methodischen Dingen sonst nicht eben maßgebenden Autor wie JEAN-BAPTISTE SAY auffallen mußte [...] (Cours complet d’économie politique pratique, Bd. 1, 1852, Seite 5f).
    30) Das obige der Natur der theoretischen Forschung so vollständig widersprechende Postulat wurde tatsächlich von einigen extremen Vertretern der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie gestellt, indem dieselben, in vollständiger Verkennung des Wesens der theoretischen Forschung, bei Feststellung der (realistischen!) Gesetze der Volkswirtschaft stets das ganze Volksleben (warum nur dieses und nicht das ganze Universum, da ja auch hierin eine Abstraktion liegt?) in Betracht zu ziehen vorgeben, damit aber in letzter Konsequenz dazu gelangten,  von der theoretischen Forschung vollständig abzuirren und auf das Gebiet der Geschichtsschreibung zu gelangen. 
    31) KARL KNIES, Die Politische Ökonomie vom Standpunkt der geschichtlichen Methode, 1853, Seite 147.
    32) Vgl. SCHMOLLER, Über einige Grundfragen etc. Jena 1875, Seite 42
    33) siehe weiter oben
    34) FRIEDRICH CARL von SAVIGNY in der Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft, Bd. 1, Berlin 1815, Seite 3f.
    35) Wie sehr die obige Lehrmeinung der von den deutschen Volkswirten der historischen Schule selbst in der theoretischen Nationalökonomie mit Vorliebe festgehaltenen spezifisch-historischen Betrachtungsweise entsprach, bedarf nach dem im vorhergehenden Abschnitt Gesagten kaum einer weiteren Bemerkung. Die Geschichte erfaßt die Menschheitserscheinungen durchweg unter dem Gesichtspunkt der  Kollektivbetrachtung,  da sie nur in dieser Weise, nicht aber durch eine Zurückführung der Sozialerscheinungen auf die Singularphänomene des Menschenlebens, ihrer spezifischen Aufgabe in universeller Weise zu genügen vermag. Den vorwiegend historisch gebildeten deutschen Volkswirten der geschichtlichen Richtung lag somit der Gedanke nahe, den gewohnten historischen Gesichtspunkt der Betrachtung auch in die theoretische Forschung zu übertragen. Auch die obige Meinung stellt sich uns solcherart als eine besondere Form jenes universelleren methodischen Irrtums der historischen Schule der deutschen Nationalökonomen dar, als eine jener mechanischen Übertragungen spezifisch historischer Gesichtspunkte in die theoretische Forschung, deren wir schon mehrfach gedacht haben und die zu bekämpfen eine der Hauptaufgaben dieser Schrift ist.
    36) Siehe Anhang I.