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RUDOLF STAMMLER
Wesen des Rechts
und der Rechtswissenschaft

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"Da jedoch die Kategorie der Wechselwirkung nur eine Methode der Naturbetrachtung von einzeln angesehenen Menschen ist, so wird der Begriff der Gesellschaft, als eine neue und eigenartige Einheit, durch diese flüchtig ausgesprochene Parallele nicht logisch bestimmt. Zwar ist es gewiß, daß Menschen, die sozial verbunden sind, auch in ihrer natürlichen Wechselwirkung aufeinander betrachtet werden können, allein alsdann sind eben die Einzelnen zum Gegenstand der Untersuchung genommen und nicht die Gesellschaft als solche, deren begriffliche Eigenart in anderer Erwägung festgestellt sein will."

"Die Frage ist: Ist es möglich, eine Sozialwissenschaft als eigenen Zweig des einheitlichen Oberbegriffs Wissenschaft aufzustellen, oder gibt es von diesem letzteren begründetermaßen nur eine einzige Art, die Naturwissenschaft?"

"Sonach ist die Materie des sozialen Lebens das auf Bedürfnisbefriedigung gerichtete Zusammenwirken der gesellschaftlich verbundenen Menschen. Dabei bezieht sich die soziale Regelung unbedingt auf jede Möglichkeit des Zusammenwirkens und keineswegs bloß auf dasjenige, das etwa auf materielle oder niedrige Bedürfnisse gerichtet ist. Denn eine derartige Grenzziehung könnte immer nur unsicher und willkürlich vorgenommen werden."


C. Begriff und Geltung des Rechts

1. Recht und Sitte. Es ist nun das im Vorhergehenden genau umschriebene Gebiet des sozialen Wollens, in dem sich der Begriff des Rechts zeigt. Denn dieser Begriff ist als eine Regelung des Zusammenwirkens gemeint. Er stellt sich folglich als ein Wollen dar, das auf der Verfolgung gemeinsamer Zwecke durch die dadurch verbundenen Menschen gerichtet ist. Innerhalb dieser einen Art des Wollens, der sozialen, scheidet sich wiederum das Wollen des Rechts von dem der Sitte.

Diese Gegenüberstellung wird als solche überall in verständlicher Art empfunden. Doch erst in der neueren Zeit sind energische Versucht zu verzeichnen, den Unterschied in seiner begrifflichen Schärfe klarzulegen. Dabei wird es nicht genügen, über das genetische Verhältnis beider Regelarten gewisse allgemeinere Erfahrungen aufzustellen. Man hat gemeint, daß die soziale Regelung zeitlich mit der Sitte beginnt und dann festgelegte Bräuche und Gewohnheiten allmählich in rechtliche Sätze übergegangen sind; und es findet sich der Vergleich, daß die Sitte die "Knorpeln" in der Organisation der menschlichen Gesellschaft darstellte, die nach und nach in die "Knochen" des Rechts übergegangen sind. Aber solche Verallgemeinerungen einzelner sozialer Ereignisse sind nur von komparativer Gültigkeit. Es läßt sich niemals voraussehen, ob nicht eine entgegenstehende Beobachtung für Vergangenheit oder Zukunft gemacht werden muß. Und es setzt jene genetisch Art der Schilderung die systematische Trennung der beiden Begriffe immer schon voraus: Wenn man den formalen Begriff von Sitte und von Recht nicht besäße, so würde ja auch niemals mit Grund gesagt werden können, daß "etwas" früher mit dem einen und später mit dem anderen Begriff zu bestimmen ist. Und falls sich in der Literatur Sätze finden, wie "Sitte wird allmählich zum Recht und Recht zur Sitte", "das Recht verändert die Sitten" u. a. m., so wird ein begrifflicher Unterschied vorausgenommen und logisch durchgeführt; so daß es doch auch möglich sein muß, die wesentlichen Merkmale einer solchen Scheidung allgemeingültig festzustellen.

Nun geht es aber auch nicht an, den gedachten begrifflichen Unterschied von Recht und Sitte überhaupt durch eine Zerteilung des Inhalts von gewissen sozialen Regelungen wiederzugeben. Denn dieser besondere Inhalt unterliegt einem unaufhörlichen und unvermeidlichen Wechsel: Nur der Gegensatz der formalen Bedingungen in der Einteilung von Recht und Sitte bleibt stetig und unveränderlich, die besonderen Bestimmungen des geschichtlichen Stoffes nach jenen festen bedingenden Merkmalen sind niemals unbedingt abgeschlossen. Die Kleiderordnungen, die Gesetze über die Art von Festlichkeiten bei Hochzeiten, Kindtaufen, ja sogar die Formen der Verlöbnisse wurden in früheren Zeiten häufig als rechtliche Satzungen aufgestellt, während sie heute zumeist der Sitte überlassen sind; und wir besitzen umgekehrt im Verkehr der Gegenwart, beispielsweise im neuzeitlichen Völkerrecht, manche Rechtssätze, deren Inhalt man in alten Tagen nur als konventionelle Gebräuche, deren Inhalt man in alten Tagen nur als konventielle Gebräuche ohne juristischen Charakter gelten ließ. Das Grüßen auf der Straße geschieht bei uns gewöhnlich nur nach Brauch und Sitte, aber es kann etwa im Beamten- und Militärverhältnis mit rechtlichen Folgen ausgestattet sein. Die Frage der Sonntagsruhe oder die Beobachtung ritualer Vorschriften mag bald mit erheblicher rechtlicher Bedeutung auftreten, bald ohne sie zu bemerken sein.

Ein Versuch einer abstrakten Zerteilung der genannten Begriffe würde darin gelegen sein: daß das Recht von einem "Staat" ausgeht, während die Sitte von der "Gesellschaft" ohne "Organisation" geschaffen wird. Allein dem steht entgegen, daß der Begriff des Staates selbst nur eine bestimmte "rechtliche" Verbindung besagt und darum dem Begriff des Rechts logisch untergeordnet ist. Auch heißt "organisieren" weiter nichts, als unter Regeln vereinigen, so daß wir hierin ein dem sozialen Wollen gemeinsames und kein seine beiden jetzigen Arten unterscheidendes Merkmal haben.

Das allgemeingültige Merkmal, nach dem Recht und Sitte formal sich scheiden, kann nur im Sinne des Geltungsanspruchs beider Regelarten gelegen sein. Das Recht will formal als selbstherrliches Wollen gelten. Es erhebt den Anspruch, unabhängig von der Zustimmung der Rechtsunterworfenen über diesen zu stehen. Es bestimmt selbst, wer ihm unterworfen ist, wann jemand in den Verband eintritt oder aus diesem zu entlassen ist. Die Sitte besteht dagegen im formalen Sinn einer bedingungsweisen Einladung, sie gilt ihrem eigenen Sinn nach nur hypothetisch, bloß zufolge der Einwilligung der Unterstellten, sei es auch einer stillschweigend gegebenen. Vielleicht übt sie allerdings im besonderen Tatbestand einen so starken Druck aus, daß der Angeredete sich dem kaum entziehen kann; und es kann ein solcher konventionaler Zwang sogar zu einem Widerstreit mit einem Gebot des Rechts führen, z. B. in Fragen der Herausforderung zum Zweikampf. An dieser Stelle handelt es sich aber nicht um eine beschreibende Schilderung wirklicher Vorgänge und der vergleichsweisen Abschätzung tatsächlicher Einflüsse auf diesen oder jenen Menschen, sondern um das logische Kriterium, nach dem es möglich ist, zwischen Recht und Sitte einen allgemein gültigen formalen Unterschied festzustellen und den zwischen diesen beiden Klassen sozialer Regelung seit langem mehr dunkel empfundenen, wie deutlich eingesehenen Gegensatz in wissenschaftlicher Klarheit zu beherrschen.

Dabei haben wir uns bis hierher an die vielfach gebräuchliche Sprechweise gehalten, die dem Recht als andere soziale Regelung die Sitte gegenüberstellt. Ganz genau ist dieser Sprachgebrauch aber nicht. Denn er trifft nur solche hypothetisch einladende, soziale Regeln, die als Art der Entstehung das allmählich Wachsende, Gewohnheitsmäßige haben. Diese Art der Entstehung ist aber in keiner Weise von maßgeblicher Bedeutung. Sie kann auch bei rechtlichen Sätzen auftreten und dort als Gewohnheitsrecht dem Gesetzesrecht im engeren Sinne gegenübertreten. Und es ist umgekehrt möglich, daß nur bedingt einladende Aufforderungen des gesellschaftlichen Lebens nach der Weise einer staatlichen Gesetzgebung entstehen, sich verändern, aufgehoben werden, beispielsweise in einem Komment [studentischer Brauch - wp], der Etikette, den Satzungen der Satisfaktion in geschlossenen Kreisen. Ja, es vermag endlich sogar zu geschehen, daß ein derartiges soziales Wollen in einer konkreten Sachlage durch die Beredung einzelner weniger Beteiligter auftritt; so bei Abmachungen, die ihrem eigenen Sinn nach im gesellschaftlichen Leben keinen rechtlich bindenden Charakter tragen sollen, z. B. das Versprechen, auf einer Reise jemanden zu besuchen, die Abrede, ein bestimmtes Buch zu lesen und dgl. - Ich nenne alle hierher gehörigen Sätze, denen der selbstherrlich bindende Charakter fehlt, Konventionalregeln. Gemeinsam ist ihnen allen, daß man genau genommen von "Pflichten" bei ihnen gar nicht sprechen kann. Ein jeder ist nur so lange an ihre Anweisung gebunden, als er will, und nur in übertragener Bedeutung kann daher von einer konventionalen Gemeinschaft, als einem ganz verblaßten Abbild der rechtlichen Verbände die Rede sein. Immer aber muß festgehalten werden, daß man auch beim Begriff der Konventionalregel nicht vom Standpunkt des einzelnen ausgehen darf, der der Regel unterstellt werden soll, sondern von einem Bestand des sozialen Wollens aus, das verbindend über den Individuen gedacht ist. Es ist der Sinn dieser sozialen Regeln als solcher, der zu ihrer Unterscheidung in selbstherrlich gebietende und in bedingt einladende führt, es ist die formale Art der Anrede seitens bestimmten sozialen Wollens, die Recht und Sitte trennt.

2. Recht und Willkür. Die Bestimmung des rechtlichen als eines selbstherrlichen sozialen Wollens bietet noch nicht die letzte mögliche Zergliederung, in welcher der Begriff des Rechts zu finden ist. Denn es zeigt sich bei näherem Zusehen, daß gerade innerhalb der autokratischen Anordnungen ein weiterer Unterschied auftritt, der mit der Gegenüberstellung von rechtlicher und von willkürlicher Gewalt sich kennzeichnet. Diese Gegenüberstellung ist in allen Epochen der Menschengeschichte lebhaft und stark empfunden worden. Sein Wehe! ruft der Prophet Jesaias (Jes. 10) über die Schriftgelehrten, die "unrechte" Gesetze machen, und die unrecht Urteil schreiben, auf daß sie die Sache der Armen beugen und Gewalt üben am Recht der Elenden des Volkes; eine bessere Zeit weissagt er (Jes. 32), da in Zukunft ein König gerecht herrschen wird, und Beamte dem Recht gemäß walten werden. Und in gleicher Weise ertönt es aus dem germanischen Norden, in der Fritjof-Sage: "Wenn Macht im Ding entscheidet, wird Unheil kommen, doch Recht bringt Ruhm dem König, dem Lande Frommen."

Wieder ist es aber erst die neuere Zeit, die es unternommen hat, die längst gefühlte Gegensätzlichkeit in scharfen Begriffen sich näher zu bringen und sie klar einzusehen.

Freilich könnte es auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, wie hier überhaupt ein Zweifel möglich ist. Man möchte vielleicht meinen, daß es einfach darauf ankäme, das bestehende Recht zu beobachten und Recht und Willkür so zu scheiden, daß ersteres das selbstherrliche, soziale Wollen bedeutet, das in einer Gemäßheit des seitherigen Rechts erstanden ist, während die willkürliche Gewalt im Gegensatz zu einem geltenden Rechtsgebot ihre Herkunft hat. Allein es ist zu beachten, daß neues "Recht" sehr wohl entstehen kann und häufig entstanden ist, ohne deaß es sich auf die Ermächtigung eines bis dahin geltenden Rechts zu berufen vermag; und es ist nicht zu bezweifeln, daß durch einen Staatsstreich oder eine Revolution und anderem willkürlichen Rechtsbruch doch oft ein rechtlicher Zustand geschaffen worden ist. Sieht man jedoch davon ab, so kann der begriffliche Unterschied zwischen Recht und Willkür nicht durch einen Verweis auf das in der Geschichte seither schon bestehende "Recht" bestimmt werden. Denn woher weiß man, daß diese seitherigen Normen gerade dem Begriff der rechtlichen entsprechen? Einmal muß für die wissenschaftliche Betrachtung logisch ein Anfang gemacht werden, an irgendeinem Punkt der Geschichte muß die formale Zerteilung der rechtlichen und der willkürlichen Gewalt klar geschieden auftreten.

Dabei kommt es auf eine radikale Trennung beider Gebiete an, nicht bloß auf eine Unterabteilung innerhalb der rechtlichen Normen. Wir gebrauchen das Wort "Willkür" allerdings wohl auch für einen inhaltlich schlechten Rechtszustand, und es hat sich besonders JHERING bemüht, danach Recht und Willkür einander gegenüberzustellen. Für ihn ist Willkür eine gesetzliche Bestimmung, bei welcher der Gesetzgeber sich mit den allgemeinen Prinzipien des Rechts in Widerspruch gesetzt hat. Dem gegenüber besteht jedoch zunächst die Aufgabe, den Begriff des Rechts einerseits und der Willkür andererseits in ihrer formalen Eigenart zu bestimmen. Nach der materialen Übereinstimmung mit den allgemeinen Prinzipien des Rechts kann die Abgrenzung nicht geschehen, denn es ist ja auch möglich, daß im besonderen Fall gerade der Inhalt des geltenden Rechts diesen Prinzipien entgegengesetzt war, und umgekehrt der es brechende Akt mit ihnen übereinstimmt; und es würde danach auch unerklärt bleiben, wie es begreiflich ist, daß ein willkürlicher Rechtsbruch selbst wieder zu einem rechtlichen Zustand führen kann, auch in Fällen, in denen das also neu Geordnete mit den allgemeinen Prinzipien des Rechts vielleicht gar nicht in Harmonie steht.

Fragt man nun nach einem formalen Merkmal des Rechts als solchem, so kann das der Willkür gegenüber lediglich durch den Unterschied des nur subjektiv oder des objektiv Verbindenen gegeben werden. Willkürliche Anordnung würde in Machtbefehlen vorliegen, die formal von bloß subjektiver Bedeutung sind, bloß als Ausbruch nur persönlicher Laune der Regel Setzenden erachtet werden können; die in einem Gebot gegeben ist, das der Befehlende selbst gar nicht (dem formalen Sinn nach) als objektiv bindende Regelung menschlicher Beziehungen erachtet, das vielmehr (seiner eigenen Meinung nach) nur die formale Bedeutung einer Befriedigung subjektiver Gelüste und Strebungen des Gewalthabers durch ledigliche Bindung anderer hat; auf das er zurückkommen wird, si voluerit [so du willst - wp]. Rechtliche Regelung wird dagegen dann gegeben sein, wenn der Anordnende an die von ihm gesetzte Regel selbst auch gebunden sein will; es müssen beide an dieses Wollen verpflichtet gebunden sein, und solange es für den einen Unterstellten besteht, soll es auch für den bestehen, der es gesetzt hat, sei es auch für den letzteren nur dahin, daß er die gesetzte Norm auch getreulich handhabt, und daß er, wenn er nicht mehr gebunden sein will, es erst bewirken muß, daß jene Satzung, die rechtliche, wieder aufgehoben ist.

Aus dieser möglichen Unterscheidung, die nach formalem, allgemein gültigem Merkmal getroffen ist, läßt sich für das Wesen des Rechts alsbald zweierlei bedeutsam folgern.

Einmal wird dadurch erklärt, wie es möglich ist, daß eine "originäre" Rechtsentstehung stattfinden kann. Schon vorhin wurde darauf hingewiesen, wie es im Laufe der Geschichte unzähligemale vorgekommen ist, daß sich neues Recht gebidet hat, ohne daß es sich dabei auf eine Ermächtigung des seitherigen Rechts stützen konnte, vielfach sogar in unmittelbarem Gegensatz zur bestehenden Rechtsordnung. Oft genug ist das in einem wilden Rechtsbruch mit kriegerischer Gewalt oder Empörung geschehen; zuweilen mit der Niederlegung einer Krone und dem Verzicht auf seitherige Souveränität, wie dies dann auch in friedlichen Beredungen geschehen kann, etwa in den Abmachungen, die den Norddeutschen Bund und dann das Deutsche Reich begründeten, und die nicht einfach die Ausführung der bestehenden Verfassungen darstellten, sondern selbst erst eine neue Zentralgewalt erschufen. Und es kann zitiert werden, wie sich vielleicht einmal auch ein Gewohnheitsrecht neu bilden mag, obgleich es vom bestehenden Recht zurückgewiesen wird, also auf dem Weg des Rechtsbruchs. - Die Erklärung einer solchen ursprünglichen Entstehung von Recht hat Schwierigkeiten bereitet. SAVIGNY meint, daß derartige "Anomalien" erst eine Verarbeitung und Überwindung "durch die sittliche Kraft und Gesundheit des Volkes" erfahren müßten, sonst werde ein "krankhafter Zustand" daraus, während sie nach jenem ersten in den Rechtszustand, als "neuer, rechtmäßiger Bestandteil übergehen"; - da aber ein "krankhaftes" Recht doch auch schon ein "Recht" ist, so liegt letzteres bereits vor, sobald neues soziales Wollen dem formalen Begriff des Rechts entspricht. BINDING gibt bei der Besprechung der Gründung des Norddeutschen Bundes die Erklärung, daß darum dort originär "Recht" entstehen konnte, weil das Volk und die Regierungen die Verfassung des Bundes in der Absicht vereinbarten, von einem bestimmten Tag an sich gemeinsam unter das Gesetz ihres gemeinsamen Willens zu stellen; - eine Auskunft, die aber doch offenbar eine allgemeingültige Möglichkeit, neues Recht zu ergründen, bereits voraussetzt und nur als die Einzelanwendung eines abstrakten Gesetzes über eine mögliche Rechtsentstehung überhaupt aufzutreten vermag. - Darum kann eine erschöpfende Erklärung nur durch ein Zurückgehen auf die Frage geliefert werden: Woran erkennt man überhaupt, ob etwas "Recht" ist? Indem darauf mit dem soeben entwickelten formalen Merkmal geantwortet wird, so ergibt sich auch die Lösung, daß in originärer Weise, vielleicht durch einen unmittelbaren Rechtsbruch, deshalb neues Recht entstehen kann, weil und soweit die neu gesetzte Regelung jenes formale Kriterium in sich trägt. Jene außerhalb des seitherigen Rechts entstandenen Normen stellen dann neues Recht dar, sobald sie im Sinne eigener Unverletzbarkeit das seitherige Recht beseitigen, sei es auch derartig, daß sie die bis dahin geltende Rechtsquelle auf dem Weg brutaler Gewalt gegen diese wegschaffen.

Zum anderen folgt aus dem Gesagten, daß eine Unverletztbarkeit des Rechts bloß in begrenzter Weise behauptet werden kann. Sie ist nur vorhanden während des Geltens der fraglichen Rechtsregel. Dagegen kann diese letztere jederzeit abgeändert werden, sei es auf verfassungsmäßigem Weg oder auch durch eine ursprüngliche Rechtssetzung. Nur dem willkürlichen Brechen im einzelnen Fall widerstrebt die Unverletzbarkeit, - dahin also, daß dieses Recht als solches bestehen bleibt und doch während seines Geltens nicht verwirklicht, sondern gebeugt und gebrochen wird: gegen das Abschaffen des vorhandenen Rechts und sein Ersetzen durch neues Recht, gleichviel in welchem Prozeß das vor sich geht, gewährt die Eigenschaft einer Regel als einer "rechtlichen" keine Sicherheit. Eine unbedingte Heiligkeit und absolute Unabänderlichkeit kommt auch keineswegs der "Verfassung" eines Gemeinwesens zu. Auch wenn diese, wie die unseres Reiches, sich als eine "ewige" bezeichnet, so kann die Möglichkeit ihrer Abänderung und Ersetzung durch neues Recht - bestimmt nach dem formalen Begriff des Rechts überhaupt - ja niemals ausgeschlossen werden.

Mit diesen Erwägungen ist die logische Analyse des Rechtsbegriffs abgeschlossen. Die formalen Bedingungen, unter denen dieser besteht, führen in das Reich der Zwecke, danach auf das Gebiet des sozialen Wollens, um darin in der Unterscheidung von konventionaler Aufforderung einerseits und willkürlicher Anordnung andererseits festgelegt zu werden. Wir erhalten sonach als Begriffsbestimmung diese: "Recht" ist die unverletzbare selbstherrliche Regelung des sozialen Lebens der Menschen.

3. Recht und Wirtschaft Wie ist nun das Verhältnis der rechtlichen Regelung zum sozialen Leben der Menschen näher zu denken? Wie verhält sich, kurz ausgedrückt, das Recht zur sozialen Wirtschaft?

Eine Beantwortung dieser Fragen setzt voraus, daß der Begriff des sozialen Lebens oder der menschlichen Gesellschaft zuvor klargestellt ist. Man hat dies in der modernen Soziologie, die von COMTE aufgebracht und namentlich von SPENCER ausgeführt ist, durch eine Bezugnahme auf naturwissenschaftliche Art zu erledigen gesucht. Es gebe "soziale Aggregate" als "Organismen", sobald nämlich eine Beisammensein von etwas längerer Dauer und einer gewissen Beständigkeit vorliegt. Allein das bringt die eigene Art der sozialen Verbindung in keiner Weise zu klarem und methodisch gesichertem Besitz. Andere suchen einen Halt am Sprachgebrauch, indem sie besonder die Bedeutungen des Wortes "Gesellschaft" suchen, während dies doch immer nur eine Anleitung zu weiterem sachlichen Untersuchen sein kann. Neuestens hat SIMMEL gemeint, Gesellschaft liegt überall vor, wo mehrere Individuen in "Wechselwirkung" treten. Da jedoch die Kategorie der Wechselwirkung nur eine Methode der Naturbetrachtung von einzeln angesehenen Menschen ist, so wird der Begriff der "Gesellschaft", als eine neue und eigenartige Einheit, durch diese flüchtig ausgesprochene Parallele nicht logisch bestimmt. Zwar ist es gewiß, daß Menschen, die sozial verbunden sind, auch in ihrer natürlichen Wechselwirkung aufeinander betrachtet werden können, allein alsdann sind eben die Einzelnen zum Gegenstand der Untersuchung genommen und nicht die "Gesellschaft" als solche, deren begriffliche Eigenart in anderer Erwägung festgestellt sein will.

Die Frage ist: Welches ist das feste Merkmal, durch das der Begriff des sozialen Lebens der Menschen als eigener Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung begreiflich wird? - Dies ist das Moment der von Menschen aufgestellten Regeln. Soziales Leben ist äußerlich geregeltes Zusammenwirken von Menschen. Der Beweis liegt darin, daß in dem klarzustellenden Begriff des gesellschaftlichen Lebens einmal verbundene Menschen vorgestellt werden, andererseits dieses in Unterscheidung einer bloß natürlichen Verbindung gesucht wird. Man kann die Frage auch so stellen: Ist es möglich, eine Sozialwissenschaft als eigenen Zweig des einheitlichen Oberbegriffs "Wissenschaft" aufzustellen, oder gibt es von diesem letzteren begründetermaßen nur eine einzige Art, die Naturwissenschaft?

Nun bedeutet Wissenschaft einen jeden Inhalt des Bewußtseins, der in unbedingt einheitlicher Art geordnet und bestimmt ist (siehe B1 ). Es wird also dann eine eigene soziale Wissenschaft möglich sein, wenn sich ergibt, daß die Betrachtung des gesellschaftlichen Daseins der Menschen unter einer eigenen unbedingten Einheit erscheint, die von der einheitlichen Erfassung der Wahrnehmung natürlicher Erscheinungen grundlegend getrennt ist. Diese prinzipiell eigene Einheit ist die des Zwecks, und zwar die der Gemeinschaft von Zwecken. Der Begriff der sozial verbundenen Menschen konstituiert sich folglich im Gedanken der gemeinsamen Zweckverfolgung, die unter der logischen Bedingung der äußerlich geregelten Art des Zusammenwirkens notwendig zu nehmen ist. Der Gedanke von der äußeren Regelung ist folglich die Form im Begriff "Gesellschaft". Wenn man überlegt, in welcher einheitlichen Richtung der Gedanken das gemeinsame Leben und Wirken von Menschen als Gegenstand einer eigenen, dadurch möglichen Wissenschaft vom sozialen Dasein bestehen kann, so ergibt sich die Antwort: sofern man das Zusammenwirken von Menschen als ein äußerlich geregeltes einsieht.

Nun haben wir im Früheren drei verschiedene Arten äußerer Regelung kennen gelernt und das soziale Wollen in das konventionale, rechtliche und willkürliche zerteilt. Demnächst (C5) wird sich zeigen lassen, daß beim Problem der Begründung des Rechtszwangs die rechtliche Art der sozialen Regelung an und für sich den grundsätzlichen Vorzug verdient. Es sei darum gestattet, schon jetzt als Form der Gesellschaft das Recht repräsentativ hier zu nennen. Ihm ist nun die Wirtschaft als die soziale Materie gegenüberzustellen.

Als solcher Stoff des gesellschaftlichen Lebens dürfen nicht die uns umgebende Natur und die natürlichen Lebensbedingungen des Menschen gelten. Denn Naturgesetze können durch menschlichen Eingriff überhaupt nicht beeinflußt werden; und ihre Benutzung für besondere Zwecke ist Sache der Technologie, die an und für sich mit dem sozialen Leben noch nichts zu tun hat, sondern ebensogut auch für einen gänzlich isoliert gedachten Menschen Geltung hätte. Da vielmehr das gesellschaftliche Dasein in der vereinten Tätigkeit zusammenlebender Menschen seine Äußerung findet, so kann die es begrifflich begründende äußere Regelung sich nur an die zusammenwirkenden Menschen wenden. Sonach ist die Materie des sozialen Lebens das auf Bedürfnisbefriedigung gerichtete Zusammenwirken der gesellschaftlich verbundenen Menschen.

Dabei bezieht sich die soziale Regelung unbedingt auf jede Möglichkeit des Zusammenwirkens und keineswegs bloß auf dasjenige, das etwa auf materielle oder "niedrige" Bedürfnisse gerichtet ist. Denn eine derartige Grenzziehung könnte immer nur unsicher und willkürlich vorgenommen werden und muß in jedem Fall für den Begriff der sozialen Wirtschaft gleichgültig sein. Die Arbeiterfrage ist ganz in gleicher Weise für die soziale Betrachtung gegeben, gleichviel ob es sich um die Beschaffung von Lebensmitteln oder um die Herstellung von Gotteshäusern oder von Tempeln der Kunst und Wissenschaft handelt; und eine Leinwandfabrik, welche Kartoffelsäcke herstellt, steht einem Unternehmen, das Leinwand für Ölbilder bereitet, sozialwirtschaftlich ganz gleich.

Auch läßt sich zwischen "wirtschaftlicher" und "politischer" Tätigkeit nur ein relativer und ineinander fließender Unterschied machen, je nachdem man entweder in einer relativ unmittelbaren Weise bei der Beschaffung der Güter sich beteiligt oder mit der Bewahrung und Betätigung und Besserung der gerade die Gesellschaft ermöglichenden Rechtsnormen befaßt ist.

Wenn sonach die Sozialwirtschaft das Zusammenwirken von Menschen in seiner Gesamtheit erfaßt und nichts darin Mögliches ausläßt - gleichviel, ob für diesen einheitlichen sachlichen Gedanken jedem der hier nächstliegende Ausdruck "Sozialwirtschaft" paßt -, so darf auf der anderen Seite sie nicht etwa als eine Unterart eines übergeordneten Begriffs "Wirtschaft" genommen werden. Der letztere würde dann wohl allgemein: "Tätigkeit zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse" heißen wollen. Aber bei einem sozialen Zusammenwirken handelt es sich um das Verfolgen gemeinsamer Zwecke nach äußeren Regeln; und diese Betrachtung steht unter eigenen Erkenntnisbedingungen und bewegt sich in einer eigenen methodischen Richtung der Gedanken, die von jener eben allgemein gezeichneten technologischen Erwägung grundlegend sich scheidet.

Stellen wir danach das Verhältnis von Recht und Wirtschaft fest, so ergibt sich,, daß es das von Form und Stoff des sozialen Lebens ist. Bei jeder besonderen Anwendung des Begriffs "sozial" sind jene beiden in Wirklichkeit stets verbunden uns gegeben. Es gibt keine soziale Regelung, die nicht ein gewisses zusammenstimmendes Verhalten der Unterstellten zum Inhalt ihrer Anordnung nehmen würde; und es ist selbstverständlich, daß ein Zusammenwirken ohne irgendeine Verständigung und gemeinsame Zielsetzung ein blinder Gedanke wäre. Wohl aber ist es möglich, in kritischer Zergliederung des zusammengesetzten Begriffs der Gesellschaft die beiden Elemente, die hier angeführt worden sind - die Verbindung als solche, das Setzen gemeinsamer Zwecke durch äußere Regeln einerseits und die zusammenstimmende Tätigkeit der Verbundenen andererseits -, als die bedingende Form und die dadurch bedingte Materie des sozialen Lebens zu unterscheiden.

Die Abhängigkeit der sozialen Wirtschaft von der rechtlichen Regelung ist also nur eine logische, und nicht etwa eine zeitliche oder gar kausale. Man darf nicht meinen, daß mit der vorhin gegebenen Erörterung die äußere Regelung als ein zeitlich früher entstandenes Ding gemeint ist, auf das die soziale Materie zeitlich später in die Erfahrung eintritt; oder gar: daß das Recht zuerst da ist und nun die Sozialwirtschaft verursacht, wie der Blitz den Donner. Das würde ein starkes Mißverständnis sein, das sich nur aus einer elementaren Verwechslung "des logischen Prius" mit "dem zeitlichen und dem kausalen Prius" herleiten könnte.

In Wahrheit stehen sich Recht und Wirtschaft nicht als zwei selbständige Gegenstände, nach Art von Erscheinungen im Raum, gegenüber, sondern bedeuten zwei notwendig verbundene Elemente ein und desselben Gegenstandes. - Das Recht ist nicht ein für sich bestehendes Ding, da jeder seiner Sätze unvermeidlich schon auf eine bestimmte Art des Zusammenwirkens abzielt und bei gänzlichem Streichen dieses letzteren überhaupt sinn- und inhaltlos werden würde; und man darf darum das Recht in seiner formalen Funktion nicht wie ein Gefäß auffassen, in das ein wirtschaftlicher Stoff hinterher eingefüllt wird, sondern als logisch bedingendes Element im Gedanken des sozialen Lebens. Andererseits ist die Sozialwirtschaft kein selbständig und besonders existierendes Ding, auf das die rechtliche Regelung nun zeitlich später einzuwirken hätte; vielmehr heißt soziale Erwägung des Zusammenwirkens eine solche, die es vom maßgeblichen Gesichtspunkt als eines äußerlich geregelten ins Auge faßt, so daß weder die Kategorie der Verursachung, noch auch die gelegentlich versuchte Bestimmung der Wechselwirkung hier in Frage zu kommen vermag.

Führt man dagegen den Gedanken, daß Rechtsordnung und Sozialwirtschaft als bedingende Form und bestimmbarer Stoff in logischer Beziehung zu nehmen sind, weiter, so ergeben sich alsbald zwei Ausblicke von methodischer Bedeutung.

Es ist überall möglich, die bedingende Form von Bewußtseinsinhalten selbständig für sich zu behandeln. So kann auch vom Recht eine eigene wissenschaftliche Betrachtung stattfinden, wobei auf seine besondere Ausführung in einer bestimmten Gesellschaft es gar nicht ankommt. Dagegen ist die soziale Wirtschaft nur unter der Bedingung einer bestimmten rechtlichen Ordnung zu erwägen möglich, und eine eigene Gesetzmäßigkeit der sozialwirtschaftlichen Betrachtung für sich gibt es nicht.

Da schließlich die Abhängigkeit der Sozialwirtschaft vom Recht nur eine logische ist, also daß jeder Begriff und Lehrsatz der ersteren durch eine soziale Regelung logisch bedingt ist, und es keine selbständigen sozialökonomischen "Gesetze" gibt, so ist doch sehr wohl möglich, daß die besondere Ausbildung eines bestimmten Zusammenwirkens unter rechtlichen Regeln auf eine Umgestaltung dieser letzteren von maßgeblichem Einfluß ist. Nur ist es nicht "die Wirtschaft", als ein angeblich eigener Organismus, der von "dem Recht" unabhängig besteht, sondern es ist eben das rechtlich geordnete soziale Leben selbst, dem gewisse Einflüsse auf Abänderung der es bedingenden Form entstammen. Das führt alsbald in den Zusammenhang des nun folgenden Themas.

4. Die Entstehung des Rechts. Diese Frage kann elementar in einem doppelten Sinn verstanden werden: Wie seinerzeit zum erstenmal das Recht geschaffen und in diese Welt hineingebracht worden sein mag, - und sodann: In welcher allgemeinen Art und Weise die Veränderungen des Rechts im Laufe der Geschichte zusammengefaßt werden können?

Über jenes sind mannigfache Hypothesen aufgestellt worden. Bald meint man in der Familie, als dauernder Verbindung von Mann und Weib, das zeitlich erste Recht zu sehen, bald auch in einem instinktmäßigen Zusammenschluß von Urmenschen, als geselliger Tiere; mancher sieht den Stifter der rechtlichen Ordnung in einem "glücklichen Krieger" und bestimmt diesen wohl näher als den Sieger, der den niedergeworfenen Feind nicht tötete, sondern zu einem Sklaven erkor; während andere eine andere Überlieferung auf göttliche Fügung und Anordnung verweist. Dabei muß diese Frage, wenn sie klar sein soll, radikal genommen werden: sie darf nicht auf inhaltlich unentwickelte "rechtliche" Zustände vermischend übertragen werden. Wenn man das Stadium der "Barbarei" untersucht hat, die der angeblich rechtlosen "Wildheit" gefolgt und der "Zivilisation" vorangeschritten ist, so ist in jener der Bestand einer rechtlichen Regelung schon vorausgesetzt. Der Streit um das Mutterrecht, um exogame und endogame Stämme, über die Gentilverfassung der Vorzeit und anderes mehr betrifft schon sozial geregelte Verhältnisse.

In der Tat sind nun alle Hypothesen über das gemeinte erste Auftreten des Rechts überhaupt unsicher und nicht zu beweisen. Kein Rückschluß aus dem Leben nachmaliger Geschlechter leitet zu einem rohen Einzeldasein von Menschen hinüber; noch auch hat es glücken wollen, in erkennbaren Zeiten menschliches Leben außerhalb eines sozialen Bestehens zu entdecken.

Aber auch wenn dem anders wäre, so würde es doch für die Aufgabe vom Wesen des Rechts gleichgültig sein. Diese will in systematischer Bestimmung auf die einheitlichen, bleibenden Bedingungen seiner Begreifbarkeit aufgenommen und durchgeführt sein. Sie hat unbedingt den logischen Vorrang vor jeder genetischen Erörterung. Es gibt nur Entstehung und Geschichte von Etwas; und selbst im Begriff des "Keims" ist notwendig schon der Gedanke des Gegenstandes enthalten, zu dem es eben der "Keim" ist. Und so ist vor allem Sinn und Bedeutung eines Grundbegriffs - hier: des Rechts - sachlich unabhängig gegenüber den veränderlichen Einzeldaten zu bestimmen, in denen er eine besondere Anwendung gefunden hat, selbst wenn dies als die zeitlich erste Anwendung unseres systematischen Grundbegriffs dargetan werden würde.

Sonach bleibt als Aufgabe dieses Zusammenhangs nur die zweite Frage, die ich beim Beginn dieses Abschnitts genannt habe: nach der Entstehung und Veränderung bestimmter Rechtseinrichtungen im Laufe der Geschichte. Sie kann in zweifacher Richtung aufgenommen werden, je nachdem man die formale Art der menschlichen Handlungen, die rechtliche Regeln setzen, untersucht - oder nach den bestimmenden Einflüssen und bewirkenden Gründen rechtlicher Veränderungen allgemein forscht.

Die zuerst angeführten menschlichen Akte nennen wir seit längerem Rechtsquellen. Die hierüber aufzustellende Lehre ist jedoch lediglich eine solche der technischen Jurisprudenz und gründet sich in ihrer ganzen Ausführung auf den besonderen Inhalt einzelner Rechtsordnungen. Das Recht, sagt BRINZ, enthält vor allem Bestimmungen über sich selbst. Es gibt in eigenen, von ihm gesetzten Regeln an, wie es geändert, abgeschafft und ergänzt werden soll, wobei die verschiedenen Rechtsordnungen außerordentlich mannigfaltigenn Inhalt aufweisen. Auch die Einteilung in Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht - Setzung der Regel durch einen bewußten Akt bestimmter, dazu berufener Menschen, oder aber durch tatsächliche Übung und andauernde gleichmäßige Anwendung einer als Recht angenommenen Norm - harrt stets erst noch der näheren Ausfüllung durch einen besonderen, geschichtlich bedingten Inhalt einer positiven Rechtsordnung.

Allerdings ist zuweilen versucht worden, die Lehre von den Rechtsquellen von dieser geschichtlichen Bedingtheit freizumachen und allgemeingültig aufzubauen. Namentlich ist das bei der Erörterung des Verhältnisses von Gesetz und Gewohnheit geschehen. Die herrschende Lehre des 18. Jahrhunderts nahm als grundlegende Rechtsquelle die staatliche Gesetzgebung an, von der ein rechtlich geltender Brauch in jedem einzelnen Fall erst sanktioniert werden müßte und ohne das keine Geltung zu haben vermöchte; die darauf folgende geschichtliche Rechtsschule stellte umgekehrt die Gewohnheit als die eigentliche Quelle des gesetzten Rechts hin, die von jeder Rechtsordnung notwendig anzuerkennen wäre und von ihr als rechtsschöpferisch gar nicht verneint werden könnte, bei Meidung der Nichtigkeit eines sie doch ausschließenden positiven Staatsgesetzes. Beide Meinungen verstoßen gleichmäßig gegen den den oben (A1 am Ende) deduzierten Satz, daß es keinen einzigen Rechtssatz geben kann, der seinem positiven Inhalt nach unbedingt feststeht. Auch die Anordnung eines bestimmten positiven Rechts über Anerkennung oder Verwerfung einer auf Rechtsfragen bezüglichen Gewohnheit bedeutet notwendig eine stofflich bedingte Regel, über deren besonderen Inhalt sich schlechterdings nichts sagen läßt, was absolute Gültigkeit hätte. Wenn also PUCHTA lehrt, daß der Einfluß der "Volksüberzeugung" auf den Richter sich nicht verbieten läßt, so kann das, in Abänderung seiner eigenen Meinung, für uns nur den verständlichen Sinn haben, daß ein das Gewohnheitsrecht verbietendes Gesetz möglicherweise keinen Erfolg haben könnte, daß man vielmehr stets gewärtig sein muß, daß gegen jenes bestehende Gesetz sich auf anderem Weg doch vielleicht ein neues "Recht" bilden wird. Diese Möglichkeit ist zuzugeben. Aus ihr folgt aber nicht, daß jenes verbietende Gesetz nicht rechtlich gilt, sondern dieses, daß neues Recht durch einen Rechtsbruch allerdings zur Entstehung zu kommen vermag (siehe C2). Wollte man dagegen den zitierten Satz von PUCHTA in dem Sinne aufnehmen und behalten, daß jenes verbietende Staatsgesetz zwar geltendes Recht, aber eines von sachlicher Bedenklichkeit ist, so könnte das als Gegenstand einer weiteren Untersuchung stehen bleiben. Dann wäre zuzusehen, ob nach einer unbedingt gültigen formalen Methode für die besonderen sozialen Zustände eines besonderen Volkes und Landes Gesetzesrecht oder Gewohnheitsrecht als bedingte Rechtsquelle den Vorzug verdient, ob also das vorhin angenommene, konkrete Verbotsgesetz nach dem allgemeinen formalen Grundgedanken jedes Rechts überhaupt in dieser besonderen Lage gerechtfertigt ist oder nicht.

Betrachten wir zum Schluß die letzte oben gestellt Frage nach dem ursächlichen Verlauf der Änderungen von bestimmtem Rechtsinhalt im Laufe der sozialen Geschichte, so läßt sich dieser allerdings in einer übereinstimmenden Art und Weise vorstellen. Es bilden sich bei der Ausführung eines sozialen Zusammenwirkens gewisse gleichheitliche Massenerscheinungen als ökonomische Phänomene (vgl. A3). Aus diesen erstehen Bestrebungen auf Änderung - oder entgegengesetzt: auf Beibehaltung - der bestehenden Rechtsordnung, als der bedingenden Art und Weise des seitherigen Zusammenwirkens. Haben jene Urteil und Entschlüsse einen gewissen Erfolg, so fällt die bisherige Art dieser Gesellschaft und damit von selbst die Gesamtheit der dadurch bedingten sozialen Erscheinungen. Es wiederholt sich nun der obige Vorgang: es bilden sich unter der neuen Regelung wieder neue gesellschaftliche Phänomene, Bestrebungen, Umänderungen - in einem steten, nie abgeschlossenen Kreislauf des sozialen Lebens.

Hierdurch wird der Gedanke von der durchgängigen Einheit der sozialen Betrachtung gewahrt, und das wirkliche Geschehen im gesellschaftlichen Wirken der Menschen im Sinne eines grundsätzlichen Monismus erfaßt. Er bedeutet das Prinzip, die geschichtlichen Bewegungen des sozialen Lebens nur aus Gründen zu begreifen, die innerhalb seiner eigenen Bedingungen stehen. Die wissenschaftliche Durchführung der Sozialgeschichte besteht also im Erforschen der Wandlungen des gesellschaftlichen Daseins aus sozialen Phänomenen und ihnen entspringenden Strebungen her.

5. Die Begründung des Rechtszwanges. Vor kurzem wurde ein Rekrut zur Fahne eingezogen, der sich entschieden weigerte, den Dienst mit der Waffe zu tun. Die Gebote der engeren religiösen Gemeinschaft, der er angehörte, verböten ihm Übung und Führung der Waffen. Auch durch die Auferlegung einer Freiheitsstrafe konnte er nicht dazu bewogen werden, seine Weigerung aufzugeben. In entsprechender Weise haben auch schon Mitglieder gewisser Sekten es abgelehnt, als Zeugen von Gericht den staatlich geforderten Eid abzulegen. Das Recht aber verzichtet auf den selbstherrlichen Anspruch seines Geltens nicht. Es tritt in der geschichtlichen Erfahrung mit diesem Anspruch auf (siehe C1). Und es läßt im Besonderen nicht zu, daß jemand nach eigener Entschließung sich von der Herrschaft seiner Rechtsordnung befreit erklärt. Man könnte meinen, daß sich dies schon daraus begreift, weil sonst Unordnung im Land entsteht, wenn rechtlich Befreite doch unter den Rechtsgenossen leben und mehr oder weniger bedeutsam von den Vorteilen der sie umgebenden rechtlichen Gemeinschaft Vorteile ziehen, ohne zu deren Lasten beizutragen. Aber ein solcher Zustand wäre ja keineswegs unbedingt unmöglich; er könnte gedacht werden, ohne mit notwendigen Grundlagen dieser Gedankenreihen in Widerspruch zu treten, und findet auch im Dulden von Fremden und dem germanischen "Prinzip der persönlichen Rechte" eine gewisse praktische Anleitung. Entscheidend aber ist dies, daß der genannte selbstherrliche Geltungsanspruch des Rechts auch die Zulässigkeit des Auswanderns ergreift, und jeder, der unser Gebiet und sein Recht verlassen will, der Genehmigung des letzteren bedarf, mag diese auch heute zumeist leicht und etwa in allgemeiner Vorausbestimmung erteilt werden. Kann dieser unbedingt autokratisch Geltungsanspruch des Rechts innerlich gerechtfertigt werden?

Ich nannte im Eingang einige einzelne Beispiele von problematisch gewordenen Einzelfällen, die sich leicht vermehren lassen. Vor allem würde hier auch die interessante Aufstellung SOHMs zu nennen sein, wonach die rechtliche Verbindung der Kirche mit dem Wesen der Kirche im Widerspruch steht; ein Kirchenrecht kann es genau genommen gar nicht geben, die Zugehörigkeit zu einer kirchlichen Gemeinschaft und die Gebundenheit an deren Normen muß der freien Zustimmung jedes Einzelnen zu jeder Zeit überlassen bleiben. Aber ich möchte lieber gleich, in Überspringung einer solchen Anzweifelung der Berechtigung des Rechtszwanges in einzelnen Fragen diejenige gegenüberstellen, die in der Gegenwart im Ganzen geschieht. Dies liegt in der Theorie des individualen Anarchismus vor, wie sie von MAX STIRNER ("Der Einzige und sein Eigentum", 1844) begründet worden ist. Hiernach ist die rechtliche Regelung von vornherein kein geeignetes Mittel zur Erzielung eines rechten gesellschaftlichen Daseins der Menschen; denn ihr haftet ein selbstherrlicher Zwang an, und dieser muß unbedingt als unrichtig und ungeeignet erscheinen, gleichviel wie der Inhalt einer derartigen Zwangsregel beschaffen ist. Die einzig begründete Form des sozialen Lebens ist daher (wie ich mich ausdrücken würde) die konventionale Regelung des Zusammenlebens.

Es ist nicht ohne Interesse, zu gewahren, wie der moderne Sozialismus (vgl. A3) mit dieser anarchistischen Aufstellung wenig hat anfangen können, sogar ihr gegenüber meist etwas hilflos erscheint. Soweit er in beachtenswerter Art sich darüber hat vernehmen lassen, so hat er versucht, in einer dynamischen Erörterung das Problem zu erledigen. Dann meint er, daß der Rechtszwang sich geschichtlich in notwendiger kausaler Bedingtheit eingestellt hat, und daß er immer als notwendiges Produkt wirtschaftlicher Verhältnisse auftreten wird. Dies kann doppelt gemeint sein:
    a) die Menschen werden sich nach physiologisch verursachtem Druck immer gewissen sozialen Befehlen und Regeln fügen, welche rechtliche Eigenschaften haben. - Aber dies übersieht, daß der Anspruch des Rechts der ist: ohne Rücksicht auf die Zustimmung der Unterworfenen zu gelten; es würde also auch die etwa kausal erklärte Herkunft einer solchen Zustimmung hier ohne Belang sein.

    b) Die sozialen Gewalthaber werden sicherlich immer bei der Anwendung des Rechtszwanges verbleiben. - Nun sind jedoch die rechtlichen Anordnungen an und für sich Mittel zu menschlichen Zwecken; als solche können sie in ihrer Eigenart nur so gerechtfertigt werden, daß sie sich als unvermeidliches Mittel zu einem notwendigen Zweck erweisen.
Die hiernach veranlaßte teleologische Erwägung ist dann auch zu einer begründenden Deduktion des Rechts mehrfach unternommen worden.

Vor allem hat man gemeint, daß das Recht ein unerläßliches Mittel zu möglicher Sittlichkeit des Menschen ist. - Aber ein sittlich gutes Wollen kann durch rechtliche Befehle zwangsweise überhaupt nicht herbeigeführt werden, da es bei jenem auf die Reinheit wünschender Gedanken und die Lauterkeit des Innenlebens des Menschen ankommt (siehe B2). Wollte man aber sagen, daß die Menschen durch einen Rechtszwang zur Fähigkeit ihres moralischen Wollens erzogen werden, oder: daß es immer noch besser ist, wenn man zu richtigem Verhalten gezwungen wird, als auch dieses noch, ebenso wie ein gutes Innenleben, zu entbehren, so hätte man einen bestimmten Inhalt eines Rechts vorausgesetzt. Hier aber kommt es darauf an, ob man den Rechtszwang ansich rechtfertigen kann, ohne schon auf die inhaltliche Art eines besonderen Rechts einzugehen (vgl. B1). Es kann auch schlechtes Recht geben, das auch als "Recht" gelten will.

Sodann findet sich die Aufstellung, daß der Rechtszwang zur Erhaltung des Menschengeschlechts notwendig erscheint, das sich sonst im Krieg aller gegen alle zerfleischen würde (so HOBBES und, der Idee menschlichen Zusammenwirkens zufolge, auch KANT - vgl. A1). - Allein der ungeregelte Kriegszustand der Menschen untereinander ist nur das Gegenstück von einem sozialen Leben der Menschen überhaupt. Dieses braucht keineswegs ein rechtlich geregeltes Bestehen zu sein, es kann auch, seinem Begriff nach, nur unter konventionalen Regeln stattfinden.

Soll daher der selbstherrliche Anspruch des rechtlichen Wollens in sich allgemeingültig gerechtfertigt werden, so kann dies nur dahin geschehen, daß man einsieht, wie der Rechtszwang die notwendige Bedingung für eine gesetzmäßige Ausgestaltung des sozialen Lebens ist.

Gesetzmäßig ist ein gewisses soziales Leben aber dann, wenn seine besondere Regelung mit dem einheitlichen Grundgedanken alles gesellschaftlichen Daseins übereinstimmt. Es hat also seine Ordnung nach einer allgemeingültigen Methode zu erfolgen, die für jedes nur denkbare geregelte Zusammenwirken anwendbar ist. Darum muß auch die formale Art der Regelung selbst schon so beschaffen sein, daß sie jedes mögliche menschliche Zusammenleben ergreifen, richten und bestimmen kann. Von den sozialen Regeln zeigt aber nur das rechtliche Wollen jene allgemeine Eigenschaft auf.

Die konventionale Regel bedeutet einen eigenen Entschluß der sich ihr Unterstellenden; sie lädt zu ihrer Befolgung ein und gilt, wie oben (C1) ausgeführt, nur, soweit man sich nach ihr zu richten gedenkt. Sie kann als bloß an solche sich wenden, denen eine derartige Entschlußfähigkeit subjektiv innewohnt, und nicht an die Menschen, denen diese fehlt: sie ist ungeeignet, jedes menschliche Zusammenleben, das wir uns denken können, zu umspannen.

Gerade umgekehrt ist es mit den rechtlichen Gemeinschaften bestellt. Diese unterwerfen sich die Angehörigen nach eigenem, selbstherrlichem Gebot. Ob jemand die empirisch bedingte Eigenschaft zur Eingehung von Konventionen hat, kommt nicht in Frage; noch auch sonst eine bloß subjektive Fähigkeit des einzelnen Gemeinschafters. Das rechtliche Wollen ist also in seiner Eigenart des selbstherrlichen Geltungsanspruches das unvermeidliche Mittel, um alle nur denkbaren Menschen sozial verbinden und unbedingt jede mögliche Gesellschaft bestimmen zu können. Und darin liegt sein theoretisches Recht begründet.
LITERATUR Rudolf Stammler, Wesen des Rechts und der Rechtswissenschaft in Verschiedene Autoren, Systematische Rechtswissenschaft, Berlin und Leipzig 1906