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HERMANN ULRICI
Die Quelle des Rechts und
des Rechtsbegriffs


"Hat die Staatsgewalt und damit die Geltung ihrer Gesetze keinen Grund, ist sie nur ein Erzeugnis des Zufalls oder der Willkür und Gewalt, so gibt es kein Recht ansich, kein Recht, das seine Gültigkeit in sich selbst trägt, sondern Alles, was mit diesem Namen bezeichnet wird, wäre ebenfalls ein Produkt des Zufalls oder der Willkür, das so, aber auch ganz anders sein könnte, und das daher Jeder, der die Macht dazu hat, beliebig ändern könnte und dürfte."

"Zu leiten und zu beherrschen ist daher das Recht und die Pflicht des Überlegenen, beherrscht zu werden und zu gehorchen das Recht und die Pflicht des Bedürftigen. Denn auf diesen Naturunterschied von Freien und Dienstbaren, Herren und Knechten, gründet sich das Recht der Staatsgewalt, das alleinige, ursprünglich, von jeher und für immer geltende Recht: von einem andern kann nicht die Rede sein."

"Ist die Gültigkeit und Geltung, und ist die Geltung des Sittengesetzes die Bedingung des menschlichen Daseins als eines menschlichen, so folgt von selbst, daß die Anwendung aller geeigneten Mittel, um die Geltung des Sittengesetzes zu ermöglichen, nicht bloß erlaubt, sondern Pflicht ist. Jeder ist verpflichtet und damit berechtigt, des Andern, welcher durch sein Tun die Erfüllung des Sittengesetzes unmöglich zu machen sucht, sich mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu erwehren. Gibt es kein anderes geeignetes Mittel als die Anwendung von Gewalt, von zwingenden Impulsen, so ist demnach auch sie nicht nur erlaubt, sondern Pflicht und damit Recht."

"Es leuchtet ein, daß die Sittlichkeit nicht ohne das Recht bestehen kann, aber auch, daß das Recht nur Recht ist, weil und sofern es Mittel zum Zweck der Sittlichkeit ist; daß also das Rechtsgebot keine Gültigkeit hätte, wenn es kein Sittengesetz gäbe, aber auch, daß das Sittengesetz nicht zur Geltung gelangen könnte, wenn ihm das Rechtsgebot nicht zur Seite stände."

"Man sieht, das Recht ohne ihm zugrunde liegende Pflicht schwebt in der Luft. Wer das Recht nicht auf die Pflicht basiert, muß den ethischen Standpunkt aufgeben und kann es folglich nur auf die Gewalt basieren."

Wir zivilisierten Menschen wissen alle was Recht ist aus der Erfahrung, aus der mehr oder weniger genauen Kenntnis der von der Staatsgewalt ausgegangenen und aufrecht erhaltenen Gesetze. Was das Gesetz den Bürgern des Staates in Betreff ihres Tuns und Lassens als Befugnis zuerkennt und als Pflicht auferlegt, ist das bestehende oder das sogenannte positive Recht, welches gilt wie auch sein Inhalt beschaffen sein mag.

Das positive Recht rein als solches hat keinen anderen Grund als das Gesetz, d. h. die von der Staatsgewalt promulgierte [öffentlich verkündet - wp] Erklärung, Daß es Recht sei und daß sie mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln seine Geltung (Nachachtung) durchsetzen wird. Nicht erst die Philosophie, nicht erst die Rechtswissenschaft, sondern der dem Menschen eingeborene Wissenstrieb, der ihn nach der intellektuellen Seite vom Tier unterscheidet, erhebt die Frage nach dem Grund des Gesetzes und der es aufstellenden und seine Befolgung fordernden Staatsgewalt selber. Die Frage aber: warum Recht ist was die bestehende Staatsgewalt dafür erklärt, involviert unmittelbar die zweite: ob Recht ist was die Staatsgewalt dafür erklärt. Und diese Frage läßt die doppelte Möglichkeit offen, daß es im Grunde überhaupt kein Recht gibt, oder daß doch etwas Anderes Recht ist als was die bestehende Staatsgewalt dafür ausgibt.

Mit den Versuchen des Wissenstriebes, diese Frage zu beantworten, ist implizit, wenn auch nicht die Wissenschaft, doch der Begriff des sogenannten Naturrechts geboren. Denn die Frage selber frägt nur in anderer Form danach, ob es ein Naturrecht gibt oder nicht. Wird sie bejaht, d. h. lautet die Antwort dahin, daß die Staatsgewalt und das von ihr proklamierte Recht einen Grund hat, so ist eben damit behauptet, daß es ein Naturrecht gibt: denn der Grund des Bestehens der Staatsgewalt und damit der Geltung des von ihr sanktionierten Rechts fällt in Eins zusammen mit dem Begriff des Naturrechts. Wird die Frage verneint, so ist damit zugleich die Annahme eines Naturrechts verneint. Denn hat die Staatsgewalt und damit die Geltung ihrer Gesetze keinen Grund, ist sie nur ein Erzeugnis des Zufalls oder der Willkür und Gewalt, so gibt es kein Recht ansich, kein Recht, das seine Gültigkeit in sich selbst trägt, sondern Alles, was mit diesem Namen bezeichnet wird, wäre ebenfalls ein Produkt des Zufalls oder der Willkür, das so, aber auch ganz anders sein könnte, und das daher Jeder, der die Macht dazu hat, beliebig ändern könnte und dürfte.

Wer dieser ebenso einfachen wie unwiderleglichen Reflexion entgegentritt und trotz ihrer zwingenden Konsequenz nur das positive Recht als Recht gelten lassen will, mit dem läßt sich nicht streiten. Denn er leugnet das Naturrecht nicht aus Gründen, sondern weil er nicht will, daß es ein Naturrecht gibt, weil er will, daß Gewalt und Willkür Recht ist: stat pro ratione voluntas [statt des Grundes gilt der Wille - wp].

Ich weiß wohl, daß man Scheingründe vorführt, daß man behauptet: Von Natur sei eben der Mensch gewalttätig, willkürlich, sich alles anmaßend was seinen Bedürfnissen, Trieben und Begierden Befriedigung gewährt. Das Naturrecht ist daher das Recht Aller auf Alles, folglich das Recht des Stärkeren, die Herrschaft der Gewalt, der Krieg Aller gegen Alle (HOBBES), der allgemeine Kampf um das Dasein (DARWIN). Dieser Zustand könnte nicht dauern, da er zur Vernichtung des Menschengeschlechts führen würde. Mit der Aufhebung desselben, wie und wodurch sie auch geschehen mag, mit der Beschränkung der Gewalt und Willkür des Einzelnen auf ein bestimmtes Maß, also erst mit der Beseitigung des Naturrechts und der Ersetzung desselben durch das positive Recht, kann von Sicherheit, Gesetzlichkeit und Ordnung, von einer rechtlichen Gestaltung der menschlichen Verhältnisse die Rede sein. Das positive Recht verdient folglich allen den Namen des Rechts. - Diese auf den Namen HOBBES getaufte Doktrin (auf die auch von KIRCHMANNs Autoritätsprinzip zurückführt) verdient kaum eine ernsthafte Widerlegung. Ihr Prämisse: der Mensch sei von Natur aus gewalttätig, willkürlich, der Sklave seiner Triebe und Begierden, also ein bloßes, wenn auch höher begabtes Tier, ist eine völlig unbegründete und unbegründbare Behauptung. Einen Krieg Aller gegen Alle, einen allgemeinen Kampf ums Dasein, gibt es selbst unter den rohesten Wilden nicht, und hat es nach Allem, was wir von den ersten Anfängen des Menschengeschlechts durch Schluß und Folgerung zu wissen vermögen, nie gegeben. Wäre die Prämisse richtig, wäre der Mensch von Natur auf Gewalttat, Willkür, Anmaßung, ohne ein ursprüngliches Gegengewicht angelegt, so würde folgen, daß - wie ein Tier nur durch Gewaltmittel gebändigt, gezähmt und erzogen werden kann, - die Gewalt des Einzelnen nur durch eine höhere Gewalt, die Willkür nur durch eine stärkere Willkür überwunden werden, also auch die Beschränkung der Gewalt und Willkür der Einzenlen auf ein bestimmtes Maß, da es für dasselbe keine bestimmende Norm gibt, nur von einer höheren Gewalt und Willkür ausgehen könnte, daß also das damit gegründete positive Recht nur Gewalt an die Stelle der Gewalt, Willkür an die Stelle der Willkür setzen, - d. h. daß es bei dem Satz: Gewalt und Willkür ist Recht, schlechthin bleiben würde. -

Diese Bemerkungen werden genügen, um den noch vielfach herrschenden Grundirrtum, daß das positive Recht allein Recht ist, daß es also ein Naturrecht überhaupt nicht gibt, zu widerlegen. Ich konstatiere jedoch bei dieser Gelegenheit die auffallende Tatsache, daß der moderne Naturalismus und Materialismus, obwohl er nicht nur die Willensfreiheit und jede ursprüngliche ethische Anlage des Menschen leugnet, sondern ihn nur als einen höher entwickelten Blutsverwandten des Affen gelten läßt, obwohl er also konsequenterweise HOBBES' Doktrin von der Notwendigkeit und Rechtsbeständigkeit des Despotismus anerkennen müßte, doch nicht den Mut der Wahrheit besitzt, sondern die Konsequenzen seiner Ansicht durch sophistische Verdrehungen und unhaltbare Ausflüchte zu umgehen sucht, und meist in das wüste demagogische Geschrei nach dem höchsten Maß der Freiheit, die er prinzipiell leugnet, volltönend einstimmt.

Ich habe nicht die Absicht, die bisherigen Versuch einer wissenschaftlichen Begründung des Naturrechts von Neuem der Kritik zu unterziehen. Die gegenwärtige Philosphie geht ohnehin fast ganz in Kritik und kritische Reflexion auf, und meint schon Großes geleistet zu haben, wenn sie die Schwächen der bisherigen Theorien aufgedeckt hat, ohne zu bedenken, daß Niederreißen viel leichter ist als Aufbauen, und daß aus der Widerlegung der einen Theorie noch keineswegs die Wahrheit der andern folgt. Außerdem gibt es im Grunde nur zwei prinzipiell verschiedene Naturrechtstheorien. Sie unterscheiden sich einfach durch den Gegensatz zwischen dem natürlichen und dem sittlichen Menschen, d. h. dadurch, daß die Einen das Naturrecht auf die natürlichen Triebe und Strebungen, die Andern auf die ursprüngliche ethische Anlage des Menschen zu gründen suchen. Die erste Klasse ist einfach dadurch schon widerlegt, daß aus den natürlichen Bedürfnissen, Trieben und Strebungen das Hauptmoment im Begriff des Rechts, das Moment der Verpflichtung zum Gehorsam gegen seine Gebote, unmöglich abgeleitet werden kann, weil sie nichts davon enthalten. Das Paradigma dieser Theorien, weil die konsequenteste Durchführung ihres Prinzips, ist wiederum HOBBES' erwähnte Lehre vom Naturzustand des Menschen als einem Krieg Aller gegen Alle. Fehlt dem Menschen alle ursprünglich ethische Anlage mit den mittelbar oder unmittelbar aus ihr fließenden Gefühlen, Strebungen und Anschauungen, ist er also von Natur aus nur ein klügeres Tier, so wird er auch nur aus Furcht vor größeren Nachteilen die gewaltsame Beschränkung seiner Willkür, seiner Gelüste und Begierden durch eine zu diesem Zweck eingesetzte höhere Gewalt sich gefallen lassen. Allein die Furcht ist wohl ein Motiv, aber ich bin nicht verpflichtet, mich zu fürchten und aus Furcht das Eine zu tun und das Andere zu lassen. -

Es ist nur eine andere Wendung von HOBBES' Doktrin, wenn SPINOZA erklärt: Der Mensch, wie jedes Wesen, strebe von Natur danach, seine Perfektion oder Realität d. h. seine ihm inhärente Kausalität, Kraft und Macht, nicht nur zu erhalten, sondern auch zu erhöhen. Da dies das allgemeine Naturgesetz ist, so hat auch Jeder ein Recht seine Macht so weit wie möglich auszudehnen; sein Recht sei seine Macht und umgekehrt; so weit seine Macht reicht, so weit soll sein Recht reichen. Nun wächst aber die Macht jedes Einzelnen in demselben Maß, in welchem sie mit der Macht einer geringeren oder größeren Zahl Anderer sich vereinigt und zusammenwirkt. Also liegt es im Streen nach Erhöhung der Macht und damit des Rechts eines Jeden, nach einer solchen Vereinigung, nach Übereinstimmung und Gemeinsamkeit des Wirkens aller zu trachten. Das Recht, als positive, diese Vereinigung schützende und regelnde Satzung, soll die Bedingung des Bestehens der Vereinigung, das Bestehen derselben der Grund und Zweck des Rechts sein. - Allein abgesehen davon, daß es ganz von der Willkür des Einzelnen abhängt, ob und unter welchen Bedingungen er mit Andern sich einigen will, und daß das Recht als bloßes Mittel der Machterhöhung ganz und gar durch die Macht bedingt und bestimmt ist, also auch jede ausführbare Gewalttat erlaubt ist, - so fehlt wiederum das Hauptmoment des Rechtsbegriffs: das Streben nach Machterhöhung ist wohl ein Impuls, den ich zum Motiv meines Handelns machen kann, aber ich bin offenbar so wenig verpflichtet danach zu streben wie mich zu fürchten. -

Ebenso ist es nur eine sophistische Verteidigung und trügerische Umhüllung des Satzes: "Macht ist Recht", wenn es CARL LUDWIG von HALLER für die ewige unveränderliche Ordnung Gottes, für das unverbrüchliche "Naturgesetz", das stets und überall gewaltet hat und noch waltet, erklärt, daß ursprünglich, von Natur "die einen Menschen abhängig, die anderen unabhängig, die einen dienstbar, die anderen frei" sind, und daß daher "der Überlegene" auch von Natur aus dadzu getrieben wird, sich der Herrschaft zu bemächtigen, der "Bedürftige", ihm und seinen Befehlen zu gehorsamen. Unterstützt soll dieser natürliche Trieb durch den ebenso naturgemäßen Zug, daß "Überlegenheit das Gemüt veredelt" und durch die entsprechende Gemütsanlage des Bedürftigen, "der Leitung des Mächtigeren auch gern zu folgen." Zu leiten und zu beherrschen ist daher das Recht und die Pflicht des Überlegenen, beherrscht zu werden und zu gehorchen das Recht und die Pflicht des Bedürftigen. Denn auf diesen Naturunterschied von Freien und Dienstbaren, Herren und Knechten, gründet sich das Recht der Staatsgewalt, das alleinige, ursprünglich, von jeher und für immer geltende Recht: von einem andern kann nicht die Rede sein. - Die Behauptung, daß Überlegenheit das Gemüt veredelt, die dem Recht der Gewalt einen ethischen Schein geben soll, ist eine einfache, den schlagendsten Tatsachen widersprechende Unwahrheit. Und aus der allerdings angeborenen Ungleichheit, aus dem hier größeren dort geringeren Maß der Kräfte und Fähigkeiten der Menschen folgt offenbar nicht die angeborene Herrschaft des Plus über das Minus. Es ist durchaus nicht einzusehen, warum ich bloß darum, weil ich weniger Kraft und Fähigkeit habe als ein Anderer, meinen Willen dem des Anderen unterordnen soll, da der Wille bei jedem beliebigem Quantum der Kräfte und Fähigkeiten als selbständiger Wille bestehen kann und der schwächste Wille meist gerade der eigensinnigste ist. Außerdem würde den gleich Fähigen die gleiche Herrschaft zukommen; keiner von ihnen hätte folglich ein Recht gegen den andern; sie würden einander völlig rechtlos gegenüberstehen, und die Folge würde der perennierende [andauernde - wp] Kampf um die Herrschaft sein. Jedenfalls leuchtet wiederum ein, daß der "Bedürftige", mag auch das Gefühl seiner Schwäche immerhin zum Motiv für ihn werden, sich leiten zu lassen, doch keineswegs dazu verpflichtet ist, ebensowenig wie der "Überlegene" verpflichtet und noch weniger berechtigt ist, die leitende Macht auszuüben. -

HUGO GROTIUS, der Gründer der Wissenschaft des Naturrechts als einer selbständigen Disziplin, basierte es bekanntlich auf das Bedürfnis und den Trieb der Vergesellschaftung der Menschen. Allein so mächtig auch dieses leibliche wie psychische Bedürfnis historisch zur Gründung rechtlicher Zustände und nationaler (staatlicher) Verbände mitgewirkt hat, - das Recht ist sicherlich nicht aus ihm entsprungen, sondern vielmehr die Bedingung und Voraussetzung der Möglichkeit wie der Verwirklichung des Zusammenlebens der Menschen. Im bloßen Bedürfnis liegt weder eine Befugnis noch eine Verpflichtung es zu befriedigen, kann also auch nicht aus ihm abgeleitet werden. Das Kind bedarf freilich der Ernährung, der Erziehung, der Leitung; aber daraus folgt weder das Recht, sie zu fordern, noch die Pflicht, sich ihr zu unterwerfen, ebensowenig wie das Recht und die Pflicht der Eltern, sie zu leisten. Trotz des dringenden Bedürfnisses bin ich bloß um des Bedürfnisses willen nicht verpflichtet zu essen und zu trinken, also auch nicht, mit anderen Menschen eine gesellschaftliche Verbindung einzugehen und den Bedingungen derselben mich zu unterwerfen. Das Bedürfnis enthält wohl einen Impuls dazu und der Impuls mag zum Motiv werden; aber solange mir nicht nachgewiesen ist, daß ich verpflichtet bin, dem Impuls Folge zu leisten, ist die Vergesellschaftung und das in ihr sich bildende oder von ihr aufgestellte Recht (Gesetz) ein Produkt der Willkür, das als solches beliebig abgeändert, umgestoßen und wiederhergestellt werden kann.

Denselben Einwürfen erliegt ROUSSEAUs contrat social. Bin ich nicht verpflichtet, einen solchen Vertrag zu schließen und nachdem ich ihn geschlossen habe, ihn auch zu halten, bin ich also nicht verpflichtet, meinen Willen der sogenannten volonté générale - deren Existenz und Inhalt ohnehin erst nachzuweisen wäre - unterzuordnen, geschweige denn mich den Willensbeschlüssen einer bloßen Majorität Anderer zu fügen, so schwebt der contrat social in der Luft, und das Recht, das aus ihm hervorgeht, ist nur Willkür, der Zwang, den er der Minderheit auferlegt, nur Gewalt.

Ebensowenig wie das bloße Bedürfnis mich verpflichtet es auch zu befriedigen, bin ich verpflichtet,
    "Alles zu tun, was das menschliche Leben möglichst lang und glücklich macht, d. h. was mir Ruhm, Annehmlichkeit und Überfluß an Allem bringt," -
wie THOMASIUS das oberste Prinzip der Pflichtenlehre überhaupt und zugleich den ersten Grundsatz des jus naturae et gentium [das Gesetz der Natur und des Staates - wp] formulierte. So mächtig und allgemein auch der Trieb der Glückseligkeit waltet, er ist und bleibt ein bloßer Trieb, dem ich auch nicht folgen, den ich auf richtige oder falsche Weise befriedigen kann, und von dem sich daher nicht darlegen läßt, weder daß ich ihn überhaupt, noch daß ich ihn nur auf diese und keine andere Art zu befriedigen verpflichtet bin.

Keine Theorie, die auf das Bedürfnis und den Trieb sich basiert, kann der Alternative entgehen: entweder der Mensch muß dem natürlichen Impuls des Bedürfnisses Folge leisten, - und dann gibt es kein Recht, so wenig unter den Menschen wie unter den Tieren und Pflanzen: die Naturnotwendigkeit schließt den Rechtsbegriff schlechthin aus; - oder die natürlichen Triebe sind unter die Botmäßigkeit des menschlichen Willens gestellt, - und dann fordert der Rechtsbegriff den Nachweis, daß und warum der Mensch dem Trieb zu folgen, bzw. ihn in dieser bestimmten Form zu befriedigen hat, ein Nachweis, der sich nicht führen läßt, weil er der Prämisse, daß der Trieb unter die Botmäßigkeit des Willens gestellt ist, widerspricht.

KANT wendet sich daher an die Willkür selbst und will das Recht aus der "Freiheit der Willkür" ableiten, indem er definiert:
    "Das Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des Einen mit der Willkür des Andern nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit vereinigt werden kann", und sonach ist
    "eine jede Handlung (oder überhaupt jeder Zustand) eines Menschen Recht, die (oder nach deren Maxime) die Freiheit der Willkür eines Jeden mit Jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammenbestehen kann".
Diese Begriffsbestimmung steht auf dem Übergangspunkt von den natürlichen zu den ethischen Naturrechtstheorien. Denn der Begriff der Willensfreiheit ist zwar ansich kein ethischer Begriff, wohl aber die Bedingung und Voraussetzung allen Rechts und aller Sittlichkeit. Allein eben darum weil sie nur Voraussetzung und Bedingung ist, läßt sich von ihr aus, von der bloßen Macht oder Fähigkeit des Willens sich so oder anders zu entschließen, d. h. von der Willkür, die ansich gar keinen Inhalt hat, sondern ihn selber erst setzt, nicht zum Begriff des Rechts und der Sittlichkeit gelangen. Abgesehen davon, daß KANT das Zusammenleben der Menschen stillschweigend voraussetzt, ohne die Verpflichtung dazu nachzuweisen, setzt er auch ohne Weiteres voraus, daß ich verpflichtet bin, den Bedingungen, unter denen allein meine Freiheit der Willkür mit der jedes Andern zusammenbestehen kann, mich zu unterwerfen. Aber ich bin offenbar bloß darum, weil ich die Fähigkeit und auch wohl den Trieb habe, meinen freien Willen geltend zu machen, noch keineswegs verpflichtet, dem Trieb zu folgen und die Fähigkeit auszuüben, noch die aufgestellten Bedingungen der Ausübung derselben als die wahren Bedingungen anzuerkennen. Da aus der ansich völlig inhaltslosen Willkür sich schlechthin nichts folgern läßt, so läßt sich von ihr aus auch nicht bestimmen, was für das Zusammenbestehen der Freiheit eines Jeden mit Jedermanns Freiheit erforderlich ist, weder was dasselbe ermöglicht und fördert noch was es hindert. Die Bedingungen desselben, wie und von wem sie auch aufgestellt sind, würden folglich nur willkürliche Satzungen, ihre zwangsweise Durchführung nur Gewalt sein. -

Auch der Mittelbegriff der Freiheit hilft uns also nicht aus der rechtlosen Sphäre der Willkür und Gewalt heraus. Es war daher ein großer Fortschritt der Rechtsphilosophie, als man in neuerer Zeit begann, den Ursprung des Rechts in der ethischen Natur des Menschen zu suchen. Der Erste, welcher im Allgemeinen das Richtige getroffen hat, war K. C. F. KRAUSE, wenn er das Recht für "das organische Ganze der äußeren Bedingungen des Vernunftlebens" erklärte; und noch näher traf das Ziel PAUL CHRISTIAN HENRICI, wenn er definierte: Recht ist,
    "was der Idee der Unverletzbarkeit der materiellen wesentlichen Bedingungen des moralischen Menschentums, d. h. der menschlichen Persönlichkeit nach ihrer Vervollkommnung oder der unveräußerlichen Menschengüter, im äußerlichen menschlichen Verkehr entspricht."
Dem Voranschreiten KRAUSEs folgten nicht nur HERBART, HEGEL, SCHLEIERMACHER und deren Schüler, sondern auch F. J. STAHL, L. A. WARNKÖNIG, J. U. WIRTH, J. H. von FICHTE, H. M. CHALYBÄUS, A. TRENDELENBURG u. a. Und in der Tat leuchtet von selbst ein: ist das Recht nur Recht, unterschieden von Willkür und Gewalt, wenn und soweit es eine den Willen verpflichtende Kraft in sich trägt, so stellt sich Jeder, der von Recht spricht und weiß was er sagt, auf den ethischen Standpunkt, auf den Boden des Seinsollenden (1). Alle naturalistischen, materialistischen Doktrinen schützen sich daher nur durch Inkonsequenz, durch Unklarheit und Konfusion oder durch sophistische Erschleichungen vor der Identifizierung von Recht und Gewalt.

Die ethischen Naturrechtstheorien haben die doppelte Aufgabe:
    1) die Willensfreiheit und die ethischen Normativbegriffe nach Ursprung, Form und Inhalt wissenschaftlich zu begründen; und

    2) die Grenzlinie zwischen den Gebieten des (juristischen) Rechts und der Sittlichkeit (Moralität) genau und richtig zu bestimmen.
Zu zeigen, daß die erste Aufgabe in den bisherigen Versuchen noch nicht genügend gelöst ist, liegt außerhalb der Absicht dieser Abhandlung. Aber auch die zweite Aufgabe ist meines Erachtens noch immer ein Problem. Während man früher Recht und Sittlichkeit gegen die Natur der Sache auseinandergerissen und möglichst starke Scheidemauern zwischen ihnen errichtet hat, ist man neuerdings geneigt, beide zu vermischen oder sie doch in ein Verhältnis zu stellen, das keine feste Scheidelinie zuläßt. Selbst da wo der Rechtsbegriff im Wesentlichen richtig gefaßt, und ausdrücklich anerkannt wird, daß das erzwingbare Recht von der freien Sittlichkeit wohl zu unterscheiden ist, wird dieser Unterschied doch wieder verwischt durch die ihm widersprechende Behauptung, daß das Recht ein, wenn auch untergeordneter, Teil des Sittengesetzes (RÖDER), oder daß es nur im sittlichen Ganzen entstehen und bestehen und daher das Dasein bestimmter sittlicher Verhältnisse und eines Ganzen sittlicher Gemeinschaft zu seiner Voraussetzung hat (TRENDELENBURG). Ohne mich auf eine spezielle Widerlegung der Scheingründe, der Begriffsverwechslungen oder irrigen Begriffsbestimmungen einzulassen, die man für die Versetzung des Rechts auf den Boden der Sittlichkeit vorgebracht hat, begnüge ich mich, nachzuweisen, daß und warum beide Gebiete, trotz ihrer unlösbaren Zusammengehörigkeit, doch streng auseinander zu halten sind.

Es ist allgemein anerkannt, daß die Erzwingbarkeit dessen, was das Recht fordert, ein notwendiges Moment im Begriff des Rechts ist, d. h. daß das Recht nicht erst durch die Erzwingbarkeit Recht wird noch bloß um der Erzwingbarkeit willen anzuerkennen und zu befolgen ist, wohl aber daß dem Inhalt des Rechts seiner Natur nach die Bestimmung innewohnt, erzwungen werden zu können und zu dürfen, daß also der Rechtszwang selber Recht ist. Und in der Tat leuchtet ja von selbst ein: Käme dem Recht diese Befugnis des Zwangs nicht zu, wäre also der Zwang, wie und von wem er auch ausgeübt wird, nur Willkür und Gewalt, also Unrecht, und hinge es demnach rechtlich von mir ab, ob ich dem Rechtsgebot, keinen Andern zu töten, zu berauben etc. gehorsamen will oder nicht, so wäre der Krieg Aller gegen Alle zwar nicht selber Recht und rechtmäßig, aber doch rechtlich möglich, weil ohne Unrecht nicht zu verhindern. Diese Möglichkeit kann Niemand zulassen, der die ethische Natur des Menschen anerkennt und demgemäß behaupten muß, daß der Mensch Alles tun soll und folglich auch Alles tun darf, was unumgänglich notwendig ist und geschehen muß, wenn es möglich sein soll, das Sittengesetz zu erfüllen, seine Bestimmung zu erreichen. Ist dieses Zeit Grund und Zweck des menschlichen Daseins, so ist die erste unbedingte Pflicht und damit das erste unbedingte und folglich unbeschränkbare Recht des Menschen, mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln die Erreichbarkeit dieses Ziels zu sichern, die Hindernisse, die ihr im Weg stehen, zu beseitigen, die Bedingungen, unter denen allein es erreicht werden kann, herzustellen und aufrecht zu erhalten. Hier, aber nur hier, gilt der Satz: "Der Zweck heiligt die Mittel." Er gilt einfach darum, weil mit der Unmöglichkeit, das Sittengesetz zu befolgen, das Sittengesetz selber aufgehoben ist: denn es ist eine Verletzung des Sittengesetzes, es ist unsittlich, das Unmögliche zu fordern. Mit der Aufhebung des Sittengesetzes selber fällt auch jedes sittliche Einzelgebot hinweg, also auch der Satz, daß der Zweck die Mittel nicht heiligt. Solange es unmöglich ist, das Sittengesetz überhaupt zu erfüllen, kann auch von der Befolgung eines das Verhältnis der Mittel zum Zweck bestimmenden Regulativs nicht die Rede sein. Ist sonach die Möglichkeit, das Sittengesetz zu erfüllen, die Bedingung seiner verpflichtenden Kraft, seiner Gültigkeit und Geltung, und ist die Geltung desselben die Bedingung des menschlichen Daseins als eines menschlichen, so folgt von selbst, daß die Anwendung aller geeigneten Mittel, umd die Geltung des Sittengesetzes zu ermöglichen, nicht bloß erlaubt, sondern Pflicht ist. Jeder ist verpflichtet und damit berechtigt, des Andern, welcher durch sein Tun die Erfüllung des Sittengesetzes unmöglich zu machen sucht, sich mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu erwehren. Jeder ist also auch verpflichtet, zu dem wirksamsten Mittel zu greifen und demgemäß seinen Willen seine Kraft und Tätigkeit mit der aller Andern zu vereinigen zur vollen Durchführung aller geeigneten Mittel für die Herstellung der Bedingungen, von denen die Erfüllbarkeit des Sittengesetzes abhängt. Gibt es kein anderes geeignetes Mittel als die Anwendung von Gewalt, von zwingenden Impulsen, so ist demnach auch sie nicht nur erlaubt, sondern Pflicht und damit Recht. So gewiß der Mensch berechtigt ist, dem reißenden, sein Leben bedrohenden Tier Gewalt anzutun, so gewiß ist er berechtigt, auch jedem Menschen, dessen Wollen und Handeln die Erfüllbarkeit des Sittengesetzes und damit seine menschliche Existenz bedroht, Gewalt anzutun und nicht nur seinen gewalttätigen Handlungen Gewalt entgegenzusetzen, sondern auch ihn selber, solange er den gewalttätigen Willen kundbar hegt, an der Ausführung desselben durch Gewalt zu hindern. Denn solange er diesen Willen hegt und kundgibt, verleugnet er seine menschliche Natur und setzt sich selbst zum reißenden Tier herab: er selber will Tier sein und eben damit er selber, daß er auch als Tier behandelt wird. Da er die Gewalt selber will, so geschieht ihm nur sein eigener Wille, wenn an ihm Gewalt geübt wird: er selber tut sich die Gewalt an, die er erleidet. -

Sonach ergibt sich: ist das Recht seinem Begriff d. h. seinem Grund und Zweck nach die in der ethischen Natur des Menschen liegende Verpflichtung, mit allen geeigneten Mitteln die Bedingungen der Erfüllbarkeit des Sittengesetzes herzustellen und aufrecht zu erhalten, so folgt mit unabweislicher Notwendigkeit, daß zum vollen Begriff des Rechts das Moment der Erzwingbarkeit, d. h. die Befugnis, durch geeignete Zwangsmittel die Vollziehung und Unterlassung der vom Recht gebotenen und verbotenen Handlungen zu sichern, notwendig gehört. An welchen Bedingungen die Ausübung dieser Befugnis hängt, wie weit sie also reicht und auf welche Weise sie auszuüben ist, ist eine weitere, allerdings höchst gewichtige Rechtsfrage, um die es sich aber hier noch nicht handelt. Es kam zunächst darauf an, nur überhaupt die Erzwingbarkeit der Rechtsforderungen selber als ein Recht, als eine ethische Notwendigkeit nachzuweisen.

Aus diesem Nachweis aber folgt unmittelbar, daß Recht und Sittlichkeit ebenso eng zusammengehören als streng voneinander zu sondern sind. Betrifft das Rechtsgebot den ganzen Kreis der Geltung des Sittengesetzes ermöglichenden Bedingungen, soweit sie durch menschliches Wollen und Können herstellbar sind, so leuchtet ein, daß die Sittlichkeit nicht ohne das Recht bestehen kann, aber auch, daß das Recht nur Recht ist, weil und sofern es Mittel zum Zweck der Sittlichkeit ist; daß also das Rechtsgebot keine Gültigkeit hätte, wenn es kein Sittengesetz gäbe, aber auch, daß das Sittengesetz nicht zur Geltung gelangen könnte, wenn ihm das Rechtsgebot nicht zur Seite stände. Es leuchtet ebenso unmittelbar ein: so gewiß das Mittel überflüssig ist, wenn der Zweck erreicht oder ohne dasselbe erreichbar ist, so gewiß hat das Rechtsgebot nur Geltung, weil und solange ohne dasselbe die allgemeine, ungestörte Geltung des Sittengesetzes nicht gesichert ist. Wäre das Ziel der Menschheit erreicht, wären alle Menschen zu vollkommener Sittlichkeit gelangt, so würde damit das Rechtsgebot ganz von selbst zwar nicht seine Gültigkeit, wohl aber seine Geltung verlieren; es wäre tatsächlich beseitigt. Nur weil das Ziel noch nicht erreicht, vielleicht (im irdischen Dasein) nicht erreichbar ist, gilt das Rechtsgebot und muß seine Geltung behalten. Da es aber nur die Bedingungen der Erfüllbarkeit des Sittengesetzes betrifft, so folgt, daß es über den Kreis derselben nicht ausgedehnt werden darf, daß jede weitergehende Rechtsforderung anisch ungültig ist, und daß es also nur solche Handlungen und die ihnen zugrunde liegenden Willensakte gebieten oder verbieten darf, ohne deren Vollziehung und Unterlassung die Herstellung und Aufrechterhaltung jener Bedingungen unmöglich sein würde. Es folgt weiter, daß der Gehorsam gegen das Rechtsgebot ansich noch keine sittliche Handlung ist, sondern erst sittlich wird, wenn das Recht ums seiner selbst willen, weil es die Bedingung der Geltung des Sittengesetzes und der Realisierung des Guten ist, frei gewollt und befolgt wird, wenn also das Rechtsgebot aus keinem anderen Grund erfüllt wird, als weil das Sittengesetz es erfordert. Denn da das Sittengesetz die freie Entschließung fordert und nur denjenigen Willen als sittlich gelten läßt, der das Sittlichgebotene, das Gute, um seiner selbst willen tut, so ist ein Gehorsam, der nur in Folge von Zwang und aus Furcht vor den angedrohten Übeln dem Rechtsgebot sich fügt, zwar wohl rechtlich gültig, aber sittlich ungültig.

Sonach aber ergibt sich, daß das Recht auf keine Weise in die Sphäre der Sittlichkeit hinübergreifen darf. Denn da es selber nur da ist umd die Geltung des Sittengesetzes zu ermöglichen, und sein Gebiet sich nur so weit erstreckt als die Erzwingbarkeit seiner Forderungen reicht, das Sittengesetz dagegen, um dessentwillen das Recht gilt und besteht, die freiwillige Befolgung seiner Gebote fordert, so ist es offenbar Unrecht, weil dem Begriff des Rechts widersprechend, die sittlichen Gebote zu Rechtsgeboten zu erniedrigen, indem man ihre Erfüllung durch eine Androhung von Übeln (Strafen) oder durch die Aussetzung von Belohnungen zu erzwingen sucht. Und da die sittliche Tat nur durch die Gesinnung, die Motive und Zwecke ihres Urhebers sittlich ist, die Sittlichkeit folglich ganz und gar in das innere (geistige) Wesen und das Leben des Menschen fällt und daher nicht nur jedem Zwang schlechthin unzugänglich ist, sondern auch die inneren Bedingungen ihres Bestehens in sich selbst trägt und mitbringen muß, so kann das Recht nur die äußeren Bedingungen der Erfüllbarkeit des Sittengesetzes und damit der Sittlichkeit betreffen. Es kann folglich nur die Vollziehung und Unterlassungk bestimmter Handlungen und der ihnen zugrunde liegenden Willensakte fordern; es darf weder Motive und Absichten noch Gesinnungen und Überzeugungen gebieten. Denn damit griffe es ins Gebiet der freien Sittlichkeit hinüber und würde Forderungen stellen, die schlechthin unerzwingbar sind, widerspräche also seinem eigenen Begriff. Wer daher das Rechtsgesetz als einen Teil des Sittengesetzes betrachtet, so daß was das Sittengesetz fordert, auch für das Rechtsgesetz gilt, wer demgemäß für die Erfüllung des Rechtsgebotes die sittliche Gesinnung fordert oder was dasselbe ist, die (bloße) Absicht und das Motiv unter den Zwang des Rechtsgesetzes stellt, der vermischt zum unberechenbaren Schaden der Sittlichkeit beide Gebiete, der muß konsequenterweise das Recht der Gewissensfreiheit leugnen, Glaubens- und Sittengerichte einsetzen und die Überzeugungen und Gesinnungen mit Strafen belegen. Das Sittengesetz fordert freilich die rechtliche Gesinnung, die Erfüllung des Rechts um des Rechts willen. Aber dasselbe Sittengesetz fordert als die Bedingung aller Sittlichkeit die Freiheit der Entschließung, also die Freiheit der Gesinnung, der Motive und Absichten, aus denen der Entschluß entspringt. Das Recht der Gewissensfreiheit ist also ein Grund- und Urrecht, das anerkannt, gesichert und aufrechterhalten werden muß, weil es eine Grundbedingung der Geltung des Sittengesetzes und der Sittlichkeit selbst bezeichnet. Es zeugt daher nur von einer trüben, die Begriffe verwechselnden Unklarheit und kann nur Verwirrung und Unsicherheit auf beiden Gebieten anstiften, wenn man zwischen dem Rechts- und dem Sittengesetz einen Kompromiß zu errichten und dem einen an dem andern eine Art von Anteil zu gewähren sucht. Vermittlungsversuche, wo sich keine Mitte findet, sind nicht nur vergeblich, sondern können nur zum Unheil ausschlagen. Hier aber ist jede Vermittlung unmöglich, weil das Rechts- und das Sittengesetz sich nicht bloß scheinbar, sondern wirklich widersprechen. Denn das Sittengesetz fordert überall Freiheit der Entschließung, also auch die freiwillige Erfüllung des Rechtsgebots; das Rechtsgesetz dagegen begnügt sich damit nicht, sondern forder auch die unfreiwillige Befolgung seiner Gebote und sanktioniert daher die Erzwingbarkeit derselben. Der Widerspruch tritt jedoch nur ein, wenn man Recht und Sittlichkeit vermischt; wenn man beide in ihrem wahren Verhältnis faßt, löst er sich nicht nur sondern ist im Grunde gar nicht vorhanden. Denn das Sittengesetz selber fordert die Erzwingbarkeit des Rechtsgebots, weil es ohne dieselbe nicht zur Geltung gelangen und die Freiheit des sittlichen Wollens und Handelns unmöglich sein würde. Und das Rechtsgesetz fordert die Erzwingbarkeit nicht an und für sich, sanktioniert den Zwang nicht um des Zwanges willen, sondern nur als Mittel zum Zweck, das als Mittel durch den Zweck schlechthin bedingt und bestimmt ist und daher gänzlich wegfällt, wenn man seiner nicht bedarf, wenn das Rechtsgebot freiwillig, aus sittlicher Gesinnung erfüllt wird. Das Recht kann und darf zwar die sittliche Gesinnung nicht gebieten, weil sie in das innere Gebiet der Freiheit fällt; aber es wird selber überflüssig wo die sittliche Gesinnung waltet, und weit entfernt dieser Überflüssigkeit sich zu widersetzen, freut es sich ihrer und strebt sie selber herbeizuführen und zum dauernden Zustand zu erheben. Es bedarf folglich gar keiner Vermittlung, weil beide von selbst in inniger Einigkeit auf dasselbe Ziel hinwirken, auf die dauernde volle Herrschaft der sittlichen Gesinnung aller Menschen.

Aber, wendet man ein, wenn das Rechtsgesetz nur das äußerliche Tun und Lassen betreffen soll ohne Rücksicht, ob das Innere, die Gesinnung, ihm entspricht oder widerspricht, so "wird alsbald der Zwiespalt zwischen Innerem und Äußerem auch der Übereinstimmung der äußeren Handlung mit dem Gesetz Eintrag tun", da das Äußere ja aus dem Inneren hervorgeht.
    "Wenn alle ungern ein Gesetz vollziehen, so wird das Allgemeine ungern zu einer Macht gegen das Gesetz: es kann folglich dem Gesetzgeber die bloße Gesetzlichkeit nicht genügen; denn wenn das Gesetz nicht in die Gesinnung der Bürger aufgenommen wird und aus ihr Kräfte zieht, so ist es gebrechlich wie Holz, welches keine Säfte mehr hat." (TRENDELENBURG)
Sollen diese Sätze besagen, daß der Rechtszwang, der einem bloß gegebenen (positiven) Gesetz zur Seite steht, nicht genügt, um dasselbe zum Rechtsgesetz zu machen und ihm eine dauernde Geltung zu sichern, so waren sie überflüssig. Denn es versteht sich von selbst, daß das positive Gesetz, das kein Rechtsgesetz ist und folglich in sich keine Gesetzeskraft hat, weil es dem Sittengesetz und der sittlichen Gesinnung widerspricht, auch keine wahre dauernde Geltung haben wird, weil es sie nicht haben soll. Meint jener Einwand dagegen, daß auch das wahre Rechtsgesetz nicht zu voller dauernder Geltung gelangen wird, wenn es Alle ungern vollziehen, d. h. wenn allen Bürgern die rechtliche Gesinnung, das sittliche Streben und Wollen, völlig abhanden gekommen ist, so ist der Einwand ein zweischneidiges Schwert, dessen eine Schneide gegen ihn selbst gerichtet ist. Denn soll der Gesetzgeber, weil sein Gesetz auch mit der Gesinnung übereinstimmen muß, in jedem Fall die herrschende Gesinnung berücksichtigen, so ist er da, wo die Gesinnung eine un- und widerrechtliche ist, gehalten, das Unrecht als Recht, das Ungesetzlich als Gesetz aufzurichten. Freilich wird kein Recht und kein Rechtszustand sich behaupten können, wenn alle Bürger, also auch diejenigen, welche das Recht zu wahren und den Rechtszwang zu üben haben, der rechtlichen Gesinnung ermangeln. Aber daraus folgt keineswegs, daß das Rechtsgesetz auch die rechte Gesinnung zu befehlen und im Notfall zu erzwingen hat, sondern es folgt im Gegenteil, daß das Rechtsgesetz als wahres Rechtsgesetz über die Gesinnung keine Macht hat, sie nicht zu erzwingen vermag, sein Gebot derselben also unnütz ist, und daher - zwar nicht seine Gültigkeit, wohl aber seine gesetzliche Geltung, d. h. seine Macht, die ihm über das äußere Tun und Lassen zusteht, zusammenbricht, wenn kein Wille sich findet, der dieselbe auszuüben bereit und kräftig genug ist. Ist in einem Volk alle rechtliche Gesinnung, weil alle Sittlichkeit erloschen, so ist es allerdings verloren, d. h. der Knechtschaft verfallen, wie der Untergang dder altorientalischen Staaten, Griechenlands, Roms etc. beweist. Aber diese Staaten sind gefallen, nicht weil das Rechtsgesetz die rechte Gesinnung zu gebieten und zu erzwingen unterlassen hätte, sondern weil nach dem Erlöschen aller Sittlichkeit das Rechtsgesetz keinen Zweck mehr hat und mit dem Zweck auch Mittel notwendig wegfällt. Ihr Untergang beweist ja gerade, daß das positive Gesetz (auf das TRENDELENBURG sich bezieht) auch ohne die rechtliche Gesinnung der Bürger sehr wohl bestehen kann. Denn jene Völker haben noch lange fortgelebt (und leben zum Teil noch) aber nicht als freie Völker, als selbständige Staaten unter der Herrschaft des Rechtsgesetzes, sondern unter der Willkürherrschaft ihrer eigenen Despoten oder fremder Nationen und der von ihnen aufgestellten subjektiven Gesetze.

Aber, wendet man weiter ein, das Rechtsgesetz kann nicht bestehen, ohne in vielen einzelnen Fällen zumindest über das äußere Tun und Lassen hinauszugehen und die rechtliche Gesinnung zu fordern.
    "Wenn z. B. bei erhobenem Anspruch auf Eigentum oder bei Verjährung gefragt werden muß, ob jemand in gutem Glauben Fremdes besitzt, so handelt es sich dabei zwar nicht eigentlich um die Gesinnung, mit welcher er erworben hat, aber doch um ein jenseits der äußeren Handlung in sein Wissen und Meinen zurückgehendes Erfordernis; um als Besitzer in gutem Glauben zu gelten (und demgemäß im Besitz geschützt zu werden), muß er nachweisen, daß er von dem Unrecht Fremdes zu besitzen nichts wußte." (TRENDELENBURG)
Das Beispiel ist sehr unglücklich gewählt. Denn bei Licht besehen handelt es sich in diesem Fall weder eigentlich noch uneigentlich um die "Gesinnung", sondern nur um das ganz "äußerliche" Faktum, ob der Besitzer erfahren oder nicht erfahren hat, daß er fremdes Eigentum in Besitz genommen hat. - Ebensowenig beweist ein zweites Beispiel. Das bürgerliche Recht, das bei einer Fahrlässigkeit in Bezug auf anvertrautes Gut einen Ersatz befiehlt, mißt die "culpa" [Schuld - wp] allerdings am Gegenteil, nämlich an der Sorgfalt, mit der ein guter Hausvater sein eigenes Gut zu verwalten pflegt. Aber es ist wiederum nur eine Verwechslung der Begriffe, wenn diese Sorgfal als die "Gesinnung" eines guten Hausvaters bezeichnet wird. Das positive Recht kümmert sich keineswegs darum, in welcher "Gesinnung" der gute Hausvater sein Gut verwaltet, aus dem einfachen Grund, weil es diese Gesinnung nie mit Sicherheit ermitteln kann, sondern unter der Sorgfalt, die es bei der Verwaltung fremden Gutes fordert, versteht es nur den Inbegriff der Handlungen, die ein guter Hausvater bei der Verwaltung seines eigenen Guts zu vollziehen und zu unterlassen pflegt. Was endlich das Strafrecht betrifft, in welchem angeblich "der gemachte Gegensatz von Gesetzlichkeit und Sittlichkeit sich tatsächlich aufhebt", weil "Absicht, Vorsatz und Gesinnung als das Innere der äußeren Handlung darin wesentliche Erwägungen sind", so ist es zwar vollkommen richtig, daß bei Verhängung der Strafe Vorsatz und Absicht nicht bloß "wesentliche Erwägungen" sind, sondern erwogen werden müssen. Aber das Rechtsgesetz fordert diese Erwägung bloß darum, weil jede Handlung, die unabsichtlich und unvorsätzlich, also ohne Bewußtsein ihrer (rechtlichen) Bedeutung, ihrer Wirkungen und Folgen begangen wird, keine Handlung im vollen Sinne des Wortes ist, also auch nicht als verbrecherische Handlung betrachtet werden kann. Nach der "Gesinnung" des Verbrechers (die TRENDELENBURG aus eigenem Gutdünken zum Vorsatz und der Absicht hinzufügt) fragt das Strafrecht so wenig wie das Zivilrecht, so wenig, daß es die verbotene Handlung bestraft, auch wenn sie in der besten Gesinnung, aus Wohlwollen, Mitleid etc. getan wurde. Aber auch wenn es um der Sicherheit der Rechtspflege willen sich des Eides bedient und den Meineid des Zeugen mit Strafe bedroht, so ist es wiederum nicht die "Wahrhaftigkeit der Gesinnung, welche es damit implizit fordert, sondern nur die faktische Wahrheit der Aussage in Umfang und Grad von Richtigkeit und Gewißheit, in welchem sie dem Zeugen bekannt geworden ist. Ob er aus Liebe zur Wahrheit oder aus Furcht vor der Strafe, aus Schadenfreude, Haß etc. die Wahrheit sagt, ist dem Recht gegenüber vollkommen gleichgültig; ja indem es mit Strafe droht, erkennt es implizit das aus unsittlicher und unrechtlicher Gesinnung entspringende Motiv der Furcht als juristische gültiges Motiv selber an. Es fällt ihm daher nicht ein, den Meineidigen, der einem Mädchen ewige Liebe schwört, während er nichts von Liebe für sie fühlt, vor Gericht zu laden und mit Strafe zu belegen: hätte das Recht auf die Gesinnung, die Wahrhaftigkeit zu halten, so wäre die Rechtlosigkeit des belogenen Mädchens ein arges Unrecht. -

Weil das Recht die unumgängliche Bedingung, das unentbehrliche Mittel ist, die Geltung des Sittengesetzes und damit die Sittlichkeit selbst zu ermöglichen, so ist es, wie schon bemerkt, die erste sittliche Pflicht,, das Mittel nicht nur anzuwenden, sondern ihm auch seine Wirksamkeit in größtmöglichem Maß zu sichern, also nicht nur festzusetzen, was Recht und Unrecht ist, sondern auch dem damit gegebenenn Rechtsgesetz die von ihm geforderte Erzwingbarkeit seiner Gebote wie Verbote zu sichern. Da der menschlichen Natur gemäß kein Einzelner die Macht besitzt, dieser Forderung zu genügen und dem Gesetz Achtung zu verschaffen, so ist es die sittliche Pflicht, eine der Lösung der Aufgabe gewachsene Einigung der Menschen herzustellen, bzw. einer solchen Einigung, wo sie bereits besteht, sich anzuschließen und sie so zu organisieren, daß sie stark genug ist, die Erzwingbarkeit des Rechtsgesetzes zu sichern, d. h. den vom Recht geforderten und ihm gemäß festgesetzten Zwang auszuüben. Es ist begrifflich vollkommen gleichgültig, ob eine solche Einigung von selbst infolge der physischen und ethischen Natur des Menschen, durch das physische und ethische Bedürfnis und insofern auf natürlichem Weg sich bildet, oder ob sie durch freies Übereinkommen der Einzelnen und insofern künstlich hergestellt wird. Weil der Mensch seinem Wesen nach sowohl physisch wie ethisch auf das Zusammenleben mit Andern dergestalt angewiesen ist, daß er für sich allein weder physisch noch ethisch als Mensch bestehen kann, so haben sich historisch solche Einigungen auf dem ersten Weg gebildet. Aber diese natürlich-historischen Gebilde haben nur rechtlich Gültigkeit, sind nur berechtigt fortzubestehen, wenn und soweit sie in Bezug auf die geltenden Gesetze wie hinsichtlich ihrer Organisation dem Begriff des Rechts entsprechen. Dasselbe gilt von jeder künstlich errichteten Einigung. Denn wenn sie auch durch das freie Übereinkommen aller ihrer Mitglieder hergestellt ist, so ist doch Keiner verpflichtet, bei seiner Zustimmung zum Inhalt desselben zu verharren, wenn es sich finden sollte, daß er dem Recht und der Sittlichkeit widerspricht; im Gegenteil er ist verpflichtet, auf Änderung der widerrechtlichen Bestimmungen zu dringen. Begrifflich also besteht die natürliche wie künstliche Einigung nur zu Recht, wenn und soweit sie mit dem Begriff des Rechts in Einklang steht.

Erst in und mit einer solchen Einigung wird das Recht, das ansich idealiter (begrifflich) Recht ist, auch realiter Recht, weil erst dadurch die in seinem Begriff liegende Erzwingbarkeit seines Inhalts realiter ausführbar wird. Eben damit wird das naturrechtliche, begriffliche Recht zum positiv geltenden Recht. Ihm sich zu unterwerfen ist Jeder verpflichtet, welcher in die eben damit zur Rechtsgesellschaft erhobene Einigung eingetreten ist, möge er freiwillig sich ihr angeschlossen haben oder von Natur, durch die Geburt ihr einverleibt sein. Es steht ihm zwar rechtlich frei, das Band zu lösen, aber solange er einer bestimmten Rechtsgesellschaft angehört, hat er dem in ihr geltenden Gesetz zu gehorsamen. Denn da es sittliche Pflicht aller Menschen ist, zur Aufstellung und Durchführung des Rechts sich zu einigen, so hat jede bestehende Rechtsgesellschaft ein unantastbares Recht auf ihr Bestehen und ist folglich berechtigt, jeden Angriff auf ihren Bestand mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln zurückzuweisen. Nachdem einmal das Gesetz gegeben ist, hat folglich jeder Einzelne die Pflicht es zu befolgen, die Gesellschaft das Recht, seine Befolgung zu erzwingen, selbst wenn das Gesetz dem Recht ansich (dem Rechtsbegriff) nicht entsprechen sollte. Denn da die Aufrechterhaltung des Gesetzes die Bedingung des Bestehens der Rechtsgesellschaft und der Bestand derselben ein Recht, weil ihre Gründung eine Pflicht ist, so folgt unabweislich, daß die Gesellschaft auch das Recht hat, die Unverletzbarkeit des Gesetzes mit allen Mitteln zu schützen. Ebenso klar aber ist, daß jeder Einzelne nicht nur das Recht hat, aus der Gesellschaft auszuscheiden, sondern auch das Recht, weil die Pflicht, auf Abänderung des widerrechtlichen Inhalts des Gesetzes zu dringen. Und daher ist es Pflicht der Gesellschaft, die Ausübung dieses Rechts und dieser Pflicht gesetzlich zu regeln.

Ist die Rechtsgesellschaft konstituiert und damit das Recht positiv, Gesetz geworden, so leuchtet weiter von selbst ein, daß innerhalb ihrer Alles, was das Gesetz nicht verbietet, rechtlich erlaubt ist, gleichgültig ob es dem Recht ansich entspricht und auch ob das Sittengesetz es erlaubt. Wer aus falscher Rücksicht auf die Sittlichkeit diesen Satz bestreitet oder doch beschränken und verklausulieren will, verwischt nicht nur die Grenzen zwischen Recht und Sittlichkeit, sondern begeht auch ein Unrecht gegen das Recht der Gesellschaft, erschüttert die Autorität des Gesetzes und das Rechtsbewußtsein des Volkes und schadet daher der Sittlichkeit mehr, als er ihr nützt. Um des Rechts der Freiheit willen, darf das Gesetz nur verbieten, was unumgänglich verboten werden muß um die freie Sittlichkeit zu ermöglichen. Und andererseits fordert der Begriff des Gesetzes, daß seine Grenzen so scharf wie möglich gezogen werden: eine Verschiebung derselben, sei sie Erweiterung oder Einschränkung, widerspricht seinem Zweck, weil seine Befolgung und Aufrechterhaltung dadurch unsicher wird. Dies gilt insbesondere vom gesetzlichen Verbot: um des Rechts der Freiheit willen muß sein Inhalt vorzugsweise streng und genau bestimmt, und im Zweifel eher in einem einschränkenden als in einem erweiterten Sinn interpretiert werden.

In dieser Erlaubnis, zu tun was rechtlich nicht verboten ist, besteht allein die Rechtsbefugnis der Einzelnen oder ihr Recht im engeren Sinne, im Gegensatz zu ihrer Pflicht. Jede andere Rechtsbefugnis kommt dem Menschen nur zu, weil er eine Pflicht hat und sie erfüllen soll.
    Denn in Wahrheit wird der Mensch nicht mit Rechten, sondern nur mit Pflichten geboren, und nur darum hat er das Recht zu fordern, daß ihm die Möglichkeit gewährt wird, seiner Pflicht nachzukommen.
Seine Rechte folgen nur aus seinen Pflichten und können daher auch nur aus ihnen abgeleitet werden. Insofern gibt es, streng genommen, keine angeborenen Rechte; und nur darum weil alle wahren Recht so unmittelbar aus den angeborenen Pflichten folgen, daß sie implizit in und mit ihnen gegeben sind, können sie als angeboren betrachtet und bezeichnet werden.

Diese Sätze sind so vielfach bestritten und gefallen dem natürlichen Menschen so wenig, daß sie so streng wie möglich bewiesen werden müssen. Gleichwohl kann sie im Grunde niemand bestreiten, der sich auf einen ethischen Standpunkt stellt, - und von jedem anderen Standpunkt ist es, wie gezeigt, unmöglich, den Begriff des Rechts überhaupt zu gewinnen. Sie ergeben sich unmittelbar aus der Grundlage aller Ethik. Ist es (wie ich in der Psychologie nachgewiesen habe) das Gefühl des Sollens, der Ausdruck der ethischen Bestimmung des Menschen, auf und in welchem die ethische Seite unseres Wesens beruth und sich kundgibt, und ist das Gewissen nur das zu Bewußtsein gekommene Gefühl des Sollens, so folgt unabweislich, daß der Ausgangspunkt aller Ethik, weil der Quell aller Sittlichkeit, der Begriff der Pflicht ist. Nur weil das Gefühl des Sollens mich anregt und das Gewissen mir sagt, daß ich dies zu tun, jenes zu unterlassen habe, nur also weil und so weit das Gefühl und das Bewußtsein der Verpflichtung sich in uns regt, gibt es ein Sittengesetz für uns. Wie schwer es auch sein mag, den Inhalt desselben klar und prägnant in eine allgemein verbindliche Formel zu bringen, wie verschieden daher auch der Inhalt gefaßt werden mag, - im letzten Grund stammt er doch aus dem Gefühl des Sollens, d. h. das Sittengesetz drückt nur aus, was das zu Bewußtsein gekommene Gefühl des Sollens als das Seinsollende und folglich zu Wollende und zu Tuende bezeichnet. Das Sittengesetz geht daher vom einzelnen Fall aus und greift nur allgemach um sich, indem es immer mehr Fälle in seinen Inhalt aufnimmt, d. h. es wird nur allmählich zum allgemeinen, Alle verpflichtenden Gesetz. Sein Inhalt muß aber immer dem zu Bewußtsein gekommenen Gefühl des Sollens entsprechen, weil es sonst ohne verpflichtende Kraft und folglich nicht Gesetz wäre. Nicht also das Sittengesetz erzeugt das Pflichtgefühl und das Pflichtbewußtsein, sondern umgekehrt das Pflichtgefühl, das Bewußtsein des Sollens erzeugt das Sittengesetz. - Geht nun, wie gezeigt, das Recht ursprünglich aus von einem unmittelbaren Pflichtgefühl, die äußeren Bedingungen, von denen die Möglichkeit der Befolgung des Sittengesetzes und damit die Sittlichkeit selbst abhängt, herzustellen und zu wahren, so gilt offenbar vom Rechtsgesetz dasselbe was vom Sittengesetz gilt. Auch das Rechtsgesetz entspringt aus einer Pflicht und bezeichnet im Grunde nur eine Pflicht. Denn seine Gesetzeskraft, seine Rechtsgültigkeit beruth nur darauf, daß es meine wie aller Andern Pflicht ist, jene Bedingungen einzuhalten und ihnen gemäß zu wollen und zu handeln. Daraus folgt unabweislich, daß ich nur Dasjenige von Andern zu fordern berechtigt bin, was mir zur Erfüllung meiner Pflicht notwendig ist, weil es dieselbe erst ermöglicht. Mein Recht gegen Andere, meine Rechtsbefugnis, entspringt folglich aus meiner Rechtspflicht, ist nur die Kehrseite derselben, bindet also auch die Andern nur soweit als meine Verpflichtung mich bindet: ich werde prinzipiell rechtlos, wenn ich von meiner Rechtspflicht mich prinzipiell lossage.

Wer dies bestreitet, hat nachzuweisen, daß es Rechte gibt, denen keine Pflicht zugrunde liegt, - daß ich also z. B. berechtigt bin zu existieren, Nahrung zu nehmen, wo ich sie finde, Besitz zu ergreifen etc. ohne dazu verpflichtet zu sein. Aber worauf beruhen diese Rechte? Weshalb bin ich bloß darum, weil ich existiere, auch berechtigt zu existieren? Warum hat dasselbe Recht nicht auch der Stein, den ich zerschlage, die Pflanze, die ich zerstöre, das Tier, das ich töte, um meine Existenz zu sichern? Offenbar nur darum, weil Stein, Pflanze, Tier keine ethischen Wesen sind, weil ihr Dasein nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel ist, weil sie also nicht verpflichtet sind zu existieren, ich dagegen diese Pflicht habe und darum berechtigt bin mein Dasein zu sichern. Habe ich dazu keine Verpflichtung, so fällt nicht nur diese Berechtigung hinweg, sondern es fragt sich auch warum ich verpflichtet sein soll, die Existenz jedes Anderen zu respektieren, warum ich keinen Menschen töten darf? Meine Pflicht gegen den Andern kann sich offenbar nicht weiter erstrecken als mein Recht und meine Pflicht gegen mich selbst; bin ich also selber nicht verpflichtet mein Dasein zu erhalten, begehe ich kein Unrecht, wenn ich mich selbst töte, so kann es auch kein Unrecht sein, einen Anderen zu töten. - Man sieht, das Recht ohne ihm zugrunde liegende Pflicht schwebt in der Luft. Wer das Recht nicht auf die Pflicht basiert, muß den ethischen Standpunkt aufgeben und kann es folglich nur auf die Gewalt basieren: ich bin nur berechtigt zu existieren, solange ich die Macht besitze, meine Existenz zu behaupten; das Recht ist der Kampf um das Dasein, der Krieg Aller gegen Alle, die permanente Revolution und Gewalttätigkeit, - dieselbe Konsequenz, die sich aus allen naturalistischen Rechtstheorien ergibt. -

Diese Sätze führen von selbst hinüber zur Deduktion und Feststellung der einzelnen Rechte und Pflichten, die aus dem allgemeinen Begriff des Rechts folgen, weil sie implizit in ihm liegen, und unter denen das Urrecht aller Rechte, das Recht der Existenz, obenansteht.

Man hat unter ihnen - fast allgemein (nach dem Vorbild des römischen Rechts) - drei große Klassen unterschieden, und sie mit den drei Namen des Sachen- oder Eigentumsrecht, des Vertrags-Rechts und des Personen-Rechts bezeichnet, auch wohl noch den Unterschied zwischen angeborenen und erworbenen Rechten hinzugefügt. Die Unterscheidung ist nach beiden Seiten hin im Grunde grundlos und daher wissenschaftlich unzulässig. Das Naturrecht kenn nur persönliche und nur angeborene Rechte, die in Eins zusammenfallen, weil jedes persönliche Recht ein angeborenes ist, und umgekehrt. Denn seine Aufgabe ist ja nur, das Recht oder die Rechte, welche in der "Natur", in der gegebenen, unabänderlichen Wesenheit, in der Subjektivität des Menschen liegen, aus ihr abzuleiten. Diese Rechte sind sämtlich angeborene, weil sie eben in und mit dem Menschen selber, also mit seiner Geburt implizit gesetzt sind. Sie sind sämtlich persönliche Rechte, weil sie eben nur darin sich gründen, darauf beruhen, dadurch "Rechte" sind, daß der Mensch von Natur aus Person, d. h. Subjekt von ethischer Wesenheit ist und daher sein Dasein eine ethische Bestimmung hat, Selbstzweck ist.

Wer dies (wie TRENDELENBURG u. a.) verkennt, wer die angeborenen Rechte leugnet, bezweifelt, dahingestellt sein läßt, oder im Naturrecht auch von erworbenen, positiven Rechten redet, der hat von vornherein die Aufgabe des Naturrechts verfehlt und wird sie daher auch nicht lösen können, oder begeht eine Verwechslung der Begriffe, die ihrer Lösung ebenso hinderlich ist. Gibt es keine angeborenen Rechte, sind also alle Rechte gleichsam von Menschenhänden gemacht, durch Menschen gesetzt und bestimmt, so gibt es eben kein Naturrecht, sondern nur sogenanntes "positives Recht", das seinen Grund hat im Willen derer, die es ponieren [als wahr annehmen - wp] und nur so lange gilt, als sie es gelten lassen wollen und die Macht haben, seine Geltung durchzusetzen, - d. h. das Recht ist die Willkür und Gewalt. Natürlich und damit angeborene Rechte zwar voraussetzen, aber sie doch nicht aus der Natur des Menschen, sondern durch eine reduzierende Analyse aus dem geltenden positiven Recht (den verschiedenen Gesetzgebungen) ableiten, oder doch bei der Deduktion derselben stets auf die positiv geltenden Recht hinüberschielen, heißt die Aufgabe des Naturrecht nicht lösen, sondern verwirren. Denn daß das positiv geltende, gesetzliche Recht dem Naturrecht überall entspricht, ist eine Voraussetzung, welche die tatsächlich bestehende Verschiedenheit der unter den verschiedenen Völkern (Rechtsgesellschaften) geltenden Gesetze augenfällig widerlegt. Das Naturrecht, wie alles Menschliche, entwickelt sich nur allmählich aus seinem ursprünglichen Keim, und durchläuft daher verschiedene Stadien, die mit den Fortschritten der Zivilisation und Kultur, d. h. mit der ethischen Entwicklung der Völker Hand in Hand gehen. Es liegt daher nicht fix und fertig im Bewußtsein des Menschen vor, es gibt keine dem Bewußtsein angeborenen Rechtsbegriffe, sondern der Mensch hat sie erst, auf demselben Weg wie seine ethischen Begriffe überhaupt, aus ihrer gemeinschaftlichen Quelle, dem Wesen der Subjektivität, zu Bewußtsein zu bringen. Und da aller Inhalt des Bewußtseins von der Genauigkeit und Schärfe der Unterscheidung unserer Empfindungen, Gefühle, Perzeptionen etc. abhängt, so wird die mangelhafte Unterscheidung ein mangelhaftes Rechtsbewußtsein und mangelhafte Rechtsbegriffe hervorrufen, welche gleichwohl so lange gelten werden, bis die Nation (Rechtsgesellschaft) eine höhere Bildungsstufe erreicht hat und von ihr aus die Mangelhaftigkeit des geltenden Rechts, das ihm beigemischte Unrecht erkennt. In den Gang dieser historischen Entwicklung greifen natürlich nicht nur Rasse und Abstammung des Volkes, Beschaffenheit des Klimas, geographische Lage, geschichtliche Konstellationen etc., sondern auch andere gleichsame zufällige Faktoren, Willkür, Herrschsucht, List, Gewalt etc., ein und stören den naturgemäßen Fortschritt. Nichtsdestoweniger werden die aus der Natur des Menschen folgenden drei großen Stadien der Entwicklung des Rechts im Allgemeinen sich auch historisch geltend machen. Anfänglich wird als Recht nur gelten, was die bloße Existenz und Subsistenz des Menschen zu tun und zu lassen erfordert, d. h. das Recht, durch Bewältigung der Natur, durch Besitzergreifung und Verwendung der zur Nahrung, Wohnung etc. dienlichen Naturgegenstände, die menschliche Existenz und Subsistenz zu sichern, und damit das Eigentumsrecht wird prinzipiell vorwalten und alle anderen Rechte bedingen und bestimmen. Sodann wird das Recht über die bloße Existenz hinaus ausgedehnt werden auf die Anerkennung und Sicherung der äußeren persönlichen Freiheit, des eigenen Willens und der selbständigen Tätigkeit, und damit wird das Vertragsrecht, das seinem Begriff nach den freien Willen voraussetzt und auf ihn basiert ist, nicht nur hervortreten, sondern als das normative Prinzip aller Rechtsinstitutionen sich geltend machen. Erst auf der letzten dritten Entwicklungsstufe wird für Recht erklärt und allmählich festgestellt werden, was nicht nur die leibliche, sondern auch für die geistige, ethische und intellektuelle Existenz, Entwicklung und Ausbildung des Menschen notwendig erscheint und jedem Menschen, weil er Mensch (Subjekt) ist, geleistet werden muß, d. h. damit erst wird das Personenrecht zum prinzipiellen Mittelpunkt erhoben werden, in welchem alle übrigen Rechte wie die Radien eines Kreises ihren Ursprung haben und sich vereinigen. Historisch sind diese Entwicklungsstufen von völlig gleicher Gültigkeit und Berechtigung, d. h. nicht historisch, sondern nur vom Wesen des Menschen aus läßt sich darlegen, daß nur die letzte Entwicklungsstufe des Rechtsbewußtseins den wahren Begriff des Rechts repräsentiert, und daß sie erst befähigt ist, durch eine weitere Fortbildung der geltenden Gesetze und Institutionen den Rechtsbegriff vollkommen zu realisieren. So fördersam daher auch das Studium der Rechtsgeschichte sein mag, - weder unmittelbar aus ihr selber noch durch kritisierende und analysierende Reflexion auf ihre Daten läßt sich der allgemeine Begriff des Rechts noch die Definition der Einzelrechte gewinnen. Die kritische Analyse muß ja notwendig bereits wissen, was das Recht ansich ist und fordert, wenn sie es in den mannigfaltigen, sich oft widersprechenden Daten der Geschichte, den positiven Gesetzgebungen, herausfinden will.
LITERATUR Hermann Ulrici, Die Quelle des Rechts und des Rechtsbegriffs, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Neue Folge, Bd. 59, Halle/Saale 1871
    Anmerkungen
    1) Krause und seine verdienstvollen Schüler, H. Ahrens und K. D. A. Röder, verlieren sich ins Unbestimmbare, wenn sie den Begriff des Rechts so weit ausdehnen, daß er über den Kreis der Bedingungen des ethischen Zusammenlebens der Menschen (der Entwicklung und Ausbildung der ethischen Natur des Menschen) hinausreicht. Das Recht muß auf diesen durch den Begriff des Ethischen bestimmten Kreis von Bedingungen beschränkt werden, weil der Begriff des Seinsollenden und der Begriff des Ethischen sich schlechthin decken, weil es also außerhalb der Sphäre des Ethischen kein Sollen, keine Verpflichtung gibt, und weil folglich nur denjenigen Bedingungen, durch welche das ethische Zusammenleben der Menschen im oben angegebenen Sinn bedingt ist, eine den Willen verpflichtende Kraft zukommen kann.