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AUGUST THON
(1839-1912)
Der Rechtsbegriff
[im Anschluß an das Werk
"Der Zweck im Recht" von Rudolf von Jhering]


"Die Erkenntnis, daß ein lebender Skalve wertvoller ist als ein toter Feind, führte zur Erhaltung des überwundenen Gegners und damit zu einem ersten Ansatz der Menschlichkeit. Der Sieger begnügt sich mit dem Zugeständnis geringerer Vorteile, um nicht bei zu hoher Forderung den Gegner zu Äußersten zu treiben. Die bloße Politik reicht aus, die Gewalt zur Innehaltung eines Maßes zu bestimmen. Mit dem Frieden aber kommt der Vertrag, mit dem Vertrag das Recht zur Welt. So gebiert die Gewalt, wenn sie sich zum eigenen Vorteil mäßigt, das Recht. Das Recht ist die Politik der Gewalt - nichts Anderes als der Niederschlag der Erfahrung in Bezug auf die richtige Verwendung der Gewalt."

"Grundgesetz des menschlichen Denkens ist die Subsumtion des Einzelnen unter das höhere Allgemeine. - Unerträglich dem Menschen ist eine gegen diese notwendige Subsumtion verstoßende irrige Subsumtion oder Ordnung, das Un-recht, das Un-wahre, das Un-schöne ist Begriffs-Widrig, Unlogisch."

"Sind es nun in der Tat die Lebensbedingungen der Gesellschaft, deren Sicherung das Recht bezweckt? Nicht ein-für-allemal sind die Lebensbedingungen gegeben; sie wechseln mit den veränderten Bedürfnissen der Zeit. Auch ist kein objektiver Maßstab anzulegen, um das, was Lebensbedingung ist, zu bestimmen; entscheiden ist allein die Überzeugung der jeweiligen Gesellschaft. Wenn das deutsche Strafgesetzbuch z. B. die Nester der Singvögel auszunehmen verbietet, so soll damit sicherlich der Genuß des Vogelsangs der Gesellschaft erhalten werden. Ein Genuß, ein Gut wird gesichert; kaum aber dürfte Jemand dieses Gut zu den Lebensbedingungen der Gesellschaft zählen. Freilich bemerkt Jhering ausdrücklich, man dürfe die Lebensbedingungen der Gesellschaft keineswegs auf die Bedingungen des physischen Seins beschränken. Sie sollen alles umfassen, was dem Leben erst seinen wahren Wert verleiht."

"Jedwede Entscheidung, mag sie ausfallen wie sie will, mag sie das Ganze fördern oder schädigen oder selbst an den Rand des Abgrunds führen, als eine Sicherung der Lebensbedingungen dieser Gemeinschaft zu prädizieren, heißt der Einsicht und dem Opfersinn, der Verblendung und der schnödesten Selbstsucht denselben wohltönenden Namen zu geben."

Es war im Anfang des Jahres 1865, als RUDOLF JHERING den dritten Teil seines "Geistes des römischen Rechts" erscheinen ließ. Eine gleich tiefe und nachhaltige Bewegung werden wenig juristische Werke hervorgerufen haben, wie der zweite Abschnitt dieses Buches. Denn mit dem feurigen Ungestüm, das unserem großen Rechtskenner und Denker eigen ist, wurde auf den letzten halbhundert Seiten die bisherige Auffassung des Rechts angegriffen und über den Haufen geworfen. Mit Energie wurde der Satz verfochten, daß das Recht nicht eine Schöpfung der juristischen Dialektik ist. Reale Kräfte, die Bedürfnisse des Lebens und Verkehrs, hätten dasselbe früherhin gestaltet und gestalten es noch fort und fort. Des praktischen Zweckes wegen sind alle einzelnen Rechte da; sie sind nichts als rechtlich geschützte Interessen.

Noch lebt in meiner Erinnerung, wie diese Ausführungen damals auf den Kreis derer wirkten, die eben begannen, sich mit der Jurisprudenz eingehender zu beschäftigen. Daß der bisherige Boden unter den Füßen schwankte und brach, fühlten wir wohl. Aber auch das Neugebotene schien keinen genügenden Halt zu gewähren. So empfanden es Viele als Bedürfnis, sich mit den so erweckten Zweifeln früher oder später wissenschaftlich abzufinden.

Dem Verfasser selbst erging es nicht anders wie seinen Lesern. Das Problem des Zweckmoments im Recht war gestellt; gelöst war es nicht. Das Weitererscheinen des "Geistes" wurden nunmehr sistiert [ausgesetzt - wp]. Die Vorrede zur dritten Auflage nannte den Grund: Der Verfasser war mit einer Arbeit beschäftigt, welche zuvor erscheinen und jene Frage von Grund aus behandeln sollte. Jetzt liegt das Werk vor uns, in seinem ersten, die Fundamente legenden Teil. Der detaillierten Durchführung und Verwertung des Zweckmoments an den wichtigsten Erscheinungen des Rechts wird der zweite Teil gewidmet sein, welcher noch für dieses Jahr in Aussicht gestellt ist.

Einer allgemeinen Beurteilung des Werkes habe ich mich zu enthalten. Einem Mann, wie JHERING, gegenüber würde sich ein Loben nicht ziemen. Und andererseits bietet das Werk dem Leser jedenfalls so reiche Ausbeute und so vielfältigen Gewinn, daß Ausstellungen gegen Einzelnes und selbst gegen Vieles den Gesamtwert des Werkes nicht beeinträchtigen können. Nur einem Bedauern sei Ausdruck gegeben. JHERINGs gewaltige Kraft hat das Werk ganz aus sich selbst herausgeschöpft. Fast unbekümmer um die, welche früher und jetzt seitabführende Wege verfolgt haben oder auch verwandte Straßen gezogen sind, ist er einsam den erwählten Weg vorangeschritten; nur hin und wieder schallt von Höhe zu Höhe ein Zuruf. Wie ein Komet, das Auge allein auf die Sonne der Wahrheit gerichtet, ist er in den gemessenen Kreis derer hereingebrochen, die ihre durch gegenseitige Anziehung geregelten Bahnen gezogen sind. Der Einluß, den Andere auf ihn ausgeübt haben, ist kaum zu erkennen und weniger noch zu bestimmen. Damit ist dem Leser erschwert, sich schlüssig zu machen, was er als Förderung der Wissenschaft begrüßen kann, was er als unhaltbar verwerfen muß. Es wird noch emsiger Mühe bedürfen, die Ergebnisse des Buches in unsere Wissenschaft einzuarbeiten - um den Bau derselben mit manchem schönen Stein zu bereichern, an anderen Orten von dem Schutt zu befreien, den JHERINGs Arbeit aufgedeckt hat, in manchen Teilen aber auch zu stützen gegen den Versuch, das Stehende in Schutt zu verwandeln.

Der letzteren Aufgabe vornehmlich unterzieht sich eine Schrift, welche soeben erschienen ist und der Anregung des JHERINGschen Werkes ihren Ursprung verdankt: "Die Vernunft im Recht" von FELIX DAHN. Den Gegensatz der Auffassung soll schon der Titel des Buches bekunden. Mit JHERING will es ringen, Schritt für Schritt, fast Satz für Satz, um sich "das fruchtbar gepanzerte Buch vom Leib wegzukämpfen". Die Hoffnung DAHNs, daß auch andere aus seiner Selbstverteidigung Wehr und Waffen gewinnen möchten, werden die folgenden Ausführungen zumindest teilweise bestätigen.

Diese Untersuchungen sollen sich darauf beschränken, den Rechtsbegriff JHERINGs in vierfacher Richtung einer Prüfung zu unterziehen. Zu diesem Zweck werde ich zunächst versuchen, den Gedankengang des Werkes insoweit wiederzugeben, als dies für jene Untersuchung erforderlich scheint.

"Der Zweck ist der Schöpfer des ganzen Rechts", so lautet das ganze Motto, das den Grundgedanken des Werkes und dessen endliches Ergebnis im Voraus ausspricht. Um dahin zu gelangen, wie (Kapitel 1) zunächst "das Zweckgesetz" untersucht, so "kein Wollen oder was dasselbe ist keine Handlung ohne Zweck". Dem Einwand, daß es nur eines von beiden geben kann, Kausalitäts- oder Zweckgesetz, versucht die Vorrede mit der Unterordnung des ersteren unter das letztere gerecht zu werden. Der Zweck ist die bewegende Kraft der Welt; die schöpferische Kraft eines bewußten Willens, folglich das, was wir Gott nennen, hat erst das Kausalitätsgesetz aus sich entlassen, so daß es nunmehr arbeitet, unerbittlich zermalmend, was sich nicht halten kann im Kampf ums Dasein - eine Auffassung, die in bemerkenswerter Weise an diejenige erinnert, zu welcher DARWIN früher in der Schlußbetrachtung seiner "Entstehung der Arten" gelangte und welche jedenfalls so lange als Hypothese berechtigt erscheint, als es nicht gelungen ist, alle Erscheinungen, auch die unseres inneren Lebens, auf das eine mechanisch wirkende Kausalitätsgesetz zurückzuführen.

Entsprechend diesem ersten Ergebnis wird (Kapitel 2) das Zweckmoment in der tierischen, sodann in der menschlichen Handlung geprüft. Bei beiden erscheint der Zweck des Wollens auf den Handelnden selbst gerichtet. Des Handelnden wegen erfolgt jedwede Handlung; und deswegen wird letztere eine Verwirklichung der Daseinsbedingungen genannt. Freilich - und hierin erkennt JHERING in einer dem Tier nicht gerecht werdenden Weise das Unterscheidende zwischen diesem und dem Menschen - "das Tier handelt bloß für sich, der Mensch auch für andere". Letztere Erscheinung wird in Kapitel 3 damit erklärt, daß der Egoismus bei der Erreichung fremder Zwecke interessiert wird. Wie die Natur (welche bei JHERING regelmäßig als Person, als denkendes und wollendes Wesen auftritt) zur Erreichung ihrer Zwecke ebenfalls den Egoismus des Menschen heranzieht, indem sie als Prämie für das, was sie will, die Lust, als Warnung für das Verbotene den Schmerz verwendet: so beruth auf der Verknüpfung des Zwecks der Einen mit dem Interesse der Anderen das ganze menschliche Zusammenleben: Staat, Gesellschaft, Handel und Verkehr.
    "Der Verwirklichungsapparat, den der Staat für seine Zwecke in Anwendung bringt, ist ganz derselbe wie der, dessen sich die Natur für die ihrigen bedient. Er beruth auf einer doppelten Art des Zwangs: des direkten oder mechanischen und des indirekten oder psychologischen."
Die Mittel des letzteren sind wiederum doppelter Art: sie bestehen in Lohn und Strafe. Demgemäß werden im 7. und 8. Kapitel diese egoistischen Heben der sozialen Bewegung besprochen. Gleichzeitig aber wird Seite 103 und 557 die Perspektive geöffnet auf zwei weitere Hebel, welche die Gesellschaft für ihre Zwecke beim Individuum in Bewegung zu setzen vermag und die nicht an den niederen Egoismus, sondern an etwas Höheres im Menschen appellieren: an die Möglichkeit der Selbstverleugnung, deren Problem das 4. Kapitel bereits in glänzender Weise behandelt hat. Diese weiteren Hebel sind das Pflichtgefühl und Liebe. Mit der Darstellung ihrer Wirksamkeit wird der zweite Band beginnen.

Für unsere Aufgabe kommt vornehmlich Kapitel 7 in Betracht, das den einen Hebel der gesellschaftlichen Ordnung, den Zwang, behandelt. Es will die Art und Weise schildern, in welcher die Gesellschaft den Zwang für ihre Zwecke in Anwendung bringt, das System des sozialen Zwangs aufdecken, einesteils in seinem äußeren Zwangsapparat, dem Staat, andernteils in den Grundsätzen über die Ausübung der Zwangsgewalt, dem Recht. "Recht ist das System der durch Zwang gesicherten sozialen Zwecke." (Seite 240)

Die Darstellung beginnt mit dem Versuch, die beiden Begriffe Staat und Recht bis auf ihre Anfänge zu verfolgen.

Der Zwang gehört nicht allein dem menschlichen Zusammenleben an. Auch unter den Tieren ist er zu finden, sowohl als Gewalt (als mechanischer Zwang), wie auch bereits als psychologischer Zwang, welcher der ersteren Form gegenüber einen immensen Fortschritt bezeichnet. Wäre die Gewalt nur der Tierwelt eigen, so müßte jeder Konflikt zwischen zwei Tieren mit der Vernichtung des schwächeren enden. Daß das Tier den Grad von Einsicht besitzt, um die bloße Drohung zu verstehen und ihr auszuweichen, ermöglicht das Zusammenbestehen des schwächeren mit dem stärkeren Tier.

Keinen anderen Ausgangspunkt als das Tier hat der Mensch vorgefunden. Allein mit höherer Einsicht begabt, hat er stufenweise gelernt, in eigenem Interesse seine Kräfte den Mitmenschen gegenüber zu mäßigen.
    "Die Menschlichkeit, zu der er sich erhebt, ist ihrem ersten Ursprung nach nichts als die durch das wohlverstandene eigene Interesse bestimmte Selbstbeherrschung der Gewalt."
Den ersten Schritt auf dieser Bahn bezeichnet die Sklaverei. Die Erkenntnis, daß ein lebender Skalve wertvoller ist als ein toter Feind, führte zur Erhaltung des überwundenen Gegners und damit zu einem ersten Ansatz der Menschlichkeit. Ebenso entspringt der Friede mit dem Gegner dem Verständnis für das eigene Interesse. Der Sieger begnügt sich mit dem Zugeständnis geringerer Vorteile, um nicht bei zu hoher Forderung den Gegner zu Äußersten zu treiben. Die bloße Politik reicht aus, die Gewalt zur Innehaltung eines Maßes zu bestimmen. Mit dem Frieden aber kommt der Vertrag, mit dem Vertrag das Recht zur Welt. So gebiert die Gewalt, wenn sie sich zum eigenen Vorteil mäßigt, das Recht. Das Recht ist "die Politik der Gewalt" - nichts Anderes als der Niederschlag der Erfahrung in Bezug auf die richtige Verwendung der Gewalt.

Die Gewalt wird nunmehr (Seite 255f) auf dem Weg begleitet, den sie einschlagen muß, um die Erfahrungen zu sammeln, aus denen sie dieses ihr System der Politik: das Recht aufbaut. Sie wird dargestellt als propulsiver [antreibender - wp] Zwang bei Notwehr und Selbsthilfe, als kompulsiver [zwingender - wp] in der Familie und im Vertrag. Eingeschaltet wird hier (Seite 267-287) um die Begriffsentwicklung des kompulsiven Zwanges zu veranschaulichen, eine Entstehungsgeschichte der römischen Vertragsobligation, welche viel des Anziehenden und Belehrenden bietet. Die sodann folgende Darstellung der "Selbstregulierung des Zwangs - der Sozietät" beruth auf folgendem Gedankengang. Der Daseinszweck des Menschen ist auf ohne Zwang nicht zu realisieren, letzterer folglich unentbehrlich. Wie aber ist der Erfolg desselben zu sichern, wie ist es möglich, "das Übergewicht der Gewalt auf Seiten des Rechts zu bringen"? Die Allianz löst dieses Problem nicht; wie der Bedrohte kann sich auch der Bedroher nach Allierten umsehen. Kaum höher steht die Garantie Seitens eines Dritten; denn wer garantiert für den Garanten? Und wenn das Schutz- und Trutzbündnis durch die gebotene Gegenseitigkeit des Schutzes den Garanten zu einem Interessenten erhebt, so steht doch auch dem Gegner frei, Bündnisse einzugehen, welchenfalls dann wieder nicht das Recht, sondern die Stärke der Parteien entscheidet. So noch heute nach außen hin, im völkerrechtlichen Verkehr. Im Innern des staatlichen Verbandes dagegen ist das Problem eben durch den Staat gelöst. Letzterer bedeutet die Sicherung der gemeinsamen Interessen Aller gegen ein sie bedrohendes Partikularinteresse. Daß die Gesellschaft mächtiger ist als der Einzelne, verbürgt ihr immer das Übergewicht, falls sie ihre Macht zur Behauptung ihres Rechts gegen den Einzelnen aufbieten muß. Dieselbe Lösung wird bereits in der Sozietät erstrebt, dem Prototyp des Staates. Ebenso im Verein, der dem Staat um eine Stufe näher steht und dessen Wesen im Unterschied von der Sozietät, die sich nach außen abschließt, darein gesetzt wird, daß er ein offener ist und neuen Mitgliedern den Zutritt gestattet. Erst im Staat aber ist dem Recht die Oberherrschaft über die Gewalt gesichert. Pflege des Rechts, d. h. die Handhabung der sozialen Zwangsgewalt, ist zwar keineswegs der einzige Zweck des Staates, wohl aber sein erster, sein hauptsächlichster, sein nie fehlender Zweck, kurz seine vitale Lebensfunktion. Der Staat ist die Gesellschaft selbst als Inhaberin der Zwangsgewalt; er ist die Organisation des sozialen Zwangs. Diese Organisation schließt zweierlei in sich: die Herstellung des äußeren Mechanismus der Gewalt und die Disziplin ihrer Handhabung. Letztere Aufgabe hat ihre Lösung gefunden im Recht, erstere in der Staatsgewalt - der höchsten, ihrem Wesen nach jeder anderen Macht auf dem Staatsgebiet überlegenen und darum souveränen Macht, deren Herrschaft auch einer etwaigen feindlichen Majorität gegenüber durch zwei Faktoren verbürgt wird: durch die Organisation der eigenen Machtmittel einerseits, durch die Verhinderung bedrohlicher Organisationen feindlicher Elemente andererseits. Namentlich das Zwangsrecht muß dem Staat als absolutes Monopol vorbehalten bleiben. Dies aber heißt wiederum nichts anderes als: der Staat ist die einzige Quelle des Rechts. Denn nur diejenigen Normen verdienen den Namen des Rechts, welche den Zwang hinter sich haben.
    "Der Charakter einer Rechtsnorm bestimmt sich lediglich danach, daß der Richter nach ihr Recht zu sprechen und sie gegen den Widerstrebenden mittels Zwanges zur Anwendung zu bringen hat." (Seite 321)
Demnach liegt ein doppeltes Moment im Recht, das des Zwangs und das der Norm. Das staatliche Gebot kann in dreifacher Form auftreten, von denen eine jede der vorhergehenden gegenüber einen wesentlichen Fortschritt bekundet. Zunächst als Individualgebot hervorgerufen durch das unmittelbare Bedürfnis des einzelnen Falles und mit diesem wieder verschwindend. Die zweite Stufe bildet das abstrakte Gebot oder die Norm, stets aus zwei Bestandteilen gebildet, dem Bedingenden (dem Tatbestand) und dem Bedingten (dem Imperativ) - folglich immer in der Form denkbar: "wenn - so". Im Begriff der Norm liegt es, daß sie denjenigen binden will, an den sie gerichtet ist. Hierzu kann sich jedoch noch eine weitere Wirkung gesellen: die nämlich, daß die Norm zugleich ihren Urheber bindet. Nach diesen beschränkteren oder weiteren Wirkungen werden die einseitig verbindenden von den zweiseitig verbindenden Normen geschieden. Letztere allein vermögen einen wahren Rechtszustand zu schaffen; mit ihnen erst tritt anstelle der Willkür die Gleichmäßigkeit, Sicherheit, Berechenbarkeit des Gesetzes.
    "Recht im vollen Sinn des Wortes ist die zweiseitig verbindende Kraft des Gesetzes, die eigene Unterordnung der Staatsgewalt unter die von ihr selber erlassenen Gesetze." (Seite 365)
Als Grundlage für die folgenden Untersuchungen wird dieser karge Auszug genügen.


1. Die Entstehung des Rechts

"Das Recht ist die Politik der Gewalt" - "die durch das eigene Interesse gebotene Mäßigung der Gewalt" - "die Gewalt, wenn sie sich mit Einsicht und Selbstüberwindung paart, gebiert das Recht". Die Richtigkeit der in diesen und ähnlichen Sätzen bekundeten Anschauung ist nunmehr zu prüfen.

"Die Selbstbeschränkung des Starken" ist auch nach JHERING nicht die einzige Entstehungsart des Rechts. Auch die "Association der Schwachen" und "der Friede" sind Arten der ursprünglichen Begründung des Rechts (Seite 250 und 323). Wenn wir folglich in der Selbstbeschränkung der Gewalt den rechtbildenden Faktor aufsuchen, so werden wir von vornherein annehmen können, daß er demjenigen gleich oder verwandt ist, welcher aus Assoziation und Friede Recht entspringen läßt.

In einer Frage von fundamentaler Bedeutung trete ich JHERING zunächst bedingungslos bei. Auch nach meiner Überzeugung ist das Recht nicht vom Himmel herniedergestiegen, um die rohe Gewalt zu zügeln, die vordem die Erde beherrscht hat. Auf unserem Erdball selbst, mitten im ruhelosen Getriebe der einander bald befehdenden, bald fördernden Interessen, ist auch das Recht erwachsen - langsam anfangs und unverstanden, bis sich endlich nach Verlauf ungezählter Jahre der schwache Sproß da, wo ihm der Boden günstig war, zum mächtigen, weithin schirmenden Baum entwickelt hat. Aber nicht die Gewalt des Stärkeren allein, wenn auch im Bund mit Einsicht und Selbstüberwindung, vermag das Recht zu erzeugen. Ein weiterer Faktor gehört noch dazu.

Einsicht und Selbstüberwindung können den einzelnen Menschen bestimmen, von seiner physischen Macht nicht jeden möglichen, wenn auch verlockenden Gebrauch zu machen. So wird z. B. das wohlerkannte höhere Interesse an einem künftigen Fruchtgewinn den Menschen davon abhalten, eines augenblicklichen Bedürfnisses wegen sämtliche Bäume seines Bereiches zu fällen. Diese Einsicht führt zu einer Mäßigung und Regelung der Gewalt, sie kann sich zu einer vollkommenen "Politik der Gewalt" entwickeln; ein Recht zwischen dem Menschen und den Bäumen entsteht daraus nie. Dieselbe Politik kann den Menschen bestimmen, Tiere zu schonen, die er zu erlegen imstande ist: sei es um eines weiteren Gewinnes wegen, ihrer Milch, ihrer Wolle, ihrer Arbeitskraft, ihrer Schönheit wegen, sei es, um künftig umso mehr erlegen zu können; so, wenn er die Fische zur Laichzeit schont. Auch diese Mäßigung kann sich zu einem vollkommenen, andauernd befolgten System entwickeln; zur Bildung eines Rechts zwischen Mensch und Tier wird sie niemals führen. Man darf nicht einwenden, daß zwischen Menschen und Bäumen überhaupt kein Recht entstehen kann und ebensowenig zwischen Menschen und Tieren. So richtig dies ist, die Erscheinung selbst bedarf der Erklärung. Woher kommt es, daß die Mäßigung der Gewalt Menschen gegenüber anders wirkt als gegenüber Tieren und leblosen Sachen?

Aber wirkt sie auch anders? Gewiß nicht überall und unbedingt. Wenn ein afrikanischer Stamm den Kraal des anderen Stammes überfällt (und ähnlich mögen in vorhistorischer Zeit die Zustände der später zu Kulturvölkern erwachsenen Sippen, Horden und Stämme zu denken sein): da werden noch heute die Männer und älteren Frauen niedergemacht, oder wohl auch verzehrt und nur die Kinder und jüngeren Frauen samt dem Herdenvieh geschont und weggetrieben. Sicherlich mäßigen sich die glücklichen Räuber, wenn sie nicht alles Leben, wie sie tatsächlich könnten, vernichten. Trotzdem wird in dem so begründeten Zustand kaum der Keim einer Rechtsbildung zu erkennen sein. Wie die Rinder folgen die geraubten Menschen dem Stärkeren, die Erwachsenen wohl mit einem Gefühl ihres widrigen Geschicks, das ihnen trotzdem im Vergleich mit dem Tod, dem sie entgangen sind, als das kleinere Übel erscheint. Versagen ihnen die Kräfte zu folgen, so werden sie nachträglich noch niedergemacht. Was sollte auch den Sieger abhalten? Nur im eigenen Interesse hatte er sie zuvor geschont: er schont sie nicht mehr, wenn sich sein Interesse wandelt. Und die Opfer selbst werden die Gewalttat, der sie unterliegen, vielleicht als ein Unglück, nicht aber als ein Unrecht empfinden. Der notwendige Faktor der Rechtsbildung ist hier noch nicht da.

Anders gestalten sich die Verhältnisse, wenn auf einer entwickelteren Kulturstufe auch widerstandsfähige Männer, wenn ganze Stämme nach ihrer Niederlage geschont und in die Sklaverei abgeführt werden. Die Schonung wäre übel am Platz, wenn sich der Sieger jede Stunde vor erneuter Feindseligkeit hüten müßte. Die Erhaltung eines Todfeindes wäre das eigene Verderben. Die Schonung hat nur Sinn, wenn der Besiegte um den Preis des eigenen Lebens auch seinerseits Rache und tödliche Feindschaft aufgibt (1). Umgekehrt wird auch der Besiegte eine gewisse Mäßigung des Siegers erwarten müssen, wenn er den Gedanken an einen zukünftigen Widerstand aufgeben soll. Muß er befürchten, nur aufgespart zu werden zu einem späteren qualvollen Opfertod, so wird er wie das reißende Tier, das in Gefangenschaft geraten ist, jeden günstigen Augenblick zur Flucht oder zu einem erneuten verzweifelten Kampf nutzen. Es ist folglich eine gegenseitige Erwartung in Bezug auf das Verhalten des Anderen, welche einen modus vivendi [erträgliches Zusammenleben - wp] herstellt. Nicht einseitige Mäßigung erzeugt ihn, sondern ein auf Einsicht und Erfahrung gebauter Kompromiß der Interessen. Hierin erst liegt der Anfang einer Rechtsbildung. Steigert sich die Erwartung zum Verlangen und bildet letzteres, wenn auch unausgesprochen, für das Verhalten der anderen Seite ein bestimmendes Motiv, so ist ein Rechtszustand zwischen den beiden Teilen hergestellt. Ein gegenteiliges Handeln wird nunmehr nicht bloß als ein Unglück, nicht bloß als ein schädigendes Ereignis empfunden werden. Es wird zugleich das herbe Gefühl getäuschter Erwartung und den verschärften Durst nach Rache erregen. Mit diesem gesteigerten Gefühl des Unwillens muß auch der andere Teil als mit einer ihm feindlichen Kraft rechnen, die er sich scheuen wird, leichtsinnig zu entfesseln.

Nicht die Gewalt, die sich selbst beschränkt, bringt also das Recht hervor. In jeglicher Gestalt, zum Äußersten angespannt oder gemäßigt oder in ihrem schüchternsten Auftreten bleibt sie immer etwas Tatsächliches. Die Einschränkung gewaltsamen Vorgehens kann nur auf Rechtsbildung hinwirken, insofern sie in der Seele des Schonenden wie des Geschonten Motive zu gegenseitiger Achtung ihrer Interessen erzeugt. Die Wechselwirkung dieser Motive bildet das Recht. Damit ist aber auch die wesentliche Gleichheit einer jeden Rechtsbildung nachgewiesen. Auch in der friedlichen Vereinigung mehrerer zu einem gemeinschaftlichen Zweck (2), sowie in dem Friedensschluß nach vorausgegangenem Kampf (3) (den beiden weiteren rechtbegründenden Tatsachen JHERINGs) offenbart sich dieser Kompromiß der Interessen. Die Erwartung eines gewissen Verhaltens der Anderen wird bei Allen erregt, die Erwartung bringt das Verlangen hervor, das Verlangen der Anderen und die Furcht vor den Folgen seiner Nichtbeachtung gibt das Motiv zur Befolgung ab - mit der tatsächlichen, andauernden Befolgung ist das Recht der Gemeinschaft entstanden. Es war einseitig und ungenau, wenn die Naturrechtslehre früher alles Recht aus einem Vertrag herstammen hat lassen. Aber insofern kam doch in dieser fehlsamen Fassung ein richtiger Gedanke zum Ausdruck, als alles Recht einen Kompromiß der Interessen voraussetzt. Jede Rechtsbildung ist ein zwei- oder mehrseitiger Akt; sie setzt eine Veränderung in der Seele wenigstens zweier Menschen voraus. Nach JHERING könnte der einseitige Akt der Selbstbeschränkung der Gewalt das Recht erzeugen.

Keineswegs soll behauptet werden, daß die Interessen, deren Einigung das Recht erzielt, sich jederzeit klar und bewußt, als das was sie sind, in der Seele der Interessenten abspiegeln. Dunkel und unklar wird das Verlangen oftmals sein, häufig auch umhüllt und versetzt mit abergläubischen Vorstellungen. Oft wird als Wille der Götter das angesehen, was eine Gemeinschaft ihrer selbst wegen begehrt. Umso energischer wird die Gemeinschaft alsdann auf Befolgung der Gebote bestehen, deren Nichtachtung ihr unabwendbares Leid Seitens der Himmlischen zuziehen kann. Der Unwille der Genossen wird sich gegen den Unfolgsamen umso heftiger kehren, als sein Ungehorsam die ganze Gemeinschaft dem Zorn und der Rache der Götter aussetzt. -

Auch dadurch hören die Interessen nicht auf, reale Interessen zu sein, daß man das, was sie fordern, als Vernunftpostulat bezeichnet. Was auf das Wohl der Gemeinschaft als auf seinen Zweck bezogen diesem wahrhaft förderlich ist, darf vom Standpunkt der Gemeinschaft aus vernünftig genannt werden. Hiernach ist auch das Recht vernünftig, weil es der Sicherung der gemeinschaftlichen Interessen dient. Die Fähigkeit, das Recht zu erzeugen, darf den arterhaltenden Eigenschaften des heutigen Menschengeschlechts zugezählt werden. Vielleicht sind Unzählige mit ihrem Nachwuchs untergegangen, die diese Fähigkeit in sich nicht zu entwickeln vermocht haben (4). Aber wenn eine Norm der Gemeinschaft übertreten wird, so empört dies die Genossen nicht, weil das Unrecht unlogisch, vernunftwidrig ist (5). Müßte doch sonst eine törichte Behauptung auf das Gefühl ebenso wirken wie ein Verbrechen. Die beleidigten Interessen sind es, welche gegen das Unrecht mit Heftigkeit reagieren. Zu ihrer Unterstützung rufen sie nur heute den Vernunftgedanken an, wie in früheren Zeiten die Götter.

Aus dem Gesagten folgt aber weiter, daß nicht erst im Staat und daß auch nach Bildung der Staaten nicht bloß in der staatlichen Gemeinschaft Recht entsteht. Jede menschliche Gemeinschaft, die eine gewisse Norm des Zusammenlebens anerkennt - genauer gesprochen, bei welcher das Verlangen der großen Mehrzahl, die wir die Gesamtheit nennen, für die Einzelnen ein Ausschlag gebendes Motiv ihres Verhaltens abgibt - ist damit Rechtsgemeinschaft; die das Zusammenleben regelnde Norm ist ihr Recht. Es gibt hiernach soviel Rechtskreise, als es Gemeinschaften von Menschen gibt. Jeder Verein im Staat, der verbotene nicht weniger als der erlaubte, hat sein eigenes Recht. Es nützt nichts, die Tatsache zu leugnen: sie macht sich in ihren Wirkungen fühlbar. Nur freilich verhält sich der Staat verschiedentlich diesen verschiedenen Rechtskreisen gegenüber. Er kann die Vereinigung erlauben und zugleich ihr Recht zu dem seinigen machen. Dann ist der Grundvertrag des Vereins, der dessen objektives Recht ausmacht, zugleich Rechtsgeschäft in den Augen des Staates, aus welchem subjektive Rechte entspringen. Der Staat kann die Vereinigung erlauben und doch den Einzelnen verbieten, was die Norm des Vereins seinen Mitgliedern befiehlt. So wenn er eine Studentenverbindung genehmigt, welche ihren Gliedern jede Duellforderung anzunehmen zur Pflicht macht. Der Staat kann die Vereinigung verbieten und trotzdem dasselbe befehlen, was eine einzelne Norm dieser verpönten Gemeinschaft gebietet. Die christliche Kirche stellte noch zu der Zeit, wo sie eine verbotene Vereinigung war, das Gebot auf, dem Kaiser zu geben was des Kaisers ist - und wenn die Christen, dem kirchlichen Gebot folgend, umso williger Steuern gezahlt haben, so kam diese Rechtsnorm dem römischen Staat zugute. Der Staat kann endlich sowohl die Vereinigung verbieten, als auch ihren Imperativen mit seinen Imperativen entgegentreten. Hier, wie im zweiten Fall, liegt für den, der beiden Verbänden angehört, ein Konflikt der Pflichten vor - und die Geschichte lehrt, daß nicht immer der Staat es ist, dessen Gebote in diesem Widerstreit siegen. Wenn trotzdem der Staat als souverän und als oberster Erzeuger des Rechts gilt, so wird dies durch folgende Erwägung gerechtfertigt. Das Mitglied eines Geheimbundes, welches ungern und gegen seinen Wunsch, doch treu der übernommenen Verpflichtung, ein Todesurteil an einem verräterischen Genossen vollzieht, handelt seiner Meinung nach pflichtmäßig, weil es dem Recht des Bundes eine bestimmende Macht einräumt. Vom Standpunkt des Staates hat es dem Verbot der Tötung entgegengehandelt, welches für diesen Fall keine Ausnahme kennt. Sonach erscheint es als Mörder und wird als solcher bestraft werden. Seine Hinrichtung wird aber kaum jemals weder in seinen eigenen Augen noch in denen seiner Genossen wiederum als Mord erscheinen, der gegen Henker und Richter um Rache schreien könnte. Vielmehr wird die Hinrichtung als Unglück, aber trotzdem als eine recht- und pflichtmäßige Handlung empfunden werden. Mit anderen Worten, auch die Genossen des Geheimbundes achten das staatliche Recht insofern, als sie es als ein genügendes und rechtfertigendes Motiv für die Handlungen derer betrachten, die nicht zu ihrem Bund gehören. Verhält es sich anders - und immerhin ist dies denkbar - dann allerdings wird eine Auflehnung vorliegen, welche, solange sie dauert, den staatlichen Verband diesen Gliedern gegenüber in Frage stellt.

In den folgenden Untersuchungen wollen wir uns jedoch auf staatliches Recht beschränken und prüfen, ob für dieses Zwang und Gericht notwendige Erfordernisse sind.


2. Das Zwangsmoment im Recht

Die alte Lehre, daß nur dasjenige Recht ist, was nötigenfalls erzwungen wird, und daß sonach der Zwang ein begriffliches Merkmal des Rechts bildet, schien zumal in letzter Zeit mehr und mehr an Boden zu verlieren. Nun hat JHERINGs Name ein wuchtiges Wort der alten Lehre neuen Halt gegeben und sofort ist der Streit um diese Frage in früherer Heftigkeit wieder entbrannt.

Suchen wir vor Allem eine Verständigung über den Punkt zu gewinnen, in welchem sich die widerstreitenden Ansichten scheiden.

Nicht das kann der Gegner Meinung sein, daß sich die Rechtsnorm als solche erst in ihrer tatsächlichen Erzwingung erweist (6). Der Darlehensempfänger war im Rechtssinn Schuldner, ihn traf das Rechtsgebot der Rückzahlung, auch wenn er freiwillig und rechtzeitig das geliehene Geld zurückbrachte. Ebenso aber auch, wenn der Gläubiger seinen Anspruch verjähren hat lassen - wenn der flüchtige Schuldner nicht aufzufinden war - wenn der Verklagte mit Unrecht vom Richter freigesprochen wurde - wenn sich bei der Exekution nichts gefunden hat, womit der Gläubiger befriedigt werden konnte. In all diesen Fällen wird man dem Gebot, das den Schuldner vorher getroffen hat oder künftig trifft, den Charakter eines Rechtsgebotes nicht deswegen versagen wollen, weil es tatsächlich nicht zur Erzwingung des Geschuldeten gekommen ist.

Im Sinne der Gegner wird vielmehr die Möglichkeit der Erzwingung, die Erzwingbarkeit der Norm genügen. Jede staatliche Norm wird sich als Rechtsnorm darstellen, an deren Übertretung im Voraus Zwangsfolgen geknüpft sind. Sehen wir aber zu, was unter diesen Zwangsfolgen verstanden wird. Unstreitig gehören alle diejenigen Normen hierher, an deren Nichterfüllung Rechtsfolgen geknüpft sind, welche nachträglich das von der übertretenen Norm vergeblich Angestrebte zu erreichen bezwecken. Es ist gebräuchlich geworden, hier von Erfüllungszwang zu reden - und ich habe an anderer Stelle (7) auszuführen versucht, wie sich nicht nur bei Geboten, sondern auch bei Verboten von einem Erfüllungszwang sprechen läßt. - Die Normen, deren Nichtbefolgung den Erfüllungszwang wachrufen, erschöpfen jedoch den Bestand der Rechtsnormen keineswegs. Sämtliche Normen wären sonst auszuscheiden, deren Übertretung lediglich eine Strafe nach sich zieht. Denn die Strafe verfolgt das Irreparable im Unrecht. Die tatsächliche Verhängung der Strafe zwingt nicht und bezweckt nicht zu zwingen. Wie könnte auch die Hinrichtung des Mörders den Ermordeten wieder ins Leben rufen? Eben deswegen können aber auch diejenigen Imperative, welche gewissen staatlichen Organen gegen den Verbrecher einzuschreiten und ihn zur Strafe zu ziehen befehlen (in welchen Imperativen ich die alleinige Rechtsfolge des Delikts erblicke) (8), in Anbetracht der primären, übertretenen Norm nicht als Zwangsmittel bezeichnet werden (9). Wenn trotzdem die Gegner ausnahmslos auch diejenigen Normen, deren Übertretung nur Strafe nach sich zieht, zu den Rechtsnormen zählen und bei ihnen, obgleich der Strafvollzug eine Erfülltung nicht bezweckt, das Moment des Zwangs verwirklicht finden, so weist dies darauf hin, in welchem Sinn sie das Moment des Zwangs verstehen. Und zugleich hoffe ich, daß auf diesem Boden eine Verständigung zu erzielen ist.

In gewissem Sinn, dies gebe ich ausdrücklich zu, enthält auch die mit Straffolge bekleidete Rechtsnorm einen "Zwang". Insofern nämlich, als der Impuls, den die Norm zu geben bezweckt, durch die Androhung von Strafe für den Fall der Übertretung entschieden verstärkt wird (10). Wird aber dieses Moment des psychologischen Zwangs gemeint, so ist die Frage so zu stellen: darf bereits diejenige Norm als Rechtsnorm bezeichnet werden, welche sich darauf beschränkt, als einfacher Befehlt der Gemeinschaft auf den Willen der Genossen (11) zu wirken - oder verdient nur diejenige Norm den Namen einer Rechtsnorm, welche dies in verstärktem Maße tut, unter gleichzeitiger Androhung einer Zwangsvollstreckung oder von Strafe?

Jedenfalls ist das Wesen des Rechts richtig erfaßt, wenn die Frage so gestellt wird. Der Versuch einer Gemeinschaft, durch ihre Befehle (12) das Verhalten der Genossen zu bestimmen, ist ein Versuch der Rechtssetzung. Das Befohlene wird und bleibt Recht, wenn und solange dieser Versuch gelingt. Oder mit anderen Worten: Recht ist Motivation; es hört auf Recht zu sein, wenn es nicht mehr als Motiv wirkt. (13)

Von diesem Gesichtspunkt aus ist von vornherein zuzugeben, daß diejenigen Normen mehr Aussicht haben, bestimmend zu wirken und sich folglich als Rechtsnormen zu halten, deren Übertretung sofort auch mit Vollstreckung oder mit Strafe bedroht ist. Wer den staatlichen Befehl mißachten würde, wenn er sich gegen Zwang und Strafe gesichert sähe, wird doch noch häufig um dieser letzteren willen von einem Zuwiderhandeln absehen. Und wenn auch dieses verstärkte Motiv das Unrecht nicht abzuhalten vermag, so werden doch die sekundären Gebote der Exekution oder der Strafverhängung fast immer folgsame Organe finden, die durch ihr Einschreiten auch die primäre, vom Übertreter mißachtete Norm wieder zu Ehren bringen. Im Vergleich zu der so verstärkten und gesicherten Norm mag man daher immerhin den nackten staatlichen Befehl als unvollkommenes oder "verkümmertes" (14) Recht bezeichnen. Ihm überhaupt die Rechtsqualität abzusprechen, liegt, solange er als Motiv wirkt, schlechterdings kein Grund vor. Vielleicht daß der nackte Befehl des Gesetzgebers (15) im einzelnen Fall von vornherein und überall offener Mißachtung begegnet: dann ist er niemals zum Recht dieser Gemeinschaft geworden. Vielleicht, daß er nur kurze Zeit diejenigen zu bestimmen vermag, an die er sich wendet: der vernachlässigte und vergessene Befehl hört dann auf, Rechtsnorm zu sein. (16) Vielleicht aber auch, daß er fort und fort, weil er der Wille der Gesetzgebung ist, beachtet und befolgt wird. Warum ihm dann, solange dies geschieht, die Rechtsqualität absprechen? Er würde als Rechtsnorm gelten, wenn für den nicht einmal eingetretenen Fall des Zuwiderhandelns eine Vollstreckung oder Strafe in Aussicht stände: daß sich der staatliche Befehl, ohne dieser Mittel zu bedürfen, Geltung d. h. Befolgung zu verschaffen weiß, kann doch wahrlich sein Ansehen nicht schwächen (17). Der Büttel [Person, die zu niedrigen Diensten mißbraucht wird; Gerichtsdiener, Polizist - wp] im Hintergrund würde sonst in Wahrheit den staatlichen Willen erst zum Recht des Staates erheben. Und wie sollte andererseits die Perspektive auf irgendeinen, wenn auch noch so schüchternen und schwächlichen Exekutionsversuch oder auf eine minimale, kaum noch als Übel empfundene Strafe die Umwandlung der staatlichen Norm zu einer Rechtsnorm bewerkstelligen, da doch der Impuls des ersten Befehls für diejenigen, die ungehorsam sein wollen, durch derartige Rechtsfolgen kaum oder überhaupt nicht erhöht wird?

Was wäre denn auch das von den gesetzgebenden Organen ausgehende, von den Gesetzesuntertanen, weil es Gesetz ist, befolgte Gebot, wenn es keine Rechtsnorm sein soll? Wie will man alsdann diese das Leben der Gemeinschaft bestimmte Kraft bezeichnen? Bleibt der Befehl des Vaters an seine Kinder sicherlich ein väterlicher Befehl, mag nun für den Fall des Ungehorsams eine Strafe gedroht werden oder nicht, so bleibt das staatliche Gebot ebenfalls das, was es ist, auch in Ermangelung eines hinter ihm stehenden Zwangsapparates. Man wende nicht ein, daß es sich alsdann in keiner Weise von einem Gebot der Religion, der Moral, der Sitte unterscheiden würde. (18) Das religiöse Gebot fordert Gehorsam im Namen Gottes; bei ihm handelt es sich um eine Unterwerfung unter den göttlichen Willen. Hierin liegt das Unterscheidende zwischen Religions- und Rechtsgebot. Das angebliche Zwangsmoment des letzteren kann den Unterschied schon deswegen nicht begründen, weil auch das religiöse Gebot zumeist als Zwangsgebot auftritt, unter Androhung göttlicher Strafen auch für das irdische Leben. So wurde dem Verbot an den ersten Menschen sofort die Strafdrohung mitgegeben: "welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben"; so wurde der Ungehorsam Pharaos durch die Androhung und Verhängung gesteigerter Plagen zugleich geahndet und gebrochen. Selbstverständlich ist nicht ausgeschlossen, daß das Gebot, welches einer menschlichen Gemeinschaft als der vermeintliche Wille Gottes gilt, dessentwegen von dieser zugleich als ihr Gesetz den Genossen auferlegt wird. Die Geschichte bietet zahllose Belege für diesen, im theokratischen Staatswesen sogar gewöhnlichen Gang der Rechtsbildung. -

Als Sitte aber werden zweierlei verschiedene Erscheinungen bezeichnet. Einmal die lediglich tatsächliche Gleichheit der Lebensgewohnheit einer Gruppe von Menschen, welche sich aus verwandter Anlage oder aus Ähnlichkeit der Lebenslage bildet. Weiter aber auch diejenige Lebensgewohnheit, welche nicht nur aus einem inneren Antrieb, sondern zugleich deswegen befolgt wird, weil sie den gesellschaftlichen Anforderungen entspricht. Mit dem Recht ist nur die letztere verwandt - diese freilich so nah, daß die Subsumtion des einzelnen Falls zuweilen ernste Schwierigkeiten macht. Denn aus der Sitte in diesem Sinn kann leicht ein Gewohnheitsrecht werden. Den Ausschlag wird immer das innere Gefühl der Übenden geben müssen, wie es sich in den Akten der Übung offenbart. Wenn die Meinung, daß die Gemeinschaft ein gewisses Verhalten erwartet, sich dahin verdichtet und verstärkt, daß dieses Verhalten von der Gemeinschaft gefordert und ihr geschuldet wird; und wenn weiter diese Meinung sich in ein Motiv für die Übung umsetzt: so wandelt sich mit dem Hinzutritt dieser opinio necessitatis [notwendigen Meinung - wp] die Sitte in eine Rechtsgewohnheit um. -

Das Moralgebot endlich ist das Gebot des individuellen Gewissens. Zwar werden die verwandten Bedingungen, unter denen sich in einer Gemeinschaft die sittlichen Überzeugungen der Einzelnen entwickeln und vererben, auch eine große Verwandtschaft dieser Überzeugungen herbeiführen, umso mehr, je fester in sich vereint und je starrer nach außen abgeschlossen die Gemeinschaft erscheint (19). Zwar wird es weiter jeder staatliche Verband als eine Kalamität [mißliche Lage - wp] empfinden, wenn die Gewissensstimmen nicht bloß einzelner Individuen, sondern ganzer Klassen seiner Angehörigen von denen der Übrigen abweichen. Immerhin aber wird man vom Standpunkt der Moral aus nur die eine Anforderung stellen können, daß der Einzelne nach eingehender Prüfung seiner selbst sich entscheidet und handelt. Es gibt nur das eine Moralgebot, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Deshalb wird aber auch nicht jedes Rechtsgebot durch die Beeinflussung ihres Gewissens zum Moralgebot des Einzelnen werden können - und gerade am wenigsten dann, wenn es ohne den Nachdruck auftritt, den Vollstreckungs- und Strafaussicht ihm verleihen (20). Es ist folglich irrig, in jedem verkümmerten Rechtssatz ein Moralgebot zu erblicken. Der leitende Staatsmann (21), dem durch die Verfassung die Richtschnur seines Verhaltens gegeben ist, begeht einen Rechtsbruch, wenn er diese Verfassung verletzt - ganz gleichgültig, ob die Rechtsordnung Mittel und Wege kennt, ihn dafür zur Verantwortung zu ziehen (22). Moralisch verwerflich ist seine Tat jedoch nicht, falls erst nach gewissenhafter Prüfung und trotz Abwägung der verhängnisvollen Folgen, welche jeder Bruch des öffentlichen Rechts für lange Zeit nach sich zieht, sich die Überzeugung bei ihm durchgerungen hat, daß in diesem Fall das Wohl der Gemeinschaft das formale Unrecht gebieterisch fordert. Möglich, daß gleiche Erwägungen Andere, daß das Beispiel dieser die große Menge und schließlich das ganze Volk mit sich fortreißt: dann hört jener Imperativ auf, als Motiv zu wirken und Recht zu sein. Möglich aber auch, daß der Staatsstreichversuch, wenngleich vor dem Gewissen des Unternehmers gerechtfertigt, doch in den Gemütern der Gemeinschaftsgenossen als Rechtsbruch empfunden wird und daß das verletzte Rechtsgefühl zur gewaltsamen Abwehr und darüber hinaus zur Empörung und zum Sturz der Staatsgewalt hindrängt.

Ist aber eben nicht dieses die Rechtsfolge des Unrechts, daß der Rechtsbruch als solcher empfunden wird und das beleidigte Gefühl zur Retorsion [Gegenmaßnahme - wp] und gleicher Rechtsweigerung anstachelt? So oft man auch diesem endlichen Einwand begegnet, so wenig ist er doch haltbar. Rechtsfolge des Unrechts darf nur die von der Rechtsordnung aufgestellte Folge des Unrechts genannt werden. Es gibt aber keinen Rechtssatz, der Rechtsbruch mit Rechtsbruch zu erwidern erlaubt oder, genauer gesprochen: der um des Rechtsbruch des Einen die Übrigen von ihren sämtlichen Pflichten entbindet. Die Revolution ist kein Rechtsmittel, sondern eine Gewalttat - nicht Rechtsgang, sondern ein Abschütteln des Rechts, ein Sichverschließen gegen den Frieden suchenden Ruf des Gesetzes (23). Will man sich demgemäß mit der Tatsache begnügen, daß, je schwerer das Unrecht ist, umso intensiver das verletzte Rechtsgefühl dagegen reagieren wird, so gibt man den Satz von der Erzwingbarkeit des Rechts auf. Daß der Rechtsbruch regelmäßig eine bittere Empfindung in der Seele der Beteiligten und weiterhin auch in der Seele der Unbeteiligten erwecken wird, bin ich am wenigsten zu bestreiten Willens. Eine Zwangfolge des Unrechts liegt darin nicht.


3. Recht und Richter

Ich komme zu einem dritten Punkt, dem bedenklichsten von allen. Er betrifft das Verhältnis zwischen Richter und Recht. Nach JHERING gibt es kein anderes Kriterium des Rechts, als Anerkennung und Verwirklichung desselben durch den Richter (Seite 320). Würde statt des Richters, wie dies andern Orts (Seite 337) in der Tat geschieht, überhaupt nur eine staatliche Behörde gefordert, welcher nötigenfalls die Erzwingung des Rechtssatzes obliegen würde: dann wäre nur in einer anderen Fassung wiederholt, was ich oben bereits zu bekämpfen versucht habe, daß jede wahre Rechtsnorm eines Zwangsapparates bedarf. Allein in diesem allgemeineren Sinn ist der "Richter" JHERINGs nicht zu verstehen. Ihm wird als spezielle Aufgabe die Rechtspflege zugewiesen (Seite 355) und diese wiederum in die ausschließliche Verwirklichung des Rechts gesetzt (Seite 377, 383). Und wenn weiterhin Seite 389f die Garantien besprochen werden, welche den Richter sowohl den Parteien wie auch der Staatsgewalt gegenüber unabhängig stellen und ihm die freie Behauptung seiner Überzeugung ermöglichen sollen, so erhellt sich, daß in der Tat nur die Gerichte in des Wortes strikter Bedeutung, nicht allgemein auch andere staatliche Organe gemeint sind.

Eine Analyse der den Gerichten obliegenden Funktionen mag die Kritik dieser Auffassung anbahnen.

Die nächste Aufgabe des Richters besteht im Finden des Rechts jeder einzelnen, seiner Entscheidung unterliegenden, spruchreifen Sache gegenüber. Hier handelt es sich lediglich um ein logisches Operieren, um ein Urteilen darüber, ob die der Kognition unterliegenden Tatsachen die Bedingungen einer Norm, das "Wenn" derselben, darstellen und die abstrakte Norm sonach auch den konkreten Fall mit umfaßt. Lautet die Erkenntnis freisprechend, so ist es nichts weiter als ein Urteil (24). Spricht es aber eine Verurteilung aus, so wohnt ihm, sobald es rechtskräftig geworden ist, regelmäßig noch eine weitere Bedeutung bei. Zumeist stellt es sich dann dar als
    "eine autoritative Feststellung der schon vorhandenen Rechtspflicht, als der Imperativ des Gesetzes durch den Mund des Richters". (25)
Insofern liegt in der verurteilenden Erkenntnis zugleich ein Moment der Exekution. Wenn freilich auch dieser verstärkte Impuls nicht genügt, um den Verurteilten zur Befolgung zu bewegen, so wird nunmehr eintreten müssen, was man im engeren Sinne Vollstreckung nennt. Letztere aber liegt regelmäßig nicht mehr in der Hand des Gerichts. Weder der Gerichtsvollzieher des Zivilprozesses, noch die staatlichen Organe, denen die Vollstreckung der Todes- und der Freiheitsstrafen obliegt, sind richterliche Beamte. Wenn sonach JHERING als Kriterium des Rechts "die Anerkennung und Verwirklichgung desselben durch den Richter" bezeichnet, so kann dies nichts Anderes besagen, als daß für jede staatliche Norm, welche die Benennung "Rechtsnorm" verdient, sich ein richterliches Organ finden muß, welches - als Vorstufe für den Erfüllungszwang oder die Strafverhängung - die Subsumtion des einzelnen Falles unter die allgemeine Norm prüfen und das Ergebnis als Urteil zu verkünden hat. Die Frage lautet folglich: ist nur dasjenige staatliche Gebot ein Rechtsgebot, welches eines Durchgangs durch den Mund des Richters, einer Individualisierung durch eine richterliche Erkenntnis benötigt und befähigt ist? Wird nur das Gesetz zum Recht, für dessen Übertretung zugleich ein Richter eingesetzt ist, der die Übertretung urteilsmäßig zu konstatieren hat?

Wird die Frage so gestellt, so meine ich, daß sich JHERING wohl durch JHERING selbst widerlegen läßt. Denn überall bricht sich der Gedanke Bahn, daß das Recht doch bereits ohne den Richter besteht. So schon in den oben referierten Sätzen über die Aufgabe des Richters. So weiter, wenn Seite 383 das "materielle Recht" als der erste, der "Richter" als der zweite Bestandteil im Haushalt der Justiz genannt wird .- wenn nach Seite 425 "Das Recht den Mechanismus zu seiner Verwirklichung (die Rechtspflege) aus sich heraustreibt" - wenn endlich (Seite 377) anerkannt wird, daß auch die nichtrichterlichen Staatsbehörden verpflichtet sind, "so weit das Recht reicht, dasselbe zur Anwendung zu bringen". Das Individualgebot JHERINGs (Seite 327f) wird eines richterlichen Ausspruchs überhaupt nicht bedürfen. Freilich stellt dasselbe noch kein voll entwickeltes Recht dar. Bei abstrakten Normen wird ein richterliches Urteil die Subsumtion des einzelnen Falles unter die Norm zwar aussprechen können und gemeinhin auch auszusprechen berufen sein. Allein auch unter ihnen sind solche zu finden, welche vor ihrer Erzwingung nicht erst durch ein richterliches Urteil ihren Durchgang nehmen müssen. Je wichtiger dem Staat in Anbetracht seiner Aufgaben die unbedingte Erfüllung gewisser Gebote und Verbote erscheint, je weniger wird er geneigt sein, die Frage, ob der abstrakte Imperativ den einzelnen Fall mit umfaßt, zuvor einer richterlichen Kognition zu unterstellen. Um rascher handeln zu können, wird er das Stadium des Urteilens beschränken (26). Aber auch umgekehrt, wenn seine Anforderungen von verhältnismäßig geringfügiger Art sind, wird er ihnen nicht den langsamer und kostspieliger arbeitenden Mechanismus eines Gerichts zu Gebote stellen. Belege für beiderlei Fälle finden wir bei JHERING. Als Sache des Zwangs und damit des staatlichen Rechts bezeichnet JHERING selbst (Seite 92, 198, 451, 502) das Dienen im Heer, sowie das Eintrichten von Steuern und Abgaben - andererseits (Seite 443) die Herstellung und Unterhaltung öffentlicher Wege, das Reinigen der Kloaken, das Halten von Feuereimern, das Anmelden der Dienstboten und der Fremden im Gasthof - endlich (Seite 506, 437) den Impf- und den Schulzwang. Nun sind es aber nicht die Gerichte, sondern Verwaltungsbehörden, welche diese durch die Gesetzgebung im Allgemeinen ausgesprochene Verpflichtung im einzelnen Fall konstatieren und durchführen (27).

Dies weist auf einen Punkt von höherer Bedeutung hin. JHERING nimmt den Gedanken von STAHL und BLUNTSCHLI wieder auf, trotz des sehr berechtigten Einspruchs, welchen vor Jahren bereits REGELSBERGER (28) hiergegen erhoben hat. Hiernach wäre die Justiz ausschließlich für die Verwirklichung des Rechts bestimmt, während die sonstigen Organe der Staatstätigkeit, vornehmlich die der Verwaltung, zwar auch verpflichtet sind, soweit das Recht reicht, dasselbe zur Anwendung zu bringen, im Übrigen aber nach freiem Ermessen, nach Gründen der Zweckmäßigkeit vorzugehen hätten (Seite 377).

Dem liegt aber, wie mir scheint, ein Mißverständnis zugrunde. Schlechterdings hat jede Behörde zur urteilen, ehe sie tätig wird, zu urteilen nämlich, ob die Voraussetzungen ihres Rechts und ihrer Pflicht zum Einschreiten vorliegen. Nur diese Voraussetzungen sind eben verschiedene. Wo immer es gilt, eine Normwidrigkeit zu konstatieren - sei es nun zum Zweck des Erfüllungszwangs, sei es zum Zweck des strafrechtlichen Einschreitens, sei es zu irgendeinem anderen Zweck - wird immer die Möglichkeit, den einzelnen Fall unter die allgemeine Regel zu subsumieren, geprüft und demgemäß ein Urteil rechtlichen Inhalts zu fällen sein - mag nun ein Gericht oder eine Verwaltungsbehörde zum Einschreiten berufen sein, mag das Urteil in bestimmten Formen erlassen werden oder sich nur im Geist des Beamten bilden müssen, mag das Urteil als solches durch eine Berufung an andere Organe anfechtbar sein oder nicht. Für diese Behörden wird in gleicher Weise der "Wahlspruch" gelten, den JHERING (Seite 377) lediglich als den der Gerichte bezeichnet: "Das Recht und nichts als das Recht." Ich wüßte nicht, wie die mit der Steuerbeitreibung betrauten Organe der Verwaltung, wie die Militärbehörde, welcher die Zwangsgestellung obliegt, wie die "zuständige Behörde" des deutschen Reichsimpfgesetzes, welche für Nachholung der "ohne gesetzlichen Grund unterbliebenen Impfung" zu sorgen hat, wie jede beliebige mit Erfüllungszwang betraute Verwaltungsbehörde, namentlich auch eine jede Beschwerde-Instanz gegenüber Normwidrigkeiten der unteren Organe, wie sie sämtlich anders entscheiden dürften als nach dem Recht und allein nach dem Recht. Liegt ein Fall gesetzlicher Verpflichtung vor? so lautet hier die Frage, auf welche Richter wie Verwaltungsbeamter, und zwar nach dem Gesetz, Antwort geben muß.

Freilich erschöpft das Finden und Vollstrecken des Rechts, das auch den Verwaltungsbehörden obliegen kann, deren Tätigkeit keineswegs. Zumeist sind ihnen andere Aufgaben zugeteilt. Bald ist ihnen die Ermächtigung gegeben, neue Normen aufzustellen - sei es nun in der Form abstrakter Imperative, wie z. B. bei Verordnungen zur Ausführung von Gesetzen, sei es in der Form von Individualgeboten, wie bei den polizeilichen Befehlen in Fällen "gemeiner Gefahr und Not" (29). Ihre Tätigkeit ist alsdann eine imperative - ersterenfalls eine gesetzgebende, kraft der ihnen in einem bestimmten Umfang übertragenen gesetzgebenden Gewalt (30), letzterenfalls eine individuelle Verpflichtungen begründende. Vorangehen muß auch dieser Tätigkeit ein Urteilen - nicht aber darüber, ob eine Normwidrigkeit vorliegt, sondern ob das öffentliche Interesse die Aufstellung der Norm erfordert (31). - Bald ist der Verwaltungsbehörde die Ermächtigung zu Rechtsgeschäften Namens des Staates erteilt. Vor Abschluß des einzelnen Rechtsgeschäfts wird hier in Frage kommen müssen, ob das staatliche Interesse (32) ein solches verlangt. (33) - Bald wieder ist einer Behörde die Wahrung der Privatrechte des Staates im Weg des Prozesses, die Rechtsverfolgung im Namen des Staates, anvertraut: solchenfalls wird sie sich zunächst zu vergewissern haben, ob und welcher Rechtsweg ihr offen steht. - Bald endlich sind gewisse Organe des Staates, man möchte sagen: seine Hände, mit dem faktischen Ein- und Zugreifen betraut: mit dem Arretieren, Exiquieren, Beschlagnehmen etc. etc. Ihre Ermächtigung besteht darin, nicht daß sie etwas mit Rechtserfolg können, sondern daß sie dürfen und sollen, was anderen Personen verboten ist. Auch diese haben zuvor zu prüfen, ob die Voraussetzungen ihrer Verpflichtung zum Einschreiten gegeben sind. - Überall wird die verschiedenartige Aufgabe der Behörden ein verschiedenartiges Urteilen ihnen zur Pflicht machen. Wird aber die Konstatierung etwaiger Normwidrigkeiten von ihnen begehrt, so wird ihr Urteil sich auf das Recht beziehen müssen, mag die Behörde ein Gericht sein oder irgendein anderes staatliches Organ.

Die tatsächlichen Verhältnisse unterstützen folglich die Behauptung nicht, daß die Aufgabe der Gerichte ausschließlich in der Verwirklichung des Rechts besteht - weniger noch, daß ihnen allein diese Aufgabe zufällt - am wenigsten, daß nur dasjenige Recht ist, was durch einen Richter verwirklicht werden kann. Mußte schon im vorigen Abschnitt die Gegenthese aufgestellt werden: daß Recht einer Gemeinschaft all das ist, was als ihr Wille angesehen und deswegen befolgt wird, ganz abgesehen vom Vorhandensein eines Zwangsapparates, der diesem Willen Nachdruck zu verleihen bestimmt ist - so versuchte dieser Abschnitt den weiteren Nachweis, daß es auch ein erzwingbares und oft erzwungenes Recht gibt, welches vor seiner Verwirklichung nicht erst durch den Mund eines Richters bestätigt wird. Weder geschichtlich noch nach unserem heutigen Rechtsleben läßt es sich rechtfertigen, als Voraussetzungen für das Vorhandensein von Rechtsnormen besondere und unabhängig gestellte Organe zu begehren, welche mit der Verwirklichung der Rechtsnormen betraut sind. Und nur das Eine ist zuzugeben, daß der Zug der Zeit mehr und mehr dahin geht, vor jeder vorsätzlichen Zufügung eines Übels, wie sie im Strafvollzug liegt, sowie regelmäßig auch vor der Entfesselung der weiteren Nachteile, wie sie der Erfüllungszwang ebenfalls zumeist im Gefolge hat, den Ausspruch eines besonderen, den übrigen Organen des Staates gegenüber unabhängig gestellten (34) staatlichen Organs, des Richters, darüber zu verlangen, daß die im Gesetz benannte Voraussetzung, die Normwidrigkeit, vorliegt. Geschieht dies, so wird die öffentliche Meinung darüber beruhigt, einmal, daß kein Unschuldiger leidet, andererseits auch, daß Jedem wird, was ihm nach dem Gesetz gebührt.


4. Zweck des Rechts

Von der Form des Rechts wendet sich JHERING (Seite 426f) weiter zu dessen Inhalt. "Recht ist" - so lautet die schließliche Definition Seite 499, 434 - "der Inbegriff der durch äußeren Zwang d. h. durch die Staatsgewalt gesicherten Lebensbedingungen der Gesellschaft im weiteren Sinne". Auch gegen dieses Wort und dessen Begründung erheben sich mehrfache Bedenken.

Ich will nicht über die Berechtigung streiten, den Zweck des Rechts als dessen Inhalt zu bezeichnen. Würde doch diese Differenz schließlich auf einen Wortstreit hinauslaufen. Auch halte ich es BIERLING gegenüber nicht für inkorrekt, wenn das Recht anderen Orts (Seite 434) als Sicherung definiert wird, nämlich als "die Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft in Form des Zwangs". Sicherung menschlicher Interessen ist allerdings der Zweck eines jeden Rechtssatzes - und so dient es zur Veranschaulicung dieses Umstandes, wenn die Zweckbestimmung in die Definition des Rechts mit aufgenommen wird. Ganz richtig wird Seite 433 die Sicherung der Landstraßen gegen Straßenräuber durch das Recht ihrer Sicherung gegen Überschwemmungen durch Dämme dem Zweckgedanken nach gleichgestellt (35). Es würde auch wenig dagegen einzuwenden sein, wenn die Dämme definiert würden als die Sicherung der Straßen gegen Überschwemmungen. Zwar würde der Leser hierdurch keine Anschauung von der Art dieses Schutzes empfangen, es würde aber erläuternd hinzugefügt: "durch Hochbauten auf Seiten der Straße", so wäre die Definition auch gegen diesen Einwand gedeckt. Nun tut dies JHERING. Er bezeichnet die Art, wie das Recht die Sicherung leistet, durch den Zusatz "in Form des Zwangs" - ein Zusatz, der durch die vorangegangenen Ausführungen erläutert wird und dessen Berechtigung soeben geprüft worden ist.

Zugegeben also, daß der Zweck des Rechts die Sicherung ist. Nicht aber ist diese Sicherung mit dem gesicherten Gegenstand identisch. Sind es die Lebensbedingungen der Gesellschaft, die das Recht schützen soll - Bedenken gegen diese Formulierung werde ich weiter noch vorbringen - so kann das Recht nicht selbst der "Inbegriff dieser Lebensbedingungen" sein. Die Dämme im obigen Beispiel können zur Not als die Sicherung der Straßen, nicht aber als die gesicherten Straßen bezeichnet werden - und noch weniger als beides zugleich. Der logische Fehler dieser Gleichstellung liegt so klar vor Augen und ist, wie bereits von mir, so inzwischen auch von Anderen, so energisch geltend gemacht worden, daß ich denselben nur deswegen wieder betone, weil in neuester Zeit MERKEL (36) die am gleichen Doppelsinn leidende Definition JHERINGs vom subjektiven Recht wieder aufgenommen hat.

Sind es nun in der Tat die Lebensbedingungen der Gesellschaft, deren Sicherung das Recht bezweckt? Das Wort hat bereits Anklang gefunden; umso nötiger erscheint eine nochmalige Prüfung. JHERING gibt Seite 434f des Näheren an, was unter den Lebensbedingungen verstanden werden soll. Nicht ein-für-allemal sind die Lebensbedingungen gegeben; sie wechseln mit den veränderten Bedürfnissen der Zeit. Auch ist kein objektiver Maßstab anzulegen, um das, was Lebensbedingung ist, zu bestimmen; entscheiden ist allein die Überzeugung der jeweiligen Gesellschaft. So kann es kommen, daß das Recht in Wirklichkeit mit den Existenzbedingungen der Gesellschaft, statt ihnen zu dienen, im schroffsten Widerspruch steht. Es genügt, daß die Gesellschaft mittels dieser Rechtssätze ihre Lebensbedingungen zu wahren vermeint.

Will jedoch jeder Rechtssatz eine Lebensbedingung der Gesellschaft, wenn auch nur in diesem subjektiven Sinn, erfüllen? JHERING selbst macht sich den Einwand, daß nicht jedes Spezialgesetz, wie beispielsweise ein Stempelgesetz, eine Lebensbedingung der Gesellschaft darstellt. Der Einwurf wird mit der Antwort beseitigt, allerdings sei es eine absolute Erfordernis des staatlichen Bestehens und damit die Lebensbedingung der Gesellschaft, daß sich der Staat die nötigen Geldmittel beschafft. Das Ob sei notwendig, wenn auch das Wie frei bleibt; das Stempelgesetz sei nur eines der vielen denkbaren Mittel. (37) Ich bezweifle aber, daß sich eine derartige Zurückführung der Rechtsnormen auf vitale Interessen überall durchführen läßt. Wenn das deutsche Strafgesetzbuch z. B. die Nester der Singvögel auszunehmen verbietet, so soll damit sicherlich der Genuß des Vogelsangs der "Gesellschaft" erhalten werden. Ein Genuß, ein Gut wird gesichert; kaum aber dürfte Jemand dieses Gut zu den Lebensbedingungen der Gesellschaft zählen. Freilich bemerkt JHERING Seite 434 ausdrücklich, man dürfe die Lebensbedingungen der Gesellschaft keineswegs auf die Bedingungen des physischen Seins beschränken. Sie sollen alles umfassen, was dem Leben erst seinen wahren Wert verleiht. Wird hierzu alles gezählt, was der Gesellschaft irgendwie von Interesse scheint, so fällt auch der Vogelsang nicht zum letzten darunter. Gegen den Sinn des Satzes dürfte dann nichts mehr zu sagen sein; wohl aber gegen seine Formulierung. Jeder rechtliche Imperativ verfolgt einen Zweck: ein jedes Verbot den Schutz eines Gutes, ein jedes Gebot die Förderung eines Interesses. Die Willensmanifestation der Gemeinschaft unterliegt keinen anderen Sätzen wie die Willensäußerung des einzelnen Menschen. Auch das Individuum will mit jeder seiner Handlungen ein Bedürfnis befriedigen. JHERING erkennt die Parallele zwischen dem Wollen des Einzelnen und dem der Gemeinschaft ausdrücklich an. Er definiert folgeweise Seite 32 jede Handlung als "Verwirklichung der Daseinsbedingungen". Mir erscheint der Ausdruck deswegen irreführend, weil damit sämtliche Handlungen für das Leben als gleichwertig gesetzt werden. Und doch gibt es für den Einzelnen Existenzfragen und Bedürfnisse sehr nebensächlicher Art. Ja, er kann auch Bedürfnisse fühlen, welche seinem Dasein feindlich entgegentreten. So der Säufer, der seinem Hang widerstandslos frönt und sich damit bewußtermaßen Gesundheit und Leben untergräbt. Und doch würde sein Tun ebenso wie die absichtliche Selbstverstümmelung, ja selbst der Selbstmord, diese Befriedigung des äußersten Bedürfnisses nach Ruhe, nach JHERINGs Terminologie eine "Verwirklichung der Daseinsbedingungen" genannt werden müssen. Mir scheint dieses Wort zu viel zu sagen, um schlechthin auf jede Handlung zu passen. Ich würde mich lieber mit dem trivialeren Ausdruck "Bedürfnisbefriedigung" begnügen. Als ein Bedürfnis kann vom Menschen auch das empfunden werden, was ihm keineswegs, auch nicht seiner Meinung nach, frommt. Nur hat (bildlich gesprochen) die Mutter Natur, wie ich gerne zugebe, dafür gesorgt, daß regelmäßiger Weise die Bedürfnisempfindung für jedes lebende Wesen eine Mahnung enthält, zu tun, was ihm oder in ihm der Gattung zugute kommt. -

In gleicher Weise möchte ich den Zweck des Rechts auf die Sicherung von Interessen der Gemeinschaft beschränken. Oft werden letztere den Namen von Lebensbedingungen verdienen, noch häufiger aber nicht. Und hin und wieder wird es kommen können, daß die Gemeinschaft, um einem augenblicklichen Bedürfnis zu genügen, bewußtermaßen ihre wohlerkannten Lebensbedingungen verletzt. Gerade für eine Gemeinschaft liegt diese Gefahr umso näher, als die Interessen der einzelnen Glieder sich vielfach kreuzen und widersprechen und die gesetzgebenden Faktoren folglich leicht der Versuchung unterliegen können, die Wohlfahrt des großen Ganzen dem eigenen Privatinteresse oder doch dem Partikularinteresse einer Minderzahl zu opfern. Jedwede Entscheidung, mag sie ausfallen wie sie will, mag sie das Ganze fördern oder schädigen oder selbst an den Rand des Abgrunds führen, als eine Sicherung der Lebensbedingungen dieser Gemeinschaft zu prädizieren, heißt der Einsicht und dem Opfersinn, der Verblendung und der schnödesten Selbstsucht denselben wohltönenden Namen zu geben. Zugegeben aber auch, was nicht zugegeben werden kann, daß sämtliche Gesetze zumindest dem vermeintlichen Interesse des Ganzen dienen sollen: in Bezug auf ihre Dringlichkeit stehen letztere nicht auf gleicher Linie. JHERING selbst hebt dies Seite 481, 482 hervor - nur scheint mir nichts damit gewonnen zu sein, auch den in hinterer und hinterster Reihe stehenden Interessen noch den Namen der Lebensbedingungen beizulegen.

Daß ich endlich überall, wo JHERING von Gesellschaft spricht, den Ausdruch Gemeinschaft substituieren möchte, unterlasse ich besonders zu begründen. Ich berufe mich in dieser Hinsicht auf DAHN, dessen Proteste gegen den Gesellschaftsbegriff JHERINGs ich mich durchweg anschließen muß.

So gelange ich dann zum Schluß zu dem freilich recht nüchternen Satz: wie jede menschliche Handlung, hat auch die Rechtssetzung einen Zweck: nämlich den, die Interessen der Gemeinschaft zu sichern. Oder genauer gesprochen, zunächst nur die Interessen der Rechtsetzenden selbst, die der Gemeinschaft erst in zweiter Linie, nur soweit es die gesetzgebenden Faktoren als eigenes Bedürfnis empfinden, die Interessen der Gemeinschaft zu fördern. Aber freilich - die Geschichte gibt uns die Lehre auf - die Macht, Recht zu setzen, wird auf die Dauer nur bei denen verbleiben, denen es eigenes, ernstes, heiliges Bedürfnis ist, dem Wohl der Gemeinschaft zu dienen.

LITERATUR August Thon, Der Rechtsbegriff, Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, Bd. 7, Wien 1880.
    Anmerkungen
    1) Auch heute noch wird der Kriegsgefangene, der während der Schlacht sich eines Gewehrs bemächtigt und den Kampf von Neuem beginnt, kaum zum zweiten Mal entwaffnet, sondern niedergemacht werden. Auf wen man sich nicht verlassen kann, wird wie ein wildes Tier behandelt werden müssen. Ja selbst die eigenen Volksgenossen werden die Täuschung des Feindes nicht billigen, die auch ihnen im Fall der Gefangennahme die Aussicht auf Schonung nimmt.
    2) Auch schon, "seitdem auf die Dauer ein Paar beisammen blieb" (Dahn, Seite 82, 123) im Verband der Familie, in welcher der Mann seinen Schutz, Weib und Kinder ihren Gehorsam im Austausch geben.
    3) Auch schon im Sich-Vertragen nach einem unblutigen Kampf der Interessen, wie er jedem Vertrag, z. B. jedem Tausch, vorausgeht.
    4) Trefflich Dahn, Seite 44, 45.
    5) Dahn, Seite 13: "Grundgesetz des menschlichen Denkens ist die Subsumtion des Einzelnen unter das höhere Allgemeine. - Unerträglich dem Menschen ist eine gegen diese notwendige Subsumtion verstoßende irrige Subsumtion oder Ordnung, das Un-recht, das Un-wahre, das Un-schöne ist Begriffs-Widrig, Unlogisch." (vgl. auch Seite 28, 34, 36, 46, 103, 109 etc. etc.
    6) Die Bemerkungen Dahns (Seite 35) treffen folglich die gegnerische Lehre nicht.
    7) Thon, Rechtsnorm, Seite 47
    8) Siehe jetzt auch Zitelmann, Irrtum und Rechtsgeschäft, Seite 208.
    9) Jhering gibt dies zu, inder er Seite 472 (vgl. auch Seite 438) den Zwang (als Exekution) der Bestrafung ausdrücklich gegenüberstellt.
    10) Jhering, Seite 49. - Gleichgültig ist es hierbei, ob das Strafübel erst durch das Einschreiten gegen den Verbrecher verwirklicht werden soll oder sich als von Rechtswegen eintretende Folge ohne Weiteres an das Delikt knüpft (Rechtsverwirkung).
    11) Der Ausdruck "Genossen" hier und anderwärts ist zu eng. Die staatliche Norm wendet sich nicht bloß an die Angehörigen des Staates: auch Ausländer werden von ihr getroffen, jedenfalls dann, wenn sie das Territorium des Staates betreten. Ich würde daher lieber den unbestimmten Ausdruck "Normunterworfene" gebraucht haben, wenn dieser nicht kürzlich bei Wach in dieser Zeitschrift, Bd. VI, Seite 539, Anstoß erregt hätte.
    12) Zitelmann, a. a. O., Seite 222 erhebt Einspruch gegen die Auffassung der Norm als eines Imperativs. Nicht hypothetischer Befehl sei ein Rechtssatz, sondern hypothetisches Urteil. Nun scheint mir aber auf die Fassung des Rechtssatzes wenig anzukommen; das Entscheidende wird immer sein Zweck sein. Dieser ist aber keine Erweiterung der Kenntnisse derer, an die er sich wendet, sondern eine Beeinflussung ihres Willens. Letztere kann auch hypothetisch, für einen gewissen Fall im Voraus versucht werden. Wenn ausgestellten Posten für den Fall, daß der Feind herankommt, der gemessene Befehl zum Alarmieren gegeben wurde, so müßte nach Zitelmann unterschieden werden, ob dies geschehen ist mit den Worten: "Dann macht Alarm!" oder "dann sollt ihr Alarm machen". In diesem zweiten Fall würde nur die Mitteilung eines Urteils liegen - im ersten der Form nach ein Befehl, obgleich Zitelmann hier weder hypothetische Imperative noch Imperative, die sich an eine Mehrzahl von Personen richten, anzuerkennen scheint. (Gegen diese Unterscheidung siehe aber Zitelmann selbst Seite 56, 73, 122) Und wie könnte das Urteil "Ihr sollt Alarm machen" wahr sein, wenn nicht die in einem "Ihr sollt" ausgesprochene Verpflichtung durch den darin enthaltenen Imperativ zu gleicher Zeit hervorgerufen würde?
    13) Den Ausführungen Merkels "Rechtsnorm und Subjekt", in dieser Zeitschrift, Bd. VI, Seite 373 habe ich zu danken, daß sie mich auf eine Schwäche meiner früheren Deduktionen aufmerksam gemacht haben. Auch mir sind Befehle des Rechts wirkende, das Leben gestaltende Kräfte, zu vergleichen "nicht dem Geist über den Wassern, der am Spiel der letzteren als passiver Zuschauer keinen Anteil hat, sondern: den dieses Spiel beherrschenden und seine Regelmäßigkeiten bestimmenden Kräften". Daß das Wesen des Rechts Wirkung ist, ging jedoch aus meiner früheren Darstellung nicht genugsam hervor. Die Befehle der gesetzgebenden Organe sind nur insofern Recht, als sie wirken, d. h. insofern, als sie (allein für sich oder im Verein mit anderen Motiven) diejenigen, an die sie sich unmittelbar oder mittelbar wenden, zum gebotenen Verhalten bestimmen: nicht jeden Einzelnen zwar - sonst würde jedes Verbrechen die übertretene Rechtsnorm aufheben - wohl aber die große Menge, die wir die Gesamtheit zu nennen pflegen. - Die Bezeichnung als Motivation scheint mir dem Wesen der Sache entsprechender zu sein, als die meines Erachtens farblose und nicht recht faßbare "Anerkennung" Geyers und Bierlings.
    14) Bekker, Über den Rechtsbegriff, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Bd. 1, Seite 95f.
    15) Das heißt, dessen, dem ansich die Befugnis zugestanden wird, seinen Willen als Willen der Gemeinschaft zu verkünden.
    16) Nach Bierling, Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe, Bd. 1, Seite 135, würde die Bildung eines derogatorischen [aufhebenden, beschränkenden - wp] Gewohnheitsrechts einzelnen staatlichen Rechtsnormen gegenüber schlechterdings ausgeschlossen sein. Denn "ist auch nur der eine Satz anerkannt, daß Anordnungen gewisser Personen im Staat die Volksgenossen binden sollen, so sind eben damit alle nachfolgenden Anordnungen dieser Art so lange mitanerkannt, als jener eine Satz anerkannt ist." Diese eine Konsequenz beweist meines Erachtens die Unmöglichkeit, mit einem solchen Begriff der "Anerkennung" zu operieren.
    17) Jhering selbst nennt treffend Seite 103 die Forderungen der Gesellschaft, - in Form des Gesetzes ausgesprochen, "ihr Recht".
    18) Merkel, a. a. O., Seite 373f.
    19) Die sittlichen Überzeugungen aller Zeiten und Völker sind nichts weniger als gleich. Der einen Gemeinschaft erscheint als sittlich erlaubt oder sogar geboten, was der anderen tief verwerflich dünkt. Höchst belehrende Beispiele für die möglichen Veränderungen innerhalb der rechtlichen und sittlichen Überzeugungen einer Gemeinschaft bieten die religiösen Sekten Nordamerikas, von denen einzelne z. B. die Weibergemeinschaft nicht bloß dulden, sondern von ihren Genossen mit allem Nachdruck einer gemeinschaftlichen Überzeugung fordern. Unser Verbot der Beeinträchtigung des ausschließlichen Geschlechtsgenusses hat sich folglich dort in ein Verbot dieser ausschließlichen Hingabe verwandelt.
    20) Denn je nachdrucksvoller ein Gesetz auftritt, desto mehr wird es auch die Gemüter mit sich fortreissen und die Gewissen der Einzelnen bestimmen.
    21) Die Rechtssätze, die sich an den Souverän selbst wenden, lasse ich deswegen außer Acht, weil sie immer noch Manchen, ebenso wie die Sätze des Völkerrechts, als "problematisch" erscheinen. Der lateinische Münzvertrage, die Genfer Konvention, der Weltpostvertrag wären demnach ein reines Nichts!
    22) Nach der gegnerischen Meinung würde der unzweideutigste Artikel der Verfassung, auch wenn er sich unter dem Druck der öffentlichen Meinung Jahrhunderte lang Geltung verschafft hätte, dann kein Rechtssatz sein, wenn an seine Übertretung keine Rechtsfolge geknüpft wäre - sofort würde er es aber, wenn dem Verfassungsbruch als Strafe etwa ein Verweis vor dem Amtsrichter drohen würde! Wohin die Theorie gelangt, welche in jedem öffentlichen Recht zugleich eine Rechtspflicht erblickt (dagegen freilich meine "Rechtsnorm", Seite 125f), darauf hat Bierling, a. a. O., Seite 146 (von Wach a. a. O., Seite 540 mißverstanden) bereits treffend hingewiesen. Jedes Wahlrecht würde hiernach zugleich eine Wahlpflicht sein: wie selten ist aber an die Nichtbefolgung dieser Pflicht eine rechtliche Folge geknüpft!
    23) Übereinstimmend Dahn, Seite 217.
    24) Daß mit der Rechtskraft des freisprechenden Urteils der etwa vorhandene Anspruch des Klägers im Zivilprozeß, das Strafrecht des Staates im Strafprozeß erlischt, ist eine Rechtsveränderung, die das objektive Recht an das freisprechende Urteil knüpft. Deshalb bleibt letzteres doch was es ist: ein verneinendes Urteil.
    25) Wach, a. a. O., Seite 536. Jedoch nur regelmäßig, nicht immer. Denn "ist der Schuldner zur Abgabe einer Willenserklärung verurteilt, so gilt die Erklärung als abgegeben, sobald das Urteil die Rechtskraft erlangt hat" (deutsche Zivilprozeßordnung § 779). Die rechtskräftige Verurteilung genügt der Rechtsordnung, um die an die Willenserklärung geknüpften Rechtsfolgen auch ohne diese eintreten zu lassen. Sonach bleibt für eine Vollstreckung kein Raum mehr (vgl. meine "Rechtsnorm", Seite 100, 241, 243). Ungenau folglich Wach: "Jede verurteilende Erkenntnis ist ein Gebieten, nicht nur ein Erkennen."
    26) Als Beispiel könnte das "Kriegs- oder Standrecht" angeführt werden, umsomehr, wenn es wahr wäre (Jhering, Seite 388), daß dieses "nicht zur Rechtspflege gehört". Allein der Satz: "Die Staatsgewalt sucht hier nicht Recht vor einem ihr übergeordneten Richter, sondern sie spricht es selber - das "Kriegsgericht", das sie bestellt, ist sie selbst" - ist in mehrfacher Beziehung unhaltbar (vgl. Dahn, a. a. O., Seite 130).
    27) Dem steht nicht entgegen, daß auf die durch die Übertretung verwirkten Strafen zumeist von den Gerichten zu erkennen ist.
    28) Regelsberger, "Justiz und Verwaltung" (mit Rücksicht auf Stahls und Bluntschlis Staatslehre), Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Bd. 4, 1862, Seite 52f
    29) § 360, Ziffer 10 des deutschen Strafgesetzbuchs.
    30) Eine derartige gesetzgebende Gewalt kann auch den Gerichten übertragen sein. So wenn dem oberen Gerichtshof des Landes - wie dies bisher beim Ober-Appellationsgericht Jena der Fall war - die Befugnis zusteht, Präjudizien mit bindender Kraft für sämtliche Gerichte im offziellen Organ zu publizieren.
    31) Auch eine solche Befugnis kann den Gerichten zustehen (§§ 817, 819 der deutschen Zivilprozeßordnung).
    32) Doch braucht dies nicht, wie bei den privatrechtlichen Kontrakten des Staates, ein fiskalisches Interesse zu sein. Die Dispositionen über Vermögensmittel des Staates zu Zwecken der Wissenschaft, der Kunst, ja des Vergnügens erfolgen ebenfalls im staatlichen Interesse - zumindest ist im staatlichen Interesse der Behörde die Dispositionbefugnis gegeben.
    33) Auch die Adjukationsbefugnis des Richters ist eine Ermächtigung zum Rechtsgeschäft (vgl. meine "Rechtsnorm", Seite 373). Der Richter hat hier nicht zu urteilen, was Recht ist, sondern was das Interesse der Parteien verlangt.
    34) Keineswegs ist das Gericht der Staatsgewalt "übergeordnet", wie dies Jhering (Seite 388, Anm. 26 oben) annimmt. Den Beschlüssen der gesetzgebenden Faktoren ist auch der Richter zu gehorsamen schuldig. Ebensowenig kann ich der Seite 387 aufgestellten, allerdings verbreiteten Ansicht zustimmen, daß der Staat im Strafprozeß als Partei auftritt, vertreten durch den Staatsanwalt. Gericht und Staatsanwalt haben meines Erachtens genau dieselbe Aufgabe, an der sie nur in verschiedener Weise mitzuwirken haben: im staatlichen Interesse dafür zu sorgen, daß der Verbrecher, und nur dieser, zur Stafe gezogen wird.
    35) Die Parallele wäre noch genauer, wenn die Sicherung der Landstraßen gegen mutwillige Besch&aumben meines Erachtens genau dieselbe Aufgabe, an der sie nur in verschiedener Weise mitzuwirken haben: im staatlichen Interesse dafür zu sorgen, daß der Verbrecher, und nur dieser, zur Stafe gezogen wird.
    35) Die Parallele wäre noch genauer, wenn die Sicherung der Landstraßen gegen mutwillige Beschädigungen der gegen Überschwemmungen gegenübergestellt würde. Die Straßenräuber bedrohen nur die Reisenden auf der Landstraße.
    36) Jhering, a. a. O., Seite 386. Dagegen meine "Rechtsnorm", Seite 218f und X.
    37) Völlig zustimmend Dahn (Seite 152). Trotzdem muß ich den als "echt laienhaft" bezeichneten Einwand erheben. Jede Willensmanifestation eine Verwirklichung der Lebensbedingungen zu nennen, scheint mir eine Fiktioin zu sein, welche hier so wenig wie anderswo der Wissenschaft förderlich ist.