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RUDOLF STAMMLER
Wesen des Rechts
und der Rechtswissenschaft

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"Wenn sich in einer entwickelten Kultur Schäden zeigen, wenn die bestehenden Zustände in vielem unbegreiflich oder auch nur allzu verwickelt werden, so flüchtet gar mancher gern zur Natur zurück. Sie ist es, die alsdann einen festen Halt gegenüber willkürlichem und entartetem Treiben und Begehren liefern soll."

"Es ist die allgemeine Art und Weise, den mannigfaltigen, geschichtlich bedingten und stetig wechselnden Stoff der sozialen Regelungen zu ordnen, die wir nun klarstellen wollen. Ohne ein derartiges einheitliches Verfahren würde aller historische Rechtsstoff ein wildes Gewirr darstellen, von dem wir noch nicht einmal mit Grund sagen könnten, daß es ein rechtlicher Stoff ist, wenn nicht eine grundlegende Methode da wäre, soziale Regelung in gleichmäßiger formaler Weise zusammenzufassen und zu begreifen, - über den aber auch niemald begründet ein billigendes oder verwerfendes Urteil fällen dürfte, es sei denn nach einer allgemeingültigen formalen Art des Abwägens und Richtens."

Einleitung. In unabsehbarer Menge reihen sich die Rechte und Gesetze der Völker aneinander. Es ist eine bunte Fülle, eine mannigfaltige, stets wechselnde Schar, die hier an unserem Auge vorüberzieht. Wie mögen sie sich in Ordnung und Einheit fügen? In welcher gleichmäßigen Methode kann man sie allgemein überschauen und systematisch beherrschen? Wo ist ein fester Halt der Gedanken, von dessen Standort aus das wilde Getümmel der Einzelheiten sich kritisch richten und bestimmen läßt?

Der erste Versuch einer Antwort auf solche Fragen betrifft wohl zumeist das einheimische und das im Augenblick geltende Recht. Man sammelt den besonderen Inhalt der einzelnen Satzungen und Einrichtungen unserer Zeit und unseres Landes, sucht Sinn und Bedeutung und praktische Sonderfolgen der technisch geformten Paragraphen des gesetzten Rechts klarzulegen und die vielverschlungenen positiven Normen übersichtlich darzustellen.

Doch was ist es denn, das also hier sich eingefunden hat? - Nun, die "rechtliche" Regelung des Gemeinwesens. - Aber woran erkennt man, ob eine Norm hierher gehört und nicht vielmehr einem anderen allgemeinen Begriff, als dem des Rechts, zu unterstellen ist? Was ist das "Recht"?

Es würde nicht ausreichend sein, zur Beantwortung dieser Frage eine gewisse äußere Beschreibung von Regeln zu versuchen, die im Großen und Ganzen - nach einer Art stillschweigender Verabredung einer Anzahl von Schriftstellern - als "rechtliche" Sätze bezeichnet werden; denn dies würde keine sachlich genügende Abgrenzung noch Begriffsbestimmung sein und könnte die Gewähr der Vollständigkeit nicht übernehmen: weder für den beschriebenen Gegenstand, noch in dessen hervorgehobenen Eigenschaften. Und es geht nicht an, den Begriff "des" Rechts etwa aus einer gehäuften Aufzählung von besonderen Rechtserfahrungen herausziehen zu wollen; da doch jede einzelne "rechtliche" Tatsache schon eine eigene Anwendung des allgemeinen Begriffs "des" Rechts ist und diesen deshalb zu ihrer Feststellung logisch voraussetzt. Stattdessen ist nötig, das Ganze der sozialen (nicht: der "rechtlichen") Erfahrung zu untersuchen, da im Problem des gesellschaftlichen Daseins der Menschen der Rechtsgedanke zweifellos auftritt und in diesem die allgemein ermöglichenden Bedingungen für den Begriff des Rechts durch eine kritische Besinnung festzustellen und in seinem formelen Verhältnis zur Moral und Sitte und willkürlicher Gewalt zu bestimmen.

Hierbei tritt jedoch vor allem anderen und von vornherein ein Merkmal hervor, das unbestritten dem Recht als solchem eignet: das Moment des rechtlichen Zwangs. Es ist nicht nötig, über dessen Erschaffung und Erklärung an dieser Stelle schon eine bestimmte Vorstellung sich zu machen, es genügt zum Entwerfen der Fragestellung die Beobachtung, daß jede juridische Ordnung, eben in ihrer Eigenschaft als "rechliche", den Anspruch erhebt, ein ihr widerstrebendes Wollen niederzubeugen und das von ihr geregelte Verhalten der Unterstellten auch tatsächlich zu erwirken. Es ist dieser Zwangsanspruch des Rechts, der dann nicht selten einer grundsätzlichen Anzweiflung unterlegen ist, in besonderer Art in der Neuzeit von der Theorie des Anarchismus. Unter einem solchen Zweifel kann wieder nur durch eine theoretische Begründung des Rechtszwangs begegnet werden, eine Begründung, von der in sich klar ist, daß sie auf das Wesen des Rechts in unbedingt allgemeiner Art zurückzugehen hat, dagegen nicht auf die Betrachtung des besonderen Inhalts einer bestimmten rechtlichen Ordnung gestützt zu werden vermag.

Allein auch wenn jemand gerade den gegebenen Inhalt eines geschichtlichen Rechts kritisch ansieht, so bedarf er zu einem sachlich abwägenden Urteil eines allgemein geltenden Maßstabes. Denn hier kommt der eigene Zweifel, der nie zu unterdrücken ist: Ob eine bestimmte Regel, die von Rechts wegen positiv besteht, so dann auch sein sollte? Entspricht die gerade geltende rechtliche Norm oder Einrichtung in ihrer bedingten Lage dem Gedanken der Gerechtigkeit? Ist unter den vorliegenden Umständen diese oder jene Bestimmung des Rechts die richtige?

Die Frage nach dem Wesen des Rechts löst sich daher in drei Aufgaben auf:
    1. Was ist Recht? Welcher allgemeine Begriff liegt also jeder Rechtsbetrachtung unbedingt zugrunde, damit sie überhaupt eine "rechtliche" mit Fug heißen kann?

    2. Begründung der verbindenden Art des Rechts: Wie ist es zu begreifen, daß jedes Rechtsgebot, gleichviel wie sein Inhalt lautet, nur weil es eine "rechtliche" Norm ist, Gehorsam richtigerweise fordern darf?

    3. Wann ist der Inhalt einer Rechtsnorm sachlich begründet? Was für ein einheitliches Verfahren hat der "rechtlich" Wollende zu beobachten, wenn der besondere Inhalt seines Wollens richtig sein soll?
Alle drei Probleme haben das gemeinsam, daß sie sich durch das bloße Betrachten der Besonderheiten von bestimmten geschichtlichen Rechten nicht erledigen lassen. Die hierbei zu entwickelnden Begriffe und Lehren haben unbedingt bei jedem denkbaren Recht Anwendung zu finden. So muß auch die Lösung in einer eigenen grundlegenden Methode beschafft werden, deren Verfolgung vom Darlegen des besonderen Inhaltes dieser oder jener Rechtsordnung unabhängig ist. Man wird der uns gestellten Aufgabe nur genügen können, wenn man in kritischer Selbstbestimmung die empirischen Daten des sozialen Bewußtseins zergliedert und die formalen Bedingungen klarlegt, unter deren einheitlicher Verwertung allein eine Antwort auf die eben genannten drei Fragen möglich erscheint. Das System der also überall vorausgesetzten Bedingungen gegenständlicher Rechtserkenntnis, seine theoretische Bedeutung und praktische Anwendung bilden nun des genaueren den Gegenstand unserer Betrachtung.

Die dadurch geforderte Besinnung ist in ihrem Grund eine Aufgabe des wissenschaftlichen Denkens. Sie bedarf des bewußten Herausschälens der Grundfrage, des Handhabens einer kritisch gefestigten Methode, der Stütze einer allgemeingültigen Theorie. Ohne das mögliche Zurückgehen auf eine einheitliche Grundlehre muß jedes richtende Urteil, das irgendwie in rechtlichen Dingen ergeht, bloß von subjektivem Wert sein und der objektiven Begründung ermangeln. Im gewöhnlichen Leben beruft man sich zwar häufig auf sein "Rechtsgefühl". Aber das würde nur heißen können, daß jemand ein allgemeingültig richtiges Urteil über rechtliche Fragen ganz "von selbst" aus seiner "geistigen Organisation" her bekommen würde. Es wäre jene Berufung im Kern also nur die Angabe einer mystischen Herkunft eines angeblich begründeten kritischen Urteils, aber keineswegs eine systematische Begründung dieses letzteren selbst, das vielmehr jeder Anzweiflung der (hierbei erfahrungsmäßig zahlreichen) Gegner schutzlos preisgegeben sein müßte. Die Frage nach Begriff und Begründung des Rechts, wie die Aufgabe, worin der Gedanke der ausgleichenden Gerechtigkeit, das ist der grundsätzlichen Richtigkeit eines rechtlichen Wollens, sein sachliches Merkmal hat, wird durch jene Aufstellung einer unerklärten und rätselhaften Entstehungsweise nicht beantwortet. In der Tat bekommt aber auch kein Mensch die allgemeingültigen Gedanken über Recht und Gerechtigkeit mit auf die Welt. Sie werden von jedem Einzelnen unter vielen besonderen Eindrücken erst erworben. In diesem Sinne heißt das viel berufene "Rechtsgefühl" nichts anderes, als: zufällig und unvollständig zusammengeraffte Rechtskenntnis und Rechtsbeurteilung.

Dem gegenüber ist es ja weithin bekannt, wie unsere Probleme seit alten Zeiten das Nachdenken der Menschen in eindringlicher Weise beschäftigt haben. Von besonderem Interesse sind für die Kultur der Gegenwart drei Grundrichtungen, die eine Antwort auf die vorhin geschilderten Aufgaben zu liefern unternommen: Das Naturrecht, die historische Rechtsschule und die materialistische Geschichtsauffassung. Wir wollen zuerst diese drei verschiedenen Theorien über das Wesen des Rechts erörtern.


A. Frühere Rechtstheorien

1. Das Naturrecht. Wenn sich in einer entwickelten Kultur Schäden zeigen, wenn die bestehenden Zustände in vielem unbegreiflich oder auch nur allzu verwickelt werden, so flüchtet gar mancher gern zur "Natur" zurück. Sie ist es, die alsdann einen festen Halt gegenüber willkürlichem und entartetem Treiben und Begehren liefern soll. So ist auch zu allen Zeiten versucht worden, dem positiv geordneten Recht entgegen, das nur zu oft fehlerhaft und zufällig erschien, ein natürliches Recht zu entdecken, ein Recht, das "mit uns geboren ist".

Dieser Gegensatz ist der am meisten besprochene in der ganzen theoretischen Betrachtung des Rechts. Er tritt in besonders scharfer und klarer Weise in der Rechtsphilosophie der Griechen hervor, ist dann im Mittelalter von der Kirche und der scholastischen Philosophie aufrechterhalten und gepflegt worden und hat sich in verschiedenen Ausführungen, Begründungen und Nutzanwendungen bis in unsere Tage erhalten. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, den einzelnen Systemen naturrechtlicher Richtung in genauer Darstellung zu folgen; fragt man aber, welches der gemeinsam unterliegende Gedanke ist, der freilich weder von seinen Vertretern noch seinen Gegnern immer klar ausgesprochen worden ist, so entspricht ihm diese Begriffsbestimmung: Naturrecht ist ein Recht, das in seinem Inhalt der Natur entspricht. - Dabei ist als "die Natur", die hier als Maßstab für den Inhalt des Rechts auftritt, ein Doppeltes aufgenommen worden: bald die Natur des Menschen, bald die des Rechts.

In erster Linie hat man von alters her versucht, die menschliche Natur zu verwerten. Besonders stark geschah dies, als HUGO GROTIUS es unternommen hat, in dieser Weise eine allgemeingültige Grundlage des Rechts zu finden, die von jeder Unterstützung durch die kirchliche Lehre unabhängig ist, und die auch ein Atheist als wissenschaftlich feststehend anzunehmen hat. Die Natur dachte man sich dabei als bestimmte Grundeigenschaften, die einem jeden Menschen allgemeingültig und in unbedingter Weise zukommen. Welche Eigenschaften dies jedoch wären, darüber gingen die Ansichten ständig weit auseinander. GROTIUS gab als solche den appetitus societatis an, den natürlichen Trieb des Menschen nach dauernder und friedlicher Vereinigung mit seinesgleichen, HOBBES umgekehrt die Furcht des einen vor dem andern, aus der in Ermangelung des Rechts ein bellum omnium contra omnes [Krieger aller gegen alle. - wp] entspringen würde; PUFENDORF verwies auf den Selbsterhaltungstrieb aller Lebewesen und auf die natürliche Hilflosigkeit (imbecillitas) des Menschen, die ihn zu einer diese überwindenden Geselligkeit (socialitas) führen muß, und THOMASIUS berichtigte dieses in der Aufstellung des menschlichen Grundtriebes, möglichst lang und glücklich zu leben. - Und diese Verschiedenheit der Angaben setzt sich bis in die neue Zeit fort, in der die Berufung auf "die menschliche Natur" namentlich in der Literatur des Sozialismus ihre Rolle spielt. Hier ist sie bald zu dessen Empfehlung erfolgt, wie im utopischen Aufbau des Phalanstére des CHARLES FOURIER, bald zu seiner Bekämpfung angezogen worden, z. B. von ADOLPH WAGNER, SCHÄFER u. a., die den sozialistischen Staat mit der menschlichen Natur für unvereinbar erklären und nun allerdings als Kernzug dieser bald die Wirtschaftlichkeit, bald auch deren Gegenteil, verbunden mit dem Trieb nach Ehre und Auszeichnung, sowie das Freiheitsgefühl angeben.

In der Tat ist das Heranziehen der "Natur" des Menschen beim Bearbeiten der naturrechtlichen Aufgaben methodisch ungeeignet gewesen. Denn wenn man alle geschichtlichen Besonderheiten in den Eigenschaften und Trieben der Menschen, wodurch sie sich in der Erfahrung zweifellos voneinander unterscheiden, wegläßt, so bleibt überhaupt nichts übrig, als physiologische Anlagen, die der Ausbildung und Erziehung noch harren. Hieran ändert auch der Hinweis auf die "Eigenliebe" eines jeden Menschen, als natürliche Triebfeder behauptet, deshalb nichts, weil dies in sich noch undeutlich und vage bleibt. Es bleibt eine offene Frage, in welcher Stärke und in was für einer Richtung den Einzelnen die Liebe zu sich selbst treibt oder hinreißt. Schon die gewöhnliche Beobachtung liefert hier genug Material zur Feststellung der allergrößten Verschiedenheiten in der Verfolgung der Zwecke, auf deren Art und Weise hier ja alles ankommt. Die rechte Art der Zwecksetzung ist eben nicht von Natur aus dem Menschen eingepflanzt. Er bringt sie nicht mit auf die Welt; noch auch entwickelt sie sich an ihm, als natürlichem Lebewesen, in naturnotwendiger und bei allen Menschen völlig gleicher Weise. Vielmehr muß er zu der genannten Art des Wollens erzogen und angeleitet und angehalten werden. Folglich ist für das richtige Wollen nicht eine natürliche Art des Menschen ein unbedingter und allgemeingültiger Maßstab, sondern dieser muß erst als eigene Gesetzmäßigkeit der Zwecke kritisch eingesehen und dargelegt werden und ist nicht von einer nicht recht faßbaren menschlichen "Natur", sozusagen von außen her zu erwarten.

Die zweite Richtung des Naturrechts geht auf die Natur des Rechts zurück. Hier heißt das Wort "Natur" dasselbe wie Wesen. Es wird folglich nach dem obersten einheitlichen Grundgedanken gefragt, nach welchem Begriff und Anwendung des Rechts überhaupt einen verständlichen Sinn haben kann, um danach begründete Rechtssätze weiterhin aufzustellen.

Der schärfste schöpferische Denker dieser Richtung war ROUSSEAU "du contrat social ou principes du droit publique" (1762). Er fragt: Wie an die Stelle von willkürlicher Gewalt, die in der Geschichte bisher unaufhörlich erlebt worden ist, ein innerlich begründeter Zustand des Rechts gesetzt werden könnte? Dies sei nur möglich, wenn man den obersten Gedanken des Rechts im Sinne eines Gesellschaftsvertrags faßt. - Es ist ein nicht seltenes, starkes Mißverständnis, als ob dieser contrat social des ROUSSEAU eine geschichtliche Tatsache sein sollte und uns die zeitlich erste Entstehung des Rechts in der Menschengesichte erzählen möchte; - vielmehr will er eine Formel für die oberste Idee des Rechts geben und die allgemeine Richtlinie für gerechte Gesetze bezeichnen. - Solche seien dann da, wenn sie der volontè générale [allgemeiner Wille - wp] entspringen. Dies aber ist nicht einfach der Wille aller oder der Mehrzahl, sondern bedeutet eine Maxime, welche das Wohl aller Menschen überhaupt zur Richtschnur nimmt. Das ist ROUSSEAUs Definition der Tugend. Ihr nachzustreben ist das einzige unbedingte Gebot für menschliches Wollen. - Für die Betätigung dieses Ziel ist es nötig, allen Genossen einen Anteil an der obersten Gewalt zu geben; es müssen die Herrscher mit den Beherrschten zusammenfallen. Darum kann die Souveränität nicht vertreten werden; die Abgeordneten des Volkes sind als nicht seine Repräsentanten, sondern nur Geschäftsführer, die nichts unabänderlich beschließen können. Dagegen besteht die Vollziehung der Gesetze in ihrer Anwendung auf den einzelnen Fall und gehört folglich nicht zum Wirkungskreis des souveränen Volkes, das nur den allgemeinen Willen äußert, sondern der Regierung, die als Demokratie, Aristokratie, Monarchie nach der Art der rechtmäßigen Ausübung der vollziehenden Gewalt verschieden ausgerichtet sein kann.

Der gewaltige Einfluß, den ROUSSEAU auf die Geschichte seiner Zeit und durch die französische Revolution auf die folgenden Perioden bis zur Gegenwart ausgeübt hat, ist allgemein bekannt. Auch in der Rechtstheorie stehen sonst führenden Geister, vor allem KANT, ganz unter seinem Bann. Erst ziemlich spät hat sich ein prinzipieller Widerspruch finden lassen.

Dabei war ein Fehler jener Forschung wahrlich nicht in der Fragestellung als solcher gegeben. Von "der Natur des Rechts" reden auch heute Anhänger der geschichtlichen Rechtsschule und sonst empiristisch gerichtete Juristen. Welcher denkende Mann wird denn auf das Nachsinnen über die rechte allgemeine Methode aller Rechtsbetrachtung und die Möglichkeit eines festen Haltes gegenüber den zerstreuten Einzelheiten verzichten und sich zum bloßen Techniker begrenzter Paragraphen machen wollen! - Der Fehler jener Versuche aus der Aufklärungsperiode lag vielmehr in der Art der Ausführung, da sie nämlich ein ausgeführtes Rechtsbuch mit einem unwandelbaren Inhalt entworfen haben. Das geht nicht an. Denn der Inhalt des Rechts geht auf die Regelung von menschlichem Zusammenwirken, das auf Bedürfnisbefriedigung gerichtet ist. Alles, was sich aber auf menschliche Bedürfnisse und auf die Art von deren Befriedigung bezieht, ist einer steten Veränderung unterworfen. Es gibt keinen einzigen Rechtssatz, der seinem positiven Inhalt nach unbedingt feststehen würde. - Stattdessen kann nur die Aufgabe bestehen, eine allgemeingültige formale Methode festzustellen, in der man den notwendig wechselnden Stoff geschichtlich bedingten Rechts dahin berichtigen und bestimmen mag, daß er die Eigenschaft des objektiv Richtigen erhält.

2. Die historische Rechtsschule. Dies ist eine besonders geartete Rechtsphilosophie, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der allgemeinen Richtung jener Zeit, der Romantik, entstanden ist. Ihre letzte maßgebliche Auffassung ist die, daß neben dem Menschen überindividuelle Wesenheiten stehen, deren höchste das "Volk" ist. Sie stellen reale leiblich-geistige Einheiten dar. Von besonderer Bedeutung ist die Seele des Volkes, ein psychisches Gesamtphänomen, welches zwar für sich wissenschaftlich nicht erforderlich ist, das aber seine Realität innerhalb der Welt der Erfahrung darin erweist, daß es in den Gliedern des Volkes gewisse gemeinsame Überzeugungen über mancherlei Fragen erweckt. Wenn diese auf "rechtliche" Dinge gerichtet ist, so ist sie, die Überzeugung, bereits das Recht. Der Gesetzgeber hat das schon bestehende Recht nur zu formulieren und zu redigieren.
    "Das Volk", sagt Savigny, "ist eine natürliche Einheit, welche durch die einander ablösenden Geschlechter hindurchgeht"; ...

    "es ist der in allen einzelnen gemeinschaftlich wirkende Volksgeist, der das positive Recht erzeugt, das also für das Bewußtsein jedes Einzelnen, nicht zufällig, sondern notwendig ein und dasselbe Recht ist."
Die Einheit, welche nach dieser Rechtstheorie allen einzelnen rechtlichen Sätzen und Einrichtungen zugrunde liegt, ist hiernach der Volksgeist, der als eigenes Ding außerhalb von uns existiert. Er ist also auch der eigentliche Gegenstand jeder hier einschlägigen wissenschaftlichen Untersuchung. Die Betrachtung der Sprache, der Sitte, des Rechts eines Volkes ist nur ein Mittel zu einer Erkenntnis des Waltens eines Volksgeistes, die sich vervollkommnen, wenngleich nicht in abgeschlossener Selbständigkeit erreichen läßt. Daraus ergibt sich weiterhin als grundlegende Aufgabe der rechtswissenschaftlichen Untersuchung die rechtshistorische Frage, - nicht bloß, weil das Gewordene aus der analytischen Verfolgung seines Werdegangs in seinem bedingten Dasein deutlicher beleuchtet und durchschaut werden kann, sondern in der Absicht, das eigentliche Objekt der Betrachtung, den Volksgeist, aus seinen Äußerungen im Gang der Rechtsgeschichte besser in seiner Eigenart verstehen zu können.

Endlich folgt aus jenen Prämissen, daß es für die geschichtliche Rechtstheorie eine selbständige kritische Betrachtung des Inhaltes eines Rechts nicht gibt. Denn die rechtliche Ordnung ist ja die vom Volksgeist zwingend erschaffene gemeinsame Überzeugung, und über diesem besteht keine weitere Instanz. Höchstens kann man ihn mißverstehen und etwas als Recht ausgeben, was in Wahrheit jenem Merkmal gar nicht entspricht. Eine Auseinandersetzung mit dem Problem, wie neben der Betrachtung des Werdens eines Gegenstandes dessen Sein in eigener Richtung erwogen und bestimmt sein will, und letzteres sogar unvermeidlich den logischen Primat vor dem ersteren hat, findet sich bei den Anhängern der besprochenen Richtung nicht. Und doch ist zu beachten, daß etwas, das in genetischer Hinsicht als notwendig verursacht erkannt ist, für die systematische Betrachtung zufällig sein kann; auch Sinnestäuschungen und inhaltlich schlechtes Wollen entstehen in historisch notwendigen Prozessen.

Aber auch gegen die Art der genetischen Auffassung der historischen Rechtsschule bestehen ungelöste Bedenken.

Die Vorstellung vom "Volk" als einem beseelten und denkenden Wesen würde nur dann wissenschaftlich begründet sein, wenn sie notwendig wäre, um den Gedanken des menschlichen Gemeinschaftslebens einheitlich zu fassen und das soziale Dasein der Menschen als eigenen Gegenstand zu begreifen und einzusehen. Denn die Vorstellung eines Dings als eines denkenden Wesens bedeutet die Übertragung meines Selbstbewußtseins auf etwas, das ich mir ohne diese übertragende Vorstellung nicht zu denken vermag, z. B. auf ein Lebewesen, das ein Mensch ist, wie ich selbst. Nun kann man aber das gesellschaftliche Leben der Menschen sehr wohl in eigener Methode erhalten und als Objekt selbständiger wissenschaftlicher Betrachtung einsehen und erforschen, ohne die Vorstellung zu Hilfe zu nehmen, daß es selbst eine leiblich-geistige Einheit im Sinne einer überindividuellen Wesenheit ist.

Dazu kommt dieses. Das "Volk" soll als ein natürliches Ding neben den Menschen stehen, und sein "Geist" die gemeinsamen Überzeugungen, so auch die des Rechts, bewirken. Folglich würde es zu den Gegenständen der Erfahrung zählen und müßte deshalb auch den Grundgesetzen der Erfahrung unterliegen. Es bleibt aber undeutlich, wie ein Volk oder ein anderer menschlicher Verband eine leibliche Einheit sein können, da sie doch im Raum nicht angetroffen werden, und ein "leiblicher" Gegenstand, der nicht unter der Bedingung der räumlichen Anschauung stände, einen inneren Widerspruch bedeutet. Und fernerhin gehört es zu den Grundsätzen der Erfahrung, daß jede Ursache einer Veränderung selbst wieder die Wirkung einer vorausgegangenen Ursache ist, so, daß beim Streichen dieser Methode eine einschlägige Behauptung von objektiver Gültigkeit nicht mehr begreiflich ist. Der Volksgeist im Sinne der hier erwogenen Lehre wird aber zugleich als Ursache der Rechtsschöpfungen und Rechtsveränderungen aufgestellt und doch als unbedingte Einheit über dem Wandel der Völkergeschichte behauptet, unabhängig von den einzelnen Veränderungen und von ihnen selbst nicht verursacht.

Bei all diesen Erwägungen ist scharf festzuhalten, daß man nicht die "Volksseele" mit nationalen Eigentümlichkeiten verwechseln darf, die sich als verhältnismäßig übereinstimmende Eigenschaften der Angehörigen eines Rechtsganzen beobachten lassen. In diesem Sinne wird der nationale Charakter oder Geist nicht als ein unveränderliches Urding außerhalb des Wandels der geschichtlichen Daten aufgestellt, sondern als gemeinsame Eigenschaften, die sich aus einem bestimmten sozialen Leben heraus aufgrund gewisser Anlagen gebildet haben, durch historisch gegebene und sich entwickelnde gesellschaftliche Verhältnisse beeinflußt sind und sich im Laufe der Geschichte unaufhörlich verändern.

In so eine bedingte und geschichtlich wechselnde Art eines sozialen Lebens finden wir den Einzelnen hineingestellt. Ihr entnimmt er in starken Eindrücken die Weise seines Daseins. Sprache, Sitte, Recht treten ihm aus der Verbundenheit mit anderen in bestimmenden Einwirkungen entgegen, sie selbst, als Äußerungen geschichtlichen Gemeinschaftslebens, historisch bedingt und stetem Wechsel, nimmer rastender Veränderung unterworfen. Und diesem Gemeinschaftsleben gibt wieder ein jeder seinen Teil einwirkend und ändernd zurück, ein jeder in seiner Lage recht verschieden wohl in Stärke und Art, und doch ein jeder. So sind es für die besondere Betrachtung unübersehbare Komplikationen, in denen sich die Einwirkung des sozialen Lebens auf den Einzelnen und die Rückgabe des Seinigen an die Gesellschaft vollzieht, aber für die methodische Erwägung der Herkunft gemeinsamer Charakterzüge ist es allein der Gedanke werdender Eigenschaften von einzelnen Menschen, der uns hier den ordnenden Ausblick gibt.

Es wäre gewiß verkehrt, wenn jemand sich das Gemeinschaftsleben der Menschen nur als eine Summierung von isoliert gedachten Individuen vorstellen wollte. Aber es ist auch nicht veranlaßt, die soziale Art des Menschendaseins selbst zu hypostasieren und den summierten Einzelnen als eigenes Lebewesen gegenüberzustellen, das in jenen nun notwendig gemeinsame Überzeugungen bewirkt. Nein, es ist eine qualitativ eigene Einwirkung sozial verbundener Individuen aufeinander, und der Gedanke dieser wechselseitigen Einwirkung genügt vollständig, um das Werden gemeinsamer Charakterzüge bei den einzelnen Mitgliedern einer Gesellschaft wissenschaftlich zu erklären, oder doch deren natürliche Erklärung als methodisch möglich erscheinen zu lassen, mag immer die konkrete Klarlegung dieses oder jenes genetischen Zusammenhangs bei der Betrachtung von besonderem Material der Rechtsgeschichte allzu große Schwierigkeiten der Lösung bereiten.

Die wechselseitige Reibung, deren eigenartiges Walten bedeutsam auf die einzelnen Gemeinschafter wirkt, vollzieht sich keineswegs bloß innerhalb eines bestimmten Volkes. Die nationalen Eigentümlichkeiten wechseln auch gerade aus internationalen Mischungen her. Je mehr sich namentlich das soziale Leben der modernen Kulturvölker in übereinstimmender Weise gestaltet, umso größere Bedeutung haben die durch die Nationen gleichmäßig hindurchlaufenden Klassen erhalten, in denen verwandte Charakterzüge, Ansichten und Bestrebungen in internationaler Übereinstimmung auftreten. Gewiß fühlt sich ein jeder als einer, der zu einem bestimmten Volk und Staat oder auch einer engeren Gemeinschaft gehört, aber ebensowohl empfindet er auch, daß er Mensch ist, über nationale Grenzen hinaus, und er kann diese Idee der Menschheit für sich nicht wegdenken, ohne seinem Dasein die höchste Würde zu nehmen.

Soweit sich nun aber der einzelne gerade als Mitglied eines besonderen Menschenkreises fühlt und sich bewußt wird, ein Gemeinschaftsleben mitzuleben, so erschöpft sich diese Richtung seines Bewußtseins - für die grundlegend systematische Frage - im Gedanken der gemeinsamen Zweckverfolgung. Das soziale Leben ist ein Zusammenwirken, um den Kampf ums Dasein gemeinsam zu führen. Ein gemeinschaftlicher Zweck ist jedoch etwas qualitativ anderes, als zwei einzelne Zwecke. So erhebt der Gemeinschaftsgedanke das Individuum zu einer eigenartigen Richtung des Bewußtseins, zur Hingabe an ein besonders geartetes Wollen. Es sind also die individuelle und soziale Betrachtung zwei qualitativ verschiedene Richtungen des Bewußtseins, und es bedeutet die Gesetzmäßigkeit, die im Gedanken der Gemeinschaft liegt, die oberste formale Bedingung für die einheitliche Art des sozialen Wollens, dagegen nicht eine empirische Größe, die über den sozial verbundenen Menschen stände. - Die nationalen Eigentümlichkeiten aber, von denen wir vorhin ausgegangen sind, gehören überhaupt nicht zu den formalen Bedingungen, unter denen der Stoff des geschichtlichen Rechtslebens einheitlich zu fassen möglich wäre: sie zählen vielmehr zu diesem Stoff selber. Sie bilden ein nicht verächtliches Material, das ein jeder Gesetzgeber wohl berücksichtigen soll. Denn er hat ja die rechte Art des Zusammenwirkens zu finden und anzuordnen und muß darum die historisch bedingten Qualitäten der einer Regel zu Unterstellenden in Betracht ziehen, um die letzteren dann in richtiger Art bestimmen zu können.

3. Die materialistische Geschichtsauffassung. Sie bedeutet eine Lehre und ein System von Gedanken, die erst in den letzten Zeiten genauer und tiefer betrachtet worden sind; sie selbst ist etwa seit zwei Menschenaltern vorhanden. Noch immer kann man aber nicht sagen, daß die Bekanntschaft mit der materialistischen Geschichtsauffassung zum regelmäßigen Besitztum der Gebildeten gehört. Sie ist verhältnismäßig wenig bekannt und auch im akademischen Vortrag der Disziplinen, die sie berührt, nur vereinzelt berücksichtigt. Und doch ist die materialistische Geschichtsauffassung das Fundament der bedeutsamsten Bewegung der Gegenwart geworden, - des Sozialismus, dessen rechtes Verständnis von der nun zu berichtenden Sozialtheorie abhängt.

Es ist selbstverständlich, daß in diesem Zusammenhang das Wort "materialistisch" nicht in einem vulgären Sinn gebraucht und gleich niedrig oder gemein gesetzt werden darf; vielmehr ist es als Theorie gemeint, und zwar als Übertragung der Grundgedanken aller Systeme des philosophischen Materialismus auf die Menschengeschichte, vor allem auf das in ihr sich abrollende soziale Dasein der Menschen. Es ist, lehren jene, die Geschichte der Menschheit als ein mechanischer Naturprozeß zu erfassen, der ausschließlich nach naturwissenschaftlicher Methode, als Gegenstand einer bloß naturgesetzlichen Auffassung bestimmt werden soll. Wie nach der alten Doktrin des Materialismus die Grundlage allen Seins die Materie und deren Bewegungen ist, wovon auch das geistige Leben des Individuums abhängt, so ist auch im sozialen Dasein der Menschen die Materie der Gesellschaft und ihre Bewegung das Bestimmende. Was jedoch für den Einzelnen die Materie der Natur ist, das bedeutet für das gesellschaftliche Leben - die soziale Wirtschaft.
    "Die materialistische Anschauung der Geschichte", sagt Engels, "geht von dem Satz aus, daß die Produktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist; daß in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilung der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was und wie produziert, und wie das Produzierte ausgetauscht wird." -
Als erläuterndes Beispiel kann auf die Umwandlung eines Nomadenlebens in ein Ackerbau treibendes Volk verwiesen werden, bei dem wieder die Organisation der Gesellschaft eine andere sein wird, je nachdem es sich um Kleinbauern oder um Latifundienwirtschaft [von Sklaven bewirtschaftete römische Landgüter - wp] mit Pachtungen oder vielleicht um eine Feldgemeinschaft mit kommunistischem Eigentum handelt.

Die Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens ist also, nach dieser Lehre, die Abhängigkeit von der sozialen Materie. Den Veränderungen dieser wird stets eine Veränderung des sonstigen gesellschaftlichen Daseins entsprechen. Denn die soziale Wirtschaft bildet die Basis einer Gesellschaft; darüber erhebt sich ein juristischer und politischer "Überbau". Wenn die Unterlage schwankt, kann auch der Überbau nicht weiter unverändert bestehen bleiben, und bei völliger Umwälzung jener muß auch die darüber errichtete rechtliche Ordnung stürzen und einer neuen Platz machen. Solange die Indianer mit Pfeil und Bogen auf die gemeinsame Büffeljagd auszogen, war ein Privateigentum des einzelnen Jägers am erlegten Wild möglich, da an seinem besonders gezeichneten Pfeil man den Wildtöter genau erkannte; aber als sie mit Pulver und Blei zu hantieren begannen, fiel diese Möglichkeit weg, und die neue Art der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens macht eine neue Art der verteilenden Organisation nötig. Oder im Großen: Die Produktionsweise der ausgebildeten Manufaktur des 18. Jahrhunderts war unverträglich mit den lokalen und ständischen Privilegien wie mit den gegenseitigen persönlichen Banden der feudalen Ordnung; als darum die Bourgeoisie, der jene Produktionsweise eigentümlich war, genügend Stärke erlangt hatte, zerschlug sie die feudale Ordnung und stellte auf ihren Trümmern die bürgerliche Gesellschaftsverfassung her, das Reich der freien Konkurrenz, der Freizügigkeit, der Gleichberechtigung der Warenbesitzer. Und dies ist die wahrhaft wissenschaftliche Erklärung der französischen Revolution.

Bei der sozialen Produktion bilden sich "ökonomische Phänomene". Sie entsprechen im sozialen Leben dem, was im Raum die äußeren Erscheinungen sind. Sie, die sozialwirtschaftlichen Erscheinungen, sind, nach dem sozialen Materialismus, Naturgebilde. Sie entstehen, bewegen und verändern sich und gehen unter, alles in naturwissenschaftlich zu erforschenden Prozessen. Dahin würde das Schwanken der Preise der Waren, wie der Löhne der Arbeiter zählen; das Herunterkommen des Handwerks, das Aufsteigen des Großbetriebes in den sozialen Einheiten der verschiedenen Produktioins- und Umsatzorganisationen, die Notlage der Landwirtschaft und die Verschuldung des ländlichen Grundbesitzes, das Anschwellen des Proletariats, die industrielle Reserve-Armee usw. In ihrer Gesamtheit bilden die ökonomischen Phänomene die Materie des sozialen Daseins der Menschen; in ihrem Leben und Vergehen stellen sich deren Bewegungen dar. Und da nach der geschilderten Grundauffassung es im letzten Grund überall auf die Art sozialer Wirtschaft ankommt, so kann eine wissenschaftliche Erforschung des sozialen Lebens in sich nur auf der naturgesetzlichen Betrachtung von ökonomischen Phänomenen beruhen, wobei stets der entwicklungsgeschichtliche Standpunkt beizubehalten ist.

Wir zeigten vorhin schon in Beispielen, wie damit eine allgemeine Methode für die Aufgaben der Geschichtsschreibung aufgestellt ist. Die Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung haben dann auch seit längerem ihr Augenmerk eifrig darauf gerichtet, die Erforschung und Darstellung der sozialen Geschichte unter dem Gesichtspunkt durchzuführen, daß die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Änderungen in der Ökonomie der betreffenden Periode zu suchen sind. Dabei verkennt diese Lehre durchaus nicht die maßgebliche Bedeutung der "Ideen" im weitesten Sinn des Wortes. Wenn sie sich in einen bewußten Gegensatz zu einer sogenannten "Ideologie" stellt, so meint sie damit eine Ansicht, welche die menschlichen Vorstellungen über gut und böse, gerecht und schlecht aus einer zweiten Welt her in einer zweiten und abgesonderten Kausalreihe entstehen läßt. Dem gegenüber leugnet die materialistische Geschichtsauffassung zwar keineswegs die Tatsache, daß ideale Ziele in menschlichen Auffassungen und Bestrebungen oft genug die nächsten Gründe für die historisch vorliegenden Rechtsänderungen abgegeben haben und immer abgeben werden. Aber sie meint, daß die gemeinsamen Geisteserscheinungen in der Menschengeschichte nichts als widergespiegelte Abbilder der wirtschaftlichen Verhältnisse bedeuten; es sind Reflexwirkungen der ökonomischen Phänomene. Die Auffassungen darüber, was erlaubt oder was unrecht ist, fänden sich bei einem Jäger- oder einem nomadisierenden Hirtenvolk in anderer Weise, als sie der Bauer auf abgegrenztem Eigentum hegt; anders sind sie beim Großkaufmann wie beim kleinbürgerlichen Handwerke, oder bei germanischen Kriegern und Raubrittern gegenüber den Unternehmern und Arbeitern der kapitalistischen Produktionsweise; und der Stand von Kunst und Wissenschaft ist von dem der jeweiligen wirtschaftlichen Verhältnisse abhängig. Im Besonderen kam das kommunistische Manifest (1847) aus dieser Auffassung her zu dem Satz, daß alle geschriebene Geschichte die Erscheinung der Klassenkämpfe aufweist, welche Ausfluß und Widerschein der seitherigen ökonomischen Phänomene sind.

Die materialistische Geschichtsauffassung geht auf KARL MARX († 1883) zurück und ist besonders eindringlich und erfolgreich von seinem Freund FRIEDRICH ENGELS († 1895) vertreten und verbreitet worden. Zwar war auch vor ihnen schon darauf hingewiesen worden, daß die Art der sozialen Wirtschaft von Einfluß auf die Ausgestaltung der Rechtsordnungen und die Entwicklung der Kultur überhaupt sein muß. Das Neue, das sie boten, lag darin, daß nun radikal die Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens auf die genetische Abhängigkeit von der Sozialökonomie abgestellt wurde. Damit wurde die geschilderte Betrachtungsweise als die oberste formale Methode promulgiert [bekanntmachen - wp], unter der überhaupt erst eine einheitliche Anschauung der sozialen Geschichte möglich ist. Wenn man diese beobachtet, so sei damit ebensowohl ein wissenschaftlich erklärender Rückblick, wie auch ein begründetes Vorausschauen in das Kommende möglich. Man habe nur die "Tendenzen" der sozialwirtschaftlichen Entwicklung der Gegenwart genau zu beobachten und man kann mit verhältnismäßiger Gewißheit sagen, wohin der wirtschaftliche Prozeß uns unvermeidlich führen wird.

Die wichtigste Einzelanwendung dieser Geschichtsphilosophie liegt im modernen Sozialismus. Dieser will nicht etwa einen Idealstaat konstruieren und als Utopie in das Leben setzen, sondern faßt seine Aufgabe als wissenschaftliche Beobachtung der sozialen Wirtschaft der Gegenwart und als vorbereitende Tätigkeit für ein, von den demnächstigen ökonomischen Phänomenen zwingend vorgeschriebenes Eingreifen auf. Seine Deduktion faßt sich dahin zusammen:

1. Das Privateigentum an den Produkten der Arbeit war in alten Zeiten begründet, weil es sich auf die eigene Arbeit des Produzenten mit ihm gehörenden Produktionsmitteln gründete. Heute wird in planmäßig organisierten Einheiten (Fabriken, Großgrundbesitz, Großhandel) sozialisiert produziert, aber Produktionsmittel und Produkte werden privatim angeeignet. So entsteht ein sozialer Konflikt, d. h. ein innerer Widerspruch zwischen der angegebenen Produktionsweise und dem über ihr schwebenden Recht; ein Konflikt, der in den industriellen und kommerziellen Kreisen sichtbar zum Ausdruck kommt. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln paßt nicht mehr zu der veränderten Sozialökonomie; es sei nicht ungerecht, aber wirtschaftlich veraltet.

2. Der zweite innere Konflikt besteht in der Gesellschaft der Gegenwart als Gegensatz zwischen der Organisation der Produktion in der einzelnen Fabrik und der Anarchie der Produktion in der ganzen Gesellschaft. Zufolge dieser Kollision rebelliert die Produktionsweise gegen die Austauschweise. In diesem sozialen Widerstreit muß nach dem allgemeinen Gesetz der materialistischen Geschichtsauffassung die gesellschaftliche Natur der modernen Produktivkräfte durchdringen; es müssen also Produktions-, Aneignungs- und Austauschweise dahin in Einklang miteinander gesetzt werden, daß der sozialisierten Art der Produktion die Kollektivierung der Produktionsmittel als naturnotwendiger Vorgang folgt.

Bei der kritischen Würdigung der kritischen Würdigung der materialistischen Geschichtsphilosophie darf auf die eben geschilderte besondere Anwendung im marxistischen Sozialismus nicht zuviel Gewicht gelegt werden. Jene Grundauffassung ist von einzelnen hervorragenden Nationalökonomen adoptiert worden, ohne daß sie die genannten sozialistischen Folgerungen gezogen hätten. Das wahrhaft bedeutsame ist in der Tat jene prinzipiell lehrende Theorie. Und diese kann als grundlegende formale Methode nur in einer erkenntniskritischen Erwägung zutreffend erledigt werden. Eine solche ergibt, daß die materialistische Geschichtsauffassung unfertig und nicht ausgedacht ist.

Sie ist unfertig; denn sie gibt niemals eine kritische Bestimmung auf die Grundbegriffe, die sie verwendet: Gesellschaft, ökonomische Phänomene, soziale Produktweise usw. Der vage Hinweis auf die notwendig zu beachtende Technologie genügt nicht: denn es handelt sich hier nicht um eine theoretisch mögliche, sondern um eine praktisch verwirklichte Beherrschung der Natur in gesellschaftlichem Zusammenwirken.

Sie ist nicht ausgedacht; denn sie macht sich nicht klar, welche Art von Notwendigkeit sie für kommende Umformungen des Rechts behauptet. Dies kann nicht einfach eine Einsicht in den Werdegang bedeuten; so wenig wie die Erkenntnis des Werdens eines naturwissenschaftlichen Lehrsatzes dessen inhaltliche Richtigkeit verbürgt. Um diese letztere handelt es sich gleichfalls bei der sozialen Frage. Darum ist die Notwendigkeit einer sozialen Änderung die Notwendigkeit des Zwecks. Das ist unvermeidlich, weil die grundlegende Bedingung der sozialen Betrachtung, nämlich die Regelung des Zusammenwirkens, stets etwas bewirken und Zwecke verfolgen will.


B. Die kritische Rechtstheorie

1. Fragestellung und Methode. Von den besprochenen Hauptrichtungen in der Rechtstheorie der Gegenwart hat nicht nur eine jede gewisse besondere Bedenken gegen sich: sie leiden noch an einem grundlegenden Mangel, der ihnen gemeinsam ist und aller seitheriger Rechtsphilosophie überhaupt beiwohnt. Es sind nämlich bislang alle hierher gehörigen Bemühungen darauf gerichtet gewesen, auf die drei Fragen der allgemeinen Rechtstheorie, die ich in der Einleitung entwickelt habe: - nach dem Begriff des Rechts, der Berechtigung des Rechtszwanges und dem richtigen Inhalt eines Rechts - mit ein und derselben Formel zu antworten. So meinte man, was im sozialen Leben: der geselligen Natur des Menschen, oder: der Natur des Rechts, z. B. dem contrat social nach einer volonté générale (A. 1.), oder: dem Geist eines Volkes als Naturganzen (A. 2., oder: der sozialen Wirtschaft und Produktionsweise (A. 3.) entspricht, das ist begrifflich "Recht", das gebraucht mit Grund den Zwang, das ist in seinem Inhalt berechtigt. - Dem gegenüber gehört es zu den Grundgedanken der hier darzulegenden Lehre, daß das Streben nach jener gemeinsamen Formel für die drei Aufgaben der Rechtsphilosophie unbegründet ist. Es ist die Antwort auf die drei genannten Fragen zunächst getrennt für eine jede zu geben.

Hieraus ergibt sich bereits, daß die Frage nach der Geltung eines Rechts nicht aus der Eigenart seines Inhalts beantwortet werden kann. Es gibt auch inhaltlich schlechtes Recht, das doch rechtliche Geltung besitzt. Der Schluß, daß ein unrichtiges Gebot nicht Recht, und ein ein rechtliches Gebot nicht unrichtig sein kann, ist nach beiden Seiten hin falsch. Wer den Inhalt eines bestimmten Rechts für unrichtig erklärt, sagt damit nicht, daß dieses Recht nicht gilt; und falls jemand einem mangelhaften Rechtszustand das gegenüberstellt, was in dieser besonderen Lage grundsätzlich richtig sein würde, so ist noch keineswegs behauptet, daß dieses als richtig Eingesehene bereits in rechtlicher Geltung steht. - Diese Sätze könnten selbstverständlich erscheinen und würden keiner Betonung bedürfen, wenn nicht die Erfahrung lehren würde, daß aus traditionellen Gründen her die beiden verschiedenen Fragen, die ich zuletzt genannt habe - die nach der Geltung und nach der Richtigkeit eines Rechts -, von gar manchen Juristen noch immer als sich deckend angenommen werden; was nicht zutrifft: Der methodische Beweisgang darüber, ob eine bestimmte rechtliche Entscheidung in besonderer Lage die Eigenschaft der Richtigkeit besitzt, hat mit der Frage, ob diese Entscheidung von Parteien und Richter einzusetzen oder außer acht zu lassen ist, noch gar nichts zu tun.

Andererseits ist es klar, daß die getrennte Behandlung meiner drei Fragen nicht ein sachliches Auseinanderreißen sein darf. Sie müssen sich in innerer Einheit wieder verbunden zeigen. Das geschieht dahin, daß die Lösung einer jeden die Vorbedingung für die Erledigung der folgenden ist, in dieser Reihenfolge aber das Problem eines grundsätzlich richtigen Rechtsinhaltes an letzter Stelle steht. Wir müssen zuerst den Begriff des Rechts nach seinen bleibenden, einheitlichen Merkmalen für sich feststellen, um darauf die Erwägung der Berechtigung des Rechtszwangs aufzubauen. Die letztere wiederum erscheint als notwendige Bedingung für die Aufgabe, inhaltlich richtiges Recht zu erhalten, denn wenn der Gebrauch des Rechts als solches nicht allgemein und für sich als berechtigt begründet werden kann, so hat es ja auch keinen Sinn, über diese oder jene besondere Anwendung des Rechtsbegriffs und Rechtszwangs sich weiter zu bemühen. Und doch ist es das Ziel der richtigen Ausgestaltung des überlieferten Rechtsinhaltes, worauf sich alle Aufgaben dieses Zusammenhangs zuspitzen, und deren bewußte Verfolgung alles rechtlich Wollen krönt.

Nun stellen sich, wie in meiner Einleitung hervorgehoben wurde, die Erörterungen über das Wesen "des" Rechts notwendig der Betrachtung von Bestimmungen "eines besonderen" Rechts gegenüber. Sie wollen gerade vom besonderen Inhalt einer einzelnen, gegebenen Rechtsordnung unabhängig sein und eine allgemeine Einsicht geben, die für alles Recht unbedingt gilt. Wie beschaffen kann nun eine solche Einsicht sein? Wir anworten: Sie ist nur möglich im Sinne einer formalen Methode. Es ist die allgemeine Art und Weise, den mannigfaltigen, geschichtlich bedingten und stetig wechselnden Stoff der sozialen Regelungen zu ordnen, die wir nun klarstellen wollen. Ohne ein derartiges einheitliches Verfahren würde aller historische Rechtsstoff ein wildes Gewirr darstellen, von dem wir noch nicht einmal mit Grund sagen könnten, daß es ein "rechtlicher" Stoff ist, wenn nicht eine grundlegende Methode da wäre, soziale Regelung in gleichmäßiger formaler Weise zusammenzufassen und zu begreifen, - über den aber auch niemald begründet ein billigendes oder verwerfendes Urteil fällen dürfte, es sei denn nach einer allgemeingültigen formalen Art des Abwägens und Richtens. Wenn also unser Thema lautet: Wesen des Rechts und der Rechtswissenschaft, - so erinnere man sich, daß das "Wesen" eines Dings "die Einheit seiner bleibenden formalen Bedingungen" bedeutet, und daß "Wissenschaft" das Bewußtsein ist, das auf Einheit geht und in der Umformung zu ihr sich vollendet.

Und umgekehrt: sobald auch nur die leiseste Spur von einem bedingten Stoff eines besonderen rechtlichen Wollens in einer gewissen Darstellung und Lehre enthalten ist, so ist die letztere nicht absolut gültig. Sie bietet notgedrungen einen dem Wechsel unterworfenen Inhalt und kann in dieser Eigenschaft als wesentlicher Bestandteil einer reinen Rechtslehre keineswegs auftreten. Nur von den formalen Bedingungen einer möglichen Vereinheitlichung vermag es eine Lehre exakten Charakters zu geben, die mit Grund den Anspruch auf unbedingte Geltung erheben darf: In aller Betrachtung materialer Besonderheiten wird dagegen genauso viel Wissenschaft gegeben sein, als sie jenen Formen in bewußter Einsicht mit Erfolg zu entsprechen imstande ist.

Diese Problemstellung, die als oberstes hier zu verfolgendes Ziel die Erforschung und Klärung der grundlegenden Methode rechtswissenschaftlicher Einsicht entrollt, unterscheidet sich danach grundsätzlich von anderen Bestrebungen, an deren letztem Ende immer noch Ergebnisse stofflich bedingten Inhaltes stehen. Man hat wohl beobachtet, wie ein gegebenes geschichtliches Recht sich in die besondere Kultur eines abgegrenzten Zeitalters einfügt, und wie dabei bestimmte Forderungen auf anderes Recht sich loslösen und der bestehenden Ordnung gegenübertreten. Aber diese Unterscheidung von geltendem Recht und von Rechtspostulaten ist etwas ganz anderes, als die Gegenüberstellung von besonderem rechtlichen Stoff und von allgemeiner formaler Methode, einen beliebigen bedingten Rechtsinhalt zu richten und zu bestimmen. Diese letztere Trennung ist vom Gegensatz der lex lata [nach hergebrachtem Recht - wp] und ferenda [zu schaffendes Recht - wp] unabhängig; sie findet sich in jedem von diesen wieder. Sie ist die grundlegende Voraussetzung für jede mögliche Rechtswissenschaft, während die andere genannte Zerteilung nur eine äußerliche Unterscheidung nach der Zeit der empirisch gegebenen oder fehlenden Geltung wiedergibt. Sachlich aber können auch sogenannte Rechtspostulate, als Forderungen auf Abänderung eines bestimmten Rechts, richtig oder unrichtig sein, so daß sich überall die Frage erhebt: in welchem methodischen Beweisgang man das eine oder andere begründen kann. Der Gedanke der Richtigkeit ist eine formale Eigenschaft, welche jedem besonderen Rechtsinhalt zukommen kann, dem gewesenen, dem heute bestehenden oder einem angestrebten.

Diese Unterscheidung von "Form" und "Stoff" kann gar nicht scharf genug betont werden. Erst nach ihrer klaren Erfassung und vollen Durchführung mag das Mißverständnis verschwinden, als ob es darauf abegesehen sein sollte, dem geschichtlich gewordenen Recht ein ideal erschaffenes Recht gegenüberzustellen. Davon ist keine Rede. Dem Stoff nach ist alles Wollen geschichtlich bedingt. Es erwächst aus einer besonderen historischen Lage und hat für seine genetische Betrachtung notwendige Ursachen. Aber jedes inhaltlich besondere Wollen hängt mit anderen, konkret von ihm verschiedenen, in einer inneren Gleichartigkeit zusammen. Sie, die einzelnen, treffen sich in einer gemeinsamen formalen Art. Nach einer solchen fügen sich stofflich mannigfaltige Normen einheitlich dem Begriff des Rechts unter, nach formaler Weise lassen sie sich dann wieder in sachlich richtiges und unrichtiges Recht einteilen. In der Tat geschieht dieses letztere ja auch unaufhörlich. Nicht leicht wird jemand, der ein bestimmtes rechtliches Wollen betrachtet, Jurist oder Laie, darauf verzichten, dieses besondere Recht einem kritischen Urteil auf seine sachliche Berechtigung hin zu unterwerfen. Sonach lautet unser Problem: Was heißt es eigentlich, ein Gesetz, eine Vertragsforderung oder ein anderes rechtliches Wollen für sachlich begründet oder unbegründet zu erklären?

Die gestellte Aufgabe besteht hierbei darin, uns über die Gedanken, die wir in den erwähnten kritisch richtenden Urteilen wirklich hegen, durch methodische Selbstbesinnung aufzuklären. Es sind jetzt nicht neue Rechtssätze zu erfinden, es ist nicht der Stoff eines rechtlichen Wollens und Anordnens von uns aus zu mehren. Es kommt darauf an, den Gedanken der Richtigkeit eines Rechts, der im Sinne sachlicher Gerechtigkeit zu allen Zeiten angewandt worden ist, wird und werden wird, als formalen Begriff klarzustellen und die methodische Möglichkeit seiner Anwendung zu zeigen. Das wird geschehen, wenn wir das unbedingt allgemeine Verfahren aufweisen, das in unseren Gedanken notwendig waltet, sobald wir über Recht und soziales Leben eine kritische Betrachtung pflegen. So lassen wir nun den besonderen Stoff der geschichtlichen Rechtsordnungen hinter uns und befassen uns in eigener und abgegrenzter Arbei mit der methodischen Form, diese selben Ordnungen allgemeingültig zu begreifen und einheitlich zu richten und zu bestimmen.

2. Sittliches Wollen und soziales Wollen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die rechtliche Ordnung ein Mittel zur Erreichung von Zwecken ist. Der entscheidende systematische Gesichtspunkt für alles Recht vermag daher auch nur eine Einheit der Zweckbetrachtung zu sein. Wer sich vorläufig auf die Frage nach der Entstehung rechtlichen Wollens beschränkt, hat doch nur nach der Genesis gewisser Mittel und Zwecke gefragt. Daraus folgt, daß das Wesen des Rechts unter der Gesetzmäßigkeit des menschlichen Wollens, das ist der unbedingt einheitlichen Art der Erwägung von Zweckinhalten steht.

Diese Zuteilung des Rechts zum Reich der Zwecke bricht sich schließlich in notwendiger Stärke überall Bahn, auch bei solchen, die es zunächst nicht wahr haben wollen. So schon bei der kritischen Prüfung der materialistischen Geschichtsauffassung (A. 3.); und in besonders bemerkenswerter Weise vordem bei SPINOZA, der bekanntlich alle Dinge nur als bestimmte Arten einer einzigen naturgesetzlichen Einheit, der "Substanz" erfassen und bestimmen wollte. Auch der Mensch soll nur ein Modus der einigen, allumfassenden Substanz sein; und Zwecke kommen nur als Eigenschaften des Menschen insofern zur Erwägung, als dieser ein Gegenstand der Naturbetrachtung ist. So nahm jener Philosoph "Naturrecht" im Sinne von "Naturgesetz": Es sind die Regeln, die ein jedes Wesen (auch "die großen Fische") zur Äußerung seiner Eigenart in Sein und Wirken bestimmen; alles geht in einem einheitlichen Fluß des naturgesetzlichen Waltens der Substanz auf. Aber trotzdem will auch SPINOZA doch eine Erklärung der Rechtsordnung geben. Er meint, daß die Menschen sich dem Recht unterwerfen, weil sie im Staat das kleinere Übel im Vergleich zur Anarchie sehen, er wirft die Frage nach dem optimus rei publicae status [besten Zustand des Staates - wp] auf, und er entscheidet dahin, daß es recht gut ist, daß wir in der Staatsgemeinschaft zusammengefaßt sind, weil diese ein angemessenes Mittel zur Erreichung der natürlichen Bestimmung des Menschen ist.

Welches ist nun die Gesetzmäßigkeit der Zwecke, der auch das rechtliche Wollen zu unterstellen ist? - Die Antwort wird durch eine Eigenart des modernen Sprachgebrauchs erschwert, der das Wort "Gesetzmäßigkeit" mit Vorliebe im Sinn erkannter Kausalität nehmen möchte. Aber dieses ist doch nur eine besondere Richtung in den Aufgaben des objektivierenden Bewußtseins, während der sachliche Gedanke, dem das Wort "Gesetzmäßigkeit" den zutreffenden Ausdruck verleihen soll und auch sehr gut verliehen hat und verleiht, der einer allgemein gültigen Art des Erkennens und des Wollens ist. Danach bedeutet Gesetzmäßigkeit der Zwecke eine einheitliche und letzte und unbedingt mögliche Methode, den Inhalt von menschlichem Wollen in Gedanken zu richten und zu bestimmen. Da dieses formale Verfahren schlechterdings für alle denkbaren menschlichen Zwecke anwendbar sein soll, so kann es nur in der Idee einer solchen Art und Weise des Wollens bestehen, daß sie von der Besonderheit der gerade vorliegenden subjektiven Lage befreit vorgestellt wird. Es wird ein gesetzmäßig begründeter Zweck danach dann vorliegen, wenn er nicht nur als Ziel eines begrenzten persönlichen Begehrens begreiflich erscheint, sondern auch in Abstraktion von der Sonderart dieses Subjekts allgemeingültig für jeden in einer solchen Lage gedachten Menschen begründet besteht. So ist die Idee des inhaltlich freien Wollens die Gesetzmäßigkeit der Zwecke. - Kein wirklich gegebener Willensinhalt kann dieser Idee jemals völlig entsprechen. Es gibt immer nur stofflich bedingtes Wollen. Aber es ist doch ein Unterschied, ob es in seiner Bedingtheit erstirbt und vom Wollenden nur als bedingtes behauptet werden kann, oder ob es als objektiv gerechtfertigter Zweck aufzutreten vermag. In dieser letzten Absicht bildet jener formale Gedanke des inhaltlich freien Wollens die Richtlinie für ein methodisch gesichertes, kritisches Urteil über empirisch bedingtes Wollen, - nach einem vordem schon gebrauchten Bild: den Stern, zu dem man aufblickt, nicht um ihn zu erreichen und dort zu landen, aber doch, um sein Schifflein nach ihm zu richten zu rechter guter Fahrt.

Dieser leitende Gedanken einer gesetzmäßigen Art und Weise des Richtens und Bestimmens ist absolut gültig, - das, was nach ihm konkret gerichtet und bestimmt wird, kann höchstens objektiv richtig sein. Es hat diese Eigenschaft, wenn es dem unbedingt geltenden formalen Gesetz in dieser besonderen Lage entspricht, soviel wir nur sehen können. Aber es kann niemals ganz mit ihm zusammenfallen und volle Deckung finden, eben weil es von bedingtem Stoff ist; und es ist veränderlich und verbesserbar. Es ist keine ewige Wahrheit, aber es will auch keineswegs bloß eine subjektive Bedeutung haben, sondern gegenständlich gerechtfertigt sein. Sonach darf man beim menschlichen Wollen, also auch beim Recht, nicht bloß zwei Möglichkeiten unterscheiden: absolut gültigen Rechtsinhalt und geschichtlich bedingten, sondern es ist dreifach zu trennen: einmal die absolut gültige formale Methode und sodann innerhalb des geschichtlich bedingten Rechtsinhalts denjenigen, der nach jener Methode eingesehen und konkret bearbeitet ist und darum objektiv richtig heißen kann, und den, welchem diese Eigenschaft fehlt (vgl. auch A. 1. am Ende).

Nach einem objektiv gerechtfertigten Wollen strebt ja jedermann; zumindest möchte er es für ein Urteil über Entschließungen anderer wohl haben. Das Problem der Richtigkeit eines bestimmten Wollens ist also in der Sache keineswegs nur ein solches des theoretischen Nachdenkens. Am wenigsten hat dieses, wie vordem (B. 1.) schon bemerkt, besondere Zwecke zu erfinden oder ein gewisses Wollen dem Stoff nach zu erschaffen. Vielmehr soll es das systematische Urteil über natürlich erstehende Strebungen und Ziele objektiv begreiflich machen und eine methodische Bearbeitung des bedingten Stoffes eines sonst wilden Sehnens und Drängens zu ermöglichen. Nur in der Schärfe der Einsicht und in der Klarheit der Gedanken vermag die Theorie von einem undeutlichen nebelhaften Behaupten nach sogenannten "Gefühlen" sich zu unterscheiden, mit einem schöpferischen Produzieren neuen Stoffes des Wünschens und des Wählens hat sie begründetermaßen nichts zu tun.

Bei der Betätigung dieses Berufes einer kritisch arbeitenden Theorie ergibt sich nun im Zusammenhang dieser Betrachtungen eine klärende Scheidung von zwei Aufgaben des richtigen Wollens. Dieses kann einmal ein solches sein, das der Einzelne für sich hegt. Den Stoff bilden dabei die wünschenden Gedanken, die für sich, auch ohne im geringsten in äußere Erscheinung zu treten, gut oder schlecht sein können. Es ist die Lauterkeit des Charakters, die Reinheit und Wahrheit seines Innern, die hier dem Einzelnen zur Aufgabe gestellt wird, zu einer Aufgabe, deren Erfüllung ihm das Wichtigste in seinem ganzen Leben sein muß. Mit Grund hat man gesagt, daß Unwahrheit vor sich selbst und sich eigens betrügender Widerspruch den Begriff der inneren Schlechtigkeit erfüllen, es aber für den Menschen nichts Schlimmeres geben kann, als die daraus entspringende Selbstverachtung. Davor den Einzelnen zu bewahren, ihn zur richtigen Arbeit an seinen inneren Wünschen und bloßen Gedanken anzuleiten: das ist die Aufgabe der sittlichen Lehre.

Wenn so das sittliche Wollen als ein Innenleben des Einzelnen für sich erscheint, so ist das soziale Wollen die regelnde Anordnung, die mehrere Menschen zu einer gemeinsamen Zweckverfolgung verbindet. Es ist das Wollen für andere. Dabei ist es für jetzt noch gleichgültig, wer dieses Wollen äußert und setzt, es genügt und ist hier entscheidend, daß der Inhalt dieses Wollens nicht mehr die Richtung auf die eigenen Gedanken als solche nimmt, sondern auf die Art des Zusammenwirkens mehrerer, die diesem jetzigen Wollen unterstellt sein sollen. Aber auch dieser Inhalt des sozialen Wollens soll objektiv richtig sein. Es soll eine rechte Art des Zusammenwirkens nach ihm bestehen. Die methodische Möglichkeit hierfür zu liefern: das ist die Aufgabe des richtigen Rechts.

Es liegen also zwei Aufgaben für richtiges Wollen vor. Es genügt nicht, bloß die eine in das Auge zu fassen und auf sie allein zu verweisen, sondern es ist zunächst eine jede von ihnen unter dem ihnen gemeinsamen Gesetz der Zwecke, das ich genannt habe, zu erwägen und in ihrer Besonderheit aufzulösen. So wird dem fünften Gebot des Dekalogs in der Bergpredigt mit Grund die Abmahnung vor dem zürnenden Gedanken gegenüber dem Nächsten erteilt und neben das Verbot des Ehebrechens der Satz gestellt, daß, wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, schon die Ehe mit ihr "in seinem Herzen" gebrochen hat. Wer andererseits eine Ehe eingeht, von dem kann ich zunächst nur wissen, daß er rechtlich richtig will; ob er auch sittlich gut dasteht, das hängt noch ganz von der Art der wünschenden Gedanken in seinem Innern ab. Und umgekehrt will die viel berufene Anweisung, daß einem Verletzer auch die rechte Wange noch zum Schlag hingehalten werden soll, kein Paragraph eines richtigen sozialen Wollens zu sein, sondern eine Lehre des richtigen sittlichen Wollens: Eine Richtlinie der Gedanken, nach der man jede Äußerlichkeit und Einzelheit des möglichen Erlebens als solche geringschätzen, an kein für sich sein Herz hängen soll, daß beim Verlust man sich vernichtet fühlt.

Man hat dieses Verhältnis des sittlichen und des sozialen Wollens seit KANT oft genug mit der Unterscheidung von autonom und heteronom kennzeichnen wollen. Jenes entnimmt seine Gesetzmäßigkeit der eigenen inneren Tätigkeit des Menschen, dieses tritt von außen an ihn heran und verlangt nicht Moralität, sondern bloß äußerlich übereinstimmende Legalität. Aber hierbei wird ausschließlich vom Standpunkt des Einzelnen aus gegangen, wobei zwischen den beiden Aufgaben des Wollens in fataler Weise ein notwendiger Zwiespalt entsteht. Stattdessen muß festgehalten werden, daß das soziale Wollen gar nicht mehr ein Wollen des Einzelnen für sich ist, sondern eine mehrere verbindende Regel, die über ihnen steht. Es ist dieser Zweckinhalt, gleichviel von wem er nun in der besonderen Erfahrung gesetzt wird, der in seiner eigenen Aufgabe - der Regelung des Zusammenwirkens - mit dem Grundgedanken des menschlichen Wollens überhaupt in einen harmonischen Einklang gebracht werden soll.

Wenn ich nun der Aufgabe, das soziale Wollen objektiv zu analysieren, es in seinem Grund und der Art des Inhalts zu richten und zu bestimmen, im Besonderen nachgehen werde, so sei zuvor nochmals betont, daß geläuterte Moral und richtiges Recht nur zwei besondere Ausführungen ein und derselben Gesetzmäßigkeit des menschlichen Wollens sind. Sie sollen nicht in einer grundsätzlichen Weise etwa in einen Gegensatz zueinander gebracht werden. Beides ist richtiges Wollen, nur an verschiedenen Problemen betätigt. Es kommt auch gar nicht darauf an, ob man die gemeinsame Gesamtlehre, die dabei der Naturbetrachtung gegenübersteht, nun als "Ethik" oder als "Moralphilosophie" oder - am besten - als "Zweckwissenschaft" oder auch sonstwie bezeichnet; denn es soll hier ja nur betont werden, daß bei der Grundfrage nach richtigen Zwecken in der Ausführung alsbald die zwei besonderen Aufgaben auftreten, die ich genannt habe, und von denen ich nur der des rechten sozialen Wollens in erwähnter Richtung näher treten werde.
LITERATUR Rudolf Stammler, Wesen des Rechts und der Rechtswissenschaft in Verschiedene Autoren, Systematische Rechtswissenschaft, Berlin und Leipzig 1906