ra-2F. CuhelDas menschliche GlückDas Bedürfnis    
 
AUGUST DÖRING
(1834 - 1912)
Philosophische Güterlehre
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"Sofern nun die Erfordernisse imstande sind, sich im Bewußtsein, soweit ihnen Genüge geschieht, als Lust, soweit ihnen nicht Genüge geschieht, als Unlust zu reflektieren, sind sie Bedürfnisse. Nicht unmittelbar und als solches tritt das Bedürfnis ins Bewußtsein, sondern nur, soweit ihm Befriedigung zuteil wird, als Lust, soweit nicht, als Unlust. Das Bedürfnis ist das potentielle Gefühl, das Gefühl als Möglichkeit. Das Bedürfnis ist der innere Realgrund des Gefühls, das Gefühl der Erkenntnisgrund des Bedürfnisses. Das Vorhandensein der Bedürfnisse als der in Lust und Unlust sich geltende machenden Erfordernisse unserer Natur wird nicht unmittelbar erkannt, sondern nur durch Rückschluß vom Gefühl als Wirkung auf das Bedürfnis als Ursache. Daher ist auch alles Begehren im Zustand des unmittelbaren reflexionslosen Bewußtseins nicht auf die Befriedigung der Bedürfnisse, sondern auf die Erzeugung von Lust und die Beseitigung von Unlust gerichtet."

Erster Teil
Elementare Güterlehre


I. D i e   i n n e r e   M ö g l i c h k e i t   d e r  G ü t e r
1. Das Zeugnis der Erfahrung

Den Ausgangspunkt bildet für diesen ganzen Teil der radikale timologische Skeptizismus SCHOPENHAUERs. Seine uneingeschränkte Leugnung der inneren Möglichkeit eines Gutes überhaupt faßt sich zunächst in dem Satz zusammen, daß alle Befriedigung nur negativ sei, als Wegnahme der Unlust eines Mangels oder der Langeweile. Die Sache stehe nach der Erlangung wie vor dem Eintritt des Wunsches, die besessenen Güter und Vorteile erscheinen als selbstverständlich. Wir fühlen wohl den Schmerz, aber nicht die Schmerzlosigkeit, die Sorge, aber nicht die Sorglosigkeit, die Furcht, aber nicht die Sicherheit; der erfüllte Wunsch ist wie der genossene Bissen (Welt als Wille und Vorstellung I, § 58, II, Kap. 46).

Diese Theorie ist zunächst dadurch mißverständlich, daß sie den Schein erweckt, als ob SCHOPENHAUER meine, die Lust sei ansich nichts Reales, Positives. Er hat sich allerdings über diesen Punkt wohl nicht mit hinreichender Deutlichkeit ausgesprochen, doch darf nach dem ganzen Zusammenhang des Systems wohl angenommen werden, daß er die Positivität der Lust ansich, sowohl als Bewußtseinszustand im allgemeinen, der sich über die Schwelle des Bewußtseins erhebt, als auch, was davon der Natur der Sache nach nicht zu trennen, als Wertobjekt, unbedenklich zugegeben haben würde. Angenommen, es wäre ein Indifferenzzustand des Gefühls als Ausgangspunkt gegeben und es träte in diesen Indifferenzzustand eine Lust ein, so würde voraussichtlich auch SCHOPENHAUER sich nicht weigern zuzugeben, daß damit nicht nur ein positiver Bewußtseinszustand überhaupt, eine Erhebung über die Schwelle des Bewußtseins, geschaffen würde, sondern daß sich dieser Zustand auch nach der Seite des Wertes als ein positiver charakterisieren würde. Positivität als Bewußtseinsvorgang und Positivität des Wertes sind ja bei der Lust nicht zu trennen. Kein Bewußtseinsvorgang überhaupt kann die  in abstracto  sein; es wird zugleich seine ganz spezifische Eigentümlichkeit mitbewußt; das Daß des Bewußtwerdens läßt sich vom Was des Bewußtseinsinhaltes nicht trennen. Die spezifische Eigentümlichkeit der Lust, ihr Was, ist aber eben das Lustsein, auf dem ihre Positivität im Sinne des Wertes beruth. Wollte man das leugnen, so müßte man auch die Positivität als Bewußtseinsvorgang leugnen und behaupten, daß sie unter der Schwelle des Bewußtseins zurückbliebe, also überhaupt nicht bewußt würde.

Die behauptete, ausnahmslose Negativität der Lust beruth aber bei SCHOPENHAUER eben auf der Bestreitung der Möglichkeit der soeben gemachten Voraussetzung, daß sich eine Lust auf dem Boden eines Indifferenzzustandes erheben könne. Sein timologischer Skeptizismus beruth auf der Voraussetzung, daß nach der Einrichtung der Menschennatur niemals der Fall eines nicht durch Unlust bereits präokkupierten Gefühlszustandes eintreten könne. In der Seele ist stets entweder die Unlust des Begehrens oder der Langeweile am Werk, jeden in der Entstehung begriffenen Lustwert im Entstehen zu vernichten, im Keim zu ersticken. Das seiner Natur nach unendliche Begehren erzeugt bereits vor der Möglichkeit einer Lust eine Unlustsumme, die den ansich positiven Lustbetrag bereits im Werden verschlingt, so daß auch im Fall der adäquaten Befriedigung des Wunsches nur ein Nullpunkt der wirklichen Befriedigung des Wunsches nur ein Nullpunkt der wirklichen Befriedigung herauskommt. Ehe der Besitz der dargebotenen Lustsumme angetreten werden kann, ist schon die Unlust des Begehrens als unerbittlicher Gläubiger zur Stelle und belegt den Betrag als Abschlagszahlung auf die nie zu tilgende Wucherschuld mit Beschlag. Die Lust ist als Befriedigung eines Wunsches immer nur indirekte Lust, sofern sie die vorher vorhandene Unlust des Begehrens vermindert und im besten Fall zum Nullpunkt aufhebt; über diesen hinaus zu positivem Wert kann sie niemals steigen. Die vorgängige Unlust es Begehrens ist KRONOS, der seine eigenen Kinder gleich nach der Geburt verschlingt. Das Luststreben ist ein Schöpfen in das Danaidenfaß, die Lust ein Wasserguß, der im besten Fall hinreicht, das Unlustfeuer des Begehrens auszulöschen, selbst aber in diesem Beginnen restlos verdampft.

Aber auch der so hergestellte Indifferenzzustand ist nicht geeignet, als Ausgangspunkt für einen nunmehr zu erwerbenden positiven Lustwert zu dienen. Offenbar ist es auch hier wieder das unersättliche Begehren, das sofort wieder den hergestellten Indifferenzzustand in den Unlustzustand der Langeweile verwandelt und dadurch auch im Zustand momentaner Wunschlosigkeit das Zustandekommen eines positiven Lustbetrages verhindert, während gleichzeitig der Wille auch unmittelbar und direkt für die Entstehung neuer Unlust des Begehrens Sorge trägt.

SCHOPENHAUER leugnet nicht die Wertpositivität der Lust ansich, was so viel heißen würde, als behaupten, daß die Lust nicht Lust sei, sondern er behauptet nur, daß in jedem einzelnen Fall dieser Positivität bereits im Zustandekommen ein überwiegender negativer Unlustwert gegenübersteht, der sie aufzehrt und dadurch zwar geschwächt, aber nicht vernichtet wird. Die Lust ist zwar wirkliche Lust, aber sie kommt nicht zum Dasein, weil sie im Entstehen aufgezehrt wird. Bei jedem einzelnen Zustandekommen findet die Lust die Unlust schon als Gegner auf dem Plan und zieht bei dem unvermeidlichen Zusammenstoß meist den kürzeren. Im allerbesten Fall ist momentan gegenseitige Vernichtung das Resultat; auf die Dauer ist der Unlust, deren beide Arten, Begehren und Langeweile, ja nur Erscheinungsformen des Grundwesens der Menschennatur, und noch weiter rückwärts, des Grundwesens der Welt, des Willens, sind vermöge ihrer unerschöpflichen Hilfsquellen, der Unendlichkeit ihres Wesens, der Sieg gesichert.

Mag aber damit auch nicht die absolute Positivität der Lust im Sinne des Wertes geleugnet werden, was unmöglich ist, sondern nur die relative, so ist doch das Resultat das gleiche: es gibt keine wirklichen Güter als Lustursachen, weil es zu keiner Lust kommt; es gibt höchstens Ursachen verminderter Unlust.

Diese Theorie beruth im letzten Grund auf der metaphysischen Voraussetzung des Willens im bekannten SCHOPENHAUERschen Sinne als des Wesens der Dinge überhaupt und der Menschennatur insbesondere. Diese Voraussetzung braucht hier als metaphysische nicht widerlegt zu werden, da sie nicht bewiesen ist. Der angebliche Hauptbeweis ist ja eben der empirisch-psychologische aus dem vorgeblichen Primat des Willens in der Menschennatur, aus dem der timologische Skeptizismus auch unmittelbar und direkt folgt. Auf ihm beruth nämlich unmittelbar die Lehre, daß die Lust nie primär und direkt auftritt, sondern immer nur als Gegenwirkung gegen eine schon vorhandene Unlust, die ihren Ursprung aus dem an erster Stelle wirksamen Willen nimmt. Der empirische Gegenbeweis hat sich daher auf die beiden Punkte zu richten, daß einmal nicht der Wille, sondern das Gefühl den Primat im bewußten seelischen Leben hat, und anderteils, daß die Lust nicht als bloß sekundäre Gegenwirkung gegen vorhandene Unlust auftritt, sondern als selbständige, von der Bedingung vorhandener Unlust völlig unabhängige Erscheinung, daß die Lust ihrem Grundwesen nach nicht indirekte, .d h. Verminderung vorhandener Unlust, sondern direkte ist.

Was nun zunächst den Primat des Gefühls im Bewußtseins anlangt, so ist die SCHOPENHAUERsche Theorie ebenso einseitig wie die LEIBNIZsche vom Vorstellen als der von innen her erregten Grundfunktion der Monade, bei der es keine realen Affektionen von außen, sondern nur ein selbsttätiges Streben vorzustellen als Potenz, und ein wirklich gewordenes Vorstellen als Aktualität der Potenz gibt. Auch bei SCHOPENHAUER empfängt der seelische Prozeß seine Impulse von innen und besteht im Wirklichwerden der angelegten Willenspotenz.

Tatsächlich aber ist es die äußere Affektion des Reizes, der von außen kommenden Zustandsveränderung, die das seelishe Leben in Bewegung setzt, und die bewußten seelischen Funktionen sind nur Reaktionsweisen gegen diese Affektionen. Das Bewußtsein aber gibt zunächst nicht Kunde von den affizierenden Objekten, sondern nur von den eingetretenen Modifikationen des eigenen Zustandes und auch von diesen zunächst und ursprünglich nicht in der Form der Empfindung, die schon der Anfang eines objektiven Bewußtseins wenigstens von der objektiven Beschaffenheit der eingetretenen Modifikation ist, sondern zunächst nur in der ganz subjektiven Form des Gefühls, die nur die Bedeutung der Affektion für den eigenen Gesamtzustand, die Schwankungen der Normalität desselben im Bewußtsein reflektiert. Das Gefühl ist ursprünglicher als die Empfindung; wir können uns primitive Wesen vorstellen, die auf den Reiz nur mit Gefühlen und den entsprechenden Formen des Strebens antworten. Wie alle Sinne aus dem Tastsinn entspringen, so ist auch dieser eigentlich nicht ein Vermögen objektiver Empfindung, sondern rein in der subjektiven Sphäre verbleibenden Gefühls, das sich erst im Verlauf der tierischen Entwicklung zum empfindenden Sinn verobjektiviert und dann weiterhin in die Mannigfaltigkeit der Sinne differenziert. Möglicherweise gibt es noch jetzt primitive Organismen, bei denen die das Affiziertwerden von der Außenwelt vermittelnden Organe auf der Stufe des Gefühls stehen geblieben und Gefühl und Streben die einzigen Bewußtseinszustände sind. Jedenfalls kehrt die SCHOPENHAUERsche Psychologie das Verhältnis von Gefühl und Streben geradezu um; wie das einfachste tierische Wesen, so wird auch der Mensch unter allen Umständen stets zuerst fühlen und dann streben. An dieser Grundtatsache wird auch durch die in den immer breiter gewordenen Zwischenraum zwischen Reiz und Gefühl sich einschiebende objektive Bewußtseinsentwicklung, die von der Empfindung bis zu einem unendlich reich und mannigfaltig gestalteten Vorstellungsleben, einem vollständigen Welt- und Selbstbewußtsein, aufsteigt, nichts geändert.

Ist nun aber so das Gefühl als Lust wie als Unlust die ursprüngliche Reaktionsweise gegen Affektionen, so fällt damit jeder Grund weg, der Unlust vor der Lust als jederzeit notwendig vorhandenem ursprünglichen Zustand den Vorrang einzuräumen. Es bedarf eigentlich nur der präzisen Formulierung der SCHOPENHAUERschen Theorie, um ihren Widerstreit mit der alltäglichen Erfahrung zu erkennen. Aus tausend Quellen strömen uns Lusteindrücke zu, ohne daß dabei eine vorhergehende Unlust des Begehrens in Betracht käme. Eine Theorie, die den Spezialfall der indirekten Lust aus dem Aufhören der Unlust des Begehrens für das universelle Gesetz der Lustentstehung erklärt, kann nur in einem kranken Seelenleben entstehen, in de, einesteils das Begehren zu abnormer Heftigkeit entwickelt, andernteils die Lustempfänglichkeit abnorm herabgesetzt ist.

Nicht die abstrakte Schmerzlosigkeit, die gar nicht existiert, sondern der relativ normale Zustand, der dem in Schmerz sich äußerenden entgegengesetzt ist, wird lustvoll empfunden. Es braucht dabei nicht auf kompliziertere Vorgänge, wie die Erscheinung der Kontralust nach überstandenem Schmerz, das Wonnegefühl der Genesung und dgl. zurückgegangen zu werden, um diese Behauptung durch die Erfahrung bestätigt zu finden. Das Gefühl der Gesundheit ist ebenso positiv lustvoll, wie das der Krankheit positiv unlustvoll. Desgleichen sind Sicherheit und Sorgenfreiheit ebensogut positive Lustzustände, wie Furcht und Sorge solche der Unlust. Die gegenteilige Behauptung SCHOPENHAUERs beruth schon auf der generellen Vorstellung, daß die entspringende Lust im Entstehen durch einen vorhandenen Unlustzustand aufgezehrt wird.

Lust und Unlust sind zwei wesensverwandte, aber qualitativ entgegengesetzte Bewußtseinszustände, die völlig selbständig und unabhängig voneinander nebeneinander entstehen und bestehen können. Sie erheben sich in zwei unabhängigen Intensitätsskalen vom Nullpunkt des Bewußtseins, jede zunächst nur von ihren eigenen äußeren Ursachen abhängig. Im Grunde hat eigentlich jedes einzelne Gefühlserlebnis seine eigene Intensitätsskala. Die einzelne Lust ist unter allen Umständen eine dem Wert nach positive Wirkung einer Lustursache, die Unlust eine dem Wert nach negative Wirkung einer Unlustursache. Die Ausgleichung einer vorhandenen Unlust durch eine Lust, auf der die ganze Theorie SCHOPENHAUERs beruth, ist zunächst ein Vorgang von sehr dunkler und zweifelhafter Beschaffenheit und setzt zu ihrer Konstatierung die Möglichkeit voraus, einen gegebenen Gefühlszustand mit einem anderen von entgegengesetzter Qualität der Größe nach genau zu vergleichen. Diese Möglichkeit scheitert aber, wie später genauer zu zeigen ist, am Fehlen einer Maßeinheit nicht nur für beide entgegengesetzte Zustände zusammen, sondern selbst für jeden von beiden einzeln genommen. Es braucht aber für die gegenwärtige Untersuchung gar nicht auf diese Frage der Ausgleichung zurückgegangen werden, da es sich für jetzt nur darum handelt, die Lust ansich als einen ursprünglichen, unabhängig von vorhandener Unlust möglichen und in unzähligen Fällen erfahrungsmäßig wirklichen Zustand zu erkennen, dem gegenüber ein etwaiger Ausgleich gegen etwa vorhandene Unlust ein Vorgang von durchaus sekundärer Bedeutung ist.

Es kommt hier noch gar nicht darauf an, die etwaige Gesamtgröße eines vorhandenen Gefühlszustandes oder das Gefühlsquantum eines kleineren oder größeren Lebensabschnittes durch Addition und Subtraktion festzustellen, sondern nur darauf, die völlige Unabhängigkeit des einzelnen Gefühlszustandes von jedem anderen zu betonen und die irrige Vorstellung abzuwehren, als trete die Lust stets nur indirekt als Ausgleichsversuch gegen vorhandene Unlust auf.

Gegenüber dieser völligen Selbständigkeit der beiden Gefühlsarten ist auch die öfter angewandte Vergleichung mit einer Thermometerskala, auf der unter dem Nullpunkt der Wärme die Kältegrade beginnen, eine zwar nicht gerade der SCHOPENHAUERschen Theorie Vorschub leistende, aber doch verkehrte und irreleitende Vorstellung. Sollte dieses Bild, was wohl nicht beabsichtigt ist, den Charakter beider als Bewußtseinszustände veranschaulichen, so ist es dazu ganz untauglich, da die Bewußtseinsskala jenseits des Nullpunktes keine Grade mehr hat, sondern mit diesem aufhört, also nur positive Werte kennt. Jenseits des Nullpunktes ist nur der negative Zustand des Nichtfühlens oder der Gefühlslosigkeit im buchstäblichen Sinne. Soll es dageen den entgegengesetzten Wertcharakter beider Gefühle bezeichnen, so ist es dafür zwar insofern geeignet, als Wärme und Kälte Lust und Unlust veranschaulichen können, trotzdem aber sowohl als Bild falsch gewählt, wie als Veranschaulichung der Sache irreleitend. Die Thermometerskala bezeichnet durchaus nicht die Intensitätsgrade zweier entgegengesetzter Zustände, wie allerdings die populäre Anschauung annimmt, sondern nur der Wärme, deren wirklicher Nullpunkt für unsere Beobachtung gar nicht existiert; der Nullpunkt des Thermometers ist ein ganz willkürlich gewählter, jenseits dessen kein qualitativ verschiedener oder entgegengesetzter Zustand beginnt. Das Bild würde also, genau genommen, die Vorstellung erwecken, als ob Unlust nur ein geringerer Grad von Lust wäre, den man übereingekommen wäre, von einem gewissen Punkt an mit dem entgegengesetzten Vorzeichen zu versehen. Für die Sache ist das Bild, auch wenn an der populären Vorstellung des Gegensatzes von Wärme und Kälte festgehalten wird, irreleitend, weil es die Vorstellung erweckt, als bildeten Lust und Unlust eine einheitliche Skala, als habe das Hervortreten von Unlust zur notwendigen Vorbedingung das Herabsinken der Lust zum Nullpunkt, und könne umgekehrt Lust nur beginnen, nachdem die Unlust den Nullpukt erreicht hätte, während doch schon die Erscheinung der gemischten Gefühle und noch mehr die Beobachtung des Gesamtgefühlszustandes eines beliebigen Lebensmomentes das Nebeneinandersein beider Gefühle beweist.

Eine in vielen Beziehungen zutreffendere Vergleichung bietet die positive und negative Elektrizität, der positive und negative Magnetismus. Hier fehlt allerdings der Gegensatz des Gefühlswertes, die Bezeichnung als positiv und negativ ist eine willkürliche, die auch umgekehrt sein könnte; dagegen gibt es hier, wie bei den beiden Gefühlen, einen Indifferenzzustand des unterschiedslosen Ineinanderseins, einen Höhepunkt des scharf hervortretenden polaren Gegensatzes und eine Skala von Zwischenzuständen des nur partiellen Überwiegens des einen oder andern der beiden Gegensätze. Darin liegt ein zutreffendes Bild sowohl für die Gegensätzlichkeit überhaupt, als auch für die wechselnde Beschaffenheit unserer gesamten Gefühlszustände.

Das Grundergebnis der unbefangenen Beobachtung ist, daß die Luft nicht, wie SCHOPENHAUER will, eine vom Vorhandensein von Unlust als Vorbedingung abhängige Gegenwirkung gegen dieselbe, die partiell aufhebend oder neutralisieren auf sie wirkt, aber nur im günstigsten Fall den Nullpunkt dieser Neutralisierung erreichen kann, sondern ein vom Vorhandensein von Unlust zunächst völlig unabhängiger, aus seinen eigenen Ursachen entspringender seelischer Zustand ist, der, für sich genommen, einen positiven Wert darstellt. Im Grunde setzt auch SCHOPENHAUER diese Positivität des Wertes voraus, indem er der Lust die Fähigkeit zuschreibt, die vorhandene Unlust wenigstens partiell aufzuheben. Nur durch die Abhängigkeit, in die er das Entstehen der Lust von der vorhergehenden Unlust des Begehrens versetzt, gelangt er zur Behauptung des fortwährenden Verbleibens in der Negative. Lösen wir diese Abhängigkeit und verselbständigen wir die Lust, so tritt auch sofort die Positivität ihres Wertcharakters in Kraft.

Auch die scheinbaren Übergänge von Lust zu Unlust oder umgekehrt bilden keine Gegeninstanz gegen diese völlige Unabhängigkeit beider Grundzustände. Diese scheinbaren Übergänge haben ihren Grund in der Veränderung der Ursache, der eine veränderte Wirkung entspricht.

Beispiele solcher scheinbaren Übergänge sind: ein über eine gewisse Grenze hinaus sich steigernder Kitzel, bei dem Lust in Unlust umschlägt, eine bis zur Greenze der Unvernehmbarkeit sinkende Lust, die Unlust wird, eine plötzliche, übermäßige Freude, die lähmt, ja tötet, überhaupt die übermäßige Intensität, sowie die zu lange Dauer oder zu häufige Wiederholung der Lustursachen. Ein zu starker, zu lange anhaltender oder zu oft wiederholter körperlicher Lustreiz bewirkt Unlust oder läßt mindestens indifferent. Ferner gehören hierher die Fälle der indirekten Unlust aus nachlassender Lust und der indirekten Lust aus nachlassender Unlust.

In allen diesen Fällen ist die selbständige, von der Ursache des Grundgefühls verschiedene Ursache des eintretenden entgegengesetzten Gefühls leicht nachzuweisen. Beim übermäßigen Kitzel und der übermäßigen Freude, sowie bei allen Fällen des Übermaßes ist es eben die der Empfänglichkeit unserer Organisation nicht mehr angemessene Intensität, bei der zu langen Dauer die Ermüdung, bei der zu häufigen Wiederholung die Abstumpfung. Bei der indirekten Unlust aus nachlassender Lust ist die Unlust ein vom Grundgefühl der Lust durchaus verschiedenes Gefühl, das seine Ursache eben in der Wahrnehmung des Abhnehmens hat, und ebenso entspringt die indirekte Lust bei abnehmender Unlust aus der Wahrnehmung des Abnehmens.


Die rein innerliche Beobachtung führt also dahin, daß die Lust nicht eine bloße abhängige Gegenwirkung gegen die Unlust ist, sondern ein selbständiger, gegensätzlich gleichberechtigter Zustand. Dieses Ergebnis findet nun eine weitere Bestätigng durch die äußere Beobachtung der körperlichen Wirkungen beider Arten von Gefühlszuständen, die nicht nur ansich der rein sinnlichen Wahrnehmung offen liegen, sondern auch nach der Art ihres Zustandekommens exakt physiologisch nachweisbar sind.

Die körperlichen Gefühle rein als solche in strenger Isolierung auf diejenigen Gefühlswirkungen, die unmittelbar aus Affektionen peripherischer Nerven entspringen, können hierbei außer Betracht bleiben. Es ist jedoch zu bemerken, daß auch diese wohl niemals ganz isoliert für sich auftreten, sondern stets mit Gefühlen aus begleitenden Vorstellungen verknüpft sind. Jeder körperliche Schmerz erzeugt zunächst die seelische Unlust des Unmuts aus der Vorstellung des Störenden, Quälenden, Ungehörigen, jede körperliche Lust ist begleitet von seelischer Freude über ihr Vorhandensein. Dazu treten aber noch andere Arten von Vorstellungslust und -unlust. Die rein körperliche Unlust des Hungers hat nicht nur jenen Unmut, sondern auch Sorge aus der Vorstellung der Folgen längerer Dauer oder öfterer Wiederholung der Nahrungsentziehung zur Begleitung, der Sättigung folgt Befriedigung aus der Vorstellung, daß einem körperlichen Bedürfnis genüge geschehen ist. Bei einer plötzlichen Verletzung eines Körperteils ist der körperliche Schmerz sogar nur bei besonderer Empfindlichkeit des betroffenen Teils das Vorwaltende, in allen übrigen Fällen überwiegt die Unlust aus der Wahrnehmung des zerstörenden Eingriffs als Widerwille, die aus der Vorstellung eines plötzlich uns zustoßenden Übels als Schreck, die aus der Vorstellung des möglicherweise Gefährlichen als Sorge und dgl. In diesem Sinne also beschränkt sich die nachfolgende Betrachtung auf die Gefühle aus Vorstellungen.

Die körperlichen Wirkungen dieser Gefühle nun zeigen dieselbe gleichberechtigte Gegensätzlichkeit, die den Gefühlen selbst nach dem Zeugnis der inneren Beobachtung zukommt. Sie lassen sich in vier Gruppen von Gegensätzen ordnen.
    1. Erweiterung oder Verengung der Gefäße, namentlich der Blutgefäße. Hierher gehört u. a. das Erröten und Erbleichen, die Wärme, das Behagen, das Glühen, das Frösteln und Schaudern, der Tränenerguß und gewisse andere Gefäßerweiterungen, die als drastische Wirkungen der Furcht und des Schreckens bekannt sind.

    2. Die Empfindung von Enge und Druck oder von Leichtigkeit und Freiheit ums Herz.

    3. Die Langsamkeit oder die Schnelligkeit des Gedankenablaufs, Leere, Armut, Monotonie des Vorstellens und Verknüpfens von Vorstellungen auf der anderen Seite.

    4. Hemmung und Inkoordination der Bewegungen, Lähmung, Zittern, Ungelenkheit der Bewegungen und der Sprache, Verzerrung der Züge einerseits, Elastizität, Leichtigkeit, Frische der Bewegungen und der Sprache, Sicherheit und Festigkeit des Gangs und der Haltung und gewisse, für die Lust charakteristische Veränderungen der Mienen und Gebärden andererseits.
Der modernen Physilogie nun scheint es bis zu einem gewissen Grad gelungen zu sein, diese ganze Mannigfaltigkeit von Wirkungen auf eine einheitliche nächste Ursache zurückzuführen, nämlich auf das System der Gefäßnerven, die von einem einheitlichen Zentrum zwischen Gehirn und Rückenmark aus durch eine ungeheure Zahl von kleinen Muskeln reflektorisch die Verengung und Erweiterung der Gefäße bewirken.

Die Gefäßnerven wurden erst vor etwa 40 Jahren durch CLAUDE BANARD in Paris entdeckt, die volle Ausbeutung dieser Entdeckung zur physiologischen Erklärung der körperlichen Begleiterscheinungen der Gefühle gehört erst der allerjüngsten Zeit an und wird hauptsächlich dem Dänen CARL LANGE in seiner Schrift "Über Gemütsbewegungen" (Kopenhagen 1885) und dem Italiener ANGELO MOSSO in der Schrift "La Peur" (Paris 1886) verdankt.

Nach diesen Nachweisungen beruth nicht nur die erste der vorstehenden Erscheinungsgruppen, bei der der Zusammenhang unmittelbar deutlich ist, sondern auch die drei übrigen Gruppen auf der reflektorischen Verengung und Erweiterung der Gefäße. Die Empfindungen am Herzen erklären sich durch die aus der Erweiterung oder Verengung der Blutgefäße resultierende Erleichterung oder Erschwerung der Herztätigkeit im Hindurchtreiben des Blutes durch die Gefäße, die Modifikationen des Gedankenlaufes durch die speziell die Blutgefäße des Gehirns betreffende Erweiterung oder Verengung, aus der Blutreichtum oder Blutarmut des Gehirns folgt, die Gegensätze in den Bewegungserscheinungen speziell aus der veränderten Blutversorgung derjenigen Teile des Gehirns und Rückenmarks, durch die diese Bewegungen geregelt werden.

Die Physilogie nun zeigt sich geneigt, die ganze Gefühlswirkung aus diesen physiologischen Vorgängen abzuleiten. Sie stellt sich den Vorgang so dar, daß gewisse Vorstellungen, z. B. die einer Gefahr, unmittelbar reflektorisch auf das Zentrum der Gefäßnerven wirken und dadurch die betreffenden körperlichen Veränderungen hervorbringen, die sich sodann im Bewußtsein als Lust und Unlust reflektieren. Dies ist ein Irrtum. Die betreffenden, unser Wohl und Wehe angehenden Vorstellungen müssen offenbar, schon um diese Reflexwirkungen erzeugen zu können, was ja die rein objektive Vorstellung nicht vermag, zunächst das seelische Grundgefühl erzeugen. Es hindert nichts, dieses Grundgefühl als einen selbständigen, in einem besonderen Teil des Zentralorgans örtlich verlaufenden Gehirnvorgang vorzustellen, wenngleich der Natur der Sache nach eine physiologische Nachweisung dafür bis jetzt nicht möglich ist. Dieser im Bewußtsein als Lust und Unlust sich darstellende Gehirnvorgang wirkt sodann reflektorisch auf das Gefäßsystem und erzeugt so die körperlichen Begleiterscheinungen, die wiederum körperliches Behagen oder Unbehagen hervorbringen und so durch diese ausgelösten körperlichen Lust- und Unlustwirkungen wie durch einen Resonanzboden oder eine Reihe von Obertönen, die dem Grundton Körper, Fülle und Rundung geben, verstärkend auf das Grundgefühl zurückwirken.

Es wird durch diese Theorie durchaus nicht ausgeschlossen, daß in solchen Fällen, wo die Affektion der Gefäße nicht vom Gefühl oder supponierten körperlichen Gefühlszentrum ausgeht, sondern aus körperlichen Ursachen entspringt, sie auch selbständig Modifikationen des Gefühlsstandes bewirken kann. Solche Fälle sind zunächst die stimulierenden Genußmittel, sofern sie durch Einwirkung auf das Gefäßsystem den Blutumlauf erleichtern und dadurch direkt den Gefühlsstand beeinflussen; ebenso Stoffe von entgegengesetzten physiologischen Wirkungen, wo die entgegengesetzte Gefühlswirkung rein körperlich vermittelt eintreten wird. Ferner würde dahin gehören der Fall einer besonders günstigen und normalen oder besonders abnormen natürlichen Entwicklung des Gefäßsystems, dessen entsprechende Funktionen alsdann einen bestimmenden Einfluß auf die gesamte Grundstimmung des Individuums üben und die Gemütsart zu einer natürlich heiteren oder trüben, zur Leicht- oder Schwerlebigkeit gestalten muß. Dieser Unterschied tritt nicht nur von Individuum zu Individuum, sondern auch bei einem und demselben Individuum auf den verschiedenen Altersstufen hervor. Die Jugend ist nach einem bezeichnenden Ausspruch Trunkenheit ohne Wein, das Alter trübsinnig und mürrisch. In beiden Fällen ist die Grundursache dieser habituellen Gemütsverfassung, die übrigens durch Einflüsse höherer Ordnung modifiziert und selbst völlig umgewandelt werden kann, physiologisch. Endlich werden zeitweilige oder dauernde Erkrankungen des Gefäßsystems, die seine Tätigkeit besonders in der Richtung der Gefäßtsystems, die seine Tätigkeit besonders in der Richtung der Gefäßverengung oder Gefäßerweiterung beeinflussen, die gleichen Folgen für die Gesamtstimmung haben, ja sogar beim Fehlen eines starken intellektuellen Gegengewichts, das die klare Auffassung der wirklichen Schicksalslage und des rein körperlichen Ursprungs der Verstimmungen ermöglicht, völlige Geistesstörung bewirken. In diesem Fall wird die rein körperlich bedingte Melancholie sich in hypochondrischen Wahnvorstellungen vorhandener Körperleiden, weiterhin in Verfolgungswahn und anderen ängstlichen Einbildungen reflektieren, die körperlich verursache krankhafte Hilarität [Heiterkeit - wp] aber Projektenmacherei, Größenwahn und dgl. erzeugen.

Diese vielfachen und starken Gefühlswirkungen, die vom Gefäßsystem ausgehen, berechtigen aber nicht, die ganze Erscheinung der Vorstellungsgefühle aus im abzuleiten. Weder vermag das bloße Vorstellen das Gefäßsystem zu affizieren, noch vermögen die Wirkungen der Affektionen des Gefäßsystems allein die Entstehung der Vorstellungsgefühle zu erklären. Wäre letzteres der Fall, so wäre z. B. das Unlustgefühl der Furcht Wirkung der Symptome, nicht die Symptome Wirkung des Gefühls, und der ganze Kausalzusammenhang wäre auf den Kopf gestellt. Außerdem aber muß es von vornherein nach allen Analogien als wahrscheinlich gelten, daß die Gefühle als eine selbständige Gruppe seelischer Erscheinungen, wie jeder andere seelische Vorgang, Erzeugnis einer besonderen Gehirnfunktion sind. Dies leugnet im Grunde auch die Physiologie in ihrer Theorie vom Gefäßsystem nicht, wo ja doch auch die schließliche Wirkung ein Gefühl ist; sie irrt nur darin, daß sie die sekundären Gefühle für die primären erklärt.

Jedenfalls liefern diese physiologischen Tatsachen einen neuen Beweis, daß die Lust der Unlust als gleichberechtigter, selbständiger Gegensatz gegenübersteht. Wäre die Lust nur ein sekundäres Produkt aus vorhergehender Unlust, so müßte das notwendig in den durch das Gefäßsystem vermittelten körperlichen Wirkungen in irgendeiner Weise einen Ausdruck finden; tatsächlich aber herrscht in diesen Wirkungen durchaus das Prinzip der gegensätzlichen Gleichberechtigung.

Ist also die Lust tatsächlich ein Selbständiges und für sich genommen Wertvolles, so ist damit auch festgestellt, daß es Güter gibt. Jedes Objekt im weitesten Sinn, das Lust bewirkt, sei es eine Ursache direkter Lust, sei es als Verminderung einer Unlust Ursache indirekter Lust, ist ein Gut, wie jedes Objekt, das Unlust bewirkt, sei es eine Ursache direkter Unlust, sei es als Verminderung einer Lust Ursache indirekter Unlust, ein Übel ist. Es ist hiermit in keiner Weise der Frage nach dem Verhältnis von Lust und Unlust in einem zeitweiligen Gesamtgefühlszustand oder gar der Glückseligkeitsfrage überhaupt präjudiziert. Es handelt sich durchaus nur um den Einzelfall, um die Möglichkeit des singulären Zustandekommens selbständiger Lust, also um die Möglichkeit des einzelnen Gutes als selbständiger Lustursache, so gut wie des einzelnen Übels als selbständiger Unlustursache. Wie sich das Gesamtverhältnis gestalten wird, bleibt hier noch ganz unentschieden; nur der SCHOPENHAUERschen prinzipiellen Ablehnung der Möglichkeit irgendeines Gutes überhaupt sollte entgegengetreten werden.


2. Das Bedürfnis als innerer Grund
der Möglichkeit von Gütern

Im vorigen Abschnitt ist der Behauptung der timologischen Negativität der Lust zunächst aufgrund der unmittelbaren Erfahrung widersprochen worden. Bei SCHOPENHAUER nun wird diese Negativität ursächlich begründet durch die metaphysische Annahme, daß die Grundrichtung unseres seelischen Lebens ein unersättliches Streben sei, das, ansich ziellos, sich unaufhörliche neue Ziele setze und so eine unerschöpfliche Quelle von Unlust aus unbefriedigtem Begehren werde, der gegenüber die Lust aus den erlangten Befriedigungen nur ein unzulängliches, stets unter dem Nullpunkt verbleibendes Äquivalent bilde.

Diese Voraussetzung nun ist zwar nicht nur von SCHOPENHAUER nicht bewiesen worden, sondern auch als positiv falsch leicht zu erweisen. Das Streben ist keineswegs die aus einer metaphysischen Quelle entspringende Grundrichtung der Seele, sondern ein sekundärer, aus Unlust oder unzulänglicher Lust entstehender seelischer Zustand, der auf Beseitigung der Unlust oder Erhöhung der Lust gerichtet und zwar der Anlage nach unserer Organisation eingeboren ist, zur Betätigung aber aktuelle direkte oder indirekte Unlust im eben bezeichneten Sinne voraussetzt.

Mit dieser bloßen Ablehnung einer falschen ursächlichen Begründung und der Berufung auf die unmittelbare Erfahrung aber ist der Aufgabe, die richtige Auffassung des Verhältnisses der Lust zur Unlust anstelle der falschen zu setzen, noch nicht Genüge geleistet; es muß auch anstelle des SCHOPENHAUERschen Willens ein innerer Grund nachgewiesen werden, aus dem das selbständige Hervorgehen beider Gefühle bei dem durch äußere Gefühlsursache gegebenen Anstoß verständlich wird.

Da ergibt sich zunächst folgendes. Die Bewußtseinserscheinungen der Lust und Unlust müssen mit unseren realen Zuständen zusammenhängen; sie müssen gleichsam der Widerschein eines Realen sein, eines ansich seienden, vom Reflex verschiedenen Normalitätszustandes des Daseins selsbt, von dem sie unmittelbar im Bewußtsein Kunde geben. Dieses Reale kann ein körperlicher Zustand oder ein Zustand unseres Vorstellens und unserer Überzeugungen sein.

Stellen wir uns einen Augenblick vor, Lust und Unlust wären nicht nur Gattungsbegriffe für zwei Gruppen von Erscheinungen, die zwar der Qualität nach in jeder von beiden Gruppen einfach und gleichartig, der ins Bewußtsein fallenden Verursachung nach aber unendlich mannigfaltig und verschiedenartig sind, stellen wir uns vor, die Mannigfaltigkeit der Verursachung und damit auch die durch diese bedingte Getrenntheit der einzelnen Lust- und Unlustzustände fiele nicht ins Bewußtsein, sondern es flössen alle Lust- und alle Unlustwirkungen zu einer einheitlichen Gesamtlust- und einer einheitlichen Gesamtunlustwirkung zusammen, ja noch mehr, es gäbe überhaupt nur einen einheitlichen Gesamtgefühlszustand, in dem alle Lust- und Unlustwirkungen ohne Rücksicht auf ihre Verursachung zusammenflössen, so würde dieser Gesamtzustand den einheitlichen Reflex des realen Gesamtzustandes, soweit er überhaupt im unmittelbaren Bewußtsein sich reflektierte, hinsichtlich seines Normalitätsgrades darstellen.

Es wäre dieser Zustand eine Ausdehnung der Einrichtung, wie sie im Großen und Ganzen beim körperlichen Gemeingefühl vorliegt, wo dieses Zusammenfließen der Wirkungen zahlreicher Gefühlsursachen zu einer ununterscheidbaren Einheit stattfindet, auf das gesamte Gefühlsleben. Es würde sich in einem solchen Zustand das Gesamtgefühl vom Nullpunkt der Gefühllosigkeit aus in der Art erheben, daß stets eine einheitliche Gefühlsgröße vorhanden wäre, deren Gefühlswert aber durch die beiden qualitativ entgegengesetzten Arten der Zuflüsse bald mehr im Sinne der Lust, bald mehr in dem der Unlust bestimmt würde, immer aber ein einheitlicher Bewußtseinszustand bliebe, gleichsam ein Grau, das sich aus Schwarz und Weiß zusammensetzte und sich je nach dem Überwiegen der einen oder anderen Grundfarbe bald mehr dem Weiß, bald mehr dem Schwarz näherte.

Es könnte bei dieser Einrichtung unserer Organisation eine Mannigfaltigkeit von Gütern und Übeln im eigentlichen Sinne nicht geben, sondern höchstens in einem abgeleiteten Sinne, sofern nämlich die Erkenntnis imstande wäre, auch unabhängig von der nicht vorhandenen gesonderten Gefühlswirkung der einzelnen Gefühlsursachen, letztere durch irgendein von der Gefühlswirkung unabhängiges Verfahren in ihrer Sonderexistenz zu beobachten und festzustellen.

Dieser Gefühlszustand würde alsdann den einheitlichen Reflex des realen Gesamtzustandes hinsichtlich seiner Normalität, soweit solche sich überhaupt im Gefühl reflektierte, bilden. Es wäre denkbar, daß dieser Reflex sich nur auf einen kleinen Bruchteil des realen Zustandes erstreckte; in diesem Fall würden wir wenigstens von seiten des Gefühls ohne Kunde von dem größeren Teil unseres Zustandes bleiben; dieser könnte hinsichtlich derjenigen seiner Momente, die ohne Einfluß auf die Gestaltung des Gesamtgefühles blieben, ein völlig abnormer, dem Zusammenbruch näher sein, während zufällig die im Gefühl sich reflektierenden Momente in überwiegend normalem Zustand wären und daher ein Gesamtgefühl mit vorherrschender Lust ergäben. Unmöglich aber wäre es, wenn nicht das Gefühl als das völlig trügerische Spiel einer irreleitenden Einrichtung unserer Natur betrachtet werden sollte, daß eine völlige Unabhängigkeit der Gefühlsschwankungen von den Veränderungen des realen Zustandes stattfände.

Was nun für einen solchen zum Zweck der Verdeutlichung der Abhängigkeit des Gefühls vom realen Zustand angenommenen Einheitsreflex zutreffend wäre, das muß  mutatis mutandis  [mit den nötigen Änderungen - wp] auch für die wirklich gegebene Sachlage des gesonderten Innewerdens der Gefühlswirkungen seine Geltung haben. Es mag Zustände und Verhältnisse in unserem realen Dasein geben, die des Reflexes im Gefühl entbehren, jedenfalls entspringen die Gefühlswirkungen tatsächlich aus Modifikationen unserer realen Zustände, die teils eingetreten sind, teils erwartet werden und die teils unmittelbar körperlich, teils durch Vermittlung des Wahrnehmens und Vorstellens an Lust und Unlust ihren Reflex im Bewußtsein haben. Mag die Vorstellung bloße Einbildung sein, als Vorstellung, der vermeintlich etwas Wirkliches entspricht, bildet sie einen Bestandteil unseres realen Gesamtzustandes, dem eine Modifikation des Gefühls entspricht.

Objektiv betrachtet gibt es eine Mannigfaltigkeit von Erfordernissen unserer Natur, bei deren Vorhandensein der Zustand derselben ein normaler, bei deren Nichtvorhandensein derselbe ein abnormer ist. Für jedes zusammengesetzte Ding gibt es Erfordernisse, die zu seinem normalen Bestehen verwirklicht sein müssen, nur das absolut Einfache, das unverändert normal ist, ist erfordernislos. Nicht nur der Organismus der Pflanze erfordert zu seinem normalen Bestand Vollständigkeit der Organe und der Lebensbedingungen, auch die chemisch zusammengesetzte Substanz ist nur dann sie selbst, wenn sich die Bestandteile in bestimmten Mischungsverhältnissen und unter bestimmten Mischungsbedingungen vereinigt haben.

Sofern nun die Erfordernisse imstande sind, sich im Bewußtsein, soweit ihnen Genüge geschieht, als Lust, soweit ihnen nicht Genüge geschieht, als Unlust zu reflektieren, sind sie Bedürfnisse. Nicht unmittelbar und als solches tritt das Bedürfnis ins Bewußtsein, sondern nur, soweit ihm Befriedigung zuteil wird, als Lust, soweit nicht, als Unlust. Das Bedürfnis ist das potentielle Gefühl, das Gefühl als Möglichkeit. Das Bedürfnis ist der innere Realgrund des Gefühls, das Gefühl der Erkenntnisgrund des Bedürfnisses. Das Vorhandensein der Bedürfnisse als der in Lust und Unlust sich geltende machenden Erfordernisse unserer Natur wird nicht unmittelbar erkannt, sondern nur durch Rückschluß vom Gefühl als Wirkung auf das Bedürfnis als Ursache. Daher ist auch alles Begehren im Zustand des unmittelbaren reflexionslosen Bewußtseins nicht auf die Befriedigung der Bedürfnisse, sondern auf die Erzeugung von Lust und die Beseitigung von Unlust gerichtet.

Der Begriff des Bedürfnisses ist hier im weitesten Sinne gebraucht. Es gibt nicht nur zuständliche Bedürfnisse, sondern auch solche des Ausdrucks der Zustände, nicht nur Bedürfnisse, die unseren eigenen Zustand unmittelbar betreffen, sondern auch solche, die ihn nur insofern betreffen, als er durch die Zustände anderer mit affiziert wird, nicht nur körperliche, sondern auch seelische, und auf körperlichem Gebiet nicht nur materiale, sondern auch solche des bloßen Fungierens, und auf dem seelischen nicht nur solche eines bestimmten Vorstellungs- und Überzeugungsinhalts, sondern auch solche der bloßen Erregung oder Betätigung, ferner nicht nur ursprüngliche und natürliche, sondern auch abgeleitete und künstliche Bedürfnisse.

Die Summe der Bedürfnisse ist die konstant wirkende innere Ursache der Lust und Unlust, die durch das Hinzutreten der äußeren, der Welteinrichtung angehörigen Lust- und Unlustursachen in entgegengesetzter Richtung zu Lust oder Unlust bestimmt wird und dadurch zugleich den ein Bedürfnis befriedigenden Objekten und Verhältnissen der Welteinrichtung den Charakter als Güter, den der Befriedigung eines Bedürfnisses entgegenwirkenden den Charakter als Übel aufprägt. Das Gut ist nur Gut oder äußere Lustursache, weil es einem Bedürfnis als Bestandteil des inneren Grundes aller Gefühlsmöglichkeiten Anlaß gibt, sich in Lust zu äußern, das Übel nur Übel oder äußere Unlustursache, weil es einem Bedürfnis Anlaß gibt, sich in Unlust zu äußern. Wäre ein Gewisses nicht Bedürfnis, so würde ein Gewisses ihm Korrespondierendes nicht Gut sein und umgekehrt. Die Bedürfnisse sind die eigentliche innere Möglichkeit der Güter und Übel, weil sie als innere Möglichkeit von Lust und Unlust das eigentlich wertprägende sind. Die Bedürfnisse sind die letzte Wertursache und vermöge ihrer verschiedenen Stärke und Dringlichkeit auch der letzte Grund der Wertunterschiede, der letzte Wertmesser. Gäbe es nur ein einheitliches Bedürfnis, aber von unendlicher Größe, so wäre dies ein vollkommenes Analogon des SCHOPENHAUERschen Willens und wie bei diesem wäre jede Möglichkeit eines Zustandekommens wirklicher Lust von vornherein ausgeschlossen. Die innere Möglichkeit der Güter und Übel beruth auf der Beschaffenheit unserer Natur, kraft deren sich alle wesentlichen Erfordernise zu ihrer Normalität als Bedürfnisse in Lust und Unlust äußern und dadurch den zur Herstellung des normalen Zustandes dienenden Objekten und Verhältnissen den Charakter als Güter, den diesem Zustand entgegenwirkenden den Charakter als Übel aufprägen. Ein Gut ist demnach ein Objekt oder Verhältnis, das dadurch für uns Wert hat, daß es Lust erregt, indem es ein Bedürfnis befriedigt, ein Übel ein Objekt oder Verhältnis, das Unlust erregt, indem es der Befriedigung eines Bedürfnisses entgegenwirkt.

Hiermit ist denn die durch die innere Erfahrung bezeugte gleichberechtigte Gegensätzlichkeit von Lust und Unlust auch ursächlich begründet. Aus  einem  Stamm entspringend erheben sich beide, je nachdem die Welteinrichtung in Einklang oder im Mißverhältnis mit unseren Bedürfnissen auf unsere Organisation einwirkt, zur Wirklichkeit, beide gleich real, aber von entgegengesetztem Gefühlswert. Das Begehren aber ist nur eine sekundäre Erscheinung, aus direkter Unlust oder der indirekten Unlust unzulänglicher Lust entspringend. Es ist nicht, wie in der die natürliche Aufeinanderfolge auf den Kopf stellenden Theorie SCHOPENHAUERs, die alleinige Ursache, sondern die Wirkung der Unlust und wie diese selbst Symptom der Nichtbefriedigung eines Bedürfnisses. Nicht, wie SCHOPENHAUER in auffälliger Einseitigkeit und im Widerspruch mit der Erfahrung lehrt, gibt es nur  eine  Quelle der Unlust, das Begehren, und nur  eine  Quelle der Lust, die Erlangung des Begehrten, sondern Lust wie Unlust entspringen primär aus zahlreichen Grundbedürfnissen der Natur, und die Unlust des unbefriedigenden Begehrens ist nur eine einzelne und zwar eine sekundäre, die Unlust des unbefriedigten Bedürfnisses begleitende und verstärkende Unlustform, die Unlust der Spannung.
LITERATUR - August Döring, Philosophische Güterlehre - Untersuchungen über die Möglichkeit und die wahre Triebfeder des sittlichen Handelns, Berlin 1888