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RICHARD von SCHUBERT-SOLDERN
(1852-1924)
Das menschliche Glück
und die soziale Frage

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"Es ist nun freilich sicher, daß einer den andern, auch wenn jemand noch so vertraut miteinander ist, nie vollständig versteht, es gibt immer gewisse geheime Falten des Herzens und gewisse Unterschiede in der Gefühlsweise, welche sich dem gegenseitigen Verständnis entziehen. Jene geforderte Übereinstimmung der erschlossenen Gefühlswelt mit ihren wahrgenommenen Äußerungen ist niemals ganz vorhanden. Aber es geht uns auch nicht darum, das Innere unserer Mitmenschen bis in die geheimsten Falten ihres Herzens zu ergründen, sondern nur darum, die Übereinstimmung ihrer Innenwelten und insbesondere ihrer Gefühle und Lustarten im allgemeinen festzustellen; hier wird wohl jedermann zugestehen, daß eine solche Übereinstimmung vorhanden ist."

Erster Artikel
I. Das individuelle Glück im allgemeinen

Das, was den Menschen glücklich macht, der Inhalt des menschlichen Glücks wird stets individuell so verschieden sein, daß niemals eine Regel wird aufgestellt werden können, nach welcher jeder glücklich werden kann. In diesem Sinne hat das Sprichwort recht, daß jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. Wir sind dem Glück anderer gegenüber meistens ganz ohnmächtig. Indem wir ihr Glück schmieden wollen, nehmen wir unser eigenes Glück zum Muster und unser Werk wird dem andern zur Fessel anstatt ihn in seinem Wohlergehen zu fördern. Oder wenn wir auch richtig erfaßt haben, worin das Glück des andern besteht, so sind wir doch nicht imstande, ihm die nötige Einsicht zu verschaffen, aus der heraus er es allein anzustreben vermag. Der andere muß erst jene Erfahrungen gemacht haben, die wir schon besitzen, um uns überhaupt zu verstehen. Ohne Erfahrungen ist er "unpraktisch", er weiß weder selbst, was eigentlich sein Glück ausmacht, noch kennt er die Mittel, die zu ihm führen. Reden und Raten hilft dann nichts, denn "jeder ist seines eigenen Glückes Schmied". Man nimmt jedoch dieses Sprichwort noch in einem anderen Sinn und in diesem halte ich es entschieden für falsch. Man meint dann, daß jeder sich sein eigenes Glück schaffen kann, daß jeder Herr ist über das eigene Glück. Gewiß ist nichts unrichtiger als diese Ansicht. Zunächst kann niemand seine Anlagen, wenigstens in ausreichendem Maße ändern, um sein Glück den Umständen anpassen zu können. Vielleicht hätte jemand als Kaufmann sein Glück machen können; er hat aber keinen Sinn für kaufmännische Spekulationen, dagegen ist Musik seine Sache, er hat entschieden musikalische Anlagen, er wird Musiker, erreicht nichts und geht zugrunde. Aber er hätte glücklich werden können, wenn er die richtige Einsicht gehabt hätte, um Kaufmann zu werden. Vielleicht, aber kann er sich selbst diese richtige Einsicht geben? ebensowenig wie ein anderer! Er hätte gegen seine Anlagen ein anderes Glücksideal anstreben müssen, er hätte wissen müssen, daß es für ihn noch ein anderes Glück geben kann, als das angestrebte; das hätte er aber erst erfahren müssen, diese Einsicht versperrte ihm seine Anlage, die Einseitigkeit seiner Erfahrungen. Er konnte sich vielleicht nicht die Einsicht verschaffen als er noch die Wahl hatte, er besaß die Einsicht vielleicht später als es keine Wahl mehr für ihn gab. Im Alter sagt er sich vielleicht, wenn ich das getan hätte, dann wäre ich glücklicher geworden; aber weiß er es denn, daß er glücklicher geworden wäre, täuscht ihn nicht wieder seine Einbildungskraft, die ihm nur ein scheinbares Glück vorspiegelt oder wenigstens einen Zustand, der ihm nur nach einem verfehlten Leben als Glück erscheinen konnte, der ihn aber vor diesem Fehlschlag seines Lebens niemals hätte befriedigen können? Wir sind das Spiel der Umstände, unserer Anlagen, unserer Erfahrungen, unserer Erziehung. Auch unsere Erziehung hängt weder von uns ab, noch kann sie von anderen mit Sicherheit so eingerichtet werden, daß sie zu unserem Glück ausschlägt. Unter allen absichtlichen Einflüssen auf das Glück eines Menschen ist sie aber doch der stärkste, weil der früheste: sie bestimmt zum Teil die ersten Eindrücke des Menschen, sie macht ihn soweit möglich mit den Resultaten fremder Erfahrungen bekannt, sie hat es bis zu einem gewissen Grad in der Hand, mäßigend und fördernd auf seine Anlagen einzuwirken und doch kann auch sie das Glück des einzelnen Menschen nicht schaffen, weil so viele verborgene Umstände in der Innenwelt eines jeden wirken, daß kein Erzieher mit Sicherheit bestimmen kann, ob Mittel und Ziel seiner Einwirkungen mit dem künftig möglichen Glück seines Zöglings zusammenstimmen werden.

Wenn nun aber das Glück so unfassbar ist, weswegen sich mit ihm beschäftigen, weswegen es zu erhaschen suchen, wenn es einem immer unter der Hand wieder entschlüpft? Allerdings, wie wir sehen werden, so wenig es im Einzelnen bestimmt werden kann, so sicher kann man seine allgemeinen Arten, seine allgemeinen Bedingungen feststellen. Sind aber diese von irgendeinem Nutzen für das Glück des Einzelnen? Unmittelbar nur von geringem Nutzen. Jene Erfahrungen, auf denen die verschiedenen Glücksarten und ihre Bedingungen beruhen, sind so allgemein, daß jeder sie macht, jeder sie kennt; die Philosophie kann dem Einzelnen inhaltlich nichts Neues bieten, sie kann seine Begriffe nur klären, sie kann seine instinktiven Erkenntnisse in klar unterschiedene verwandeln. Auch damit wäre ja etwas gewonnen, denn klare Erkenntnis fördert einen jeden, auch den moralischen Fortschritt, aber zum Glück des einzelnen Individuums könnte sie doch nur wenig beitragen. Die Einsicht in die Beschaffenheit des Glücks im allgemeinen gewinnt aber an Wert, wenn man ihre Wichtigkeit für das Glück der Gesamtheit erwägt. Die Gesellschaft, der Staat, überhaupt jede größere Gemeinschaft können niemals das Glück des Einzelnen als solches berücksichtigen, das müssen sie seinen Erziehern, Verwandten und Freunden überlassen; die Gesellschaft kann selbst nur die allgemeinen Grundlagen schaffen, auf denen sich das Glück der Einzelnen zu erheben vermag; sie kann dabei mehr ins Einzelne gehen oder sich nur auf das Allgemeinste und Notwendigste beschränken, für die Einzelnen als solche vermag sie aber niemals Vorsorge zu treffen. Für die Gesellschaft muß es daher von der größten Wichtigkeit sein, die allgemeine Beschaffenheit des menschlichen Glücks kennen zu lernen, denn diese allein kann sie in ihren Einrichtungen berücksichtigen.

Hier kann nun nicht zweifelhaft sein, daß das Glück den Charakter der Lust hat, daß es sich von den einzelnen Lustmomenten nur durch seine stete Berücksichtigung des Lustganzen während seines Zeitabschnittes oder des ganzen Lebens unterscheidet. Das Glück ist nicht eine eigene Lustart, aber sie ist die Resultierende verschiedener Lustarten positiver oder negativer Natur, es ist niemals vorhanden, wo sich die Unlust als Resultat eines Zeitabschnittes ergibt. Man kann daran zweifeln, ob Glück das einzige Ziel des menschlichen Strebens ist oder sein soll, niemals aber darüber, daß es auf Lust beruth, ein Glück ohne Lust ist ein Widerspruch. Natürlich darf man unter Lust nicht bloß sinnliche Lust verstehen, sondern auch das, was man geistige oder seelische Lust nennt. Beruth ja doch gerade auf der richtigen Abschätzung beider, auf dem richtigen Verhältnis in dem beide zueinander stehen, das Glück selbst.

Da es sich aber nicht um das Glück eines einzelnen Individuums handelt und auch nicht um einzelne Lustmomente eines Individuums, sondern um das Glück im allgemeinen und um das Lustganze eines Zeitabschnitts, unter dem meistens das ganze Leben verstanden wird, so ist es notwendig zur Feststellung des Glücks, die verschiedenen Lustarten miteinander zu vergleichen. Wären die Lustarten der verschiedenen Menschen und die Lustarten eines und desselben Menschen untereinander nicht vergleichbar, dann gäbe es auch keine allgemeine Beschaffenheit des Glücks, überhaupt kein Glück im allgemeinen; dann würde das Glück der einzelnen Menschen und ebenso die einzelnen Lustarten eines Menschen ohne jedes gemeinschaftliche Resultat auseinanderfallen. Man könnte dann kaum von einem Glück, sondern nur von einzelnen Lustarten sprechen, die nicht unter einen Gesichtspunkt zu bringen wären.

Was zunächst die Lust verschiedener Individuen anbelangt, so ist die Frage nach ihrer Vergleichbarkeit eigentlich gegenstandslos. Das vergleichende Individuum kennt nämlich immer nur seine eigene Lust- und Unlustarten und kann diese Gefühle bei anderen bloß aus ihren Äußerungen (Worten, Mienen, Gebärden) erschließen und kann sie nur analog seinen eigenen Gefühlen erschließen, weil es gar keine andere kennt. Es handelt sich also nur darum, ob es möglich ist, die Gefühle des andern so zu erschließen, daß die erschlossenen Gefühle und die wahrgenommenen Äußerungen stets in vollem Einklang stehen; denn dieser Einklang ist das einzige Kriterium für die richtige Erschließung der fremden Innenwelt. Die Frage, ob diese Innenwelt an sich mit unserer nun wirklich vergleichbar ist, ist gegenstandslos, wir können nie zu einer Innenwelt gelangen, die nicht analog der unseren erschlossen wäre. Es ist nun freilich sicher, daß einer den andern, auch wenn jemand noch so vertraut miteinander ist, nie vollständig versteht, es gibt immer gewisse geheime Falten des Herzens und gewisse Unterschiede in der Gefühlsweise, welche sich dem gegenseitigen Verständnis entziehen. Jene geforderte Übereinstimmung der erschlossenen Gefühlswelt mit ihren wahrgenommenen Äußerungen ist niemals ganz vorhanden. Aber es geht uns auch nicht darum, das Innere unserer Mitmenschen bis in die geheimsten Falten ihres Herzens zu ergründen, sondern nur darum, die Übereinstimmung ihrer Innenwelten und insbesondere ihrer Gefühle und Lustarten im allgemeinen festzustellen; hier wird wohl jedermann zugestehen, daß eine solche Übereinstimmung vorhanden ist. Neue, unverständliche oder unfaßbare Lust- oder Unlustarten bei anderen zu erschließen bieten ihre beobachtbaren Äußerungen keinen Anlaß. Ich kann bei jedem anderen dieselbe Art der Gefühlswelt wie bei mir voraussetzen, wäre das nicht der Fall, dann wäre ein gemeinsames Handeln ebenso unmöglich wie die gegenseitige Bekämpfung: Kultur, Fortschritt, Geschichte wären nicht vorhanden, denn jeder lebte dann nur für sich, könnte nur für sich leben, eine Gemeinsamkeit der Interessen und damit jede Gemeinschaft wäre ausgeschlossen.

Die andere Frage, ob die Lustarten desselben Individuums alle miteinander vergleichbar sind, scheint schwieriger zu beantworten. Man hat einen Artunterschied zwischen geistiger und sinnlicher Lust finden wollen, beide sollten unvergleichbar sein. Ohne auf ihren Unterschied vorläufig einzugehen, ist aber auch hier von vornherein klar, daß der Mensch bei gänzlicher Verschiedenheit der geistigen und sinnlichen Lust gleichsam in zwei Teile auseinanderfallen müßte; es wäre die Einheitlichkeit des Menschen in seinem Fühlen und dadurch auch in seinem Handeln aufgehoben; die geistigen Lustmotive könnten die sinnlichen nicht bekämpfen, der Mensch könnte zwischen ihnen keine Wahl treffen, der geistige Mensch könnte zwischen ihnen keine Wahl treffen, der geistige Mensch hätte mit dem sinnlichen nichts zu tun, jeder Mensch bestände aus zwei Wesen mit gänzlich auseinanderfallenden Bestrebungen; es wäre nicht einmal ersichtlich, warum im einen Fall des Handelns das geistige oder das sinnliche Motiv das Übergewicht erringen sollte. Der Mensch ist aber in seinem Denken, Fühlen und Handeln ein einheitliches Wesen und schon daraus folgt, daß auch alle seine Gefühle mit einander vergleichbar sein müssen.

Andererseits hat die Lust einen ganz individuellen Charakter. Nicht nur, daß das inhaltliche Gebiet, auf das sich die Lust erstreckt, unabsehbar ist, so erreigen auch dieselben Inhalte bei verschiedenen Individuen eine verschiedenartige Lust; das kommt daher, weil sich ein Inhalt niemals für sich abgeschlossen auf das Gefühl wirkt, sondern immer nur in Gemeinschaft mit den ihm assoziierten; diese Assoziationen sind aber bei jedem Individuum je nach seinen Erfahrungen und seinem Bildungsgang verschieden. Dazu kommt dann noch die Verschiedenheit der Anlagen, wonach den einen der Ton, den andern die Farbe, den dritten der abstrakte Gedanke mehr anregt. So entspricht der Mannigfaltigkeit der Inhalte auf der einen Seite eine Mannigfaltigkeit der Erregungen auf der anderen. Diese unabsehbare Mannigfaltigkeit des Lustlebens wird klar, wenn wir bedenken, wie viele Kombinationen die einfachen Inhalte miteinander eingehen können: die einzelnen Farben, Töne, Geschmäcker, Gerüche, Tastempfindungen, Gestalten lassen eine ganz unberechenbare Mannigfaltigkeit der Verbindungen untereinander zu und ihr entspricht der Möglichkeit nach die individuelle Verschiedenheit des Gefühlslebens. Diese Möglichkeit erscheint aber hinlänglich verwirklicht, wenn wir die Mannigfaltigkeit des Gefühlslebens bedenken, wie es sich bei allen Völkerschaften der Gegenwart und der Geschichte äußert und geäußert hat. Demgegenüber ist es auch begreiflich, daß wir in der Gestaltung fremden Glücks so machtlos sind und es kann selbst fraglich erscheinen, ob auch nur die allgemeinen Grundlagen des menschlichen Glücks feststellbar erscheinen. Sie wären es auch nicht, wenn nicht die gemeinsamen Erlebnisse der Vergangenheit und Gegenwart Menschen zu Nationen, Nationen zu engeren oder weiteren Kulturgemeinschaften zusammengekettet hätten und wenn nicht die gemeinsame Beschaffenheit des menschlichen Leibes und der menschlichen Innenwelt eine gemeinsame Grundlage allen Gefühlslebens bilden würde. Trotzdem spotten die Lustarten aller Klassifikation, sobald man auf das Einzelne eingehen will. Jede Lust ist vollständig bestimmt durch die Inhalte, an denen sie hängt. Sieht man vom Inhalt der Lust ab, dann bleibt nur das Abstraktum Lust in seiner ganzen Bedeutungslosigkeit übrig. Jede Lust erhält ihren Charakter und ihr Dasein nur durch ihren Inhalt und kann sogar von anderen Lustarten nur mittels ihres Inhaltes beeinflußt werden. Die Klassifikation der Inhalte ist daher die Klassifikation der Lustarten, wenn man gewisse zeitliche und räumliche Beziehungen der Lustarten, wenn man gewisse zeitliche und räumliche Beziehungen der Lustarten auch zum Inhalt rechnet. Man müßte daher die Lust nach den verschiedenen Sinnesinhalten und ihren Beziehungen einteilen, wie das auch tatsächlich von der Ästhetik geschieht: Farben, Töne, Gerüche etc. ihre mehr oder weniger konkrete oder abstrakte Fassung und Behandlung sind dann die Einteilungsgründe der Lust, die sich aber, sobald man ins Detail der Einteilung geht, im unbestimmbar Individuellen der Lust, im subjektiven Geschmack verlieren. Dieser ihrer Individualität wegen ist diese Einteilung wenig geeignet, die Grundlagen des menschlichen Glücks bestimmen zu helfen; wir werden an manchen Orten auf sie hinweisen und sie berücksichtigen müssen, als Ausgangspunkt zur Bestimmung des Glücks im allgemeinen ist nicht zu gebrauchen. Hier treten die zeitlichen Beziehungen der Lust in den Vordergrund, eben weil sie vom eigentlichen Inhalt abstrahieren und eben dadurch die Individualität der Lust abstreifen.

So sind wir auf der einen Seite zu dem Resultat gelangt, daß die Lust meßbar und vergleichbar sein muß, weil sonst kein einheitliches, noch ein gemeinsames Handeln möglich wäre, daß sie aber andererseits individuell so verschieden und wechselnd ist, daß sie jeder festen Bestimmung spottet. Dieser Widersprach ist nur scheinbar. Die Unvergleichbarkeit der Lustarten trifft nämlich ihren inhaltlichen Charakter, ihre  Qualität die Vergleichbarkeit bezieht sich auf die Quantität der Lust. Aber eine quantitative Vergleichung erfordert qualitative Gleichheit, wird man einwenden; man kann nicht Töne mit Gerüchen ihrer Stärke nach vergleichen, es wäre denn, daß man sie auf ein qualitativ Gleiches zurückführen könnte. Dagegen ist geltend zu machen, daß auch die qualitativ verschiedensten Töne quantitativ vergleichbar sind, weil sie ben bei aller qualitativen Verschiedenheit doch Töne bleiben. So mag die Lust qualitativ noch so verschieden, noch so schillernd sein, sie bleibt quantitativ mit jeder anderen Lust vergleichbar. Der größte GOETHE-Verehrer wird, wenn er Hunger hat, wissen, ober er eine Leberwurst mit Sauerkraut dem GOETHE-Studium vorziehen soll oder nicht. Das setzt voraus, daß er diese so verschiedenen Lustarten miteinander ihrer Größe nach vergleichen kann. Allerdings kann jede Lustart im nächsten Augenblick ihre Stärke einbüßen oder aus großer Schwäche in gewaltige Kraft umspringen. Der GOETHE-Verehrer ist eine Stunde nach dem Mittagessen sehr gleichgültig beim Gedanken an die Leberwurst und wirft sich mit Eifer auf GOETHEs Werke; die beiden Lustarten haben ihre Stärke umgetauscht. Die Lust ist also quantitativ ebenso wechselnd wie qualitativ, zwei Lustarten bleiben jedoch in demselben Augenblick stets miteinander quantitativ vergleichbar, weil ihre Grundqualität doch immer Lust bleibt, wie die verschiedensten Töne doch immer Töne bleiben.

Die durch den Inhalt bestimmte Qualität (und damit auch die von der Qualität abhängige Quantität) der Lust ist aber an und für sich, wie wir gesehen haben, so wenig bestimmbar, daß nur eine gemeinsame historische Entwicklung, eine gemeinsame Erziehung und gleiche Erlebnisse die Gefühlsleben verschiedener Individuen miteinander einigermaßen vergleichen lassen. Nur wenn man von allem Inhalt der Lust absieht, ist es möglich, gewisse Grundverhältnisse derselben schärfer zu bestimmen. Dann bleiben aber nur die zeitlichen und räumlichen Beziehungen der Lust übrig oder eigentlich nur die zeitlichen, weil die räumlichen ihren Einfluß auf die Lust nur durch die mit ihnen verknüpften Zeitverhältnisse gewinnen können. Es ist ganz gleichgültig, an welchem Ort eine Lust genossen wird, wenn dieser Ort nicht eine Verzögerung oder Beschleunigung des Lusteintrittes bewirkt; die durch die Verschiedenheit des Ortes bewirkte inhaltliche Abänderung der Lust erscheint ja ohne hin von der Betrachtung ausgeschlossen.

Ein wenn auch nicht rein zeitliches Verhältnis der Lust ist ihr positives oder negatives Wesen. Eine Unlust kann durch ihr Aufhören Lust bewirken, ich nenne diese Lust negative Lust im Gegensatz zu positiven, die keiner vorhergegangenen Unlust bedarf. Ebenso kann eine vergangene Lust gegenwärtige Unlust bewirken, das ist die negative Unlust im Gegensatz zur positiven. Diese Lustarten sind nun in Kürze zu untersuchen.

Wer sich von einem unangenehmen Zustand befreit sieht, atmet auf und fühlt diese Befreiung, allerdings unter gewissen Bedingungen, als Lust. Mußte ich lange in großer Abhängigkeit leben und hört diese auf, so brauche ich meine materielle Lage nicht zu verbessern, um ein angenehmes Gefühl zu empfinden. Bin ich einer Gefahr entronnen, so beschleicht mich ein wohltuendes Gefühl der Sicherheit; auch das wohltuende Gefühl der Genesung ist nicht bloß körperlich, das Gefühl der Entledigung eines früheren schmerzhaften Zustandes wirkt mit. Aber eine Bedingung muß immer vorhanden sein: der gegenwärtige Zustand darf mindestens nicht unangenehmer sein, als der vergangene, dann kann wenigstens die Abwechslung im Unangenehmen eine Art Erleichterung schaffen, die man als eine die Unlust begleitende negative Lust betrachten kann. So kann es, wenn starke Zahnschmerzen lange angedauert haben, eine Erleichterung sein, wenn an ihre Stelle ein ebenfalls starker Kopfschmerz tritt. Aber diese bloße Erleichterung eines unangenehmen Zustandes ist natürlich nur eine schwache negative Lust, stärker kann sie nur da sein, wo an die Stelle eines unangenehmen Zustandes ein an sich gleichgültiger oder schwach angenehmer tritt. Dieser schwach betonte Zustand erscheint dann im Vergleich zum vergangenen höchst unangenehmen als sehr wohltuend in dem Verhältnis, wie der vergangene unangenehm war. Es ist das also eine Kontrastwirkung, die durch alles das zerstört wird, was den Gegensatz aufhebt. Dazu gehört aber nicht nur der Übergang aus einem unangenehmen Zustand in einen ebenso unangenehmen oder noch unangenehmeren, sondern auch der Übergang aus einem unangenehmen Zustand in einen höchst angenehmen, den früheren an Stärke bei weitem übertreffenderen. Der allgemeinste Zustand erfährt hier keine wesentliche Stärkung, weil der zweite den ersteren völlig schlägt und einen Kontrast gar nicht aufkommen läßt. Dasselbe gilt für die negative Unlust. Gelangt man aus einem angenehmen Zustand plötzlich in einen unangenehmen, so erscheint dieser umso unangenehmer, vorausgesetzt, daß der unangenehme Zustand den angenehmen nicht zu sehr an Stärke übertrifft, was den Kontrast aufhebt. Auch hier ist die negative Unlust am stärksten beim Übergang aus einem angenehmen Zustand in einen schwach unangenehmen oder gleichgültigen. So kann der Zustand der Ermüdung nach einer lebhaften Unterhaltung, die aber doch anstrengend war, sehr unangenehm durch seine geistige Öde, den Mangel allen Reizes sein. Für beide Arten negativer Gefühle ist aber auch eine gewisse Schnelligkeit des Übergangs aus einem entgegengesetzten Gefühl in das andere notwendig, soll die Kontrastwirkung nicht erlöschen. Modifiziert wird diese Forderung durch die Dauer des vorangegangenen Gefühls. Je länger ein Gefühl (Lust oder Unlust) angedauert hat, desto allmählicher kann sein Übergang in das entgegengesetzte schwächer Gefühl sein, ohne das Entstehen negativer Lust oder Unlust zu verhindern. Nach langer Krankheit ein langwieriger Genesungsprozeß kann sehr wohl noch negative Lust erzeugen; der lange Genesungsprozeß nach kurzer Krankheit ist nur unangenehm.

SCHOPENHAUER hat behauptet, es gäbe überhaupt nur das, was ich negative Lust nenne, jede Lust sei nur eine Erlösung von der Unlust. An und für sich wäre ein solcher Zustand des menschlichen Gemüts nicht widerspruchsvoll, jede Lust bestände dann nur im Kontrast einer gegenwärtig geminderten Unlust mit der Erinnerung einer gesteigerten überwundenen. Die höchste Lust muß dann folgerichtigerweise in einem an sich fast gleichgültigen Zustand bestehen, der mit einem vergangenen höchst unangenehmen Zustand kontrastiert, das höchste Ziel ist also dann das Nirvana, ein gleichgültiger Zustand, der seine seelische Färbung durch das vorangegangene leidvolle Leben erhält. Soll aber das Nirvana die vollständige Vernichtung des Bewußtseins sein, dann ist es zwar die Erlösung von aller Unlust, aber selbst keine Lust. An und für sich enthält also die Behauptung SCHOPENHAUERs keinen Widerspruch, sie ist jedoch mit der Erfahrung nicht in Einklang zu bringen. Nach seiner Theorie könnte eine Lust nur nach einer vorangegangenen Unlust auftreten. Wir sehen jedoch oft im Leben eine Lust plötzlich und ohne vorangegangene Unlust auftreten. Diese Unlust in einen vorangegangenen unbewußten Zustand zurückschieben, heißt, meiner Ansicht nach, die Möglichkeit ihrer wissenschaftlichen Bestimmung aufheben; um einer vorher feststehenden Metaphysik willen, werden hier Tatsachen erdichtet und, damit sie sich nicht mit den wirklichen Tatsachen stoßen, im Unbewußten hinterlegt. Einen wahren Hintergrund hat aber die Behauptung doch, daß jede Lust zu ihrer Vorgängeren eine Unlust fordert. Ich kann keine große Lust empfinden, ohne vorher ihr Bedürfnis gefühlt zu haben. Ein Bedürfnis zu fühlen ist aber eine Art Unlust. Für den Bedürfnislosen kann Reichwerden keine große Lust sein; da seine Bedürfnisse klein sind, so kann ihm auch ihre Befriedigung nur geringe Lust erregen; wer kein Liebesbedürfnis hat, dem kann die hingebungsvollste Liebe nicht zur Freude gereichen. So könnte man glauben, daß SCHOPENHAUER doch recht hat: es gibt keine Lust ohne Unlust. Dagegen ist zweierlei zu bemerken:
    1) Das Bedürfnis ist eine negative Unlust;
    2) Es gibt auch eine geringere Lust ohne vorangegangenes Bedürfnis.
Das Bedürfnis als unbehaglicher Zustand entsteht nur durch die Erinnerung an eine genossene Lustart. Ich kann kein Bedürfnis nach einer Lustgattung fühlen, die ich nicht kenne. Das Bedürfnis allein erregt meinen Willen, deswegen hat schon LOCKE sehr richtig bemerkt, daß nur das Unbehagen meinen Willen bewegt und daß die Vorstellung des größten Gutes nicht zum Handeln anregt, wenn sie nicht  in mir  ein Unbehagen, d. h. ein Bedürfnis weckt. Das Bedürfnis in Verbindung mit der Hoffnung ist daher sicher die einzige Triebfeder des menschlichen Handelns, sie ist aber keine positive, sondern eine negative Unlust, sie setzt eine vorangegangene Lust voraus und geht aus dem gefühlten Mangel derselben hervor. Als negative Unlust spricht das Vorhandensein des Bedürfnisses daher nicht für die Negativität der Lust, sondern für ihr Gegenteil. Das Bedürfnis ist aber auch kein unumgängliches Erfordernis des Auftretens der Lust; eine Lust kann auftauchen ohne vorangegangenes Bedürfnis, sie wird dann aber immer schwach sein. Das Bedürfnis muß sich erst entwickeln, wenn der Genuß sich vertiefen soll. Es scheint, daß die Erinnerungen an vergangene Genüsse sich gewissermaßen summieren in einem Bedürfnis nach einem künftigen Genuß gleicher Art, das sie erregen; diese Verschärfung des Bedürfnisses und dadurch des Genusses durch die Erinnerung hat aber eine Grenze; zu oft wiederholte Genüsse töten das Bedürfnis, statt es zu reizen. So erreicht auch der geschlechtliche Genuß seinen Gipfel erst durch die Entwicklung des Bedürfnisses, durch vorangegangene anfangs schwächere Genüsse, wenigstens ist das mit seiner geistigen Seite der Fall. Es fehlt am Anfang das volle Bedürfnis, das sich erst im Genuß entwickelt, durch zu häufigen Genuß aber abstumpft. Das Bedürfnis als Bedingung eines volleren Genusses spricht daher nicht für die Negativität der Lust, sondern für ihr Gegenteil. Es gibt nicht nur positive Unlust, sondern auch positive Lust, so wie der negativen Lust auch eine negative Unlust gegenübersteht. SCHOPENHAUERs Nachfolger, EDUARD von HARTMANN, hat daher auch den Standpunkt der Negativität aller Lust aufgegeben und die positive Lust in sein System aufgenommen; nichtsdestoweniger behauptet auch er das Überwiegen der Unlust im Leben. Eine weitere richtige zeitliche Beziehung der Lust und Unlust ist ihre Gegenwart oder Zukunft. Gleiche Erreichbarkeit und Intensität der Lust oder Unlust vorausgesetzt wirken sie umso stärker, je näher sie uns liegen, je früher wir sie genießen, respektive erleiden können. Deswegen hat die Furchtbarkeit der Höllenstrafen und die himmlische Glückseligkeit auch auf den Gläubigsten keine absolute Macht im Leben. Näherliegende Freuden und Schmerzen, so klein sie im Vergleich zu ihnen entfernten dem Gläubigen erscheinen müssen, bestimmen ihn in den meisten Lebensmomenten mächtiger. Wir sehen die Freuden und Schmerzen perspektivisch wie Gegenständ, je entfernter desto kleiner. Das gilt auch für die Vergangenheit, wenngleich nicht in demselben Maßstab. Je weiter eine Freude in der Vergangenheit liegt, desto geringer erscheint sie uns, aber gleichzeitig desto reiner; alles kleine Beiwerk, das sich zur Zeit ihrer Wirklichkeit ihr hinderlich vor die Füße gelegt hat, ist vergessen; die damals unaufgelösten Dissonanzen in der Melodie der Freude wiederholt ihre Reproduktion je später sie erfolgt, desto schwächer und weil diese Dissonanzen ohnehin schwach waren, so verschwinden sie bald gänzlich aus der Erinnerung: was die Vergangenheit der Vorstellung der Freude an ihrer Stärke genommen hat, das gibt sie ihr oft durch ihre Reinheit wieder. Dasselbe gilt für den Schmerz: auch er erscheint desto reiner, je weiter er in der Vergangenheit liegt; dennoch steht die Sache bei ihm oft etwas anders. Fühlen wir uns in der Gegenwart glücklich, dann meiden wir trübe Erinnerungen, die uns die Freude stören könnten; wir vergessen vergangene Schmerzen, wo sie nicht zur Folie gegenwärtiger Freude dienen können. Dagegen macht es uns eine wehmütige Freude, uns auch im Schmerz vergangener glücklicher Stunden zu erinnern. Wir haben deswegen im Großen und Ganzen das Bestreben, in unserer Erinnerung die Freude vorherrschen zu lassen, nur verbitterte Gemüter wühlen oft in vergangenen Schmerzen.
LITERATUR Richard Schubert-Soldern, Das menschliche Glück und die soziale Frage, Beiträge zu einer Psychologie der Volkswirtschaft, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Nr. 52, Tübingen 1896