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GEORG BAUDLER
Das Verhältnis von Vernunft
und Sprache bei Hamann


Hamanns Londonerlebnis
Herder und Hamann
Sokratische Denkwürdigkeiten
Vernunft ist Sprache, Logos. An diesem Markknochen nage ich und ich werde mich daran zu Tode nagen.

HAMANNs "Metakritik" ist ein Fragment und blieb zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht. Nach sechs Wochen Arbeit berichtet HAMANN an HERDER, die Idee sei ihm "verunglückt". Er bezeichnet das Verhältnis von Vernunft und Sprache als "Markknochen", an dem er sich "zu Tode nagen" werde, und als einen "Abgrund", der nur von einem "apokalyptischen Engel" aufgeschlossen werden könne:
"Immer noch liegt Dunkel über dem Gesicht dieser Tiefe für mich; ich warte auf einen apokalyptischen Engel mit dem Schlüssel zu diesem Abgrund."
Diese Situation, in der HAMANN sich als Fragender findet, gilt es in der Deutung der Schrift zu berücksichtigen. Wollten wir jetzt, am Ende unserer Interpretation in der Deutung von HAMANNs Schriften, die wuchtigen, aber in der Überfülle ihrer inneren Dynamik nur mühsam zusammengehaltenen und bisweilen wirklich in Lücken und Gedankensprüngen auseinanderbrechenden Gedanken HAMANNs abrundend zusammenfassen, so würden wir an HAMANN vorbeireden. Wir würden seine in London so tief und schmerzlich gewonnene Einsicht nicht ernst nehmen: daß nämlich dort der Menschengeist der Wahrheit am nächsten ist, wo unter der ehrlichen und äußersten Anstrengung des Denkens die Begriffe und Systeme des Menschen zerbrechen. Wir würden seine Gedanken verflachen und auf Kosten einer leichteren Verstehbarkeit das "Gesicht der Tiefe" überdecken, das HAMANN inmitten der auseinanderbrechenden Gedankenfülle dunkel und ungreifbar aufleuchten sah und das nur der "apokalyptische Engel" zur Klarheit enthüllen kann.

Ein solches Ernstnehmen der HAMANNschen Situation bedeutet aber nicht, daß nun einfach die Verpflichtung zur deutenden Durchdringung und Klärung der zu interpretierenden Gedanken aufgehoben ist. Vielmehr fordert umgekehrt ein solches Ernstnehmen, alles daran zu setzen, die Fülle der Gedanken  ohne  sie zu verflachen, doch  so weit  zu verbinden, bis wir eben am "Abgrund" stehen und das Scheitern selbst noch einmal als unabwendbar begreifen.

Darum soll hier in einer kleinen Skizze behutsam aber doch in der vom Ziel unserer Arbeit aus gebotenen Kürze und Konzentration der Weg verfolgt werden, den HAMANN in dieser Frage gegangen ist. Es sind vor allem vier Bestimmungen des Verhältnisses von Vernunft und Sprache, zu denen HAMANN auf diesem Weg gelangt ist. Es ist bei der Erörterung aber von vornherein zu beachten, daß diese Bestimmungen in HAMANNs Denken zwar nacheinander auftauchen, aber keineswegs dabei die eine durch die nächstfolgende überholt wird. Vielmehr gebraucht HAMANN diese Bestimmungen am Ende alle nebeneinander und das Problem ist gerade, wie ein solches Nebeneinander gedanklich und "logisch" möglich ist. Wir können uns bei der Erörterung dieser Bestimmungen auch deshalb kurz fassen, weil wir dabei auf schon interpretierte Zusammenhänge zurückgreifen.

Die erste Bestimmung (gewonnen schon in den "Biblischen Betrachtungen") bringt die Vernunft in eine Wesensbeziehung zum Hören und Vernehmen: Die Vernunft ist nur dann sie selber und wirkt nur dann von ihrem eigenen Wesen her, wenn sie "im Worte sieht". "Es ist der größte Widerspruch und Mißbrauch derselben, wenn sie selbst offenbaren will". Ein solcher Mißbrauch führt in das "Labyrinth". Die Vernunft in diesem Sinne ist die Kraft, den Anspruch der Welt als "Chiffre" zu vernehmen und sich ihm hörend zu öffnen. Damit steht HAMANNs Vernunftbegriff im klaren Gegensatz zum Begriff der autonomen Vernunft, wie er im Zeitalter der Aufklärung vorherrschte. Dennoch ist die Vernunft bei HAMANN keineswegs bloß rezeptiv. Das Vernehmen der Vernunft nimmt die Wirklichkeit nicht als fremde in das eigene hinein, sondern wie der Magen die Nahrung, so verwandelt auch die vernehmende Vernunft das Vernommene in das Eigene, "in unsere Säfte und Kräfte". Vernunft ist die Kraft, das Vernommene zu assimilieren und in die unendliche Offenheit des Menschenwesens zu integrieren. Sie ist die Kraft, die in der Korrespondenz des Herzens mit der Welt (auf der das Wesen des Menschen beruht) den Menschen offenhält für den Anspruch.

Die zweite Bestimmung hängt eng mit der ersten zusammen. Sie besagt, daß die Vernunft aus der Sprache entspringt. Die Sprache ist "genealogisch" vor der Vernunft, sie ist die "Gebärmutter der Begriffe", ja sogar (in Bezug auf ihren gottmenschlichen Ursprung) die Gottesgebärerin der Vernunft, das "Sakrament", das alles Menschliche als vor Gott gültig, weil von seiner Nähe gerufen, aus sich entspringen läßt. Zwischen erster und zweiter Bestimmung besteht zwar eine gewisse Differenz, sofern in der zweiten Bestimmung Vernunft mehr als spontan entspringende und wirkende Kraft gefaßt wird, die den ergehenden Anspruch in den Griff nimmt, ordnet und klärt, aber im Grunde ist das auch nur die Assimilation des vorgegebenen Anspruchs in das Wesen des Menschen hinein und gerade der Hinweis auf die Sprache als Ursprung der Vernunft betont wiederum den engen Bezug der Vernunft zum Hören als dem begreifenden Vernehmen.

Etwas anderes ist es schon mit der dritten Bestimmung. Diese - auftauchend in der "Metakritik" (und in späteren Briefen oft wiederholt) - bezeichnet die Sprache als "Organon" und "Kriterion" der Vernunft. "Organon" ist in HAMANNs Rede im allgemeinen das "Werkzeug" und das "Gerät"; "Kriterion", vom Griechischen abgeleitet bedeutet das Werkzeug zum Prüfen, den Prüfstein. Es könnte bei dieser Bestimmung auf den ersten Blick scheinen, als sei hier der alte HAMANN wieder zur instrumentalistischen Sprachauffassung der aufklärerischen Sprachphilosophie zurückgekehrt, die auch noch in seinen frühesten Sprachschriften auftauchte, aber in der Thematisierung des Sprachdenkens gegenüber HERDER endgültig überwundens schien.

Wie oben schon gesagt, betrachten tatsächlich viele Interpreten diese Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Sprache als unvereinbar mit den beiden zuerst genannten. Der Blick auf HAMANNs frühe Sprachschriften lehrt jedoch etwas anderes: HAMANNs Sprachbegriff ist so vielschichtig, daß er gerade von dem im Londonerlebnis so mächtig aufbrechenden Korrespondenzgedanken her (sofern Sprache, gerade wegen ihres in der Korrespondenz Gottes gründenden, gottmenschlichen Ursprungs auch ein "Vorfindbar-Gegenwärtiges" ist) den instrumentalistischen Sprachbegriff mit in sein Denken einzubegreifen vermag. Auf diese Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Vernunft bezogen, bedeutet eine solche Synthese: Vernunft ist das begreifende Vernehmen, das, aufgesprungen aus dem Hören (also entsprungen der Sprache), das Gehörte (also Sprache) als Vorverständnis nimmt und als eine Art "Werkzeug" und "Prüfstein" benützt, mit dem sie in einer Rückwendung das Feld der Wirklichkeiten absteckt und ordnet.

Sprache ist das "Vorurteil" im positiven und legitimen Sinn, das ein begreifendes Vernehmen, ein "Verstehen" allererst ermöglicht. HAMANN wendet sich entschieden gegen die in der Aufklärung einsetzende Diskreditierung der Vorurteile und nennt sie "die Märtyrer des philosophischen Menschenhasses". Vor-Urteile gehören zum menschlichen Erkennen und Begreifen, sofern dieses nicht autonom sein kann, sondern abhängig ist vom vorgegebenen Anspruch und in der Korrespondenz seinen Ursprung und sein tiefstes Wesen hat. Wie sehr dies gilt, zeigt nach HAMANN gerade die Aufklärungsphilosophie: Indem die Aufklärungsphilosophen sich aus der Abhängigkeit vom vorgegebenen und im Vor-Urteil ergriffenen Anspruch zu befreien suchen, verfallen sie selber dem "Vorurteil der Eigenliebe, Neuheit oder der eigenen Erfindung" und nehmen dieses "blind" und unbesehen zum "Organon", zum Werkzeug ihrer "babylonischen Architektonik".

Damit aber ist umgekehrt auch gesagt, das die Sprache als positives Vorurteil eben auch das positive "Organon" sein kann und sein muß, insofern das Vorverständnis das "Werkzeug" und der Weg zu einem immer tiefer eindringenden und offeneren Verstehen ist. Gerade die Vernunft als das begreifende Vernehmen muß den vorgegebenen Anspruch als positives Vor-Urteil (nicht als in Selbstverschlossenheit zu bewahrenden Besitz), ergreifen, um immer wieder neu über es hinauszufragen und dadurch den Anspruch in jene unendliche Frage hinein zu integrieren, die der Mensch im tiefsten Wesen ist. Der als Vor-Urteil ergriffene Anspruch ist so das Werkzeug und das "Organon", das die vorgegebene Wirklichkeit in das Wesen des Menschen integriert. So fügt sich auch noch diese Bestimmung den übrigen bisherigen Bestimmungen des Verhältnisses von Vernunft und Sprache ein.

Wir sind jedoch hier an jener Grenze angelangt, wo in dieser Frage das von HAMANN als in unserer Weltzeit unabwendbar erfahrene Zerbrechen beginnt. Denn mit der zuletzt gegebenen Charakterisierung der Sprache als dem "Organon" der Integration aller vorgegebenen Wirklichkeit in die unendliche Offenheit des Menschen geriet die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Vernunft in einen Zirkel: Das, was in der dritten Bestimmung über Wesen und Aufgabe der Sprache gesagt wurde, wurde vorher in der ersten Bestimmung als Wesen und Aufgabe der Vernunft bezeichnet. So kommt HAMANN im Denken dieser Frage zu der Einsicht, daß Vernunft und Sprache in ihrem tiefsten Wesen und ihrem letzten Sinn identisch sein müssen. Das ist die letzte Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Sprache, die HAMANN gibt und über die er nicht mehr hinauskommt: "Vernunft ist Sprache, Logos. An diesem Markknochen nage ich und ich werde mich daran zu Tode nagen".

Mit der Kennzeichnung der Vernunft als Logos scheint HAMANN auf die klassische Bestimmung der abendländischen Sprachphilosophie zurückzukommen. Ist das das Ende des neuen Anfangs? Ist HAMANN in London von seiner religiösen Erfahrung her deshalb zu einem (mindestens für seine Zeit) neuen Denken aufgebrochen, um am Ende doch wieder in jenen Weg einzumünden, der (wenigstens faktisch) zur Aufklärungsphilosophie geführt hat? Aber HAMANNs Worte klingen oft altvertraut (als oft gebrauchte Schriftworte, als Begriffe KANTischen oder HERDERschen Philosophierens) und doch ist es nicht das Alte, das er sagt; oder vielmehr (gerade etwa in Bezug auf die vielen Schriftanklänge): es ist das Alte, aber in einem ursprünglichen, von uns längst vergessenen Sinn.

So auch hier: Wenn wir die Gedankenbewegung überdenken, die HAMANN von der ersten bis zur letzten Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Sprache geführt hat, leuchtet in HAMANNs Bestimmung "Vernunft ist Sprache, Logos" jener uralte Sinn des Wortes logos auf, wie er aus den Fragmenten HERAKLITs zu uns spricht. Denn die Einheit von Vernunft und Sprache im Sinne HAMANNs ist die Einheit des Hörens als des begreifenden Vernehmens und Sprechens; es ist die Einheit der Urkorrespondenz selbst, in der unendlichen Frage und endliche (aber unendlich verheißungsvolle) Antwort, sich so eng gegenseitig durchdringen, daß gleichsam die Antwort im voraus die Frage erst weckt. Der Logos ist in einem das begreifende Vernehmen und die Kraft des Anspruchs, die das fragende Hören und das begreifende Vernehmen "zeugt". Dieser verborgene Logos ist schon bei HERAKLIT die letzte Einheit, die alles erklärt und dennoch den Menschen unverständlich bleibt. Die Menschen sind dem Logos gegenüber wie Schlafende und Träumende. In sich selbst verfangen, "in ihrem Eigen-Sinn eingeschlossen" achten sie nicht auf das Gemeinsame, den Logos" (Fragm. 1-2).

HAMANN hat sich nach dem Ausweis seiner Studienblätter (gerade in seiner Spätzeit) eingehend und auch im Urtext mit HERAKLIT beschäftigt und bringt selbst das HERAKLITische Denken zusammen mit dem Anspruch der im Abgrund des Menschenherzens seufzenden gottmenschlichen Stimme, die er in seiner SOKRATESdeutung den "Dämon" des Menschen genannt hatte. Letztlich vermag nur der in einer menschlichen Sprache, ja in einem "Seufzen und Jammern aus dem Abgrund des Herzens" an den Menschen ergehende Zu-"Spruch" Gottes den Menschen aus seinem Schlaf aufzuwecken und aus seiner Selbstverfangenheit zu befreien.

HAMANNs Denken kreist auch in der Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Vernunft um das Geheimnis der "seufzenden" gottmenschlichen Urkorrespondenz des Daseins, das in CHRISTUS seine geschichtliche Greifbarkeit gefunden hat.

Noch in seinem sogenannten "Letzten Blatt", das er wenige Tage vor seinem Tode als sein "Vermächtnis" niederschrieb, greift er auf den JOHANNESprolog zurück, der CHRISTUS als den Logos nennt. Vom Anfang seiner Autorschaft bis zum "Letzten Blatt" kreiste HAMANNs Denken um das Geheimnis des Gottmenschen, das er vor allem in der lebendig gesprochenen Sprache gegenwärtig sah. Hier traf er (gerade im Bezug der Sprache zur "Vernunft") auf jenes absolute Geheimnis, auf jene "Dunkelheit", die vom Menschen aus unergründbar ist, nicht, weil sie als "heilig" und dem Raum des Sakralen zugeordnet von vornherein unantastbar ist und ihr nur in "frommen Schauern" genaht werden darf, nicht weil sie eine heilige Ferne darstellt, sondern umgekehrt eine unüberbietbar innige Nähe. Es ist eine Dunkelheit, die nicht mehr "eingesehen" werden kann, weil sie allzu nahe vor den Augen, ja im Auge selber steht, eine Dunkelheit, sagt HAMANN, die "im Augapfel des Sensus communis verborgen liegt".

Obwohl es also HAMANN stets um das verborgene Geheimnis des Gottmenschen JESUS CHRISTUS geht, geht es ihm doch nicht primär um Glaubenszusammenhänge und Glaubenswahrheiten als solche, sondern wirklich um die Dinge der Welt, von denen er redet. Denn HAMANN weiß das Christusgeheimnis lebendig gegenwärtig und wirksam in der Welt: in der Sprache, in der menschlichen Begegnung, in jeder echten Religion, in Kunst und Wissenschaft und eben auch in der menschlichen Vernunft, sofern sie im letzten Sprache und Logos in ursprünglichem Sinne zusammenfällt. Dieser gleichsam "profane" CHRISTUS ist die "Dunkelheit", die (unabhängig von einer religiös-frommen Haltung im üblichen Sinne) "logisch" notwendig und in schlichter Unabwendbarkeit nur als das unverfügbare Geheimnis begriffen werden kann, das selbst nicht mehr aufzudecken ist, weil aus ihm alles Aufdecken entspringt und alles Erkennen erst durch es ermöglicht wird.

An dieser Dunkelheit zerbricht auch die Einheit und Geschlossenheit des HAMANNschen Denkens über das Verhältnis von Vernunft und Sprache.
LITERATUR - Georg Baudler, Im Worte sehen - Das Sprachdenken Johann Georg Hamanns, Bonn 1970