cr-4W. LütgertM. SeilsJ. SimonJ. G. HamannF. Rittelmeyer    
 
GEORG BAUDLER
Hamanns Londonerlebnis
I I

Sokratische Denkwürdigkeiten
Vernunft und Sprache
Hamann und Herder
Antworte ihnen - aber antworte ihnen nicht, sagt mein Genius. Aus deiner närrischen Antwort, sollen sie sehen, daß ihre Fragen Narrheiten sind.

Hier wird abgrundtief deutlich, wie grundsätzlich der Ansatzpunkt des HAMANNschen Sprachdenkens von der Sprachphilosophie seiner Zeit verschieden ist. Ihm ist das Wort in seinem Ursprung und Wesen nicht Material zu individuellen Prägung und Gestaltung der Welt (subjektiv-psychologische Sprachbetrachtung) noch weniger ein Mittel, die Welt rational verfügbar zu machen (Universalsprache); vielmehr kam er zu einem Denken, das in Wort und Sprache gründet und ständig um diesen seinen Grund kreist, weil er die "Allmacht der menschlichen Sprache" gespürt hat, weil er Sprache erfahren hat als eine Macht, die umgekehrt ihn selbst prägt und gestaltet. Wenn freilich später auch HAMANN selbst die Welt durch seine Rede zu verändern und zu formen versucht, so handelt er nicht aus der Anmaßung einer autonomen "gesunden Menschenvernunft" heraus, sondern er weiß sich unmittelbar "geschickt", von jenem worthaften und in der Korrespondenz mit der Welt erfahrenen Urgrund seine Daseins, den die autonome Vernunft, obwohl aus ihm entsprungen, zu usurpieren sucht und dadurch für ihr eigenes Wirken verschüttet ist.

Im Hören auf diese verborgene gnadenhafte Urkorrespondenz des Daseins ist das Wesen des Menschen begründet. Unser Leben hängt ab von dem "Gehör des großen Geheimnisses, das MOSES Neugierde reizte und nicht nur MOSES seine, sondern der Engel ihre. "Das Hören auf dieses Geheimnis erhält uns". "Solange wir unser Ohr gegen diese Stimme verstopfen, sind wir unstetig und flüchtig wie Kain." Ohne diese Stimme im Herzen scheint der ganze konkret existierende Mensch dieses Äons "nichts als Erde zu sein, ohne Gestalt, leer, und Finsternis auf der Fläche der Tiefe". Erst durch das Hören dieser Stimme wird unser Leben sinnvoll. Nur die Erde, die den "Samen empfängt, wird fruchtbar. Wo dies fehlt, geht das Korn und die Frucht desselben verloren". "Augen, Ohren, Gedächtnis ist uns umsonst gegeben, solange das harte Herz, das unbereitete Herz in uns ist, mit welchem wir den göttlichen Samen nicht aufnehmen, noch verstehen können".

Der Sinn der göttlichen Offenbarung liegt nicht zuerst darin, daß dem Menschen neue, anders nicht erkennbare Wahrheiten mitgeteilt werden, sondern daß sein Herz und Ohr geöffnet werden für diese Stimme der rettenden Liebe Gottes. Das ist das "Urfaktum", die Urtat der unbegreiflichen Liebe Gottes, daß Gott sich herabgelassen hat und eingegangen ist in die Korrespondenz des Menschen mit der Welt, in menschliches Wort und menschliche Sprache. Von diesem "Urfaktum" ist die Offenbarung der Schrift erfüllt: "Dies ist der Rundgesang der ganzen heiligen Schrift; von MOSES erstem Vers an: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Hört ihr den Himmel, ich will sprechen; und höre o Erde, die Worte meines Mundes".

Die "Öffnung der Augen", die KOEPP als Kern des HAMANNschen Bibelerlebnisses herauszuarbeiten sucht, ist erst eine Folge und Frucht dieses Hörens.
"Alles ist Weisheit in Deiner Ordnung der Natur, wenn der Geist deines Wortes unsern aufschließt. Alles ist Labyrinth, alles Unordnung, wenn wir selbst sehen wollen. Elender als blind, wenn wir dein Wort verachten und mit den Täuschgläsern des Satans selbige (die Natur) ansehen. Unsere Augen habe die Schärfe des Adlers, gewinnen das Licht der Engel, wenn wir in Deinem Worte alles sehen."
Dieser Ausdruck "in Deinem Worte sehen" ist für HAMANNs Konzeption kennzeichnend und taucht öfter auf. Die Vernunft kann die Welt nur dann wirklich erkennen und über-"sehen", wenn sie hörend offen ist auf jenem worthaften Grund des Daseins, dem sie entspringt. Alle autonom entworfenen Theorien, die nicht in bleibender Unmittelbarkeit und Offenheit dem tiefsten, nur schmerzlich erfahrbaren Grund der Korrespondenz des Menschen mit der Welt entspringen, führen die Menschen in das "Labyrinth". "Es ist der größte Widerspruch und Mißbrauch der Vernunft, wenn sie selbst offenbaren will. Nur weil HAMANNs Vernunft, wie er sich einmal drastisch ausdrückt, "vom Samen des göttlichen Wortes geschwängert" worden ist, kam er zu jenen neuen Einsichten und Erkenntnissen, die in den "Biblischen Betrachtungen" keimhaft entworfen und in den späteren Schriften entfaltet worden sind.

Es würde von unserem Thema aus gesehen zu weit führen, diese Erkenntnisse hier im einzelnen genau darzulegen und auf ihre theologische oder philosophische Bedeutsamkeit hin zu untersuchen. KARLFRIED GRÜNDER hat das in einer umfangreichen Arbeit mit großer Sorgfalt getan und gezeigt, daß die Gedanken und Einsichten der "Biblischen Betrachtungen" uns auch heute noch vieles zu sagen haben. Hier kann es nur darum gehen, die gemeinsame Grundstruktur dieser Erkenntnisse zu erhellen und ihren Zusammenhang mit dem geschilderten Bibelerlebnis als einem Sprachereignis aufzuzeigen.

Wollte man diese Ereignisse in einem Satz zusammenfassen, so müßte man sagen: Gott liebt uns sündige und in der Sünde verlorene Menschen. Dieser gewiß nicht "neuen" aber doch immer wieder bestürzenden Wahrheit ist sich HAMANN durch seine "Metanoia" in einer unauslotbaren Tiefe inne geworden. In der "Stimme des erschlagenen Bruders" die zu ihm redete, fand er den "Freund", nach dem er sich in seiner Einsamkeit gesehnt hatte. "Das Wort ist dir nahe in deinem Munde und in deinem Herzen". "Gottlob fand ich diesen Freund". Bis ganz zum Ende seines Lebens hat HAMANN aus dieser "Freundschaft" heraus gelebt und selbst noch die Einsamkeit des Sterbens in ihr überwunden. "Die Allmacht und Liebe in der Schöpfung sprach durch unsern Mund und aus unserm Herzen". Jede Seite, ja jede Zeile der "Biblischen Betrachtungen" ist durchtränkt von dem tiefen und den Autor überwältigenden Bewußtsein der Liebe Gottes zum Menschen, die dessen schmerzliche und in den Tod abstürzende Korrespondenz mit der Welt trägt und auffängt.

Dieses Innewerden der Liebe Gottes als des worthaft tragenden Grundes des Menschseins ist der gemeinsame Nenner all seiner von der neuen HAMANNforschung herausgearbeiteten und überraschend modern anmutenden theologischen Erkenntnisse, die in dem Gedanken gipfeln, daß sich Gott nicht nur im Geschehn der Erlösung, sondern auch in der Schöpfung und in der Heiligen Schrift erniedrigt und zum Menschen heruntergelassen hat. Hier wurzelt auch jener Gedanke, den HAMANN selbst als bedeutendste Frucht seiner Metanoia betrachtet hatte: die Erkenntnis, daß "alle Geschichte, alle Wunder, alle Gebote und Werke Gottes" im Erlösungsgeschehen als ihrem "Mittelpunkt" zusammenliefen, "die Seele des Menschen ist aus der Sklaverei, Knechtschaft, Blindheit, Torheit und dem Tode der Sünden zum größten Glück zu höchsten Seligkeit zu bewegen". Nicht nur die Heilsgeschichte im engeren Sinn, nein das ganze "Werk der Schöpfung gründet sich auf das Werk der Erlösung und dieses auf jenes". "Die Natur setzt in ihren Hervorbringungen die Menschwerdung Gottes zum voraus".

Das Neue an HAMANNs Bibelauslegung war erstens die ungeheure Radikalisierung dieser Bibelauslegung zu einer ausgeprägten Denkweise, die dann über den Kreis der Bibel hinaus die gesamte Wirklichkeit einbegreift, und zweitens die absolute Zentrierung aller "Typen" auf die Herunterlassung Gottes in Christus. Die letztgenannte Eigenart ist die Ursache der ersten. In der Begegnung mit dem Wort Gottes, im hörenden Vernehmen der gnadenhaften Urkorrespondenz des Daseins, war sich HAMANN inne geworden, daß Gott den Menschen liebt, daß er zu ihm geht, ihn sucht und durch alles zu ihm spricht, um sein Ohr und Herz zu öffnen für die Stimme der Gnade, die sein Dasein trägt. Diese Erfahrung der "jammernden und seufzenden" Gottesstimme hat vom Ohr her sein Sehen geprägt. Er sieht nun besonders die Bibel, die diese Stimme geweckt hat und mit ihr korrespondiert, nicht mehr "objektiv". Er sucht nicht mehr eine "objektive" (mit den Augen nachprüfbare) "Geschichte der Welt" in den Büchern MOSES, er sucht kein "göttliches System", ja nicht einmal die "objektive" Geschichte des jüdischen Volkes; diese ist nur von Wichtigkeit, sofern Gott
"in seiner Hartnäckigkeit dieser Nation das traurigste Bild unserer verdorbenen Natur und in seiner Führung und Regierung desselben die größten Proben seiner Langmut, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu erkennen gegeben hat".
Er sucht überhaupt keine "objektiv" faßbare "Erklärung". Was er sucht ist vielmehr eine "Erzählung". In dieser Er-zählung läßt er sich in immer neuen "Bildern", "Winken", "Figuren", "Vorbildern" und "Prophetien" die Größe der Liebe Gottes "auserzählen", in der Gott sich zu seiner Schöpfung herniederläßt, sich im Wort des Menschen mit dieser "vermählt" und das Dasein des Menschen in der Welt bleibend trägt und auf sich hin offen hält.

In der neueren HAMANNliteratur ist die Frage aufgeworfen worden, wie sich der Gedanke vom Chiffre-Charakter der Wirklichkeit bei HAMANN und JASPERS zueinander verhalten. Dazu ist von unserer Interpretation her folgendes zu sagen: Zunächst unterscheiden sich beiden Auffassungen dadurch voneinander, daß die Chiffren bei JASPERS notwendig und absolut unaufschließbar sind. Jeder "Schlüssel" für diese Chiffren wie ihn HAMANN etwa in der Heiligen Schrift findet, ist für JASPERS eine unerlaubte "Fixierung". Trotz dieses Unterschieds ist das Gemeinsame beider Haltungen nicht zu übersehen, das darin liegt, daß beide Gedankengänge den Menschen zu einer Offenheit, einer Haltung des Hörens bewegen wollen. Im Grunde muß auch JASPERS auf der Suche sein nach dem "Schlüssel" für die Chiffren, denn es liegt im Wesen einer Chiffre, daß sie entziffert werden will. Von Chiffren, die grundsätzlich nicht entzifferbar sind, kann ich gar nicht wissen, daß es Chiffren sind. Erst der gefundene Schlüssel kann eindeutig zeigen, daß in irgenwelchen Zeichen eine geheime Bedeutung steckt. JASPERS Chiffrebegriff will den Menschend davor bewahren, sich im Vordergründig-Oberflächlichen einzukapseln und darin zufrieden zu geben, er will darauf hinweisen, daß sich "in der empirischen Erfahrbarkeit das Sein nicht erschöpft".

Dasselbe sagt HAMANN, freilich von umgekehrter Richtung her: Er hat zuerst den "Schlüssel" gefunden und dann staunend gesehen, daß die Wirklichkeit, die ihn umgab, damit entschlüsselt werden konnte und wie die Heilige Schrift selber, nur unklarer und undeutlicher, als "Spiegel im Rätsel" auf die Liebe Gottes hinwies, die sich sprechend zum Menschen und zur Welt herniederläßt, um ihn und die ganze Schöpfung hineinzunehmen in die noch gekreuzigte, aber im Eschaton (Letzten) sich erneuernde Urkorrespondenz des Unendlichen im Irdischen.

Von daher betrachtet sind zusammenfassend HAMANNs Londoner Niederschriften eine einzige große Übung im Hören, im Offensein für den Gott der Gnade, der ihn durch sein Wort im Innersten getroffen und aufgeschlossen hatte. Das war ja auch, wie schon angedeutet, von Anfang an der eigentliche Sinn dieser Aufzeichnungen: Er beschließt, seine Gedanken bei der Bibellektüre "aufzusetzen", um "mit mehr Aufmerksamkeit in mehr Ordnung und mit mehr Hunger dasselbe zu lesen". Der Titel der Londoner Schriften hieß deshalb ursprünglich "Tagebuch eines Christen" und als HAMANN eine Gesamtausgabe seiner Werke plante, hat er diese Schriften von vornherein ausgeklammert. Er rechnete sie nicht zu seiner Autorschaft. HAMANNs "Biblische Betrachtungen" sind deshalb kein Bibelkommentar und seine radikale und in vielem gewiß übersteigerte typologische Betrachtungsweise will keine exegetische Methode sein und propagieren. Wenn in diesen Schriften geradezu eine Sucht festzustellen ist, alles auf CHRISTUS und das Heilsgeschehen zu beziehen, so ist das über die oben herausgearbeitete sachlich zugrunde liegende Erkenntnis hinaus, nicht zuletzt auch der tagebuchartig bloß und unverhüllt vor Augen liegende Ausdruck eines ungeheuren menschlichen Betroffenseins von der Liebe Gottes zum sündigen Menschen, die zu ihm sprach, und die überall am Werk, in CHRISTUS ihre letztgültige Gestalt und "Figur" gewinnt.

NADLER hat deshalb recht, wenn er sagt, daß diese Blätter HAMANN als das "religiöse Genie" bezeugen, als das er, bei allen sonstigen Unterschieden, in eine Reihe neben die großen religiösen Gestalten der deutschen Geistesgeschichte, MEISTER ECKHART, MARTIN LUTHER und JACOB BÖHME, zu stehen kommt. Mitten im Zeitalter der Aufklärung, im Zeitalter des autonomen Denkens, des "Selbst-Sehen-Wollens" ist ein Mensch, von der einen Stimme Gottes in der Bibel und im eigenen Herzen getroffen, zum "Sehen im Worte" gelangt; mitten in einer Zeit, in der die Sprache in den Dienst der Vernunft genommen wurde oder als Welt prägendes Ausdrucksmittel des selbstherrlichen Genies galt, hat HAMANN die Sprache als "durchdringenden" Anruf erfahren, der das zeitgenössische Verhältnis zur Sprache umkehrte und den verschütteten Zugang zum Ursprung des Menschen, das Hören auf die gnadenhafte Urkorrespondenz seines Daseins öffnete und ihn so befreite zum Hörer des Wortes. HAMANN ist diesem Ansatz zeit seines Lebens treu geblieben. In kleinen, aber desto wirksameren Schriften beginnt er, zäh, unverdrossen und in immer neuen Ansätzen bis hin zum Ende seines Lebens, dieses vom Hören des Wortes geprägte Denken dem Denken der autonomen Vernunft gegenüberzustellen, um damit die "babylonischen Turmbauten menschlicher Vernunft" niederzureißen und der Ankunft Gottes den Weg zu ebnen.

Die umwandelnde Tiefe jenes Ereignisses, das HAMANN in London begegnet war, erweist sich in der Art, wie sich nun sein Leben und Denken danach richtet. Es geschieht kein Bruch, keine laute und effektvolle Wandlung. Scheinbar bleibt sogar alles beim alten: Er kehrt zu seiner Firma zurück, ist weiter im Handelshaus BERENS tätig und verlobt sich mit der Tochter des Hauses. Aber das Neue, das HAMANN in London begegnet war, bricht sich desto sicherer und unaufhaltsamer Bahn. Als erster spürt sein Brotgeber und Studienfreund BERENS die "Metanoia", die Umkehr vom "Selbst-Sehen" zum "Sehen im Worte", die sich an HAMANN ereignet hatte. Er hält es zunächst für eine augenblickliche, religiöse Schwärmerei und versucht den Freun davon zu befreien, aber er spürt dabei, daß HAMANN Tieferes begegnet war und daß seine Kraft nicht ausreichte, in diese Tiefe zu graben.

So zerbricht das Band der Freundschaft. Der mit dem Glauben an die Macht der Vernunft und mit dem Fortschrittsgedanken der Aufklärung erfüllte und vorwärtsstrebende Handelsherr findet keinen Weg mehr zu HAMANN, der vom Hören des Wortes her die Welt sah. Unaufhaltsam trennen sich die Wege. "Man will mit meinem Kalbe nicht pflügen", klagt HAMANN in einem Brief an seinen Bruder, aber "ich kenne den Frieden, der über alle Vernunft ist". Das Verlöbnis zerbricht, HAMANN geht. Er kehrt zurück nach Königsberg, um dort seinem alternden Vater eine Stütze zu sein. Ohne Amt und Beruf, still und zurückgezogen, wie in einer "Einsiedlerei", aber eifrig studierend und treu für seinen Vater und später auch für seinen geisteskranken Bruder sorgend, lebt er in Königsberg.

BERENS reist HAMANN nach und bittet KANT, den beide kennen, ihm in der Rückgewinnung des Freundes für die eigene Gedankenwelt zu helfen. Die beiden versuchen, HAMANN zur Übersetzung einiger Kapitel aus der französischen "Enzyklopädie" zu bewegen und dadurch wieder in den Gedankenkreis der Aufklärung zurückzubringen. Aber der Plan scheitert. HAMANN schreibt jenen berühmten Brief an KANT, in dem er auf die angebotene Übersetzungsarbeit verzichtet, mit der Begründung, daß keiner der Artikel eine Übersetzung verdiene. Er versucht, seine eigene Position zu begründen, aber es gelingt nur im Grundriß. Aus dem Bemühen, dem anderen - und zwar hier ganz konkret KANT und BERENS - in dessen eigenen Denkvorstellungen die neu gewonnene Denkhaltung zu begründen und zu bezeugen, erwuchs HAMANNs erste Schrift: die "Sokratischen Denkwürdigkeiten".

HAMANN hat in London erfahren, daß nicht die klaren und verständlichen, die über- und durchschaubaren Systeme dem Menschen in seiner Not und Einsamkeit eine befreiende Erkenntnis gewähren. Vielmehr war es die "Knechtsgestalt" des Wortes - eine "Schreibart", die in den Augen der Welt "unedel", ja "albern" aussieht - welche ihm jene befreiende Erkenntnis schenkte, aus der heraus er in das Leben zurückfand; es war das Wort, das nicht geschaut, sondern gehört werden will und das gerade in seiner Undurchschaubarkeit das Gehör des Menschen aufbricht, damit er die Welt neu und ursprünglich "im Worte sehen" kann. HAMANN hatte die Sprache als Anspruch erfahren und sein ganzes schriftstellerisches Bemühen bestand darin, diesen ihm widerfahrenen Anspruch an die Menschen seiner Zeit weiterzugeben.

Mit einem gewissen Recht nennt deshalb F. BLANKE HAMANNs "Sokratische Denkwürdigkeiten" eine "Missionsschrift". Trotzdem ist HAMANN nicht Missionar und Apostel in dem Sinne, daß er den Menschen seiner Zeit das Evangelium als solches neu und tiefer auslegen und zu einem besseren Verständnis bringen wollte. Die "Endabsicht" seiner Schriften ist nicht bloß, "Hilfe zum Hören jener Stimme im Abgrund des Herzens, die HAMANN in London selber so tief erfahren hatte. Es geht ihm nicht so sehr darum, die "Wahrheiten" und Einsichten der Heiligen Schrift anderen mitzuteilen, sondern den Anspruch zu vermitteln, den er selber erfuhr. Sein Leser sollte die Sprache in seinen Schriften noch vor allem Inhaltlichen als "Figur" erfahren, die, ansprechend, zum Hören zwingt. Als existentiell Hörendem wird ihm dann die Urkorrespondenz seines Daseins, aus der heraus er immer schon lebte, an das Ohr dringen. Das ist HAMANNs letztes Ziel seiner Schriften: "daß dem Laien das Verborgene des Herzens offenbar würde und er auf sein Angesicht fiele, Gott anbetete und bekennete, daß Gott wahrhaftig in uns sei".

Angesichts dieser klaren Stellungnahme zur Zielsetzung seiner Autorschaft, die besonders im "Vermächtnis" seiner letzten Blätter eindringlich entfaltet wir, ist die Frage, ob HAMANN nun ein Dichter war oder ein Philosoph oder ein Prediger des Christusglaubens, zweitrangig. Wenn im Denken der Gegenwart ein Zug festzustellen ist, der ursprüngichen Einheit dieser "Berufe" nachzusinnen, so wäre zu sagen, daß in HAMANN diese Einheit verwirklicht ist. Er lebt, denkt und spricht aus dem unmittelbaren Hören, der unmittelbaren Zugehörigkeit zum unverfügbaren Ursprung des Menschseins, aus dem alle echte Dichtung, Kunst, Wissenschaft und Religion entspringt, gerade im Selbstverständnis HAMANNs, wie es unsere Interpretation erbringen wird. HAMANN hat in London diese Stimme des Ursprungs in einer ungeheueren Mächtigkeit erfahren und seine bleibende Aufgabe, seinen "Beruf" nicht darin gesehen, dieses Hören in einen dieser Bereiche hinein zu entfalten, sondern einzig und allein darin, als Kritiker seines Zeitalters in einem fordernden Appell die Menschen aller Bereiche aufzurufen, den verschütteten Zugang zu diesem Hören des Ursprungs freizuräumen und aus ihm zu leben. Darum ist das Bild des "Rufers, dem das Publikum eine Wüste ist", das Bild Johannes des Täufers, diejenige Gleichnisgestalt, die HAMANN von Anfang bis Ende seiner Autorschaft für sich selber beibehält.

Tatsächlich ist der Appell-Charakter ein hervorstechendes Merkmal der HAMANNschen Schriften. Sie haben alle, wie schon die "Sokratischen Denkwürdigkeiten", einen konkreten Anlaß, gewissermaßen einen "Sitz im Leben", aus dem heraus sie erwachsen. Sie sind weder eine "objektive", wissenschaftliche Darlegung, noch eine Meditation über geoffenbarte Heilswahrheiten, sondern ein Teil eines Gesprächs, das meist an ganz bestimmte Personen gerichtet ist und die Menschen zum Hören führen soll. Schon in seiner ersten Schrift ringt HAMANN in einer Vorrede mit dem Problem des anonymen Lesers, der in seiner Unangreifbarkeit ein "Niemand" ist und von keinem Anspruch wirklich erreicht werden kann. Dieser anonyme Leser hat "künstliche Augen und Ohren", die nichts wirklich aufnehmen und ins Herz dringen lassen; er richtet zwar über das Gelesene, "aber ohne zu verstehen"; er hört den "lauten Ruf" nicht, der an ihn ergeht und dem er "mit Feuer antworten" sollte. HAMANN aber will diesem anonymen Publikum, wie DAVID dem Drachen von Babylon, ein aus Pech, Fett und Haaren gekochtes "Küchlein" in den Rachen werfen, daß es in der Mitte entzwei birst und der "Einzelne" getroffen werden kann. Diesen Einzelnen - in HAMANNs Erstlingsschrift KANT und BERENS - beschwört der Autor, wirklich "Partei" zu ergreifen, sei es lobend oder tadelnd.

HAMANN will vom Leser nicht "zergliedert" und "betrachtet" werden, sondern er will gehört werden. Um dieses Ziel zu erreichen, ist er bereit, sich dem "tyrannischen Publikum" anzupassen, sich ihm zu Füßen zu werfen, wie der Philosoph ARISTIPP dem Tyrannen DIONYSIOS, weil eben Tyrannen, wie der Philosoph sagte, nun einmal die Ohren an den Füßen haben. Er sieht ein, daß er der religiösen Tiefe des erfahrenen und weiterzugebenden Anspruchs "den Schleier borgen" muß, um an die Menschen seiner Zeit heranzukommen und gehört zu werden. So greift er zu SOKRATES und später zur Maske des PAN und der Rosenkreuzer, um die zutiefst religiöse Erfahrung, das Hören auf die gnadenhafte Urkorrespondenz des Daseins, zu vermitteln.

In diesem Verschleiern und Verkleiden liegt aber keine Schwäche, sondern eine Stärke: Gerade die letztlich unzerstörbare Qualität dessen, was zu sagen und in den Anspruch zu bringen ist, macht diese Anpassung möglich, ohne die Tiefe und Verbindlichkeit des Gesagten preiszugeben. So rang HAMANN schon in seiner Zeit um das "weltliche Reden von Gott", um das sich die Kirchen in ihrer Öffnung zur Welt heute bemühen. HAMANN hält diese Formveränderung, diesen Gestaltwandel der Rede, der durchaus auch bis ins Inhaltliche durchdringen kann, unter Hinweis auf PAULUS I Kor. 4,6 für biblisch begründet. Dieser "Metaschematismus" ist möglich, weil es nach HAMANNs Londoner Erfahrung auch in der Heiligen Schrift selbst nicht so sehr um die Mitteilung inhaltlich bestimmter Einzelwahrheiten geht, sondern um den Anspruch der Liebe Gottes, der den Menschen zur "Metanoia" ruft. Darum greift HAMANN unbesorgt um den inhaltlichen Zusammenhang der jeweiligen Bibelworte heraus und bezieht sie unbekümmert unmittelbar auf die eigene Zeit. Gerade in diesem fremden Zusammenhang, in dieser "Verfremdung", bekommen die Schriftworte eine neue Durchschlagskraft und Mächtigkeit des Anspruchs.

Um den Leser zum Aufhorchen, zum hörenden Vernehmen zu bewegen, greift HAMANN zu einer Sprache, die bewußt verrätselt und verdunkelt, um den Leser zum Aufhorchen zu zwingen: "Antworte ihnen - aber antworte ihnen nicht, sagt mein Genius. Aus deiner närrischen Antwort, sollen sie sehen, daß ihre Fragen Narrheiten sind". Sie stellen ja ihre Fragen immer nur als im Grunde schon Wissende, die nur da und dort ein Stück des selbstherrlich errichteten Gebäudes ihre Vernunft schöner einkleiden wollen; ihre Fragen komen nicht aus jenem "Abgrund" unseres Herzens, der ständig den ganzen Menschen in Frage stellt, sofern er ihn gründen läßt in der mit einer tödlichen Diskrepanz belasteten Urkorrespondenz des Daseins. HAMANN fürchtet, daß
"die aufgedeckte Tiefe seines Herzens mißbraucht wird als Hilfe zum selbstherrlichen Bau des Turms der Vernunft, dessen Spitze bis an den Himmel reicht",
und daß er durch seine Autorschaft dadurch mitschuldig wird an der Usurpation, die das Wort des Ursprungs kreuzigt. Das ist ihm ein tiefes Anliegen: "Ich will lieber gar nicht, als unrecht verstanden werden". Deshalb flüchtet er sich in eine sybillinische, undurchschaubare, leidenschaftlich schwungvolle, in tausenderlei Wendungen und Anspielungen sich ergehende Rede, um damit wie mit einem "Gewand" die "Blöße und Notdurft" zuzudecken, deren er sich in London bewußt geworden war als des bleibenden und entspringen lassenden Grundes seiner Existenz.

Gleichzeitig ist dieses "Gewand" auch eine kunstvolle Maske, die den Leser schreckt und anzieht zugleich und ihn durch beides aufbricht zum Hören. Es ist, wie KOEPP in anderem Zusammenhang herausgearbeitet hat, eine Maske im ursprünglichen religionsgeschichtlichen Sinn: sie will verbergen, um aus der Verborgenheit und Fremdheit desto lauter und eindringlicher Gottes Anspruch an den Menschen ergehen zu lassen. Es sind "Offenbarungsmasken", deren Sinn, wie etwa bei den Spielern im antiken Drama, darin besteht, "daß der Darsteller sich gleichsam selbst auslöscht, um nichts als Sprachrohr zu sein" (G. GRÜNDGENS).

HAMANN will das Sprachrohr jener Stimme sein, die in London aus dem Abgrund seines Herzens zu ihm sprach. Seit London tragen deshalb, wie KOEPP festgestellt hat, die Masken HAMANNs den tiefen Ernst des Todes auf der Stirn. Bisweilen werden HAMANNs Schriften sogar im ganzen zu einem dramatischen Geschehen, in das der Leser einbezogen ist, um ihn durch die geforderte Stellungnahme zum Hören zu zwingen.

Gegen Ende seines Lebens und seiner Autorschaft legt HAMANN freilich die Maskierung und Verhüllung mehr und mehr ab. Das hängt, äußerlich gesehen, damit zusammen, daß HAMANN nun seine bleibende Lesergemeinde gefunden hat, von der er nicht mehr fürchten mußte, mißverstanden zu werden. Zögernd, aber auch sichtlich erleichtert - er hat ja Zeit seines Lebens unter der Qual der Masken gelitten - verzichtet er mehr und mehr auf die burlesken Verhüllungen, die er seinen Gedanken und seiner Religion hatte "borgen" müssen.
LITERATUR - Georg Baudler, Im Worte sehen - Das Sprachdenken Johann Georg Hamanns, Bonn 1970