cr-4Hamann und KantMartin SeilsJosef SimonMetakritik über den Purismus ...    
 
GEORG BAUDLER
Hamann und Herder

Hamanns Londonerlebnis
Vernunft und Sprache
Sokratische Denkwürdigkeiten
Hier auf Erden soll alle menschliche Rede ein einfaches, klares Bekenntnis sein, ein Ja oder Nein, alles übrige ist des Teufels.

Im Anschluss an die "Kreuzzüge des Philologen" mit der Kernschrift  Aesthetica in nuce  veröffentlicht HAMANN noch einige kleine Aufsätze von wenigen Seiten, in denen er sich mit den Rezensenten seiner Schrift auseinandersetzt oder selbst zu einer Schrift seiner Zeit Stellung nimmt. Sie bringen in der Entwicklung seines Sprachdenkens nichts Neues. Fast zehn Jahre lang schweigt nun der "dunkle Magus" aus Königsberg. Diese Jahre sind ausgefüllt mit Studium, Sorge für den alternden Vater und den geisteskranken Bruder und persönlichen Ereignissen, die sein weiteres Leben bestimmten: Im Sommer 1762 kommt der um 13 Jahre jüngere HERDER nach Königsberg und wird HAMMANs Schüler und jüngerer Freund. Nach zwei Jahren verschaffte ihm dann HAMANN durch Vermittlung LINDNERs eine Stelle an der Domschule zu Riga und HERDER verläßt Königsberg wieder.

Der anfangs rege Briefwechsel verstummte allmählich, als HAMMAN HERDERs erste Werke brieflich kritisierte. HERDER wollte sich nicht mehr aufhalten lassen und ging seine eigenen Wege. Erst in der späteren Auseinandersetzung um HERDERs Sprachtheorie wurden Briefwechsel und Freundschaft wieder lebendig. Inzwischen hatte HAMANN auch mit seinen eigenen Lebensumständen vollauf zu tun. Als im September 1766 der Vater starb, mußte HAMANN, um den immer hilfloseren Bruder versorgen zu können, einen eigenen Haushalt errichten. Durch Vermittlung KANTs erhielt er eine Stelle als Übersetzer an der französischen Zollverwaltung in Königsberg. Den Haushalt versorgte ANNA REGINA, die Magd des verstorbenen Vaters zusammen mit ihrer Mutter.

Im Herbst 1768, nach einer langen Zeit des Widerstandes seitens ANNA REGINA und nach vielen äußeren und inneren Wirren, schloß HAMANN mit der um 6 Jahre jüngeren Magd eine "Gewissensheirat". Was HAMANN letztlich bewogen hat, eine bürgerliche und kirchliche Form der Eheschließung abzulehnen, blieb trotz der eingehenden Untersuchungen NADLERs 1) und KOEPPs 2) im Dunkeln. Sicher ist nur, daß HAMANN nicht der festen Bindung aus dem Wege gehen wollte; im Gegenteil, er hoffte sogar, durch seine Treue und sein Zusammenhalten allein aus der inneren Bindung heraus anderen ein "Beispiel" vom wahren "Endzweck der Ehe und ihrem Segen" zu geben. Tatsächlich führt HAMANN mit dem einfachen Bauernmädchen, das ihm vier Kinder gebar, bis zu seinem Lebensende eine erfüllte und glückliche Ehe. In seinen Briefen spricht er fortan immer wieder von den ihm liebgewordenen Freuden und Leiden seines häuslichen Lebens, das ihm stets eine Quelle der Kraft und Geborgenheit blieb und ihm auch durch schwere finanzielle Sorgen nicht verleidet wurde.

In diese Jahre des aufblühenden Familienlebens - HAMANN hatte bereits mehrere Kinder - fällt die Auseinandersetzung mit seinem ehemaligen Schüler und Freund JOHANN GOTTFRIED HERDER, die HAMANNs Autorschaft wieder in Fluß brachte und ihn zu einer Thematisierung seines Sprachdenkens drängte. Da die auf diese Weise entstandenen Schriften der sprachphilosophischen Ausgangsposition unserer Interpretation am nächsten kommen, ist es notwendig, sie im einzelnen zu verfolgen. Dabei wird sich unsere Interpretation bemühen, herauszuarbeiten, daß diese oft kleinen Schriften auch von allgemeineren Gesichtspunkten aus im Ganzen des HAMANNschen Denkens eine wichtige Rolle spielen.

Deutlich ist nach Struktur und Anlage der Schriften eine Zweiteilung festzustellen: Die Rezensionen und die "Philologischen Einfälle und Zweifel" (mit ihrem angehängten Brief "Au Salomon de Prusse") sind unmittelbar gegen HERDER gerichtete Kampfschriften, die sich im einzelnen mit ihm einlassen, ihn auf weite Strecken hin zitieren und widerlegen. Seine mittlere Schrift "Des Ritters von Rosenkreuz letzte Willensmeinung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache" versucht HAMANN dagegen aus dem Trubel der Auseinandersetzung herauszuhalten, indem er ihr Erscheinungsjahr so weit vordatiert, daß die Schrift vor HERDERs Theorie des Sprachursprungs zu stehen kommt. Entsprechend ist in der Schrift von HERDERs Werk auch nicht ausdrücklich die Rede. HAMANN versuchte hier eine eigene, von HERDER unabhängige Behandlung nach dem Ursprung der Sprache.

Entsprechend HAMANNs Grundprinzip, dem innersten Gedanken des Gegners zu antworten, nicht "seinen Ausdrücken", geht es in der Auseinandersetzung zunächst gar nicht zentral um die von HERDER aufgeworfene Frage, sondern um die Denkhaltung, in der HERDER die Frage behandelt. In der autonomen Anthropozentrik des HERDERschen Denkens hat HAMANN beinahe schmerzlich gespürt, daß sein Freund und Schüler den Boden des eigenen Denkens verlassen hat und grundsätzlich in das Lager der Aufklärung übergewechselt ist. Darum geht es in der Auseinandersetzung im Grunde um den skizzenhaften Entwurf einer Anthropologie, die auf dem Boden des Sprachdenkens, aus dem Hören der Urkorrespondenz des Daseins gewachsen ist und der sich in sich selbst verfangenen Anthropozentrik HERDERs entgegengehalten wird. Freilich wird dieser "Entwurf" nur an wenigen Stellen unmittelbar dargelegt, meist ist er nur unmittelbar aus der Kritik an HERDER zu erschließen. Diesen anthropologischen Entwurf will unsere Interpretation im folgenden philosophierend nachvollziehen:

Die Frage nach dem Ursprung der Sprache, um die es unmittelbar der Sache nach in der Auseinandersetzung geht, hat eine lange geschichtliche Tradition. Es würde zu weit führen, diese hier im einzelnen zu referieren. Um zu einem adäquaten Verständnis der HAMANNschen Sprachschriften zu gelangen, genügt es, uns den Stand der Diskussion im Zeitalter der Aufklärung zu vergegenwärtigen, wie ihn HAMANN und HERDER erlebten. Entsprechend der Sprachauffassung der Aufklärungszeit und ihrer Grundauffassung vom Wesen der Sprache als eines Mittels, die Welt vom Menschen aus verfügbar und gestaltbar zu machen, wird der Ursprung der Sprache in jener besonderen, dem Menschen eigentümlichen und ihn auszeichnenden "Fähigkeit" gesucht, vom Glauben an deren Wirkkraft der Mensch jener Zeit so tief erfüllt war: der autonomen menschlichen Vernunft.

Das gilt sowohl für die sogenannte Naturlauttheorie, wie sie besonders durch CONDILLAC und dem späten ROUSSEAU vertreten wurde, als auch für die  Konventionshypothese,  welche die englische Aufklärungsphilosophie ohne eigentliche Neubegründung aus der aristotelischen Logik übernahm. In beiden Theorien ist letztlich Vernunft dasjenige, was die Sprache schafft. Verschieden ist lediglich das Material, aus dem heraus sie diese Tat vollbringt: In der Naturlauttheorie sind es die tierischen Ausdrucksbewegungen, die, von der Vernunft überformt und ins Bewußtsein gehoben, zu Trägern von Bedeutung werden. In der Konventionshypothese ist es die von der Natur gegebene soziale Anlage, die von der Vernunft aufgegriffen und in einer alles tierische Zusammenleben überragenden und verfeinernden Weise gestaltet wird, indem die Menschen bestimmte Zeichen durch Übereinkunft mit bestimmten Bedeutungen versehen.

Wie sehr diese beiden Theorien über den Ursprung der Sprache einer gemeinsamen Denkhaltung entspringen, zeigt die Tatsache, daß sie in der Aufklärungszeit kaum isoliert je für sich auftreten, sondern meist auf vielfältige Weise miteinander verflochten werden, um sich gegenseitig zu stützen und zu ergänzen. Zu einer frühen Verflechtung der beiden Theorien mag auch beigetragen haben, daß sie, wie ROUSSEAU anfangs richtig erkannt hat, kaum je in sich widerspruchsfrei durchzuführen sind. Die Hauptschwierigkeit liegt darin, daß, um zu einer Übereinkunft zu kommen, die Menschen schon vorher eine Möglichkeit der Verständigung (also eine Art Sprache) besitzen mußten. Diese Schwierigkeit trifft besonders die Konventionshypothese; aber auch die Naturlauttheorie kann ja nicht völlig ohne eine solche (problematische) Übereinkunft auskommen, weil ja sonst jedes Individuum nur seine je eigenen Ausdrucksbewegungen verfeinern würde, ohne daß daraus eine (mehreren Individuen gemeinsame) Sprache entstünde. Diese Schwierigkeit mag der Hauptgrund dafür sein, daß sich mitten im Zeitalter der Aufklärung in dieser Frage des Sprachursprungs neben den zwei genannten Theorien noch eine dritte, naiv-mittelalterlich anmutende Hypothese halten konnte, in der die Schwierigkeit einfach dadurch "gelöst" wurde, daß man die Sprache als unmittelbar und auf geheimnisvolle Weise von Gott dem Menschen mitgeteiltes Wunderwerk betrachtete.

HAMANN war, wie aus seinen vielerlei Andeutungen in seinen "Sprachschriften" hervorgeht, mit diesen Lösungsvorschlägen zutiefst vertraut und aus der Art, wie er später in dieser Frage HERDER gegenübertritt, ist anzunehmen, daß er in den Jahren freundschaftlichen Verkehrs in Königsberg HERDER in diese Problematik eingeführt hat. HAMANNs Augenmerk war schon seit dem Beginn seiner Autorschaft besonders auf Berlin gerichtet, das "neue Babel", wie er die Hochburg der deutschen Aufklärung nannte. Dort hatte sich MAUPERTIUS, der Präsident der Berline Akademie, zuerst in einem Vortrag, dann in einer Druckschrift auf eine sehr rationalistische Weise um eine komplizierte Verflechtung von Naturlauttheorie und Konventionshypothese bemüht. Während HAMANN sich zunächst nur in Andeutungen über dieses Werk lustig machte, erwuchs MAUPERTUIS aus den eigenen Reihen der Akademiemitglieder ein förmlicher Gegner: JOHANN PETER SÜSSMILCH, der den unmittelbar göttlichen Ursprung der Sprache verteidigte.

Dabei blieb SÜSSMILCH indes selbst ganz auf dem Boden eines ziemlich platten Rationalismus, indem er streng syllogistisch von der regelmäßigen Ordnung und Vollkommenheit der Sprache auf Gott als ihren allein möglichen Urheber schloß. Wenn HAMANN trotzdem eine gewisse, freilich stark ironisch gefärbte Sympathie für die "höhere Hypothese" SÜSSMILCHs aufbringt, und die Zeitgenossen auffordert, sie gegen HERDER zu "rächen", so beruht das auf dem auch von HAMANN behaupteten Grundsatz SÜSSMILCHs, daß Sprache ursprünglicher ist als Vernunft und es deshalb ohne Sprache keine Vernunft geben könne; im übrigen bezog HAMANN eine völlig andere Position. So ist es verständlich, daß die Berliner Akademie mit einem Gegenzug antwortete: Sie stellte 1769 eine Preisfrage, deren Formulierung eine Abweisung SÜSSMILCHs und eine Neubegründung der anthropozentrischen These vom Sprachursprung nahelegte.

HERDER, der sich schon vor der Veröffentlichung der Preisfrage gegen SÜSSMILCHs Argumentation gewandt hatte, beantwortet die Frage der Berliner Akademie in seiner berühmten Abhandlung "Über den Ursprung der Sprache", die auch tatsächlich den Preis der Akademie erhielt. HERDERs Neuansatz beruht auf der konsequenten Durchführung einer streng genetischen Erklärung, die er schon in der ersten Stellungnahme gegen SÜSSMILCH gefordert hatte. Dadurch gelingt es ihm, zu jener Auffassung von der Sprache als eines lebendigen Organismus vorzudringen, die später vor allem von WILHELM von HUMBOLDT fortentwickelt wurde. Wie in der Naturlauttheorie und in der Konventionshypothese - und entsprechend der Fragestellung der Berliner Akademie - sucht HERDER dabei Ansatzpunkt und Nährboden für die Entstehung dieses Sprachorganismus in der Natur des Menschen.

Vor allem dieser Punkt der HERDERschen Abhandlung hat den scharfen Widerspruch seines Lehrers und Freundes HAMANN herausgefordert. Denn durch diese Anthropozentrik hat sich HERDER zumindest grundsätzlich der aufklärerischen Verherrlichung des Menschen und seiner geistigen Fähigkeiten angeschlossen; das aber mußt HAMANN, der HERDERs Arbeit mit großer Spannung und Hoffnung erwartet hatte, als eine Art Verrat an den bisher von beiden gemeinsam anerkannten Grundsätzen erscheinen. SO reagiert er zunächst sehr bitter.

Er veröffentlicht in der "Königsbergschen Gelehrten und politischen Zeitung" sofort nach dem Erscheinen der Preisschrift eine eindeutig ablehnende Rezension. Dabei beschränkt er sich zwar rein formell fast ganz auf eine Zusammenstellung von wichtigen Zitaten aus der Preisschrift und auf eine Wiedergabe des grundsätzlichen Gedankengangs; aber er tut das in einer Art, daß dabei in nicht zu überbietender Schärfe jener zentrale Punkt der HERDERschen Abhandlung getroffen und gegeißelt wird, in dem er sich von HERDER verraten fühlte: die aufklärerische Verherrlichung des Menschen.

Schon der erste Satz trifft in meisterhafter Knappheit und Ironie diesen Punkt: "Der Verfasser hat das Verdienst gehabt, mit seinem "Ungehorsam" den Preis der Akademie zu erreichen". HAMANN bezieht sich hier auf eine höflich-elegante Wendung aus dem Schlußabsatz der Preisschrift, wo sich HERDER sehr selbstbewußt wegen seines "Ungehorsams" entschuldigt, da er nicht, wie in der Formulierung der Preisfrage verlangt, eine neue Hypothese geliefert, sondern seine Erklärung des Sprachursprungs "durch eine Sammlung fester Data" eindeutig "bewiesen" habe. Dieser Satz ist für HAMANN ein Zeichen dafür, daß HERDER in Wahrheit dem Geist der Berliner Akademie nicht nur äußerlich "gehorsam" war, indem er in autonomer Anthropozentrik argumentierte, sondern auch innerlich, in seiner Denkhaltung, schon von dieser Selbstverfangenheit des Geistes infiziert war.

Darum legt nun HAMANN, immer an Hand von Zitaten, dar, wie sehr es der ganzen Abhandlung um eine selbstbewußte Verherrlichung des menschlichen Geistes zu tun ist: HERDER will die SÜSSMILCHsche Hypothese hauptsächlich deswegen zurückweisen, weil sie "dem menschlichen Geiste nur zum Nebel und zur Unehre ist"; nach dieser "höheren Hypothese" stammt ja keinerlei "Kunst, Wissenschaft und Kenntnis aus der menschlichen Seele, denn mit der Sprache haben die Menschen alle Samen von Kenntnissen aus der Hand Gottes empfangen". HERDER setzt in der Zurückweisung SÜSSMILCHs mit derselben "Unbesonnenheit", mit der dieser zum  deus ex machina  für seine Erklärung gegriffen hat, einfach den Menschen an die Stelle Gottes, indem er sagt, er könne die Sprache allein und vollständig aus der menschlichen Natur erklären.

HAMANNs Zorn entzündet sich besonders an dem antiken Wort "Sehet! ich bin ein Mensch", das HERDER stolz und selbstbewußt, "sichtbar auf den Schauplatz gestellt", verkündet, während HAMANN, der selbst oft auf dieses Wort zurückgriff, es stets umgekehrt im Sinne des Nachsatzes verstand: "et nil humanum a me alienum puto"; d.h. als Bekenntnis zur menschlichen Schicksalsgemeinschaft der Schwäche und Bedürftigkeit. HERDER versucht sogar vom Boden des (allerdings aufgeklärten Christentums) aus, SÜSSMILCHs Hypothese zu bekämpfen, indem er darauf hinweist, daß sie "bei jedem Schritte Gott durch die niedrigsten, unvollkommensten Anthropomorphien verkleinert"; aber HAMANN hält ihm entgegen, daß diese "niedrigste und unwürdigste Anthropomorphie" dennoch "privilegiert" ist, während HERDER an die Stelle einer solchen biblischen "Anthropomorphie" eine selbstherrliche und unangemessene "Apotheose" (Vergöttlichung) setzt. Seine "Ansichten" und "fruchtbaren Erklärungen" sind nicht aus dem Hören auf den "Gegenstand" erwachsen, sondern "aus der Erde gestampft" deshalb für so überzeugend, weil er autonom die Art des "Beweises" selber bestimmt hat, nach dem er vorging, statt das Denken dem Gegenstand enstprechen zu lassen.

Die wahren "Aeropagiten" der Zeit, d.h. die, wenn auch heidnischen Menschen, die offen sind für den "unbekannten Gott", und Altes und Neues in echter Synthese zu vereinen wissen, werden gerade "in der Mitte von Lücken und Mängeln", Hilflosigkeit und Instinktschwäche den wahren "Keim zum Ersatz" finden: jenen Dämon und seine Stimme, die schon dem SOKRATES "Ersatz" war für seine Bedürftigkeit und Unwissenheit", jene Stimme von London, die nicht wie der Instinkt des Tieres bloß ein Teil der Natur des Menschen ist, sondern freie Herunterlassung Gottes, aus der ebenso frei (und so erst wahrhaft "menschlich" und nicht naturnotwendig wie der Wabenbau einer Biene) Sprache entspringt.

Nach einem Hinweis auf die Systematik, in die HERDER den Weg der Sprachentstehung "zwingt", schließt HAMANN seine Rezension mit der Aufforderung an die "Mitbürger", insbesondere an den "kabbalistischen Philologen" (den Autor der "Kreuzzüge"), "Zweifel und Orakul über den Inhalt und die Richtung der akademischen Frage aufzuwärmen" und "die höhere Hypothese zu rächen". Er weist also hier vor allem auf seine weiteren schon geplanten HERDERschriften.

Die Rezension hatte HERDER empfindlich getroffen. Vor allem bedrückte ihn die Sorge, was HAMANN noch alles im Hintergrund haben könne.HAMANN erfuhr von HERDERs Sorgen und schrieb einen kurzen, aber ehrlich-offenen Brief an HERDER, in dem er ihn seiner unveränderlichen Freundschaft versichert und darauf hinweist, daß gerade unter Freunden die sachlichen Meinungsverschiedenheiten in aller Freiheit und Offenheit ausgetragen werden sollten. Er legt dem Brief einen Zeitungsartikel bei, der von ihm unter dem Pseudonym "Aristobolus" in der "Königsbergischen gelehrten politischen Zeitung" veröffentlicht worden war und worin nun er selbst seine eigene, wenige Wochen vorher in derselben Zeitschrift erschienene Rezension der HERDERschen Preisschrift "abfertigt".

Nach dem voranstehenden Motto ist das ganze eindeutig eine "Farce", ein "Maskenspiel"; der Sinn dieser Schrift kann (das zeigt ihre Übersendung an HERDER in einem freundschaftlich-offenen Brief) nur darin bestehen, daß HAMANN HERDER sagen will, es gehe bei seinen Gefechten nicht um die Person - in dieser kann HAMANN sich sogar selber "abfertigen" - sondern einzig und allein um die Sache; die überlegene Selbstironie der Schrift soll HERDER helfen, aus seiner Verkrampfung herauszukommen und die Auseinandersetzung in der Freiheit offener Freundschaft zu führen. Sachlich nimmt dabei HAMANN nichts von seiner Rezension zurück: aber er läutert die sachlichen Einwände gegen die Preisschrift von allen persönlichen Angriffen auf HERDER, die in der Rezension zumindest im Unterton doch mitschwangen. Jetzt geht es wirklich nur mehr um die Sache.

Dabei arbeitet HAMANN vor allem jenen Gedanken heraus, der in der Rezension nur nebenbei angeklungen war: daß nämlich die Art der Beweisführung HERDERs dem Gegenstand unangemessen ist und deshalb zu keinem gültigen Ergebnis führen kann. HAMANN sie in HERDERs Beweisführung die auf DESCARTES zurückgehenden 4 Grundregeln des autonomen neuzeitlichen Denkens am Werk:
  • Nur das Evidente ist wahr;
  • ein Problem ist leichter lösbar, wenn es möglichst weitgehend zergliedert wird;
  • die Denkbewegung soll vom Einfahen zum Zusammengesetzten aufsteigen;
  • die Beweisführung muß sich um eine vollständige Aufzählung und Übersicht aller Möglichkeiten und Phänomene bemühen.
HAMANNs "Abfertigung" ist eine Parodie dieser 4 Grundsätze in ihrer Anwendung auf das Problem des Sprachursprungs. In die Parodie der ersten Grundregel flicht er dabei den Hinweis ein, daß es grundsätzlich unmöglich ist, mit einer am Vorfindbaren orientierten Methode einen Ursprung wissenschaftlich genau zu erforschen und beschreiben zu wollen, der selbst "dem gewöhnlichen Kreislauf der Natur gar nicht gleichförmig ist" und für den es deshalb in der vorfindbaren Welt allenfalls vage Analogien gibt. Dann exerziert er ironisch in schülerhaftem Eifer die restlichen drei Regeln vor, wobei sich zwei für seine eigene Sprachphilosophie wesentliche Gedanken herausschälen:
    Erstens: Sprache kommt vom Hören, denn Ohr und Zunge sind unmittelbar aufeinander bezogen;

    zweitens: Die Sprache kann nicht erfunden worden sein, denn: "Erfindung und Vernunft setzen ja schon eine Sprache voraus und lassen sich ebensowenig ohne die letztere denken, wie die Rechenkunst ohne Zahlen".
Das ironisch aber doch tiefsinnig herausgehobene Ergebnis der methodisch "streng" durchgeführten Untersuchung ist, daß der Mensch die Sprache durch "thierischen Unterricht" erlernt haben müsse: Wo sich der Mensch sprechend und denkend bloß auf sich selbst als Mensch gründet, treibt ihn die innere Dynamik eines solchen Denkens zu einer Vergötzung selbst der untermenschlichen Natur; in einem solchen Denken manifestiert sich die Ursünde des Menschen.

Der wahre Ursprung der Sprache ist nur durch einen "Spiegel im Rätsel" augenscheinlich zu machen. Man müßte dazu den inneren Ausdruck der menschlichen Sprache mit den "Stimmen der Tiere" vergleichen, aber diesen "Schlüssel zum Rätsel" will Aristobul zunächst noch für sich behalten, es geht ja hier nur um eine Rezension.

Von unserer Interpretation der Grundlagen des HAMANNschen Denkens her, ist klar zu erkennen, worauf die Andeutung zielt: Die "Stimme der Tiere" ist jene einerseits mächtige und mitreißende, andererseits aber zerbrochene und undeutliche Schöpfungsrede aus der "Aesthetica in nuce", die in dieser ihrer tiefen Ambivalenz die unendliche Frage des Menschen nicht mehr zu beantworten vermag, aber ihn doch, sofern er sich mit offenen Sinnen dieser "Rede" zuwendet, zum Hören auf die Urkorrespondenz des Daseins führen kann. Im Hören auf diese Urkorrespondenz weiß HAMANN die Sprache des Menschen gegründet. Zu diesem verborgenen Ursprung findet der Mensch aber nur dann, wenn er vorher alle menschliche Anmaßung "im heiligsten Verstand dieses Grundworts" "persifliert", d.h. abbaut, um die wahren Größenverhältnisse des Menschen sichtbar zu machen.

In einer formal bedeutungsvoll herausgehobenen Schlußrede führt HAMANN selbst diese "Persiflage" durch: Er reduziert die Bedeutung der schönen Künste und Wissenschaften - und damit nicht zuletzt auch der akademischen Frage" nach dem Sprachursprung - auf ihren wahren Geltungsanspruch, indem er sie mit den harten, aber in ihrem tiefen Wirklichkeitsgehalt doch auch wieder beglückenden Dingen des täglichen Lebens und mit der "Torheit" des Christusglaubens konfrontiert.

In dieser Persiflage von Kunst und Wissenschaft liegt keine - auch keine "scheinbare" Flucht ins Spießbürgertum, vielmehr werden diese beiden "unbarmherzigen Schwestern" von ihrem wahren Wesen her begründet: Sie sind Ausdruck der unendlichen Offenheit und existentiellen Not des Menschen, die es nicht zuläßt, daß der Mensch sich mit der "gegenwärtigen Glückseligkeit" seines häuslichen Lebens zufrieden gibt, sondern den "tiefen Schlaf seiner Ruhe" "unbarmherzig" durch "Träume von einer anderen Welt" unterbricht und ihren Anspruch selbst noch auf Kosten des familiären Lebens geltend macht und durchsetzt. So faßt HAMANN, gerade umgekehrt zum Spießbürger, Kunst und Wissenschaft nicht als schöne Bereicherung und krönende Zierde des menschlichen Lebens, sondern als Notwendigkeit; eben als den Versuch, einer  Not  des Menschen abzuhelfen oder wenigstens Ausdruck zu geben; einer Not, die mindestens genauso real und drängend ist, wie die Nöte und Sorgen des alltäglichen Lebens.

In solcher Auffassung stehen Kunst und Wissenschaft in keinem Widerspruch zur Torheit des christlichen Glaubens. Ander als die "antisalomonischen Schulmeister seiner Zeit" weiß ein solcher Künstler oder Wissenschaftler, daß die wahre Weisheit mit der "Furcht des Herrn" beginnt und daß "Christum lieb haben Engel- und Menschenzungen übersteigt"; er weiß auch, daß alle Systeme zerfallen werden außer jenem, das auf dem Gekreuzigten als "Eckstein" gegründet ist und "allein Himmel und Erde überleben wird". Hier auf Erden soll deshalb alle menschliche Rede ein einfaches, klares Bekenntnis sein, ein Ja oder Nein, "alles übrige ist des Teufels".

Diese "Abfertigung" ist HAMANNs unübertroffen klare und deutliche Zurückweisung jener, nicht bloß der HERDERschen Sprachtheorie als eines in der in sich selbst verfangenen Vernunft des Menschen sich gründenden Systems. Das ist neben den dargestellten Andeutungen, mit denen HAMANN auf die wahre Richtung des Sprachursprungs verweist, das wichtige Ergebnis der Vorgefechte, die HAMANN in der Auseinandersetzung mit HERDER führt. Dabei ist hier schon deutlich geworden, wie sehr HAMANN auch in dieser Thematisierung des Sprachdenkens seinem ursprünglichen Denkansatz verhaftet bleibt; HAMANN denkt auch hier aus dem Hören des Wortes heraus, aus der Betroffenheit des Menschen, der die "Stimme" des Gekreuzigten im "Abgrund des Herzens" vernommen hat: das Geschrei der Not einer Kreatur, die, auf das Unendliche hingerichtet, ihre Preisgegebenheit an das bloß Endliche erfährt.
LITERATUR - Georg Baudler, Im Worte sehen - Das Sprachdenken Johann Georg Hamanns, Bonn 1970
    Anmerkungen
    1) Nadler, Josef, J.G.Hamann - der Zeuge des Corpus Mysticum, Salzburg 1949
    2) Wilhelm Koepp, Magier unter Masken, Göttingen 1965