tb-1ra-1FichteWindelbandPaulsenGruppe   
 
JOHANN FRIEDRICH HERBART
Lehrbuch zur Einleitung
in die Philosophie

[ 3 / 3 ]

"Wir haben mehrere Sinne, jeder sagt uns auf seine Weise, was die Objekte sind. Hätten wir noch mehrere Sinne, so würde vielleicht die Summe dieser Aussagen noch größer werden; dasselbe Ding würde für uns mehr Eigenschaften bekommen, ohne daß darum in den wahren Eigenschaften eine Vervielfältigung vorginge."

"Wir erlangen nur schwerlich ein getreues Bild von dem, was die Dinge sind, durch unsere Sinne. Gleichwohl mögen die Körper im Raum auf irgendeine Weise gestaltet, in der Zeit irgendwelchen Veränderungen unterworfen, die Stoffe durch irgendwelche Kräfte ergriffen und behandelt, die Menschen und Tiere von irgendwelchen Wahrnehmungen und Gesinnungen erfüllt sein, da wir ja ebensowenig wissen, um was für Wahrnehmungen und Gesinnungen, um was für Kräfte, Stoffe, Veränderungen und Gestalten es sich handelt."

"Über den Mangel an Gehalt und Kraft im ganzen philosophischen Unternehmen, hier nur soviel: Hume fängt damit an, sich in der rohesten Erschleichung ein Verhältnis zwischen Eindrücken und Begriffen auszusinnen, als ob die letzteren Kopien wären von jenen, - dasselbe Verhältnis, was er zwischen Dingen und deren Vorstellungen nicht annehmen will."

"Die gerade und natürlichste Folge aus dem Vorgetragenen ist der Zweifel, ob nicht die sämtlichen Formen, welche wir für wahrgenommen hielten, und dennoch beim Durchsuchen des Wahrgenommenen nicht auffinden konnten, leere Einbildungen sind, von welchen sich loszumachen, der erste Schritt zur Weisheit ist?"

"Der Unterschied (zwischen Empirismus und Rationalismus) liegt darin, daß der Empirist nicht zu zweifeln gelernt hat, daß er die Begriffe der Erfahrung nicht kritisch behandelt, daß er sich deshalb erlaubt, die Seele und die Materie mit so vielen Kräften zu begaben, als er Klassen von Erscheinungen vorfindet; und daß er nun meint, diese Kräfte aus der Erfahrung selbst zu kennen, während die Erfahrung von Kräften nie etwas sagt noch sagen kann. Der Empirist wird, ehe er es merkt, durch Erschleichungen zum falschen Rationalisten."



Viertes Kapitel
Skepsis unter Voraussetzung
der gemeinen Weltansicht

§ 17. Die Zweckmäßigkeit jeder Einleitung hängt teils ab von der Bildungsstufe derer, die man einleiten soll; teils von der Natur der Gegenstände, wozu eingeleitet wird. Beides kommt bei der Einleitung in die Philosophie in Betracht.

1) Diejenigen, welche durch den gewöhnlichen Schulunterricht mehr zum Lernen als zum Denken angehalten wurden, haben gewöhnlich Mühe, Begriffe dergestalt festzuhalten, wie man mit den Augen ein Objekt fixiert, das man scharf und lange beschauen will. Die nötige Übung hierin können sie nur allmählich erwerben, und man darf ihnen Anfangs keine langen Anstrengungen zumuten, dergleichen die meisten philosophischen Untersuchungen erfordern. Doch pflegt die Logik denen, welche sich ernsthaft mit Grammatik und Mathematik beschäftigten, leicht genug zugänglich zu sein; auch trägt sie wesentlich bei, um die verlangte Übung zu verschaffen. Sie gehört also zur Einleitung in die Philosophie; deren allgemeinster Zweck in einer solchen Übung besteht.

2) Die Philosophie hat nicht bloß einen Zugang, sondern mehrere; diese müssen womöglich alle geöffnet werden, damit jeder den Weg wählen kann, der ihm nach seiner Eigentümlichkeit am meisten angemessen ist. Keiner von diesen Zugängen aber ist in einem solchen Grad bequem, daß man sich gleichsam passiv, ohne alle eigene Bewegung, könnte hineinfahren lassen. Die Bewegungen fordern einige Übung; die Einleitung in die Philosophie muß das in jedem Punkt fühlen lassen; sie muß das Nachdenken in Spannung setzen. Demgemäß könnte man sie als die Wissenschaft von den philosophischen Fragen und Problemen bezeichnen, wenn nicht jedem Teil der Philosophie seine Fragen zugehören würden, welche er nicht weggeben kann. Ferner ist ungeachtet der Verschiedenheit unter den Teilen der Philosphie doch ein solcher Zusammenhang unter ihnen, daß jeder Teil n alle erinnert; auch gibt es außer der Verknüpfung der Wahrheiten noch einen Zusammenhang der leicht möglichen Irrtümer; daher verlangt der Vortrag der philosophischen Wissenschaften, daß man nicht bloß wie auf einem schmalen Weg fortschreitet, sondern daß man stets auch den Blick nach allen Seiten hin bewegt. Sollen nun die Zuhörer solchen Vorträgen folgen: so müssen sie in der Einleitung vorläufig in allen Teilen der Philosophie orientiert worden sein. Endlich bei der Verschiedenheit der Systeme und wegen der großen Wichtigkeit der Gegenstände ist es Gewissenssache des Lehrers. daß er die Zuhörer nicht lediglich an eine Vorstellungsart gewöhnt und gleichsam bindet; sondern er muß sie mit den Grundgedanken der Systeme, mit den Hauptgesichtspunkten verschiedener Denker bekannt machen. Dies trifft besonders die Metaphysik; die zwar noch vor nicht allzu langer Zeit so leicht behandelt wurde, daß man sie mit der Logik in einen Vortrag verknüpfte; deren gründliches Studium aber nicht einmal möglich ist, wenn nicht Vorkenntnisse verschiedener Systeme vorangegangen sind. Es kommt nun gleich zunächst darauf an, hinreichende Gründe anzugeben, derentwegen die Vorstellungsarten der gemeinen Erfahrung nicht unangefochten bleiben können, sondern eine Bewegung des Denkens erfolgen muß, zu der man sich mit den Hilfsmitteln der Logik, soweit diese reichen, auszurüsten Ursache hat; und welcher alsdann noch durch die verstehenden Grundideen der praktischen Philosophie ein Gegengewicht muß gegeben werden.

§ 18. So notwendig es ist, daß in der Einleitung die Hauptfragen in ihrer ganzen Schärfe, folglich die Schwierigkeiten, worauf sie sich beziehen, mit ihrem ganzen Nachdruck fühlbar gemacht werden: so scheint dennoch aus verschiedentlich abgeänderten Versuchen hervorzugehen, daß selbst die Aufstellung der Probleme noch einer Vorbereitung bedarf, um nicht als gar zu schneidend, gar zu sehr die gewöhnliche Ansicht der Dinge umkehrend, anstößig zu werden, und dadurch die ruhige Stimmung, welche dem nachfolgenden Studium des Systems so unentbehrlich ist, vielmehr zu verderben als herbeizuführen.

Die mildere Betrachtungsart nun, welche nicht geradezu das Ungereimte in der gemeinen Weltansich aufdeckt, und auf die Hinwegschaffung desselben aus unseren Begriffen dringt, - sondern fürs Erste nur das für gewiß Gehaltene als ungewiß darstellt, und das Schwankende unserer Meinungen fühlen läßt; dies ist die zweifelnde Überlegung, oder die Skepsis. Man kann sie in eine niedere und in eine höhere einteilen. Die niedere bezweifelt bloß, daß die Dinge so beschaffen sind, wie sie uns erscheinen, in der Meinung nämlich, daß sie stattdessen wohl anders beschaffen sein möchten; die höhere aber macht selbst die Meinung wankend, daß überhaupt etwas da ist, indem sie den Zusammenhang in unserer Vorstellungsart der Dinge völlig auflöst oder zumindest für eine Zeitlang unsichtbar macht.

Übrigens aber muß man sich schon hier einprägen, daß die Einleitung in die Philosophie eine Systematik des Geistes ist, welche keineswegs in der Absicht angestellt wird, um an den Zweifel zu gewöhnen, und ihn zur herrschenden Gemütsstimmung zu machen. Vielmehr soll derselbe durch das nachfolgende System beruhigt werden; und hiermit kehren eine Menge gewohnter Vorstellungsarten, nur in gewissen Punkten verändert und ergänzt, zurück; welche angefochten waren ebensowohl um den gemeinen, aber gesunden Verstand zu rechtfertigen, wo es möglich ist, als ihn zu berichtigen, wo es nötig ist.

Da nun der Geist des Zweifels nicht herrschend werden soll, so wäre es übel angebracht, lange bei der Skepsis zu verweilen; und die bestimmte Aufstellung der metaphysischen Hauptprobleme gleich darauf folgen zu lassen. Hingegen wird die Logik, nebst den Vorbetrachtungen zur praktischen Philosophie, zwischen jenes beides in die Mitte gestellt, eine zweckmäßige Abwechslung und Übung gewähren.

Anmerkung: Jeder tüchtige Anfänger in der Philosophie ist Skeptiker. Und umgekehrt: jeder Skeptiker, als solcher, ist Anfänger. Endlich, man soll nicht Anfänger, also auch nicht Skeptiker bleiben. Hierüber einige kurze Erläuterungen.
    1) Wer nicht einmal in seinem Leben Skeptiker gewesen ist, der hat diejenige durchdringende Erschütterung aller seiner von früh auf angewöhnten Vorstellungen und Meinungen niemals empfunden, welche allein vermag, das Zufällige vom Notwendigen, das Hinzugedachte vom Gegebenen zu scheiden. Ihm droht ein törichter und hochmütiger Dogmatismus.

    2) Wer in der Skepsis beharrt: dessen Gedanken sind nicht zur Reife gekommen; er weiß nicht, wohin jeder gehört, und wieviel aus jedem folgt. Dies sieht man ganz deutlich an den Häuptern des Skeptizismus, an Sextus Empiricus und an Hume. Jener hat mit großem Fleiß eine Menge von Argumenten gesammelt und sie dem äußeren Schein nach sehr wohl geordnet; dennoch stehen viele nicht in der rechten Verbindung (man wird mehrere davon im vierten Abschnitt dieses Buches finden;) und nirgends hat Sextus das Gewicht derselben richtig geschätzt. Bald gelten ihm die leichtesten Sophismen zuviel; bald die wesentlichsten Gründe gegen den Sinnenschein zu wenig; so daß er oft bemerkt, er wolle seinen Schlüssen selbst nicht trauen, sondern sie nur als Gegengewichte wider die Lehren der Dogmatiker gebrauchen. Wäre das, was er vorträgt, seine eigene Erfindung: so würde er es nicht so herabwürdigen. Aber er lebte in einem Zeitalter, welches den Nachlaß seiner Vorzeit nicht zu benutzen wußte. Von fremden Gedanken und vom Widerstreit derselben gedrückt, werden, auch heutzutage noch, diejenigen fast immer Skeptiker, welche fleißig waren im Lesen und faul im Denken. Ein trauriger Zustand: dem ein zweckmäßiger Unterricht von Anfang an soviel wie möglich entgegenarbeitet.
- Von Hume wird gleich weiterhin die Rede sein. Ihn hätte Sextus vielleicht kaum für einen Skeptiker gelten lassen; eher für einen negativen Dogmatiker, gleich den Akademikern (vgl. den Anfang der Hypotyposis Pyrrhonica)

§19. Die niedere Skepsis mag mit ganz leichten Fragen beginnen.

Die Tiere haben Augen und Ohren, beinahe wie wir; werden sie aber auch ebenso damit sehen und hören wie wir? Gesetzt, sie vernehmen den Schall und die Farbe anders als wir, welche Wahrnehmung würde die rechte sein?

Nicht einmal in die Empfindung eines anderen Menschen kann man sich hineinversetzen. Bei den Worten rot und blau; süß und sauer denkt ein Jeder das, was Er empfindet; die Einstimmung in den Worten aber versichert uns nicht der Gleichheit der Vorstellungen.

Anmerkung. Diesen, und die beiden folgenden Paragraphen mag man nun mit dem ersten Buch von des Sextus Hypotyposis Pyrrhonica vergleichen. Es scheint nicht der Mühe wert, so leichte Sachen hier ausführlicher zu entwickeln. Nur das muß bemerkt werden, daß diese Argumente nicht bloß zum Zweifeln den Grund enthalten, sondern daß sie das ganze bestimmte Resultat des § 97 ergeben, wo man den Faden, der hier liegen bleibt, weiter fortgesponnen finden wird. Hier sollen bloß die ersten Anregungen gegeben werden, damit dem vierten Abschnitt die Empfänglichkeit des Zuhörers entgegen kommen mag.

Noch ist zu erinnern, daß mit dem § 21. eine sehr wichtige Reihe von Betrachtungen anhebt, die oft wiederkehren (nämlich im § 25, 97, 101, 113), bis sie in der "Metaphysik" gehörig ausgeführt werden.

Vielleicht ist nicht überflüssig, auch noch auf Ciceros "quaestiones academicas" hinzuweisen, die freilich nicht den geordneten und bestimmten Vortrag darbieten, wie Sextus Empiricus.


§ 20. Ein und derselbe Mensch bemerkt Abweichungen in der Auffassung seines eigenen Sinnes, welche ihn mißtrauisch machen müssen. Die selbe Sache erscheint einmal so und dann wieder so, je nachdem wie man sie ansieht. Dieses gilt im sinnlichen, wie im geistigen. Neben oder nach gewissen Farben, Tönen, Speisen und sogar Gerüchen, machen andere einen ungewöhnlichen Eindruck; und nach unserer Laune finden wir dieselben Dinge bald lächerlich bald traurig.

Bei genauerer Überlegung können wir uns nicht verhehlen, daß eine Menge von Umständen auf unsere Wahrnehmungen und Urteile Einfluß haben. Der Zustand der Sinne, das Medium der Empfindung, die räumliche Lage der Gegenstände, - die Nebengedanken, welche wir einmischen - der Ton, in welchem man uns anredet, die Wendungen des Gesprächs und der Darstellung! Endlich der Unterschied des Schlafens und Wachens. Wir träumen von Traum und Wachen: wer versichert uns, daß wir nicht jedesmal träumen, so oft wir behaupten zu wachen?

§ 21. Wir haben mehrere Sinne, jeder sagt uns auf seine Weise, was die Objekte sind. Hätten wir noch mehrere Sinne, so würde vielleicht die Summe dieser Aussagen noch größer werden; dasselbe Ding würde für uns mehr Eigenschaften bekommen, ohne daß darum in den wahren Eigenschaften eine Vervielfältigung vorginge. Wie steht es denn um diejenige Vielheit der Eigenschaften, die wir jetzt so wahrnehmen? Kommt sie dem Ding wirklich zu? Und ist etwa das Ding selbst die Summe dieser Eigenschaften? - Wenn nicht: so fragt sich, welcher Sin denn wohl der inneren Natur des Dings am nächsten kommt? Ob es ein solches ist, wie es schmeckt; oder ein solches, wie es klingt, oder ein solches, wie es aussieht? - Offenbar hat hier kein Sinn einen Vorrang vor dem andern; und eben ihre Menge macht, daß wir keinem trauen können. -

Diese Zweifel zusammengenommen erinnern uns, daß wir schwerlich ein getreues Bild von dem was die Dinge sind, durch unsere Sinne erlangen. Gleichwohl mögen die Körper im Raum auf irgendeine Weise gestaltet, in der Zeit irgendwelchen Veränderungen unterworfen, die Stoffe durch irgendwelche Kräfte ergriffen und behandelt, die Menschen und Tiere von irgendwelchen Wahrnehmungen und Gesinnungen erfüllt sein, da wir ja ebensowenig wissen, um was für Wahrnehmungen und Gesinnungen, um was für Kräfte, Stoffe, Veränderungen und Gestalten es sich handelt. - Doch der Zweifel kann noch viel weiter vordringen.


Fünftes Kapitel
Höheres Skepsis

§ 22. Der Hauptgedanke ist hier, daß wir wirklich gar nicht alles dasjenige wahrnehmen, was wir wahrzunehmen glaubten; daß wir es also, wer weiß auf welche Weise und mit welchem Recht, unwillkürlich müssen hinzugedacht haben.

Anmerkung. Die zunächst folgenden Paragraphen enthalten diejenigen Zweifel, wovon Hume eine Probe gab, indem er den Kausalbegriff auf bloße Gewohnheiten reduzieren wollte. Kant bemerkte, daß Hume der Konsequenz nach viel weiter hätte gehen sollen. In der Tat ist der Mann, dem die Ehre widerfuhr, zu Kants Untersuchungen eine vorzügliche Anregung zu geben, zu einem dauerhaften Ruhm mehr durch seine historischen Verdienste, als durch seinen philosophischen Geist berechtigt; und wenn er in der öffentlichen Hochschätzung ebensoviel gewann, als Locke verlor, so dürfte die spätere Nachwelt darüber ganz anders urteilen. Über die schleichende und umherschweifende Beredtsamkeit, die mit nicht geringer Keckheit endet (man sehe den Schluß des zwölften Versuchs in Humes "Enquiry concerning human understandig"), so hier nichts gesagt werden; wer den geraden, einfachen Sextus Empiricus daneben legt, der wird den Unterschied des Vortrags bald empfinden. Über den Mangel an Gehalt und Kraft im ganzen philosophischen Unternehmen, hier nur soviel: Hume fängt damit an, sich in der rohesten Erschleichung ein Verhältnis zwischen Eindrücken und Begriffen auszusinnen, als ob die letzteren Kopien wären von jenen, - dasselbe Verhältnis, was er zwischen Dingen und deren Vorstellungen nicht annehmen will. Nun fragt er nach den Eindrücken, welche kopiert werden in einem Begriff des notwendigen Bandes zwischen Ursache und Wirkung. Natürlich findet er keine. Aber etwas anderes konnte er finden; die Notwendigkeit, zur Wirkung irgendeine Ursache zu fordern. Stattdessen kehrt er die Frage um: wie folgt aus der Ursache die Wirkung? Auf diese (verschobene) Frage ergeht wiederum keine Antwort, zumindest nicht von Seiten der Erfahrung. Jetzt macht er, mit übel verhehlter Dreistigkeit, seine Unwissenheit zum Prinzip des Wissens (man vergleiche den Schluß des vierten Versuchs); und erhebt die Gewohnheit zur Ursache (!) des ansich nichtigen Kausalbegriffs, - wodurch Kant verleitet wurde, die Anwendung desselben auf die Zeitfolge zu beschränken, die mit der Kausalität gar nichts Wesentliches gemein hat.

§ 23. Wir glauben die Körper wahrzunehmen als ausgedehnt nach Länge, Breite, Dicke. Allein gesehen und gefühlt haben wir nur die Oberflächen; wie nun, wenn Nichts dahinter wäre? - Wollen wir das Innere aufbrechen, aufschneiden: so kommt eine neue Oberfläche zum Vorschein; und wieder eine neue, falls wir auch diese durchdringen wollten um ins Innere zu gelangen. Das Solide entzieht sich immer den Sinnen. Woher wissen wir denn von einem solchen?

Also nur Flächen hätten wir wahrgenommen. Auch das ist nicht zuviel behauptet; weder Flächen noch auch nur Linien sind unseren Sinnen gegeben. Denn die Summe des Gefärbten welches wir sahen, oder die Summe des Widerstandes den wir fühlten, ist als bloße Summe überall nichts Ausgedehntes, nichts Gestaltetes. (Hier mag man sich noch aus der Geometrie erinnern, daß ein gegebenes Quantum Länge oder Fläche gar vielerleit Gestalten haben kann; ganz ohne Gestalt aber ist es ein Abstraktum, das sich nur verständlich machen läßt, indem man ihm irgendeine Gestalt willkürlich leiht.) Entfernungen müßten wir wahrnehmen, um das Auseinander wahrnehmen zu können. Aber die leere Entfernung ist nicht sichtbar, sie hat keine Farbe; hinwiederum den farbigen Stellen ist es nicht anzusehen, wie weit sie von einander entfernt sind. Man rücke zwei Körper näher oder ferner: das eigentlich Sichtbare an ihnen bleibt dasselbe.

Anmerkung. Sowohl in Anbetracht dieser, als auch der nächstfolgenden Zweifel kann man sich im Voraus merken, daß dieselben nur notwendige Versuche im Denken sind, und daß sie in der Folge gehoben werden. Die Erfahrung ist allerdings auch ihrer Form nach, und zwar in voller Bestimmtheit, gegeben; also z. B. nicht bloß Räumliches überhaupt, sondern in genau begrenzten Gestalten und Zwischenräumen ist es gegeben. Vergleiche unten die ersten Paragraphen des vierten Abschnitts. Allein der Zweifel ist äußerst scheinbar, und in vieler Hinsicht von wichtigen Folgen.

§ 24. Es ist leicht, ähnliche Betrachtungen auf die Zeit zu übertragen. Daß zwei Töne einander schneller oder langsamer folgen: wie erfahren wir es? Die leere Zeit zwischen beiden ist nicht hörbar. Das Hörbare sind die Töne; aber niemand wird behaupten, daß in einem Klang selbst die Distanz des einen vom andern vernommen wird; oder daß die veränderte Distanz den Klang verändert. - Dasselbe gilt von allem, was wir in bestimmter Sukzession wahrzunehmen behaupten.

§ 25. Zu den allerwichtigsten Bestimmungen der Dinge, welche wir als aus der Erfahrung erkannt allgemein annehmen, gehört die Aggregation ihrer Merkmale. Demselben Metall schreiben wir zu, daß es schwer, dehnbar, klingend, glänzend ist. Hier ist es von Neuem nötig, die Materie des Gegebenen von dessen Form zu unterscheiden. Angenommen, es sind zwei Metalle in der Erfahrung gegeben, so ist die Summe aller Merkmale von beiden Metallen die Materie des Gegebenen, die Verteilung dieser Merkmale in zwei Gruppen aber die Form. Nun beruth auf der Gruppierung, oder auf der Form, ganz wesentlich die Auffassung des Dings selbst. Wir würden z. B. weder Gold noch Silber erkennen, wenn die Erfahrung es unbestimmt ließe, ob wir die spezifische Schwere des Goldes mit der gelben oder mit der weißen Farbe, ob wir den Klang des Silbers mit der weißen oder mit der gelben Farbe zu Merkmalen eines Dings verbunden denken sollten? Wir behaupten allerdings, daß die Beobachtung lehrt, daß das spezifisch Schwerere zugleich das Gelbe ist, das Klingendere zugleich das Weiße. Wie lehrt sie denn dieses? - Was sie lehrt und gibt: das sind die einzelnen Merkmale selbst, und nichts anderes. Diese müßten also die Nachweisung der Gruppierung in sich enthalten. Aber niemand kann behaupten, man fühle mit der Schwere, und durch dieselbe, die Notwendigkeit, dieses Schwere zugleich für gelb zu halten; oder man sehe mit der gelben Farbe und durch dieselbe, die Notwendigkeit, das Gelbe für so und so schwer anzuerkennen. Ebensowenig weist uns beim Silber der Klang auf die Farbe, oder die Farbe auf den Klang. Wie in diesem Beispiel, so im Hinblick auf alle Dinge mit einer Mehrheit von Merkmalen. Wir haben zwar die Merkmale, aber nicht ihre Vereinigung wahrgenommen. Wir behaupten dennoch eine Vereinigung, und zwar bestimmt diese und keine andere. Da sie nicht wahrgenommen ist, so muß sie hinzugedacht sein, wir wissen aber nicht mit welchem Recht.

Anmerkung. Der Inhalt des vorhergehenden Paragraphen ist selbst von geübten Denkern viel zu wenig erwogen worden. Man muß es Locke zum besonderen Verdienst anrechnen, daß er sehr nachdrücklich und wiederholt die Leerheit unserer Begriffe von Substanzen, und die gänzlich zufällige Anhäufung der sinnlichen Merkmale rügt, durch die wir jene zu erkennen glauben. (Man sehe Lockes "Versuch über den menschlichen Verstand", Buch II, Kapitel 23 und andere Stellen.) Dagegen kontrastiert die Unbehutsamkeit, mit der die Wolffische Schule die Mehrheit von Attributen und Modifikationen in der Einheit der Wesen ganz unbedenklich voraussetzt. Man sehe z. B. Alexander Baumgartens "Metaphysik" § 37 und öfter, welches Buch hier deshalb aufgeführt wird, weil es zu einer kurzen Übersicht der Leibniz-Wolffischen Philosophie, so wie sie in den Schulen ausgebildet wurde (nicht zur näheren Bekanntschaft mit Leibniz selbst, den man vielmehr aus seinen eigenen Schriften studieren muß), vorzüglich bequem ist.

§ 26. Hierher gehört auch die Überlegung, inwiefern man aus der Erfahrung (z. B. durch physikalische Experimente) lernen kann, daß gewissen Veränderungen gewisse Ursachen zugehören. Gesetzt, man nehme wahr, daß auf das Anschlagen des Stahls an den Kiesel ein Funke erfolgt: so hat man höchstens die Zeitfolge (und dies wäre nach § 24. schon zuviel eingeräumt), aber nicht den notwendigen Zusammenhang der Ursache mit der Wirkung wahrgenommen; nicht das Eingreifen des Wirkenden in das Leidende.

Anmerkung. Räumt man hierbei ein, daß die Zeitfolge gegeben ist (und man muß es in der Tat einräumen, gemäß der Anmerkung zu §23), so befindet man sich auf dem Standpunkt des Hume. Unter dieser Voraussetzung muß man auch das einräumen, daß die Identität des veränderten Gegenstandes vor und nach der Veränderung, in der Erfahrung gegeben ist. Dies geschieht zwar genau genommen nur dadurch, daß die spätere Auffassung (nach der Veränderung) sich mit der früheren, von ihr reproduzierten oder festgehaltenen, vereinigt; allein ohne dies gäbe es gar keine Zusammenfassung des Sukzessiven, folglich auch nicht einmal eine Wahrnehmung der Sukzession. Ist aber die Identität des Gegenstandes, zugleich mit der Veränderung in einigen seiner Merkmale, gegeben: so ist auch der Widerspruch gegeben, von dem weiter unten, im vierten Abschnitt, weiter die Rede sein wird; und es ist eine bloße Gedankenlosigkeit, diesen Widerspruch nicht zu bemerken. In der Tat fühlt ihn der gemeine Verstand sehr gut; daher der Kausalbegriff.

§ 27. Viel weniger können die zweckmäßigen Formen der Naturgegenstände sich der Frage entziehen, ob die Zweckmäßigkeit wahrgenomen wird oder hinzugedacht ist? - Hier ist es am leichtesten, und am schädlichsten, sich an die Ansicht ernsthaft zu gewöhnen, die Formen seien nur hinzugedacht; doch muß man der Konsequenz gemäß über diese Formen nicht anders entscheiden, als über die vorigen.

§ 28. Alle unsere Vorstellungen schreiben wir uns selbst zu; wir sehen sie an als in unserem Bewußtsein verbunden. Können wir denn wohl dieses Band wahrnehmen? - Die Vorstellungen selbst geben sich (zumindest dem bei weitem größten Teil nach) ebensowenig als Verbundene zu erkennen, wie die einzelnen Merkmale eines Dings auf ihr Aggregation hinweisen. Was aber die Vorstellung Ich anlangt, die wir an all unser Vorgestelltes, als an das Unsrige, gleichsam von außen anheften können, um es dadurch, als ob es von einem Gefäß umfaßt wäre, anzusehen: von diesem Ich wird weiter unten gezeigt werden, daß es offenbare und vielfältige Widersprüche enthält; vorläufig kann man sehr leicht bemerken, daß man eigentlich nicht weiß, was man sich vorstellt, indem man sich selbst vorstellt; weil hier eine Menge von Zufälligkeiten abzusondern sind, nach deren Weglassung nichts deutliches übrig bleibt.

Anmerkung. Kant bemerkte, daß die Einheit des Bewußtseins die Bedingung ist, unter welcher allein das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung sich in den Begriff eines Objekts vereinigen kann. Das: Ich denke, sagt er, muß alle meine Vorstellungen begleiten können, sonst würden sie nicht durchgängig zu mir gehören. - Unglücklicherweise knüpfte Kant hieran einen Irrtum, indem er die Verbindung der Vorstellungen (ohne Beweis) von einer Handlung der Synthesis, und einem Bewußtsein dieser Synthesis, ableiten wollte. Hierin liegt der erste Anlaß mannigfaltiger Verirrungen in der neuesten Philosophie; indem sowohl Reinhold als auch Fichte denselben Irrtum immer weiter trieben und dadurch den Gipfel zu erreichen meinten, von wo aus sich alle Philosophie überschauen und bestimmen läßt. Man vergleiche die ersten Grundsätze in Reinholds "Theorie des Vorstellungsvermögens" und in Fichtes "Wissenschaftslehre" mit dem §16f in Kants "Kritik der reinen Vernunft".

§ 29. Man kann vom Ursprung der Formen unserer Vorstellungen allerlei Meinungen fassen, und man hat sie gefaßt: aber die gerade und natürlichste Folge aus dem Vorgetragenen ist der Zweifel, ob nicht die sämtlichen Formen, welche wir für wahrgenommen hielten, und dennoch beim Durchsuchen des Wahrgenommenen nicht auffinden konnten, leere Einbildungen sind, von welchen sich loszumachen, der erste Schritt zur Weisheit ist? - In diesem Fall müssen wir bekennen, daß die ganze Natur, ja unser eigenes Selbst, zerstört vor uns liegt, weil alle Merkmale, an welchen wir die Dinge und uns selbst erkannten, aus ihren Fugen geraten sind.

Hofft man von diesem, in der Tat unerträglichen Zweifel sich zu befreien: so muß zu allererst das Faktum wiederum festgestellt werden, daß jene Formen wirklich wahrgenommen werden. Eine viel spätere Frage ist, wie diese Wahrnehmung möglich ist? Jenes gehört in den Anfang der allgemeinen Metaphysik; das letztere in die Psychologie.

§ 30. Die Skepsis, so wie sie bisher dargestellt wurde, bezieht sich auf die Prinzipien, indem sie zweifelt, ob feste Anfangspunkte unseres Wissens überall zu finden sind. Man kann damit noch Betrachtungen verbinden, welche zweifelhaft machen, ob im Fall, daß Prinzipien wirklich vorhanden sind, sich Methoden für ein fortschreitendes Denken würden finden lassen.

Erstens: Der leichteste und vielfältig eingeschlagene Weg des fortschreitenden Denkens ist die Induktion. Diese bildet allgemeine Sätze aus dem, was sich in vielen Erfahrungen gleichmäßig wiederholt. Prüft man aber die Gewißheit und den Gehalt solcher allgemeiner Sätze: so sieht man sogleich, daß sie entweder nichts mehr ausdrücken als nur die Summe der einzelnen Erfahrungen; und dann liefern sie höchstens eine bequeme Übersicht, aber keine neue Erkenntnis; oder daß sie mehr enthalten sollen, als den abgekürzten Ausdruck einer bestimmten Menge von Erfahrungen, denen sie abgewonnen wurden; und dann ist dieses Mehr eine offenbare Erschleichung; sofern nicht irgendein neuer Rechtsgrund hinzukommt, durch allgemeine Erfahrungssätze die Summe der wirklich gemachten Erfahrungen zu überschreiten. Die Induktion, wenn sie unvollständig ist, präsumiert [vermutet - wp] nur das Vorhandensein einer allgemeinen Regel; welche alsdann analogisch auf neue vorliegende Fälle ausgedehnt wird. Ob eine solche Präsumtion dem Gegenstand angemessen ist: das läßt sich im Allgemeinen nicht bestimmen. Wo man zu irgendeiner Entscheidung genögtig ist, um handeln zu können: da begnügt man sich oft genug mit den unsichersten Analogien; aber diese unvermeidliche Gewohnheit darf doch in das Streben nach philosophischem Wissen keinen Eingang finden.

In der Naturforschung gilt die Voraussetzung: die Natur sei sich selbst getreu; man dürfe daher auf gleiche Erfolge unter gleichen Umständen rechnen; folglich gibt es eine Regelmäßigkeit in der Natur, die sich durch die Vergleichung ähnlicher Fälle entdecken läßt. Dies veranlaßt zu der Meinung: man müsse sich die Regelmäßigkeit möglichst groß, die Regeln möglichst umfassend, oder die Anzahl der Gründe im Verhältnis gegen die Menge der Folgen möglichst klein denken. Denn in der Natur sind alle Folgen jedes Grundes gegeben. Man vergißt hier zweierlei: erstens, daß nicht alle Folgen, welche wirklich aus ihren Gründen hervorgehen, uns gegeben sind; zweitens, daß sehr viele Naturwirkungen einander gegenseitig zerstören; wodurch sich ihre Menge vermindert. Die ganze Maxime, welche man wohl das Gesetz der Sparsamkeit genannt hat, ist schon deshalb höchst unsicher.

Anmerkung. Der Gegenstand, von welchem hier, und im folgenden Paragraphen die Rede ist, kann hier, im Anfang der Einleitung, nur berührt, nicht ausgeführt werden. Es ist zwar sehr leicht zu verstehen, daß Kant (im Anfang der "Kritik der reinen Vernunft") analytische Sätze, deren Prädikat schon im Subjekt liegt, unterschieden hat von synthetischen, die im Prädikat einen neuen Begriff, entweder a posteriori oder a priori, herbeiführen, und im letzteren Fall durch bloßes Nachdenken unsere Erkenntnis erweitern sollen. Allein das Unbefriedigend und Gehaltlos einer bloß analytischen Art zu philosophieren (dergleichen war großenteils die ältere Schulphilosophie, z. B. die Wolffische), kann und soll ein Anfänger noch wenig empfinden; ihm bringt eine solche Lehrart immer noch den Gewinn, seine Gedanken zu verdeutlichen; woran es neuerlichst selbst einigen nahmhaften Schriftstellern gar sehr zu fehlen scheint. Überdies wird die Frage nach der Möglichkeit der Demonstration immer nur in dem Maße richtig beantwortet werden, als man die Prinzipien gehörig auffaßt, und ihnen die Möglichkeit ansieht, sie in Untersuchungen zu bearbeiten. Fehlt es daran, und das ist meistens der Fall, so helfen alle Untersuchungen über die Form der Wissenschaft zu gar nichts; sie sind nur eine Aussaat von Mißverständnissen.

§ 31. Zweitens: ein Rechtsgrund zu einer Synthesis a priori scheint kaum denkbar. Denn was ein jedes Prinzip an Erkenntnis und Gewißheit enthalten mag, das ist, so scheint es, sein eigener Inhalt; es läßt sich aber gar nicht absehen, wie diese Gewißheit, sich selbst überschreitend, eine andere von ihr verschiedene ergeben sollte. Gesetzt, dies geschähe, so wäre das sich selbst überschreitende Wissen sich selbst nicht gleich; es wäre ein anderes vor dem Überschreiten, ein anderes im Überschreiten, ein anderes nach dem Überschreiten; es wäre also im Widerspruch mit sich selbst.

§ 32. Das eben erhaltene Resultat, weit entfernt, die Hoffnungen der Philosophie niederzuschlagen, ergibt vielmehr, in Verbindung mit dem in § 29 erwähnten Faktum den wahren und bestimmten Aufschluß über die Möglichkeit der Metaphysik. Nämlich die Formen der Erfahrung sind wirklich gegeben; aber sie sind von der Art, daß sie widersprechende Begriffe liefern. Indem diese Widersprüche im Denken verbessert werden, erweitert sich die Erkenntnis; und die Methode besteht also zugleich in einer Berichtigung und einer Ergänzung der Prinzipien. Die Beweise dessen, was hier historisch gesagt ist, können aber erst am Ende der Einleitung, und zum Teil erst in der Metaphysik selbst, ihren Platz finden. In der letzteren ist auch die Erklärung vom fortschreitenden Denken in der Mathematik zu suchen, welches großenteils durch die mannigfaltigen, in den Größenbegriffen enthaltenen Beziehungen möglich wird.

Anmerkung. Das Erste also, was sich aus dem Vorstehenden ergibt, ist die Aussicht auf einen langen - der Ungeduld zumindest lang scheinenden Weg; welcher, wenn er gerade geht, sehr viel kürzer ist als die Umwege derer, die von den Bedingungen einer regelmäßigen Untersuchung nichts verstehen. Das Zeitalter ist unglaublich verwöhnt worden durch diejenigen, welche kurz und gut ein Prinzip und eine Methode setzten; wodurch sie nichts weiter erreichen konnten, als was erreicht worden ist; nämlich eine Verschrobenheit der Wissenschaften, soweit sie von dieser Manier mißhandelt wurden; und eine Scheu der Meisten vor dem Namen Philosophie. Durch eine regelmäßige Untersuchung wird sich diese Scheu wieder verlieren. Dazu gehört aber, daß man die Schwierigkeiten kennt, und nicht überspringt; ferner daß man der Logik nicht Trotz bietet, sondern ihren Warnungen Gehör gibt; überdies, daß man ästhetische und sittliche Wertbestimmungen nicht in metaphysische Erkenntnisse umdeutet; schließlich, daß man die Erfahrung als den Grund und Boden der Metaphysik anerkennt und nicht anstatt desselben sich in Luftschlössern ansiedelt.

§ 33. Wenn aber jemand aus den angegebenen Zweifeln keinen Ausweg findet, wenn er sie vielleicht nicht einmal vollständig durchschaut oder endlich sie ganz ignoriert, so muß dies auf all sein Denken und auf seine ganze Ansicht von der Welt einen entscheidenden Einfluß haben. Sogar auf das Praktische wird dieser Einfluß sich erstrecken. Denn wer nichts gewiß zu wissen glaubt, der getraut sich weder die Dinge zu behandeln, die er dabei als bekannt voraussetzen müßte, noch die Grundsätze festzustellen, nach denen er sie behandeln sollte. Das Letztere jedoch ist, im Hinblick auf die ersten Grundsätze keine notwendige Folge, sondern nur eine Schwachheit der Menschen. Denn die ästhetischen Urteile, auf welchen die praktische Philosophie beruth, sind unabhängig, wie oben bemerkt (§ 8), von jeder Realität irgendeines Gegenstandes: so daß sie selbst mitten unter den allerstärksten metaphysischen Zweifeln mit einer unmittelbaren Gewißheit hervorleuchten.

Wer aber die Zweifel entweder nicht in ihrer Stärke kennt, oder wer sie überwunden hat, wird sich ein System der Philosophie zu bilden unternehmen können. Des angegebenen Unterschiedes wegen zerfallen die Systeme im Allgemeinen in Empirismus und Rationalismus, jene jenseits, diese diesseits des Zweifels, nämlich aus dem Standpunkt der Philosophie als Wissenschaft betrachtet.


Anmerkung. Der Unterschied liegt also nicht etwa darin, als ob der Rationalismus die Erfahrung verschmäht und sie überspringt, der Empirismus sie aber gehörig in Ehren hält. Sondern darin, daß der Empirist nicht zu zweifeln gelernt hat, daß er die Begriffe der Erfahrung nicht kritisch behandelt, daß er sich deshalb erlaubt, die Seele und die Materie mit so vielen Kräften zu begaben, als er Klassen von Erscheinungen vorfindet; und daß er nun meint, diese Kräfte aus der Erfahrung selbst zu kennen, während die Erfahrung von Kräften nie etwas sagt noch sagen kann. Der Empirist wird, ehe er es merkt, durch Erschleichungen zum falschen Rationalisten.

Der heutige Rationalismus aber ist zweifach geteilt; er hat entweder die spinozistische oder die kantische Richtung. Zu vorläufiger, bloß historischer Erläuterung kann man hierüber dem Anfänger etwa Folgendes sagen:
    1) Das allgemeine Verlangen des Philosophierenden besteht darin, über sich und seine nächste Begrenzung hinauszuschauen; seinen Blick zu erweitern. Wohin denn? In die Natur im Großen. Die Einzelheiten der Physik genügen ihm nicht; sie entfernen ihn überdies von sich selbst.
    2) Nun bietet ihm Spinoza: "cognitionem unionis, quam mens cum tota natura habet" [das Wissen um die Einheit, die der Geist mit der ganzen Natur besitzt - wp]. Er behauptet ferner: res nullo alio modo neque alio ordine a Deo produci potuerunt, quam productae aunt." [Die Dinge könnten auch von Gott auf keine andere Weise und in keiner anderen Reihenfolge produziert werden, als sie produziert wurden. - wp] (vgl. § 116)
    3) Denjenigen aber, der solche Behauptungen wagt, zieht die kantische Kritik wegen der Möglichkeit seines vorgeblichen Wissens zur Rechenschaft.
Dieser Streit dauert nun noch fort. Denn einerseits kannte Spinoza nicht die heutige Physik und besaß nicht die heutige ästhetische Bildung; andererseits sind Kants Schriften nicht unmittelbar gegen Spinoza gerichtet. Daraus entstand neue Arbeit für die Nachfolger auf beiden Seiten. Diese Arbeit wird erschwert durch den Umstand, daß Kant sich in seinen Darstellungen einer alten, dem Empirismus angehörigen Psychologie bedient hat; und daß Manche seiner Anhänger zu nachgiebig, teils gegen Fichtes Lehre vom Ich, teils gegen den spinozistischen Parallelismus zwischen Natur und Geist gewesen sind. Ausführlicher über den Streit der heutigen Systeme zu reden, scheint der allgemeinen Propädeutik noch nicht angemessen.
LITERATUR - Johann Friedrich Herbart, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, Königsberg 1834