cr-4 Über den GlaubenHume als NominalistHumes Kausalitätstheorie    
 
DAVID HUME
Eine Untersuchung
über den menschlichen Verstand


"Sorgfältiges und richtiges Urteilen ist das einzige allen Personen und allen Verhältnissen angepaßte Universalheilmittel und allein fähig, jene dunkle Philosophie und jenes metaphysische Kauderwelsch zu zerstören, das, mit Volksaberglauben vermischt, das Ganze sorglosen Denkern gewissermaßen undurchdringlich macht und ihnen das Ansehen von Wissenschaft und Weisheit verleiht."

Erster Abschnitt
Von den verschiedenen Gattungen
der Philosopie

Philosophie als Geisteswissenschaft oder die Wissenschaft von der menschlichen Natur läßt sich nach zwei verschiedenen Weisen behandeln, deren jede ihr besonderes Verdienst hat und zur Unterhaltung, Belehrung und Besserung der Menschheit beizutragen vermag. Die eine betrachtet den Menschen hauptsächlich als zur Tätigkeit geboren; in seinen Schätzungen von Geschmack und Gefühl beeinflußt; ein Ding erstrebend und ein anderes vermeidend, gemäß dem Wert, den diese Dinge zu besitzen scheinen, und dem Licht, worin sie sich darstellen. Da die Tugend als aller Dinge wertvollstes anerkannt wird, malen diese Gattungen von Philosophen sie in den liebenswürdigsten Farben. Sie leihen von Poesie und Beredsamkeit alle Hilfsmittel, behandeln ihren Gegenstand in leichter, entgegenkommender Weise und so, wie es am bequemsten ist, die Einbildungskraft zu ergötzen und das Gemüt zu fesseln. Sie wählen die schlagendsten Beobachtungen und Beispiele aus dem gewöhnlichen Leben, stellen entgegengesetzte Charaktere in einen passenden Gegensatz, und durch Aussichten auf Rum und Glück uns auf die Pfade der Tugend lockend leiten sie unsere Schritte durch die richtigsten Vorschriften und glänzendsten Beispiele dorthin.  Fühlen  lassen sie uns den Unterschied zwischen Laster und Tugend, erreigen und regulieren unsere Gefühle, und können sie nur unsere Herzen zur Liebe von Redlichkeit und wahrhafter Ehre geneigt machen, so glauben sie das Ziel all ihrer Arbeiten voll erreicht zu haben.

Die andere Gattung von Philosophen betrachtet den Menschen eher im Licht eines denkenden als eines tätigen Wesens und strebt mehr danach seinen Verstand zu bilden als seine Sitten zu veredeln. Sie halten die menschliche Natur für einen Spekulationsgegenstand und untersuchen sie mit prüfender Genauigkeit, um jene Prinzipien zu finden, die unseren Verstand regulieren, unsere Gefühle anregen und uns veranlassen, irgendeinen einzelnen Gegenstand, eine Handlung oder Haltung zu billigen oder zu tadeln. Sie fassen es als Vorwurf für die ganze Literatur, daß die Philosopie noch nicht die Begründung von Moral, Beweisführung und Kritik über jeden Streit hinaus gefestigt habe und ewig von Wahrheit und Falschheit, Laster und Tugend, Schönheit und Häßlichkeit spreche, ohne die Quelle dieser Unterscheidungen bestimmen zu können. Beim Vesuch dieser hohen Aufgabe werden sie durch keine Schwierigkeiten abgeschreckt. Schreiten sie aber von besonderen Fällen zu allgemeinen Prinzipien fort, so geraten sie bei ihren Forschungen auf immer allgemeinere und bleiben nicht eher befriedigt, als bis sie zu jenen ursprünglichen Prinzipien gelangen, durch die in jeder Wissenschaft aller menschlichen Wißbegierde unvermeidlich Schranken gesetzt sind. Wenngleich ihre Spekulationen abstrakt und dem gewöhnlichen Leser sogar unverständlich scheinen, trachten sie doch nach Billigung der Gelehrten und Weisen. Und gelingt ihnen die Entdeckung einiger verborgener Wahrheiten, die zur Belehrung der Nachwelt beitragen können, glauben sie sich für ihr ganzes Lebenswerk hinlänglich entschädigt.

Es ist sicher: jene leichte, entgegenkommende Philosophie wird bei den meisten menschen stets den Vorzug vor der genauen und dunklen behaupten; und von vielen wird sie nicht nur als angenehmer, sondern auch als nützlicher denn die andere empfohlen werden. Sie dringt mehr ins gemeine Leben ein, bildet Herz und Gemüt, und durch ihre Behandlung jener Prinzipien, welche die Menschen antreiben, bessert sie ihr Betragen und bringt sie dem Muster von Vollendung näher, das sie beschreibt. Die dunkle Philosophie hingegen, auf eine nicht in Geschäft und Handlung eingreifende Geistesrichtung begründet, verschwindet, wenn der Philosoph aus den Schatten in den hellen Tag tritt, und ihre Prinzipien können nicht leicht einen Einfluß auf unser Betragen und Gehaben ausüben. Die Gefühle unseres Herzens, die Wallung unserer Leidenschaften, die Gewalt unserer Neigungen zerstreuen all ihre Schlüsse und würdigen den tiefsinnigen Philosophen zu einem reinen Plebejer herab.

Auch muß zugegeben werden, den dauerndsten und rechtmäßigsten Ruhm hat jene leichte Philosophie erworben, und die abstrakten Denker scheinen bisher wegen des Eigensinns oder der Unwissenheit ihres Zeitalters nur ein Augenblicksansehn genossen zu haben, ohne daß sie imstand gewesen wären, ihren Ruf bei der unparteiischeren Nachwelt aufrecht zu erhalten. Es ist für einen tiefdenkenden Philosophen leicht, in seinen heiklen Beweisführungen einen Fehler zu begehen; und  ein  Fehler ist notwendig der Vater eines anderen, weil jener Philosoph zu seinen Konsequenzen forttreibt und von der Annahme eines Schlußsatzes nicht durch dessen ungewöhnlichen Schein oder Widerspruch mit der Volksmeinung abgeschreckt wird. Wenn aber ein Philosoph, der nur bezweckt, den gesunden Menschenverstand in schöneren und einnehmenderen Farben darzustellen, zufällig in einen Irrtum verfällt, geht er nicht weiter, sonder erneuert seine Berufung an den gesunden Menschenverstand und die natürlichen Gefühle des Geistes, kehrt auf den rechten Pfad zurück und schützt sich vor jeder gefährlichen Täuschung. CICEROs Ruhm blüht noch gegenwärtig; doch der des ARISTOTELES ist gänzlich dahin. La BRUYÉRE behauptet sein Ansehen noch jenseits der Meere; der Ruhm des MALEBRANCHE aber ist auf sein eigenes Volk und sein eigenes Zeitalter beschränkt. Und ADDISON wird vielleicht noch mit Vergnügen gelesen werden, wenn LOCKE völlig vergessen ist. (1)

Der reine Philosoph ist ein Charakter, der in der Welt gewöhnlich nur wenig willkommen ist, weil man von ihm voraussetzt, er trage nichts zum Nutzen noch zum Vergnügen der Gesellschaft bei. Er lebt abgeschlossen vom Verkehr mit Menschen und hüllt sich in Prinzipien und Begriffe, die ihrer Fassungskraft gleich fern liegen. Andererseits ist der reine Ignorant noch mehr verachtet. Nichts wird in einem Zeitalter und Volk, wo die Wissenschaften blühn, für ein untrüglicheres Zeichen eines unedlen Geistes gehalten, als die völlige Blöße von jedem Geschmack für jene vornehmen Unterhaltungen. Der vollkommendste Charakter liegt, wie man annimmt, zwischen beiden Extremen: er behält einen gleichen Sinn und Geschmack für Bücher, Gesellschaften und Geschäfte; er bewahrt im Umgang jene Scharfsicht und Feinheit, wie sie aus den schönen Wissenschaften hervorgehn, und in Geschäften jene Redlichkeit und Genauigkeit - das natürliche Ergebnis einer richtigen Philosophie. Um einen so vollendeten Charakter zu verbreiten und zu pflegen, kann nichts nützlicher Sein als Werke der gefälligen Schreibart und Manier, die nicht zu sehr vom Leben abziehn, zum Verständnis keine tiefe Aufmerksamkeit oder Abgeschiedenheit verlangen und den Lernenden voll edler Gesinnungen und weiser Vorschriften - verwendbar für jede Anforderung des menschlichen Lebens - unter die Menschen zurückschicken. Durch solche Werke wird die Tugend liebenswert, die Wissenschaft angenehm, die Gesellschaft belehrend und die Einsamkeit unterhaltend.

Der Mensch ist ein vernünftiges Wesen; als solches empfängt er von der Wissenschaft seine geeignete Speise und Nahrung. So eng aber sind die Grenzen des menschlichen Verstandes, daß in diesem Punkt wenig Befriedigung erhofft werden kann, weder von der Weite noch von der Sicherheit seiner Erwerbungen. Der Mensch ist nicht weniger ein geselliges als ein vernünftiges Wesen: dennoch kann er sich weder immer einer angenehmen und unterhaltenden Gesellschaft erfreuen noch den geeigneten Geschmack für sie bewahren. Der Mensch ist auch ein tätiges Wesen; und bei dieser Anlage nicht minder wie bei den mannigfachen Bedürfnissen des menschlichen Lebens muß er sich der Berufsarbeit unterwerfen: der Geist aber bedarf einer Erholung und kann sich nicht immer auf Erwerbssorge gespannt halten. So hat, wie es scheint, die Natur auf eine gemischte Lebensweise, als die dem Menschengeschlecht zuträglichste, hingewiesen und es heimlich gewarnt, sich von keiner dieser Neigungen allzu sehr  anziehn  zu lassen und dadurch für andere Beschäftigungen und Unterhaltungen unfähig zu werden. Befriedigt euren Eifer nach Wissenschaft, sagt sie, aber laßt euer Wissen menschlich sein, damit es einen direkten Bezug zu Tätigkeit und Gesellschaft habe. Dunkle Gedanken und unergründliche Untersuchungen verwehre ich und werde sie streng bestrafen durch schwermütige Melancholie, die sie nach sich ziehn, durch endlose Ungewißheit, in die sie euch stürzen, und durch kalte Aufnahme, die eure vorgeblichen Entdeckungen, falls mitgeteilt, finden werden. Sei Philosoph, aber inmitten all deiner Philosophie sei noch Mensch!

Wäre der größte Teil der Menschheit einverstanden, die leichte Philosophie der abstrakten und abgründlichen vorzuziehn, ohne auf diese irgendeinen Tadel oder eine Verachtung zu werfen, so könnte es vielleicht nicht unpassend sein, dieser allgemeinen Meinung zu willfahren und jeden Menschen, ohne Widerstand, sich an seinem eigenen Geschmack und Gefühl weiden zu lassen. Allein da die Sache oft weiter geführt wird, sogar bis zur völligen Verwerfung aller tiefgründigen Betrachtungen oder dessen, was gewöhnlich  Metaphysik  heißt, machen wir uns jetzt daran, zu überlegen, was sich vernünftigerweise zu ihrer Verteidigung anführen läßt. Wir können mit der Beobachtung beginnen: ein bedeutender Vorteil, der aus der genauen und abstrakten Philosophie entspringt, ist ihre Dienlichkeit für die leichte und gemein menschliche. Diese kann ohne jene nie einen genügenden Grad von Genauigkeit in ihren Meinungen, Vorschriften oder Beweisführungen erreichen. Die ganze schöne Literatur besteht aus nichts als Gemälden des menschlichen Lebens in mannigfachen Stellungen und Lagen und flößt uns, je nach den Eigenschaften des Gegenstandes, den sie vorführt, verschiedene Gefühle ein, wie Lob oder Tadel, Bewunderung oder Spott. Einem Künstler muß dieses Unternehmen besser glücken, besitzt er neben zartem Geschmack und lebendiger Auffassung eine genaue Kenntnis vom inneren Bau, den Verrichtungen des Verstandes, dem Spiel der Leidenschaften und den mannigfaltigen Gefühlsarten, die Tugend und Laster unterscheiden. Wie mühsam auch das inwendige Suchen oder Forschen erscheinen mag, ist es doch in gewissem Maß für jene erforderlich, die mit Erfolg die sichtbaren, äußerlichen Erscheinungen von Leben und Sitten schildern wollen. Der Anatom stellt dem Auge die schrecklichsten und unangenehmsten Gegenstände dar; seine Wissenschaft aber ist dem Maler selbst beim Entwerfen einer  Venus  oder  Helena  nützlich. Während dieser all die so reichen Farben seiner Kunst anwendet und seinen Gestalten die anmutigsten und einnehmendsten Mienen verleiht, muß er seine Aufmerksamkeit noch auf die innere Bildung des menschlichen Körpers, die Lage der Muskeln, den Bau der Knochen und den Gebrauch und die Gestalt jedes Teiles oder Organes richten. Genauigkeit ist in jedem Fall der Schönheit günstig, wie richtiges Denken den zarten Gefühlen. Eitelkeit, eins herabzusetzen, um das andere zu erhöhen!

Außerdem können wir in jeder Kunst, in jedem Beruf, selbst in denen, die das tätige Leben am meisten angehen, bemerken, daß ein Pünktlichkeitsgeist, wie auch immer erworben, sie alle ihrer Vollkommenheit näher bringt und den Interessen der Gesellschaft dienlicher macht. Und obgleich ein Philosoph auch fern von Geschäften leben kann, muß doch der philosophische Geist, wenn von Einzelnen sorgfältig ausgebildet, allmählich durch die ganze Gesellschaft durchsickern und jeder Kunst, jedem Beruf eine ähnliche Genauigkeit verleihn. Der Politiker wird größere Vorsicht und Scharfsinnigkeit im Verteilen und Ausgleichen der Macht erlangen; der Jurist mehr Methode und feinere Prinzipien in seinen Beweisführungen; und der Feldherr mehr Regelmäßigkeit in seiner Disziplin, mehr Behutsamkeit in seinen Plänen und Unternehmungen. Die Beständigkeit der modernen Regierungen und die Genauigkeit der modernen Philosophie haben im Verhältnis zum Altertum zugenommen und werden wahrscheinlich noch in ähnlichen Steigerungen zunehmen.

Wäre von diesen Studien kein anderer Vorteil als die Befriedigung einer unschuldigen Wißbegierde zu ernten, so sollte doch selbst dies, als ein Zuwachs zu jenen wenigen glücklichen, harmlosen Vergnügungen, die dem Menschengeschlecht gewährt sind, nicht verachtet werden. Der lieblichste und ruhigste Lebenspfad führt durch die Straßen der Wissenschaft und Gelehrsamkeit; und wer immer entweder irgendwelche Hindernisse dieses Wegs entfernen oder irgendeine neue Aussicht eröffnen kann, sollte insofern als Wohltäter der Menschheit geschätzt werden. So peinlich und ermüdend auch diese Untersuchungen erscheinen mögen, geht es mit manchen Geistern ebenso wie mit manchen Körpern, die, mit rüstiger und blühender Gesundheit ausgestattet, eine ernsthafte Übung verlangen und Vergnügen von dem ernten, was dem größten Teil der Menschheit als lästige Bürde erscheinen mag. Dunkelheit ist in der Tat dem Geist nicht minder peinlich wie dem Auge; aber Licht aus Dunkelheit bringen, durch was für eine Arbeit auch immer, welche Lust, welche Freude!

Doch dieser Dunkelheit der tiefsinnigen, abstrakten Philosophie wird nicht bloß das Mühselige und Ermüdende, sondern auch die unvermeidliche Schuld an Ungewißheit und Irrtum vorgeworfen. Hierin liegt in der Tat der begründetste und annehmbarste Einwand gegen einen beträchtlichen Teil der Metaphysik, daß sie nicht eigentlich eine Wissenschaft, sondern entweder aus den fruchtlosen Anstrengungen der menschlichen Eitelkeit entspringe, die in Gegenstände - dem Verstand gänzlich unerreichbar - eindringen möchte, oder aus der Kunst des allgemeinen Aberglaubens, der, unfähig sich auf freiem Feld zu verteidigen, jene wirrigen Dornbüsche zieht, um seine Schwäche zu verdecken und zu beschirmen. Verjagt vom offenen Land, fliehen diese Räuber in den Wald und liegen auf der Lauer, um in jeden unbewachten Zugang des Geistes einzubrechen und ihn mit religiösen Schreckbildern und Vorurteilen zu überwältigen. Der standhafteste Gegner wird unterdrückt, läßt er einen Augenblick in seiner Wachsamkeit nach. Und viele öffnen aus Feigheit oder Unbesonnenheit den Feinden die Tore und empfangen sie freiwillig mit Ehrfurcht und Unterwerfung als ihre rechtmäßigen Gebieter.

Aber ist dies ein genügender Grund, warum die Philosophen von solchen Untersuchungen abstehn und den Aberglauben wieder in seinem Ruhebesitz lassen sollten? Ist es nicht passen, daß man einen entgegengesetzten Schluß zieht und die Notwendigkeit wahrnimmt, den Krieg in die geheimsten Verstecke des Feindes zu tragen? Vergebens hoffen wir, die Menschen werden endlich aus häufig getäuschter Hoffnung derart luftige Wissenschaften verlassen und das eigentliche Gebiet der menschlichen Vernunft entdecken. Denn außerdem, daß viele Menschen ein zu empfängliches Interesse darin finden, solche Themata ständig aufzufrischen, außerdem, sage ich, kann der Beweggrund blinder Verzweiflung vernünftigerweise in den Wissenschaften niemals Platz haben. Denn wie erfolglos sich auch frühere Versuche erwiesen haben mögen, ist doch noch Hoffnung vorhanden, daß Fleiß, Glück oder erhöhter Scharfsinn nachfolgender Generationen reiche Entdeckungen, früheren Zeiten unbekannt, machen können. Stets wird jder wagende Geist, solange er hofft, der Ruhm, ein so hartes Wagnis zu vollbringen, sei für ihn allein aufbewahrt, nach dem hohen Preis haschen und sich durch die Mißerfolge seiner Vorgänger eher angespornt als entmutigt finden. Die einzige Methode, die Gelehrsamkeit auf  einmal  von diesen dunklen Fragen zu befreien, ist: die Natur des menschlichen Verstandes ernsthaft erforschen und mittels einer genauen Analyse seiner Vermögen und Fähigkeiten zeigen, daß er keineswegs solchen fernliegenden und dunklen Sachen angepaßt ist. Wir müssen uns dieser Mühe unterwerfen, um in aller Zukunft gemächlich zu leben, und müssen die wahre Metaphysik mit Sorgfalt betreiben, um die falsche und verderbte zu zerstören. Die Indolenz [Unempfindlichkeit - wp], die etlichen Personen gegen diese trügerische Philosophie Schutz gewährt, wird bei anderen von Wißbegierde übertroffen; und die Verzweiflung, für einige Augenblicke im Übergewicht, vermag nachher zuversichtlichen Hoffnungen und Erwartungen Platz zu machen. Sorgfältiges und richtiges Urteilen ist das einzige allen Personen und allen Verhältnissen angepaßte Universalheilmittel und allein fähig, jene dunkle Philosophie und jenes metaphysische Kauderwelsch zu zerstören, das, mit Volksaberglauben vermischt, das Ganze sorglosen Denkern gewissermaßen undurchdringlich macht und ihnen das Ansehen von Wissenschaft und Weisheit verleiht.

Außer diesem Nutzen der Verwerfung des unsichersten und unangenehmsten Teils der Gelehrsamkeit nach wohlbedachter Forschung gibt es viele positive Vorteile, die einer gründlichen Untersuchung der Vermögen und Fähigkeiten der menschlichen Natur entspringen. Es ist an den Wirksamkeiten des Geistes bemerkenswert, daß sie, obgleich uns so intim gegenwärtig, doch in Dunkelheit gehüllt scheinen, so oft sie Gegenstand der Reflexion werden; und das Auge kann nicht sogleich jene Linien und Grenzen finden, die sie sondern und unterscheiden. Die Gegenstände sind zu fein, um lang in derselben Ansicht oder Lage zu bleiben; sie müssen in einem Augenblick durch einen überlegenen Einblick, der von der Natur herstammt und durch Gewohnheit und Nachdenken vervollkommnet wird, erfaßt werden. Es ergibt sich also ein nicht unbeträchtlicher Teil der Wissenschaft daraus, daß man die verschiedenen Wirksamkeiten des Geistes bar erkenntn, voneinander trennt, unter ihre gehörigen Rubriken klassifiziert und all jene scheinbare Unordnung verbessert, darin sie eingehüllt liegen, wenn zum Gegenstand von Reflexion und Forschung gemacht. Diese Aufgabe des Ordnens und Unterscheidens, von keinem Verdienst gegenüber Körpern der Außenwelt, den Gegenständen unserer Sinne, steigt, wenn auch die Wirksamkeiten des Geistes gelenkt, in ihrem Wert proportional zur Schwierigkeit und Arbei, darauf wir in ihrem Vollzug stoßen. Und können wir über diese Geistesgeographie oder Zeichnung der verschiedenen Teile und Vermögen des Geistes nicht hinaus, ist es wenigstens eine Befriedigung, so weit zu gehen. Je zugänglicher sich diese Wissenschaft zeigen mag (und das ist sie durchaus nicht), für desto verächtlicher müßte immer ihre Unkenntnis bei all denen angesehen werden, die auf Gelehrsamkeit und Philosophie Anspruch erheben.

Auch kann gar kein Verdacht bleiben, daß diese Wissenschaft unsicher und chimärisch sei, wofern wir nicht einen solchen Skeptizismus pflegen wollten, der jede Forschung und selbst jede Handlung völlig zerstört. Es kann nicht bezweifelt werden: der Geist ist mit mannigfaltigem Vermögen und Fähigkeiten ausgestattet; diese Kräfte unterscheiden sich von einander; durch Reflexion kann das unterschieden werden, was für die Urvorstellung wirklich unterschieden ist: und folglich gibt es in allen Behauptungen über diese Sache Wahrheit und Falschheit, und zwar eine, die nicht außerhalb des Bereichs des menschlichen Verstandes liegt. Wir haben viele augenscheinliche Unterscheidungen dieser Art, wie die zwischen Willen und Verstand, Einbildungskraft und Leidenschaften, was jedes menschliche Geschöpf begreifen kann; die feineren, philosophischeren Unterscheidungen sind nicht weniger real und sicher, wenn auch schwerer zu begreifen. Einige Beispiele von Erfolg in diesen Forschungen, zumal in jüngster Zeit, mögen uns einen richtigeren Begriff von der Sicherheit und Zuverlässigkeit dieses Zweigs der Gelehrsamkeit geben. Und werden wir es als würdig der Arbeit eines Philosophen schätzen, uns ein wahres Planetensystem zu geben und die Lage und Ordnung jener entlegenen Körper zu berichten, während wir die Verachtung derer zur Schau tragen, die mit soviel Erfolg die Teile des Geistes zeichnen, daran wir so innig beteiligt sind. (2)

Dürfen wir aber nicht hoffen, daß die Philosophie, mit Sorgfalt gepflegt und durch die Aufmerksamkeit des Publikums ermutigt, ihre Untersuchungen noch weiter führen und wenigstens einigermaßen die geheimen Triebfedern und Prinzipien entdecken kann, wovon der Menschengeist in seinen Wirksamkeiten getrieben wird? Die Astronomen hatten sich lange Zeit begnügt, aus den Erscheinungen die wahre Bewegung, Ordnung und Größe der Himmelskörper zu erweisen - bis zuletzt ein Philosoph erwuchs, der durch das glücklichste Urteil auch die Gesetze und Kräfte bestimmt zu haben scheint, wodurch die Umdrehungen der Planeten beherrscht und gelenkt weren. Das Gleiche ist für andere Teile der Natur geleistet worden. Und es ist kein Grund, am gleichen Erfolg in unseren Forschungen über des Geistes Vermögen und Haushalt, wenn mit gleicher Fähigkeit und Vorsicht verfolgt, zu verzweifeln. Wahrscheinlich ist, daß  eine  Wirksamkeit,  ein  Prinzip des Geistes von einem andern abhängt, das wieder auf ein allgemeineres, umfassenderes zurückzuführen ist; wie weit diese Nachforschungen möglicherweise fortgeführt werden können, wird uns vor oder selbst nach einer sorgfältigen Probe schwer sein genau zu bestimmen. Dies ist gewiß: derartige Versuche werden täglich selbst den am nachlässigsten Philosophierenden gemacht; und nichts kann erforderlicher sein, als dieses Unternehmen mit vollkommener Sorgfalt und Aufmerksamkeit anzufangen, auf daß es, wenn innerhalb des Bereichs des menschlichen Verstandes gelegen, endlich glücklich vollbracht, wenn nicht, so doch mit etwas Vertrauen und Sicherheit verworfen werde. Dieser letzte Schluß ist sicherlich weder wünschenswert, noch sollte er allzu übereilt ergriffen werden. Denn wieviel müßten wir nicht, bei einer solchen Voraussetzung, von der Schönheit und dem Wert dieser Gattung Philosophie abziehen? Die Ethiker haben sich bisher daran gewöhnt, wenn sie die weite Menge und Verschiedenheit jener Handlungen betrachten, die bei uns Billigung oder Mißfallen erregen, nach einem allgemeinen Prinzip zu suchen, wovon diese Mannigfaltigkeit der Gesinnungen abhängen könnte. Und obgleich sie zuweilen die Sache durch ihre Leidenschaft für irgendein allgemeines Prinzip zu weit führten, muß doch zugegeben werden, daß ihre Erwartung, etliche allgemeine Prinzipien zu finden, auf die alle Laster und Tugenden richtig zurückzuführen wären, verzeihlich ist. Ein gleiches Bestreben war das der Kritiker, Logiker und selbst Politiker; auch ihre Versuche sind nicht gänzlich erfolglos gewesen, obschon vielleicht längere Zeit, größere Genauigkeit und stärkerer Fleiß diese Wissenschaften ihrer Vollendung noch näher bringen können. Alle Ansprüche dieser Art auf  einmal  aufzuwerfen, möchte mit Recht für unbesonnener, übereilter und dogmatischer gelten als selbst die kühnste und bejahendste Philosophie, die je versucht hat, ihre unreifen Vorschriften und Prinzipien der Menschheit aufzudrängen.

Und wenn selbst diese Betrachtungen über die menschliche Natur abstrakt und schwer zu begreifen scheinen? Dies bedingt keine Vermutung ihrer Falschheit. Im Gegenteil, es scheint unmöglich, daß, was bisher so vielen weisen und gründlichen Philosophen entgangen ist, sehr augenscheinlich und leicht sein könne. Welche Mühen diese Untersuchungen uns auch kosten mögen, dürfen wir uns doch hinsichtlich des Nutzens sowohl wie des Vergnügens für genügen belohnt halten, wenn wir dadurch unserer Barkenntnis von solchen unaussprechlich wichtigen Sachen etwas zusetzen können.

Allein da nach allem die Abstraktheit dieser Spekulationen keine Empfehlung, sondern eher ein Nachteil für sie ist, und da diese Schwierigkeit vielleicht durch Sorgfalt, Kunst und Vermeidung alles unnötigen Details überwunden werden kann, haben wir in der folgenden Untersuchung versucht, einiges Licht in die Sachen zu bringen, wovon den Weisen bisher Unsicherheit und den Unwissenden Dunkelheit zurückgeschreckt hat. Glücklich, wenn wir die Grenzen der verschiedenen Gattungen von Philosophie durch den Einklang von gründlichem Forschen mit Klarheit und von Wahrheit mit Neuheit aufheben können! Und noch glücklicher, wenn wir durch diese ruhige Denkweise die Grundlagen einer dunklen Philosophie untergraben können, die bisher, wie es scheint, nur als Schutz gegen Aberglauben und als Deckmantel für Ungereimtheit und Irrtum gedient hat!


Zweiter Abschnitt
Vom Ursprung der Ideen

Jedermann wird gern zugestehen, daß ein bedeutender Unterschied zwischen den Vorstellungen des Geistes darin liegt, ob ein Mensch die Pein übermäßiger Hitze, das Vergnügen mäßiger Wärme fühlt, oder ob er nachher an diese Empfindung zurückdenkt oder sie durch seine Einbildung vorausempfindet. Diese Fähigkeiten können die Sinnesvorstellungen nachahmen oder kopieren, niemals aber völlig die Stärke und Lebhaftigkeit des ursprünglichen Gefühls erreichen. Höchstens sagen wir von ihnen, selbst wenn sie mit größter Frische wirken: sie stellen ihren Gegenstand so lebendig dar, daß wir  beinahe  sagen könnten, wir fühlen oder sehen ihn. Allein sie können - es sei denn der Geist durch Krankheit oder Wahnsinn zerrüttet - nie zu einer derart hohen Lebhaftigkeit gelangen, die diese Vorstellungen gänzlich ununterscheidbar machte. All die Farben der Dichtkunst, wie glänzend auch immer, können Naturobjekte nie so malen, daß die Schilderung für eine wirkliche Landschaft genommen wird. Der lebendigste Gedanke bleibt noch hinter der schwächsten Empfindung zurück.

Wir können beobachten, wie sich eine gleiche Unterscheidung durch alle andern Vorstellungen des Geistes zieht. Ein Mensch in seinem Zornanfall wird in ganz anderer Weise getrieben als einer, der an diese Erregung bloß denkt. Erzählt ihr mir, eine Person sei verliebt, so verstehe ich leicht, was ihr meint, und bilde mir eine richtige Vorstellung von ihrem Zustand; nie aber kann ich diese Vorstellung mit den wirklichen Verwirrungen und Aufregungen der Leidenschaft verwechseln. Denken wir über unsere vergangenen Gefühle und Neigungen nach, so ist unser Gedanke ein glaubwürdiger Spiegel und kopiert getreu seine Gegenstände; doch die Farben, die er gebraucht, sind matt und schwach im Vergleich mit denen, in die unsere ursprünglichlichen Vorstellungen gekleidet waren. Es erfordert keine Spitzfindigkeit noch einen metaphysischen Kopf, den Unterschied zwischen ihnen zu merken.

Wir können daher sämtliche Vorstellungen des Geistes in zwei Klassen oder Gattungen einteilen, die sich durch ihre verschiedenen Grade von Stärke und Lebhaftigkeit unterscheiden. Die weniger starken und lebendigen heißen gewöhnlich  Gedanken  oder  Ideen Für die andere Gattung fehlt in unserer und den meisten anderen Sprachen ein Name; ich vermute, weil es für keine anderen als philosophische Zwecke erforderlich war, sie unter eine allgemeine Bezeichnung oder Benennung einzureihen. Gebrauchen wir daher eine kleine Freiheit und nennen sie  "Eindrücke",  dieses Wort in einem etwas anderen Sinn als dem üblichen Sinn genommen. Mit dem Terminus  Eindruck  also meine ich all unsere lebendigeren Vorstellungen, wenn wir hören, sehen, fühlen, lieben, hassen, wünschen, wollen. Eindrücke sind ferner unterschieden von Ideen, den weniger lebendigen Vorstellungen, deren wir bewußt sind, wenn wir an irgendeine jener oben erwähnten Empfindungen oder Gemütsbewegungen denken (reflektieren).

Nichts mag beim ersten Anblick schrankenloser scheinen als das Denken des Menschen, das nicht nur aller irdischen Kraft und Gewähr entrinnt, sondern nicht einmal auf die Grenzen der Natur und Wirklichkeit beschränkt ist. Ungeheuer zu bilden und ungereimte Gestalten und Erscheinungen zu verbinden, kostet der Einbildungskraft nicht mehr Mühe als die natürlichsten und vertrautesten Gegenstände vorzustellen. Und während der Körper auf einen Planeten gesperrt ist, den er mit Leid und Schwierigkeit entlang kriecht, kann uns der Gedanke augenblicks in die entlegendsten Gebiete des Weltalls versetzen oder selbst darüber hinaus ins unbegrenzte Chaos, wo die Natur, wie man glaubt, in gänzlicher Verwirrung lieg. Was niemals gesehen oder gehört, kann doch vorgestellt werden; und nichts liegt jenseits der Gedankenmacht, außer was einen unbedingten Widerspruch enthält.

Aber wenngleich unser Denken diese unbeschränkte Freiheit zu besitzen scheint, werden wir doch bei näherer Untersuchung finden, daß es in Wirklichkeit in sehr enge Grenzen gesperrt ist, und all diese schöpferische Geistesmacht auf nicht mehr hinauskommt als auf die Fähigkeit, die von den Sinnen und der Erfahrung gelieferten Stoffe zu verbinden, zu versetzen, zu vermehren oder zu vermindern. Denken wir an einen goldenen Berg, so verbinden wir nur zwei verträgliche Ideen:  Gold  und  Berg,  mit denen wir zuvor bekannt waren. Ein tugendhaftes Pferd können wir uns vorstellen, weil wir von unserem eigenen Gefühl her Tugend vorstellen können; und diese vermögen wir mit der Gestalt und dem Wuchs eines Pferdes zu vereinigen, das ein uns vertrautes Tier ist. Kurz alle Materialien des Denkens sind entweder von unserem äußeren oder inneren Gefühl hergeleitet; ihre Mischung und Zusammensetzung gehört allein dem Geist und Willen. Oder, um mich in philosophischer Sprache auszudrücken, all unsere Ideen oder schwächeren Vorstellungen sind Kopien von unseren Eindrücken oder lebendigeren Vorstellungen.

Um dies zu beweisen, werden hoffentlich die beiden folgenden Argumente genügen. Erstens: Zergliedern wir unsere Gedanken oder Ideen, wie zusammengesetzt oder erhaben sie auch sein mögen, finden wir stets, daß sie sich in solche einfache Ideen auflösen, wie sie einem vorhergehenden Fühlen, Innewerden nachgebildet wurden. Selbst jene Ideen, die beim ersten Anblick am weitesten von diesem Ursprung entfernt scheinen, finden sich bei näherer Untersuchung daraus hergeleitet. Die Idee von Gott, im Sinn eines unendlich intelligenten, weisen und gütigen Wesens, entspringt aus der Reflexion auf die Wirksamkeiten unseres eigenen Geistes und aus der schrankenlosen Vergrößerung jener Qualitäten der Güte und Weisheit. Wir mögen diese Forschung, soweit es uns beliebt, verfolgen; immer werden wir dabei finden, daß jede nachgeprüfte Idee von einem gleichartigen Eindruck kopiert wurde. Wer behaupten würde, dieser Satz sei nicht allgemein wahr noch ausnahmslos, hat nur  eine  und noch dazu leichte Methode, ihn zu widerlegen: er weist jene Idee nach, die seiner Meinung nach nicht aus dieser Quelle hergeleitet ist. Alsdann wird es an uns liegen, wenn wir unsere Doktrin aufrecht erhalten wollen, den Eindruck oder die lebendige Vorstellung, die ihr entspricht, nachzuweisen.

Zweitens: Ereignet es sich infolge eines Fehlers am Organ, daß ein Mensch für irgendeine Art von Empfindung nicht empfänglich ist, finden wir stets, daß er ebensowenig der entsprechenden Ideen fähig ist. Ein Blinder kann sich keinen Begriff von Farben, ein Tauber keinen von Tönen machen. Gebt jedem von ihnen jenen Sinn wieder, an dem es ihm mangelt und durch das Öffnen dieses neuen Zugangs für seine Empfindungen öffnet ihr auch einen Zugang für die Ideen, und er findet keine Schwierigkeit, sich diese Gegenstände vorzustellen. Der Fall ist derselbe, wenn der Gegenstand, geeignet irgendeine Empfindung anzuregen, niemals auf das Organ eingewirkt hat. Ein Lappländer oder Afrikaner hat keinen Begriff vom Geschmack des Weins. Und obgleich es wenig oder keine Beispiele von einer ähnlichen Mangelhaftigkeit des Geistes gibt, wo eine Person eine typische Neigung oder Leidenschaft niemals gefühlt hat oder ihrer gänzlich unfähig ist, finden wir hier doch die gleiche Beobachtung in einem geringeren Grad auftauchen. Ein Mensch von milden Sitten kann sich keine Idee von eingewurzelter Rache oder Grausamkeit bilden, noch ein selbstsüchtiges Herz sich leicht die Höhen von Freundschaft und Großmut vorstellen. Gern wird zugestanden, daß andere Wesen manche Sinne besitzen mögen, von denen wir keine Vorstellung haben können; denn die Ideen davon sind auf die einzige Weise, wodruch eine Idee Zugang zum Geist haben kann, nämlich durch das tatsächliche Fühlen und Empfinden, niemals in uns eingeführt worden.

Gleichwohl gibt es ein widersprechendes Phänomen, das beweisen kann, es sei für Ideen nicht absolut unmöglich, unabhängig von ihren entsprechenden Eindrücken zu entstehen. Ich glaube, es wird gern zugestanden, daß die einzelnen unterschiedenen Ideen von Farbe, die durch das Auge eindringen, oder jene von Schall, durch das Ohr beigebracht, wirklich alle voneinander verschieden, wenn auch zugleich ähnlich sind. Ist dies nun von verschiedenen Farben wahr, muß es nicht weniger von den verschiedenen Schattierungen derselben Farbe wahr sein; und jede Schattierung bringt eine bestimmte von den übrigen unabhängige Idee hervor. Denn würde dies geleugnet, so wäre durch die stetige Abstufung der Schattierungen das unmerkliche Verlaufen einer Farbe in eine ihr ganz ferne möglich. Und wer die Verschiedenheit igendwelcher Mittelglieder nicht zugeben will, kann nicht ohne Ungereimtheit die Gleichheit der äußersten leugnen. Man nehme also an, eine Person habe sich dreißig Jahre lang ihres Augenlichts erfreut und sei mit Farben aller Art vollkommen (3) bekannt geworden, ausgenommen z. B. eine besondere Schattierung von blau, die sie anzutreffen niemals das Glück hatte. Legen wir all die verschiedenen Schattierungen dieser Farbe, außer jener einzigen, von der dunkelsten bis zur hellsten allmählich absteigend vor sie hin, so ist offenbar: sie stellt da, wo diese Schattierung fehlt, eine Lücke vor und wird an dieser Stelle eine größere Entfernung zwischen den angrenzenden Farben merken als an irgendeiner anderen. Nun frage ich, ob es für sie möglich sei, aus ihrer eigenen Einbildungskraft diesen Ausfall zu decken und sich die Idee jener besonderen Schattierung zu verschaffen, obgleich sie ihr sinnlich niemals beigebracht worden war. Ich glaube, es werden nur wenige der Meinung sein, sie könne es nicht. Und dies darf als Beweis dienen, daß die einfachen Ideen nicht immer, nicht in jedem Fall von den entsprechenden Eindrücken abgeleitet sind; wenngleich dieser Fall so vereinzelt ist, daß er kaum usnerer Beachtung wert ist, und es nicht dafürsteht, seinetwegen allein unsere allgemeine Maxime zu ändern.

Hier haben wir also einen Satz, der nicht nur ansich einfach und verständlich scheint, sondern bei geeignetem Gebrauch jeden Streit gleich verständlich machen und das ganze Kauderwelsch verbannen könnte, das so lange die metaphysischen Betrachtungen in Besitz gehalten und in Ungnade gebracht hat. Alle Ideen, besonders die abstrakten, sind von Natur aus matt und dunkel; der Geist hat an ihnen nur einen kümmerlichen Halt; sie pflegen mit anderen ähnlichen Ideen verwechselt zu werden; und wenn wir einen Terminus oft gebraucht, obschon ohne unterschiedene Bedeutung, sind wir geneigt uns einzubilden, es sei eine bestimmte Idee mit ihm verknüpft. Dagegen sind alle Eindrücke, d. h. alle inneren oder äußeren Empfindungen, stark und lebhaft; die Grenzen zwischen ihnen sind genauer bestimmt, und es ist nicht leicht, über sie in irgendeine Irrung oder Verwechslung zu verfallen. Hegen wir daher den Verdacht, ein philosophischer Terminus sei ohne eine Bedeutung oder Idee angewendet (was freilich allzu häufig geschieht), brauchen wir nur nachzuforschen,  von welchem Eindruck jene angebliche Idee hergeleitet ist?  Und läßt sich unmöglich einer nachweisen, so wird dies dazu dienen, unseren Verdacht zu bestärken. Bringen wir die Ideen in ein so klares Licht, dann dürfen wir vernünftigerweise hoffen, jeden Streit zu entfernen, der über ihre Natur und Realität entstehen kann. (4)
LITERATUR: David Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Leipzig 1893
    Anmerkungen
    1) Dies keineswegs in der Absicht, das Verdienst LOCKEs zu schmälern, der wirklich ein großer Philosoph, ein richtiger und bescheidener Denker war, sondern nur in der Meinung, das gemeine Schicksal so abstrakter Philosophie zu zeigen.
    2) Jene Fähigkeit, wodurch wir Wahrheit und Falschheit unterscheiden, und jene, wodurch wir Laster und Tugend vorstellen, sind lang miteinander verwechselt worden, und alle Moralität war, wie man annahm, auf ewige unwandelbare Relationen gegründet, die für jeden intelligenten Geist ebenso unveränderlich waren wir irgendein Satz über Größe oder Zahl. Ein neuerer Philosoph aber (HUTCHESON) hat uns durch die überzeugendsten Argumente belehrt, daß Moralität durchaus nicht in der abstrakten Natur der Dinge liegt, sondern völlig in Relation zum Gefühl oder geistigen Geschmack jedes einzelnen Wesen steht; in derselben Weise wie die Unterscheidungen zwischen süß und bitter, heiß und kalt aus dem besonderen Gefühl (Innewerden) jedes Sinnes oder Organs entstehen. Vorstellungen vom Moralischen also sollten nicht den Wirksamkeiten des Verstandes gleichgestellt werden, sondern dem Geschmack oder Gefühl. - - - Bei den Philosophen war es üblich gewesen, alle Leidenschaften des Geistes in zwei Klassen einzuteilen, in die selbstischen und die wohlwollenden, von denen man annahm, sie ständen in einem beständigen Gegensatz und Widerstreit; und man dachte, letzter könnten ihren eigentlichen Gegenstand niemals anders erreichen als auf Kosten der ersteren. In die selbstischen Leidenschaften wurden eingereiht: Geiz, Ehrgeiz, Rache. In die wohlwollenden: natürliche Neigung, Freundschaft, Gemeinsinn. Philosophen können sich jetzt (Vgl. BUTLERs Predigten) die Unrichtigkeit dieser Einteilung vorstellen. Es ist über allen Streit hinaus bewiesen worden, daß sogar die Leidenschaften, die gewöhnlich für selbstisch galten, den Geist über sich selbst hinaus führen, direkt auf das Objekt zu; daß wenngleich die Befriedigung dieser Leidenschaften uns Genuß gewährt, dennoch die Aussicht auf diesen Genuß nicht die Ursache der Leidenschaft ist, sondern im Gegenteil die Leidenschaft dem Genuß voran geht, und dieser ohne jene unmöglich je existieren könnte; und daß der Fall genau derselbe ist mit den als wohlwollend benannten Leidenschaften, und folglich, daß ein Mensch nicht mehr interessiert ist, wenn er seinen eigenen Ruhm sucht, als wenn das Glück seines Freundes Gegenstand seiner Wünsche ist; auch ist er um nicht uninteressierter, wenn er seine Rast und Ruhe dem Gemeinwohl opfert, als wenn er für die Befriedigung von Geiz oder Ehrgeiz arbeitet. Hierin liegt also eine beträchtliche Ausgleichung der Grenzen der Leidenschaften, welche durch die Nachlässigkeit oder Ungenauigkeit der früheren Philosophen verwechselt worden sind. Diese beiden Beispiele mögen genügen, um uns die Natur und Wichtigkeit dieser Gattung Philosophie zu zeigen.
    3) [Das Wort "vollkommen" (perfectly) soll nach BENNO ERDMANN ein Druckfehler des englischen Textes sein.]
    4) Es ist wahrscheinlich: wer angeborene Ideen leugnete, meinte nicht mehr, als daß alle Ideen Kopien unserer Eindrücke wären; wenngleich zugegeben werden muß, daß die von ihm angewandten Bezeichnungen nicht mit solcher Vorsicht gewählt noch so genau definiert waren, daß sie allen Mißverständnissen über seine Lehre vorbeugten. Denn was wird unter  angeboren  verstanden? Wäre angeboren gleichbedeutend mit natürlich, dann müßte man alle Vorstellungen und Ideen des Geistes als angeboren oder natürlich gelten lassen, in welchem Sinn auch immer letzteres Wort genommen werden mag - ob im Gegensatz zum Ungewöhnlichen, Künstlichen oder Wunderbaren. Bedeutet angeboren gleichzeitig mit unserer Geburt, so scheint der Streit nichtig; auch ist es nicht der Mühe wert zu forschen, in welcher Zeit das Denken beginnt, ob vor, bei oder nach unserer Geburt. Hin und wieder scheint das Wort  Idee  von LOCKE und anderen gewöhnlich in einem sehr weiten Sinn genommen zu sein: so steht es für irgendeine unserer Vorstellungen, Empfindungen und Gemütsbewegungen ebenso wie für einen unserer Gedanken. Nun möchte ich in diesem Sinn wissen, was mit der Behauptung gemeint sein kann, Selbstliebe oder Empfindlichkeit über Beleidigungen oder die Leidenschaft zwischen den Geschlechtern sei nicht angeboren? - - - Läßt man jedoch diese Bezeichnungen  Eindrücke  und  Ideen  in dem oben erläuterten Sinn zu und versteht unter  angeboren  das Ursprüngliche oder keiner vorausgehenden Vorstellung Nachgebildete, dann dürfen wir behaupten: all unsere Eindrücke sind angeboren und unsere Ideen nicht angeboren. - - - Um aufrichtig zu sein, muß ich gestehen, meine Meinung ist, LOCKE wurde zu dieser Frage durch die Scholastiker verleitet, die durch den Gebrauch undefinierter Termini ihre Dispute in eine ermüdende Länge zogen, ohne jemals den Streitpunkt zu berühren. Eine gleiche Zweideutigkeit und Umschreibung scheint sich durch alle Schlüsse jenes großen Philosophen über dieses soweie über die meisten anderen Themata zu ziehen.