cr-4 J. N. TetensCh. WolffLeibnizEberhardPlatner    
 
GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ
(1646 -1716)
Schriften zur
Logik und Erkenntnislehre


"Hobbes  hielt, da er sah, daß alle Wahrheiten aus den Definitionen hergeleitet werden können, die nach seiner Annahme willkürlich und bloße Worterklärungen sind, da es ja in unsere Belieben steht, die Dinge zu benennen, auch die Wahrheiten für bloße Namen und für völlig willkürlich."

"Wundern muß man sich jedoch über die Nachlässigkeit der Menschen, die ihre Zeit mit Nichtigkeiten verbringen, um Dinge aber, durch die sie für ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen sorgen könnten, sich nicht kümmern. Denn es stünde vielleicht in ihrer Macht, einem großen Teil der Übel entgegenzusteuern, wenn sie nur angesichts der schon vorhandenen, äußerst reichhaltigen Beobachtungen unseres Jahrhunderts von der wahren Analysis den richtigen Gebrauch machten. Jetzt aber scheint mir die menschliche Naturerkenntnis wie ein Laden, der mit Waren aller Art vollkommen versehen ist, in dem aber keine Ordnung herrscht und kein Verzeichnis vorhanden ist."

I.
Dialog über die
Verknüpfung zwischen Dingen und Worten

A. Wenn man Dir einen Faden gäbe, den Du so krümmen solltes, daß er in sich selbst zurückläuft und soviel Raum als möglich in sich faßt, in welcher Weise würdest du ihn krümmen?

B. In eine Kreislinie; denn, wie die Geometer zeigen, ist der Kreis von allen Figuren mit gleichem Umfang diejenige, die den größten Flächeninhalt in sich schließt. Gibt es also zwei Inseln, die eine von kreisförmiger, die andere von quadratischer Gestalt, die man in der gleichen Zeit umschreiten kann, so enthält die kreisförmige mehr Land.

A. Bist Du der Ansicht, daß dieser Satz wahr bliebe, auch wenn er von Dir nicht gedacht würde?

B. Ja - und selbst dann, wenn die Geometer ihn noch nicht bewiesen hätten oder man noch nicht auf ihn aufmerksam geworden wäre.

A. Also liegen Deiner Ansicht nach  Wahrheit  und  Falschheit  in den Dingen nicht in den Gedanken?

B. Allerdings.

A. Kann man nun aber irgend ein Ding falsch nennen?

B. Nein, denke ich, sondern nur den Gedanken oder die Aussage über ein Ding.

A. Die Falschheit bezieht sich also jedenfalls auf Gedanken, nicht auf Dinge?

B. Das muß ich zugeben.

A. Damit doch wohl auch die Wahrheit?

B. So scheint es; dennoch hege ich noch einige Zweifel, ob der Schluß zwingend ist.

A. Bist Du nicht, wenn Dir eine Frage gestellt wird, solange Du Deiner Entscheidung noch nicht recht sicher bis, im Zweifel, ob etwas wahr oder falsch ist?

B. Ganz gewiß.

A. Du erkennst also an, daß es ein und dasselbe Subjekt ist, dem man Wahrheit oder Falschheit zusprechen kann, bis sichaus der besonderen Natur der Frage die Entscheidung darüber ergibt?

B. Das erkenne ich an und gebe jetzt zu, daß, wenn die Falschheit, so auch die Wahrheit den Gedanken und nicht den Dingen zukommen muß.

A. Dies steht aber mit Deiner früheren Behauptung im Widerspruch, daß ein Satz, auch wenn er von niemand gedacht wird, nichtsdestoweniger wahr bleibt.

B. Nun hast Du mich ganz verwirrt gemacht!

A. Dennoch müssen wir einen Ausgleich zwischen beiden Sätzen versuchen.

Bist Du der Meinung, daß alle Gedanken, die gefaßt werden könnten, tatsächlich zustande kommen, oder, um mich klarer auszudrücken, glaubst Du, daß alle möglichen Urteile auch wirklich gedacht werden?

B. Nein.

A. Du siehst also, daß die Wahrheit zwar dem Gebiet der Urteile und Gedanken, jedoch dem der möglichen Gedanken, angehört und also nur soviel gewiß ist, daß,  wenn  jemand in dieser oder der entgegengesetzten Weise denkt, sein Gedanke wahr oder falsch ist.

B. Wie es scheint, hast Du damit den richtigen Ausweg aus unserer heiklen Lage gefunden.

-A. Da ja aber notwendig ein Grund dafür vorhanden sein muß, einen Gedanken wahr oder falsch zu nennen, so frage ich: wo sollen wir diesen suchen?

B. Nun, ich denke in der Natur der Dinge.

A. Wie wäre es, wenn er aus deiner eigenen Natur entspränge?

B. Sicher nicht aus ihr allein. Denn notwendig muß außer meiner eigenen Natur auch die Natur der Dinge, über die ich nachdenke, von der Art sein, daß ich, bei richtigem methodischem Fortschritt, den Satz, zu dem ich schließlich gelange, als schlüssig und wahr erfinde. (1)

A. Ganz recht; doch bleiben noch manche Schwierigkeiten.

B. Was für welche meinst Du?

A. Manche Gelehrte sind der Ansicht, die Wahrheit habe ihren Ursprung in menschlicher Willkür und hafte an Namen oder Charakteren.

B. Ein recht paradoxer Satz.

A. Sie beweisen ihn indessen in folgender Weise: Die Definition ist doch die Grundlage jeder Beweisführung?

B. Allerdings; kann man doch einzig aus der Verbindung von Definitionen manche Sätze beweisen.

A. Die Wahrheit solcher Sätze hängt somit von den Definitionen ab?

B. Gewiß.

A. Die Definitionen aber hängen von unserer Willkür ab?

B. Wie das?

A. Nicht wahr, es steht doch im Belieben der Mathematiker, das Wort  Ellipse  zur Bezeichnung einer bestimmten Figur zu gebrauchen? Es stand weiter im Belieben der Lateiner, dem Wort  circulus  die Bedeutung beizulegen, die seine Definition ausdrückt?

B. Nun, und was weiter? Können doch Gedanken auch ohne Worte bestehen!

A. Aber nicht ohne irgendwelche andere Zeichen. (2) Versuche nur, ob Du irgendeine arithmetische Rechnung anstellen kannst, ohne Dich der Zahlzeichen zu bedienen.

B. Du machst mich ganz verwirrt, - denn ich hielt die Charaktere oder Zeichen nicht für unumgänglich nötig für die Rechnung.

A. Die arithmetischen Wahrheiten setzen also irgenwelche Zeichen oder Charaktere voraus?

B. Das kann man nicht leugnen.

A. Also hängen sie von der menschlichen Willkür ab.

B. Du willst mich durch ein seltsames Blendwerk täuschen!

A. Es stammt nicht von mir, sondern von einem sehr scharfsinnigen Schriftsteller. (3)

B. Kann jemand so unvernünftig sein, die Wahrheit für willkürlich zu halten und sie von Namen abhängig zu machen, wo doch sicherlich Griechen, Lateiner und Deutsche nur eine und dieselbe Geometrie haben?

A. Richtig: indessen muß man zuvor der Schwierigkeit begegnen.

B. Dies eine nur macht mich bedenklich, daß ich, wie bemerke, niemals irgendeine Wahrheit erkenne, auffinde oder beweise, ohne im Geist Worte oder irgendwelche Zeichen zu Hilfe zu rufen.

A. Allerdings; - ja, wir würden sogar, wenn es keine Zeichen gäbe, niemals etwas deutlich denken oder schließen.

B. Wenn wir nun aber die Figuren der Geometrie anschauen, so fördern wir hier doch häufig durch ihre genaue Betrachtung Wahrheiten zutage.

A. Ganz recht, nur darf man nicht vergessen, daß auch diese Figuren als Charaktere anzusehen sind. Denn der Kreis auf dem Papier ist nicht der wirkliche Kreis, auch ist das gar nicht vonnöten, sondern es genügt, daß er für uns die Stelle des Kreises vertritt.

B. Dennoch hat er eine bestimmte Ähnlichkeit mit dem Kreis, und die ist sicherlich nicht willkürlich.

A. Allerdings; und ebendeshalb sind die Figuren die allergeeignetsten Charaktere. Welche Ähnlichkeit aber besteht wohl zwischen der Zehnzahl und dem Zeichen 10?

B. Es besteht unter den Zeichen, besonders wenn sie gut gewählt sind, eine Beziehung oder Ordnung, die einer Ordnung in den Dingen entspricht.

A. Mag sein, aber welche Ähnlichkeit haben denn die ersten Elemente mit den Gegenständen, die sie bezeichnen, z. b. die  0  mit dem Nichts, oder der Buchstabe  a  mit der Linie? Du mußt zugeben, daß zumindest diese Elemente keine Ähnlichkeit mit den Dingen zu haben brauchen. Dies gilt z. B. von den Stammworten "lux" und "fero", während ihr Kompositum "lucifer" allerdings zu ihnen in einer bestimmten Beziehung steht und zwar in einer Beziehung, der eine Relation zwischen den  Objekten,  die durch  lucifer, lux, fero  bezeichnet sind, entspricht.

B. Im Griechischen hat aber  phosphoros  dieselbe Beziehung zu  phos  und  phero. 

A. Ja, - doch hätten die Griechen hier auch ein anderes Wot anwenden können.

B. Ganz recht; nur meine ich, daß die Charaktere, wenn sie in der Beweisführung angewandt werden sollen, irgendeine Verknüpfung, Gliederung und Ordnung, wie sie auch den Gegenständen zukommt, aufweisen müssen, und daß dies, wenn auch nicht in den einzelnen Worten, - obgleich auch dies besser wäre - so doch in ihrer Verbindung und Verknüpfung notwendig ist. Diese Ordnung und Entsprechung wenigstens muß sich, obgleich in verschiedener Weise, in allen Sprachen finden. und dies läßt mich auf eine Lösung der Schwierigkeit hoffen. Denn wenngleich die Charaktere als solche willkürlich sind, so kommt dennoch in ihrer Anwendung und Verknüpfung etwas zur Geltung, was nicht mehr willkürlich ist: nämlich ein Verhältnis, das zwischen ihnen und den Dingen besteht, und damit auch bestimmte Beziehungen zwischen all den verschiedenen Charakteren, die zum Ausdruck derselben Dinge dienen. Und dieses Verhältnis, diese Beziehung ist die Grundlage der Wahrheit. Denn sie bewirkt, daß, ob wir nun diese oder andere Charakteres anwenden, das Ergebnis doch stets dasselbe bleibt oder daß wenigstens die Ergebnisse, die wir finden, äquivalent sind und in bestimmtem Maße einander entsprechen. Irgendwelcher Charaktere allerdings bedarf man wohl stets zum Denken.

A. Ausgezeichnet! Du hast Dich Ganz vorzüglich aus der Verlegenheit gezogen. Deine Ansicht wird auch durch das analytischen und arithmetische Kalkül bestätigt; denn bei den Zahlen wird stets dasselbe herauskommen, ob man sich nun des Dezimal- oder, wie es auch geschieht, des Duodezimalsystems bedient. Wenn man also das Ergebnis verschiedenartiger Rechnungen nachher auf Körner oder eine andere zählbare Materie anwendet, so wird das Resultat immer das nämliche bleiben. Ebenso verhält es sich in der Analysis, obgleich es hier bei verschiedenartigen Charakteren leichter den Anschein gewinnt, als sei die Sache selbst in ihren Verhältnissen geändert. Auch hier jedoch ist eben in der Vernknüpfung und Anordnung der Charaktere stets eine feste Grundlage der Wahrheit gegeben. Bezeichnet man etwa das Quadrat  a  als  a²  und setzt  a = b + c,  so erhält man:  a² = b² + c² + 2bc,  setzt man dagegen  a  gleich  d - e,  so ergibt sich:  a² = (d² + e²) + 2de.  Die erste Form stellt die Beziehung des Ganzen (a) zu seinen Teilen (b, c) dar, die zweite die Bezieung eines Teiles (a) zum Ganzen (d) und der Differenz, die zwischen ihm und dem Ganzen besteht (e). Daß beides jedoch auf dasselbe hinausläuft, ergibt sich durch die Substitution: denn setzen wir in der Formel:  d² + e² - 2de  (was ja = a²) für  d  seinen Wert  a + e  ein, dann erhalten wir für  d²: a² + e² + 2ae,  für  - 2de: (-2ae - 2e²),  also, durch Addition:
    + d² = a² + e² + 2ae
    + e² = + e²
    - 2de = - 2e² - 2ae

    die Summe: = a²
Du siehst, daß, so willkürlich man auch die Charakteres nimmt, doch stets alle Ergebnisse untereinander übereinstimmen, wenn man nur bei ihrer Anwendung einer bestimmten Ordnung und Regel folgt. Wenngleich also die Wahrheiten notwendig irgendwelche Charaktere voraussetzen, ja zuweilen sogar diese Charaktere zum Gegenstand haben, - wie dies die Sätze über die Neunerprobe zeigen -, (4) so gründen sie sich doch nicht auf das, was in ihnen willkürlich, sondern darauf, was in ihnen beständig ist: auf die Beziehung, die die Zeichen selbst zu den Dingen besitzen. Denn es bleibt, ohne daß unsere Willkür darauf den geringsten Einfluß hätte, stets wahr, daß sich bei der Anwendung bestimmter Charaktere eine bestimmte Rechnungsform ergibt, die sich durch den Gebrauch anderer Zeichen, deren Beziehung zu den ersteren jedoch bekannt ist, zwar verändert, die aber dennoch zur früheren jedenfalls eine feste Beziehung bewahrt, deren Art sich aus der Relation der Charaktere zu den früheren ergibt, wie dies durch Einsetzen oder Vergleichen zutage tritt.


II.
Betrachtungen über die Erkenntnis,
die Wahrheit und die Ideen.

Streitfragen betreffs der Wahrheit und Falschheit der Ideen werden gegenwärtig unter hervorragenden Männern eifrig verhandelt; (5) und da selbst DESCARTES für dieses Problem, das von großer Bedeutung für die Erkenntnis der Wahrheit ist, die befriedigende Lösung nicht durchweg gefunden hat, möchte ich meine Auffassung von den unterscheidenden Merkmalen und Kriterien der Ideen und Erkenntnisse kurz darlegen. Es ist also eine Erkenntnis entweder dunkel oder  klar,  die klare wiederum verworren oder  distinkt,  die distinkte entweder  adaequat  oder  inadaequat, symbolisch  oder  intuitiv;  die vollkommenste Erkenntnis endlich wird die sein, welche zugleich adaequat und intutiv ist.

Dunkel  ist eine Vorstellung, wenn sie nicht genügt, um die vorgestellte Sache wiederzuerkennen, wie wenn ich mich einer Blume oder eines Tieres, das ich früher einmal gesehen habe, zwar erinnere, dies aber dennoch nicht so weit geht, daß ich es, falls es mir von neuem entgegentritt, wiedererknnen und von einem ihm ähnlichen unterscheiden kann. Betrachte ich etwa irgendeinen Terminus, der in den Schulen nicht hinlänglich erklärt wird, wie die Entelechie des ARISTOTELES oder die Ursache, sofern man sie zugleich als materiale, formale, wirkende und Zweckursache nimmt und anderes dergleichen, wovon man keine bestimmte Definition besitzt, so wird auch das Urteil, in das eine solche Vorstellung eingeht, dunkel.  Klar  hingegen ist eine Erkenntnis, wenn sie es mir ermöglicht, die vorgestellte Sache wiederzuerkennen, und eine solche Erkenntnis ist wiederum verworren oder deutlich.  Verworren  ist sie, sobald ich nicht imstandes bin, die Merkmale einzeln aufzuzählen, welche hinreichen, die Sache von anderen zu unterscheiden, wenn auch in der Sache selbst solche Merkmale und Bestimmungen wirklich liegen, und ihre Vorstellung sich in sie auflösen läßt. So vermögen wir Farben, Gerüche, Geschmäcke und andere besondere Sinnesobjekte zwar mit hinlänglicher Klarheit zu erkennen und voneinander zu unterscheiden, doch geschieht dies auf das einfache Zeugnis der Sinne hin, nicht aber durch angebbare Merkmale. Darum können wir auch einem Blinden nicht erklären, was "rot" ist und auch anderen derartige Inhalte nur dadurch bezeichnen, daß wir sie zur Sache selbst hinführen, sie den Gegenstand selbst wirklich sehen, riechen oder schmecken lassen oder sie wenigstens an eine ähnliche frühere Wahrnehmung erinnern. Nichtsdestoweniger sind die Vorstellungen dieser Qualitäten sicherlich zusammengesetzt und müssen sich, daß die Qualitäten selbst ihre Ursachen haben, weiter auflösen lassen. In ähnlicher Weise können wir beobachten, daß Maler und andere Künstler ganz vortrefflich erkennen, was richtig und was fehlerhaft gemacht ist, häufig aber nicht imstande sind, von ihrem Urteil Rechenschaft zu geben und auf Befragen nur antworten, sie vermißten in der Sache, die ihnen mißfällt, irgendetwas, sie wüßten selbst nicht was. Eine  deutliche Vorstellung  aber ist eine solche, wie sie die Goldscheider vom Gold haben, aufgrund von Merkmalen nämlich und Untersuchungen, die hinreichen, die Sache von allen anderen ähnlichen Körpern zu unterscheiden. Wir haben sie gewöhnlich von Vorstellungen, die, wie die der Zahl, Größe und Gestalt, mehreren Sinnen gemeinsam sein, (6) ebenso von vielen seelischen Affekten, so von Furcht und Hoffnung, - mit einem Wort von all dem, wovon wir eine  Nominaldefinition  haben, die nichts anderes als eine Aufzählung der zureichenden Merkmale ist. Es gibt jedoch auch dinstinkte Erkenntnisse von undefinierbaren Vorstellungen, wenn diese nämlich  primitiv,  das heißt, wenn sie unauflösbar sind, nur durch sich selbst erkannt werden und so keine Vielheit von Elementen aufweisen. In zusammengesetzten Vorstellungen jedoch werden die einzelnen Elemente bisweilen zwar klar, aber doch in verworrender Weise erkannt, wie die Schwere, die Farbe, das Scheidewasser und anderes, was zu den Merkmalen des Goldes gehört; eine solche Erkenntnis des Goldes ist dann zwar deutlich, trotzdem aber  inadaequat.  Wird hingegen jeder Bestandteil, der in einen deutlichen Begriff eingeht, wiederum in deutlicher Weise erkannt, wird also die Analyisis bis ans letzte Ende durchgeführt, dann ist die Erkenntnis  adaequat.  Freilich weist unser menschliches Wissen hierfür vielleicht kein vollkommenes Beispiel auf; doch kommt ihr die Erkenntnis der Zahlen sehr nahe. In den meisten Fällen aber, besonders bei einer längeren Analyse, überschauen wir nicht auf einmal die ganze Natur des Objekts, sondern wenden statt der Gegenstände selbst bestimmte Zeichen an, deren Erklärung wir im einzelnen Fall der Kürze halber zu unterlassen pflegen, wobei wir jedoch wissen oder doch annehmen, daß wir sie, wenn notwendig, geben könnten. Denke ich etwa an ein Tausendeck oder ein Vieleck von 1000 gleichen Seiten, so betrachte ich nicht stets die Natur der Seite, der Gleichheit und der Zahl Tausend - d. h. der dritten Potenz von 10 - sondern ich brauche jene Worte, deren Sinn mir zumindest dunkel und ungenau gegenwärtig ist, für die Ideen selbst, da ich mich entsinne, daß ich ihre Bedeutung kenne, ihre Erklärung aber jetzt nicht für nötig halte. Eine solche Erkenntnis pflege ich als  blinde  oder auch als  symbolische  zu bezeichnen; man bedient sich derselben in der Algebra wie in der Arithmetik, ja fast überall. In der Tat können wir, wenn eine Vorstellung sehr zusammengesetzt ist, nicht alle in sie eingehenden Merkmamle zugleich denken; wo das dennoch möglich ist, und in dem Mamße wie es möglich ist, nenne ich die Erkenntnis  intuitiv Von den distinkten, primitiven Vorstellungen ist keine andere als intuitive Erkenntnis möglich, während das Denken der zusammengesetzten Vorstellungen für gewöhnlich nur symbolisch ist.

Hieraus erhellt sich bereits, daß wir, um die Ideen von solchen Inhalten zu haben, die wir distinkt erkennen, notwendig des intuitiven Wissens bedürfen. Es kommt freilich häufig vor, daß wir  irrtümlich  glauben,  Ideen  in uns zu haben, indem wir fälschlich annehmen, wir hätten gewisse Bezeichnungen, die wir anwenden, bereits erklärt. Falsch, nämlich, oder doch nicht ohne Zweideutigkeit ist die Behauptung, daß wir notwendig die Idee einer Sache haben müssen, um über sie - mit Verständnis dessen, was wir sagen - sprechen zu können. Denn oft verstehen wir zwar die einzelnen Worte, oder erinnern uns, sie früher einmal verstanden zu haben; da wir uns jedoch mit dieser blinden Erkenntnis begnügen und die Auflösung der Vorstellungen nicht weit genug treiben, so kann uns ein Widerspruch, der etwa in der zusammengesetzten Vorstellung enthalten ist, leicht entgehen. Zu einer genaueren Untersuchung dieses Umstands hat mich dereinst das berühmte scholastische Argument für das Dasein Gottes veranlaßt, das von DESCARTES wieder erneuert worden ist. Was aus der Idee oder der Definition einer Sache folgt, - so heißt es hier - das läßt sich der Sache selbst zusprechen. Nun folgt das Dasein aus der Idee Gottes, als des vollkommensten oder größtmöglichen Wesens. Das vollkommenste Wesen nämlich schließt alle Vollkommenheiten in sich, unter die auch das Dasein gehört. Also kann man Gott das Dasein zusprechen. In Wahrheit läßt sich jedoch hieraus nur schließen, daß Gottes Dasein folgt, sobald seine Möglichkeit bewiesen ist. Denn wir können keine Definition zu einem Schluß benutzen, ohne zuvor versichert zu sein, daß sie  real  ist, oder daß sie keinen Widerspruch enthalten, kann man ja gleichzeitig Entgegengesetztes schließen, was widersinnig ist. Zur Erklärung führe ich gewöhnlich das Beispiel der schnellsten Bewegung an, die einen Widersinn einschließt. Setzen wir nämlich, ein Rad drehe sich mit der schnellsten Bewegung, so ist leicht einzusehen, daß, wenn man eine Speiche des Rades über die Peripherie hinaus verlängert, ihr Endpunkt sich schneller bewegen wird, als ein Nagel, der in der Peripherie liegt. Dessen Bewegung ist also nicht die schnellste, was der Voraussetzung widerspricht. Auf den ersten Blick könnte es jedoch scheinen, als hätten wir die Idee der schnellsten Bewegung: denn wir verstehen doch, was wir damit sagen: - trotzdem haben wir durchaus keine Idee von unmöglichen Dingen. Ebenso genügt es nicht, das vollkommenste Wesen zu denken, um behaupten zu können, wir hätten seine Idee, und im eben angeführten Beweis muß zur Gültigkeit des Schlusses die  Möglichkeit  des vollkommensten Wesens entweder nachgewiesen oder vorausgesetzt werden. Indessen ist es durchaus richtig, daß wir die Idee Gottes haben, daß ferner das vollkommenste Wesen möglich, ja sogar notwendig ist; der Beweis jedoch ist nicht zwingend, auch schon von THOMAS von AQUINO verworfen worden.

Hier gewinnen wir auch ein unterscheidendes Merkmal zwischen den  Nominaldefinitionen,  die nur die Merkmale enthalten, um eine Sache von anderen unterscheiden zu können und den  Realdefinitionen,  aus denen sich die Möglichkeit der Sache selbst ergibt. Auf diese Weise läßt sich auch der Ansicht des HOBBES begegnen, nach der alle Wahrheiten willkürlich sein sollen, weil sie von  Nominaldefinitionen  abhängen; (7) - wobei er nicht erwog, daß die Realität der Definition selbst nicht in unserer Wahl steht, und daß nicht alle beliebigen Begriffe sich miteinander verknüpfen lassen. Schließlich erhellt sich hieraus der Unterschied zwischen  wahren  und  falschen Ideen.  Eine Idee ist wahr, wenn die Vorstellung möglich ist; falsch, wenn diese einen Widerspruch enthält. Die  Möglichkeit  einer Sache aber erkennen wir entweder  a priori  oder  a posteriori:  das erstere, wenn wir die Vorstellung in ihre Elemente, d. h. in andere Vorstellungen, deren Möglichkeit bekannt ist, auflösen und wissen, daß in ihnen nichts miteinander Unverträgliches enthalten ist. Dies ist z. B. der Fall, wenn wir die Art, in der sich der Gegenstand erzeugen läßt, einsehen, weshalb die  kausalen Definitionen  von vorzüglicher Bedeutung sind.  A posteriori  hingegen erkennen wir die Möglichkeit einer Sache, wenn uns ihre Wirklichkeit durch Erfahrung bekannt wird; denn was wirklich existiert oder existiert hat, das muß jedenfalls möglich sein. In jeder adäquaten Erkenntnis benützt man zugleich eine apriorische Erkenntnis der Möglichkeit; hat man nämlich die Analyse bis zum Ende durchgeführt, so ist, wenn kein Widerspruch sichtbar wird, die Möglichkeit der Vorstellung erwiesen. Ob aber jemals die menschliche Erkenntnis zu einer vollkommenen Analyse der Vorstellungen, also zu den  ersten Möglichkeiten  und unauflöslichen Begriffen gelangen wird, - ob sie, was dasselbe bedeutet, alle Gedanken jemals auf die absoluten Attribute Gottes selbst, als erste Ursachen und den letzten Grund der Dinge zurückführen wird, - das möchte ich für jetzt nicht zu entscheiden wagen. Für gewöhnlich sind wir damit zufrieden, uns der Realität gewisser Begriffe durch Erfahrung zu versichern, um sodann aus ihnen andere nach dem Vorbild der Natur zusammenzusetzen.

Hieraus läßt sich schließlich erkennen, daß die Berufung auf die Ideen nicht immer einwandfrei ist, und daß Viele diesen blendenden Namen mißbrauchen, um ihren Einbildungen Geltung zu verschaffen. Daß wir nicht die Idee jeder Sache haben, deren wir uns bewußt sind, hat das Beispiel der schnellsten Bewegung soeben gezeigt. Mit dem vielgerühmten Prinzip:  "Alles, was ich klar und deutlich von einer Sache erfasse, das ist wahr oder kann von ihr ausgesagt werden",  wird heutzutage viel Mißbrauch getrieben. Häufig nämlich scheint bei voreiligem Urteil etwas klar und deutlich, was in Wahrheit dunkel und verworren ist. Dieses Axiom ist also unnütz, wenn nicht die  Kriterien  des Klaren und Deutlichen, die wir angegeben haben, herangezogen werden, und wenn die Wahrheit der Ideen nicht erwiesen ist. Im übrigen sind beachtenswerte Kriterien für die Wahrheit von Urteilen die Regeln der  gemeinen Logik,  deren sich auch die Geometer bedienen: so z. B. die Vorschrift, nur das als gewiß zuzulassen, was durch eine sichere Erfahrung oder einen strengen Beweis bewährt ist. Streng ist ein Beweis aber, wenn er den Vorschriften der logischen Form entspricht. Zwar bedarf es nicht immer der gewöhnlichen, schulmäßigen Syllogismen, - wie sie CHRISTIAN HERLINUS und KONRAD DASYPODIUS in den sechs ersten Büchern EUKLIDs angewandt haben, (8) - nur das wird erfordert, daß der Beweis kraft seiner Form den Schluß zustande bringt. Als Beispiel für einen solchen  in strenger Form geführten Beweis  ließe sich auch jede beliebige regelrechte Rechnung anführen. Man darf deshalb keine notwendige Prämisse auslassen, und alle Prämissen müssen schon vorher entweder bewiesen sein oder doch als Hypothese angenommen werden, wobei in letzterem Fall dann auch der Schluß nur von hypothetischer Geltung ist. Beobachtet man dies sorgsam, so wird man sich leicht vor trügerischen Ideen zu schützen wissen. Fast ganz stimmt hiermit der so scharfsinnige PASCAL überein, der es in seiner berühmten "Abhandlung über den geometrischen Geist" - die bruchstückweise in dem vorzüglichen Buch des berühmten ANTOINE ARNAULD "Über die Kunst zu denken" enthalten ist - als Aufgabe des Geometers bezeichnet, alle  nur einigermaßen  dunklen Termini zu definieren und alle  nur  einigermaßen zweifelhaften Wahrheiten zu beweisen. (9) Ich wünschte nur, er hätte die Grenzen bestimmt, jenseits deren eine Vorstellung oder eine Aussage nicht mehr dunkel oder zweifelhaft sein kann. Das hierzu Notwendige ergibt sich jedoch bei aufmerksamer Betrachtung leicht aus dem Früheren, und so wollen wir und also jetzt der Kürze befleißigen.

Was die Streitfrage angeht, ob wir alle Dinge in Gott schauen - übrigens ein alter und bei richtiger Auffassung haltbarer Satz - oder aber eigene Ideen haben. (10) so ist zu beachten, daß wir selbst dann, wenn wir alle Dinge in Gott schauten, notwendig zugleich eigene Ideen haben müßten und zwar nicht als eine Art von Abbildchen, sondern als Beschaffenheiten oder Bestimmungen unseres Geistes, entsprechend dem, was wir in Gott wahrnehmen. Unter allen Umständen nämlich geht im Wechsel der Gedanken eine Veränderung in unserem Geist vor. Und auch die Ideen der Dinge, an die wir aktuell nicht denken, sind in unserem Geist enthalten, wie die Gestalt des HERKULES im rohen Marmor. In Gott jedoch ist nicht nur notwendig die Idee der absoluten und unendlichen Ausdehnung, sondern auch die von jeder beliebigen Gestalt, also jeder besonderen Bestimmung der absoluten Ausdehnung, vorhanden. Wenn wir übrigens Farben oder Gerüche wahrnehmen, so nehmen wir freilich nur Gestalten und Bewegungen wahr, jedoch so mannigfaltige und winzige, daß unser Geist in seinem gegenwärtigen Zustand sie unmöglich einzeln distinkt betrachten kann und demnach nicht zu bemerken vermag, daß seine Wahrnehmung sich allein aus den Wahrnehmungen von äußerst kleinen Gestalten und Bewegungen zusammensetzt. So nehmen wir bei einer Mischung von Teilchen des Gelben und Blauen die grüne Farbe wahr: und obwohl wir dabei nur Gelb und Blau in innigster Vermischung empfinden, bemerken wir dies nicht und denken uns irgendeine neue Wesenheit aus.


III.
Zur allgemeinen Charakteristik

Ein altes Wort besagt, Gott habe alles nach Gewicht, Maß und Zahl geschaffen. Manches aber kann nicht gewogen werden: nämlich all das, dem keine Kraft oder Potenz zukommt, manches auch weist keine Teile auf und entzieht sich somit der Messung. Dagegen gibt es nichts, das der Zahl nicht unterworfen wäre. Die Zahl ist daher gewissermaßen eine metaphysische Grundgestalt, und die Arithmetik eine Art Statik des Universums, in der sich die Kräfte der Dinge enthüllen.

Daß die Zahlen die tiefsten Geheimnisse in sich bergen: - davon ist man schon seit den Zeiten des PYTHAGORAS überzeugt. PYTHAGORAS selbst hat, nach einer glaubhaften Nachricht, diese Anschauung, wie vieles andere, aus dem Orient nach Griechenland mit herübergebracht. Da man aber den rechten Schlüssel des Geheimnisses nicht besaß, so wurde die Wißbegrier hier schließlich auf Nichtigkeiten und Aberglauben aller Art geführt, woraus zuletzt eine Art Vulgär-Kabbala, die von der wahren weitab liegt, und - unter dem falschen Namen der Magie - mannigfaltige Phantastereien entstanden, von denen die Bücher wimmeln. Indessen erhielt sich doch in den Menschen der alte Hang, zu glauben, daß uns mit Hilfe der Zahlen, der Charaktere und einer neuen Sprache, die die einen die "adamische" JAKOB BÖHME die Natursprache nennt, noch wunderbare Entdeckungen bevorstehen.

Trotzdem hat vielleicht bisher noch niemand den wahren Grund dafür durchschaut, daß man jedem Gegenstand seine bestimmte charakteristische Zahl beilegen kann. Denn die gelehrtesten Männer haben mir, wenn ich gelegentlich etwas der Art vor ihnen verlauten ließ, eingestanden, sie verständen nicht, was ich damit sagen wolle. Zwar haben schon seit langem vortreffliche Männer eine Art "Sprache" oder "allgemeine Charakteristik" ersonnen, in der sämtliche Begriffe und Dinge in eine gehörige Ordnung gebracht werden sollten, und mit deren Hilfe es den verschiedenen Nationen möglich sein sollte, sich ihre Gedanken mitzuteilen und schriftliche Aufzeichnungen in fremder Sprache in der eigenen zu lesen. Niemand aber hat bisher eine Sprache oder Charakteristik in Angriff genommen, die zugleich die Technik der Entdeckung neuer Sätze und ihrer Beurteilung umfaßte, deren Zeichen oder Charaktere somit dasselbe leisten, wie die arithmetischen Zeichen für die Zahlen, und die algebraischen für Größen überhaupt. Und doch ist es, als wenn Gott, indem er dem Menschengeschlecht diese beiden Wissenschaften verlieh, uns damit nur habe bedeuten wollen, daß unser Verstand noch ein weit tieferes Geheimnis birgt, von dem sie nur ein Schattenbild sind.

Nun bin ich wie durch eine Art Schickung schon als Knabe auf diese Betrachtungen geführt worden, die seither, wie es mit ersten Neigungen zu gehen pflegt, stets aufs Tiefste meinem Geist eingeprägt blieben. Zweierlei kam mir dabei erstaunlich zustatten - was gleichwohl sonst oft bedenklich und manchem schädlich ist -: erstens, daß ich fast ganz Autodidakt war, sodann aber, daß ich in jeder Wissenschaft, an die ich herantrat, sogleich nach etwas Neuem suchte: häufig noch ehe ich nur ihren bekannten, gewöhnlichen Inhalt ganz verstand. Dadurch aber gewann ich zweierlei: ich füllte meinen Kopf nicht mit leeren Sätzen an, die mehr auf eine gelehrte Autorität als auf wirkliche Gründe hin angenommen sind, und die man später nur wieder zu vergessen hat; ferner aber ruhte ich nicht eher, als bis ich in die Fasern und Wurzeln einer jeden Lehre eingedrungen und zu den Prinzipien selbst gelangt war, von denen aus ich dann aus eigener Kraft all das, womit ich es zu tun hatte, aufzufinden vermochte.

Als ich daher von den Geschichtsbüchern, an denen ich von Jugend an außerordentlichen Gefallen fand, und von den Stilübungen, die ich in Prosa wie in gebundener Rede mit solcher Leichtigkeit trieb, daß meine Lehrer schon fürchteten, ich möchte an diesen Ergötzlichkeiten hängen bleiben, zur Logik und Philosophie geführt wurde, da warf ich, kaum daß ich nur irgendetwas von all dem verstanden hatte, eine Fülle chimärischer Einfälle, die in meinem Gehirn auftauchten, aufs Papier und legte sie den Lehrern zu ihrem Erstaunen vor. Unter anderem regte ich einmal die Frage der Prädikamente an. Ich meinte nämlich, so wie man Prädikamente oder Klassen einfacher Begriffe habe, so müsse es auch eine neue Art von Prädikamenten geben, die die Sätze selbst oder die komplexen Termini in ihrer natürlichen Ordnung enthielten. Vom Beweisverfahren hatte ich nämlich damals keine Ahnung und wußte nicht, daß eben das, was ich erforderte, die Geometer tun, indem sie ihre Sätze nach der Reihenfolge ordnen, in der sie im Beweis auseinander hervorgehen. Daher war mein Bedenken allerdings überflüssig, - da jedoch meine Lehrer es mir nicht lösten, so bemühte ich mich selbst, derartige Prädikamente bei der komplexen Terminie oder Lehrsätze festzustellen. Bei meinen eifrigen Bemühungen um dieses Problem gelangte ich dann mit innerer Notwendigkeit zu einer Betrachtung von erstaunlicher Tragweite: es müßte sich, meinte ich, eine Art Alphabeth der menschlichen Gedanken ersinnen und durch die Verknüpfung seiner Buchstaben und die Analysis der Worte, die sich aus ihnen zusammensetzen, alles andere entdecken und beurteilen lassen. Dieser Einfall machte mir nun ganz außerordentliche Freude, die freilich nur kindlich war, da ich die wahre Wichtigkeit der Sache damals noch nicht begriff. Später aber kräftigte sich mit jedem weiteren Fortschritt meiner Erkenntnis in mir zugleich der Entschluß, einen Gegenstand von solcher Bedeutung weiter zu verfolgen. Der Zufall fügte es sodann, daß ich als Jüngling von 20 Jahren eine akademische Abhandlung abzufassen hatte. So schrieb ich die Dissertation über die  ars combinatoria,  die 1666 in Buchform veröffentlicht worden ist, und in der ich meine erstaunliche Entdeckung öffentlich darlegte. Freilich merkt man dieser Abhandlung an, daß sie das Werk eines Jünglings ist, der eben erst die Schule verlassen hatte und noch nicht mit den realen Wissenschaften vertraut war; - denn dort, wo ich mich befand, wurde die Mathematik nicht gepflegt - hätte ich dagegen, wie PASCAL, meine Kindheit in Paris verlebt, so wäre ich vielleicht früher dazu gelangt, die Wissenschaft zu fördern. Aus zwei Gründen jedoch bedauere ich nicht, diese Abhandlung geschrieben zu haben: erstens, weil sie bei vielen, höchst scharfsinnigen Männern außerordentlichen Beifall fand, dann aber, weil ich schon in ihr eine Andeutung meiner Entdeckung machte und somit nicht in den Verdacht geraten kann, dies alles erst kürzlich ersonnen zu haben.

Daß niemand bisher, soweit irgendeine schriftliche Kunde zurückreicht, einen Gegenstand von solcher Wichtigkeit in Angriff genommen hat, darüber habe ich mich allerdings oft gewundert. Denn wäre man nur streng methodisch vorgegangen, so hätten sich sogleich am Anfang Betrachtungen dieser Art aufdrängen müssen - wie denn ich selbst noch als Knabe beim Studium der Logik, und noch ohne Bekanntschaft mit Mathematik, mit Natur- und Geisteswissenschaften darauf verfiel: einzig aus dem Grund, weil ich stets die ersten und ursprünglichen Prinzipien suchte. Der wahre Grund aber, weshalb man den Zugang verfehlt hat, liegt wohl darin, daß die Prinzipien für gewöhnlich trocken und wenig reizvoll sind, und man sie daher, nachdem man sie nur flüchtig gestreift, auf sich beruhen läßt. Von drei Männern jedoch wundert es mich vor allem, daß sie an ein Problem von dieser Bedeutung nicht herangetreten sind: von ARISTOTELES, JOACHIM JUNGIUS und RENÉ DESCARTES. Denn ARISTOTELES hat im Organon und der Metaphysik die innerste Natur der Begriffe mit großem Scharfsinn durchforscht. JOACHIM JUNGIUS aus Lübeck aber - der freilich selbst in Deutschland nur wenig bekannt ist - ist ein Mann von solcher Urteilsschärfe und von so umfassendem Geist, daß man ihm, wie keinem anderen - DESCARTES selbst nicht ausgenommen - eine grundlegende Erneuerung der Wissenschaften hätte zutrauen dürfen, wäre er nur erkannt und unterstützt worden. Er war jedoch schon ein Greis, als DESCARTES' Wirksamkeit begann, und es ist sehr zu bedauern, daß beide einander nicht gekannt haben. (11) Was DESCARTES angeht, so ist hier nicht der Ort, ihn der durch die Größe seines Geistes über alles Lob fast erhaben ist, zu rühmen. Sicherlich betrat er den wahren und richtigen Weg im Reich der Ideen, der auch auf unser Ziel hingeleitet hätte, - später jedoch ließ er sich, wie es scheint, in seiner Forschung zu sehr von der Rücksicht auf den Erfolg bestimmen, ließ daher den Faden der Untersuchung fallen, und begnügte sich damit, metaphysische Meditationen und Proben seiner Geometrie zu geben, womit er aller Augen auf sich lenkte. Im übrigen faßte er den Vorsatz, die Natur der Körper für die Zwecke der Medizin zu erforschen, woran er gewiß recht tat; hätte er nur zuvor die andere Aufgabe, die er sich stellte: die Ordnung der Begriffe und Ideen, gelöst. Denn von hier aus gerade wäre ein helleres Licht, als man glauben sollte, auch auf die Experimente gefallen. Daß er sein Streben nicht hierauf gerichtet, kann also nur darin seinen Grund haben, daß er die tiefere Bedeutung des Problems nicht erfaßt hat. Denn wenn er eine Methode gesehen hätte, eine rationale Philosophie von gleicher unangreifbarer Klarheit wie die Arithmetik zu begründen, so hätte er wohl keinen anderen Weg als diesen gewählt, um eine Schule zu gründen, wonach sein Ehrgeiz so sehr strebte. Denn eine Schule, die eine solche Methode der Philosophie befolgte, würde naturgemäß sogleich von ihren Anfängen an, wie die Geometrie, die Herrschaft im Reich der Vernunft an sich ziehen und nicht eher ins Wanken geraten oder zugrunde gehen, als durch das Eindringen einer neuen Barbarei die Wissenschaften selbst im Menschengeschlecht untergingen. Mich hingegen hielt es, wie sehr ich auch sonst beschäftig und abgelenkt sein möchte, immer wieder bei diesen Betrachtungen fest: einzig darum, weil ich ihre ganze Bedeutung durchschaut und einen wunderbar leichten Weg, zum Ziel zu gelangen, erkannt hatte. Das nämlich ist es, was ich durch angestrengtes Nachdenken schließlich fand. Um die Charakteristik, die ich erstrebe, zustande zu bringen - wenigstens was die Grammatik dieser wunderbaren allgemeinen Sprache und ein Wörterbuch betrifft, das für die meisten und häufigsten Fälle ausreicht, - um mit anderen Worten für alle Ideen die charakteristischen Zahlen festzustellen, ist nichts anderes erforderlich, als die Begründung eines mathematisch-philosophischen Lehrgangs gemäß einer neuen Methode, die ich angeben kann, und die keine größeren Schwierigkeiten als jedes andere Verfahren enthält, da sie von den gewohnten Begriffen und der üblichen Schreibweise nicht allzusehr abweicht. Auch würde sie nicht mehr Arbeit erfordern, als jetzt schon auf Kurse oder Enzyklopädien verwandt wird. Ich denke, daß einige Auserlesene das Ganze in fünf Jahren werden leisten können, daß sie jedoch schon nach zwei Jahren dahin kommen werden, die Lehren, die im praktischen Leben zumeist gebraucht werden, d. h. die Sätze der Moral und Metaphysik, nach einem unfehlbaren Rechenverfahren zu beherrschen.

Sind nun die charakteristischen Zahlen einmal für die meisten Begriffe festgesetzt, so wird das Menschengeschlecht gleichsam ein neues Organ besitzen, das die Leistungsfähigkeit des Geistes weit mehr erhöhen wird, als die optischen Instrumente die Sehschärfe der Augen verstärken und das die Mikroskope und Fernrohre im selben Maße übertreffen wird, wie die Vernunft dem Gesichtssinn überlegen ist. Größere Förderung, als die Magnetnadel jemals den Schiffern gebracht, wird dieses Sternbild all denen bringen, die das Meer der Forschung und der Experimente befahren. Was sich sonst daraus ergeben wird, ist dem Willen des Geschicks anheimgestellt, es kann indessen insgesamt nur bedeutsam und vortrefflich sein. Denn alle anderen Gaben können den Menschen verderben; einzig die echte Vernunft ist ihm unbedingt heilsam: an ihrer Echtheit aber wird kein Zweifel mehr aufkommen können, wenn sie sich erst überall gleich klar und gewiß, wie bisher nur in der Arithmetik, zu erweisen vermag. Dann wird jener lästige Einwand aufhören, mit dem jetzt oft einer den anderen plagt, und der manchem die Lust am Schließen und Argumentieren überhaupt benimmt. Denn statt das Argument zu prüfen, macht der Gegner wohl den allgemeinen Einwand: Woher weißt du, daß deine Vernunft besser ist, als die meine? Welches Kriterium hast du für die Wahrheit? Wenn sich der erst sodann wieder auf seine Gründe beruft, so fehlt es dem Zuhörer an Geduld, sie zu prüfen; denn zumeist muß noch einge große Menge anderer Fragen zuvor gründlich erledigt werden, was eine wochenlange Arbeit ergäbe, wenn man dabei das bisher gültige Schlußverfahren und seine Gesetze genau befolgte. Deshalb behalten nach langem Hin- und Widerreden schließlich meist die Affekte, nicht die Vernunftgründe den Sieg, und der Streit endet damit, daß der gordische Knoten, statt gelöst zu werden, durchauen wird. Dies gilt besonders für die Erwägungen des praktischen Lebens, in denen zuletzt irgendein Entschluß gefaßt werden muß. Hier ist es nur wenigen gegeben, Nutzen und Nachteil, der häufig auf beiden Seiten mannigfach verteilt ist, wie auf eine Waage abzuwägen. Je stärker sich daher der eine diesen, der andere jenen Umstand, je nach seiner wechselnden Stimmung vergegenwärtigt, oder je besser er es versteht, ihn gegen andere beredt und wirksam hervorzuheben und auszumalen: umso entschiedener entschließt er sich selber oder reißt die anderen mit sich fort, besonders, wenn er ihre Neigungen geschickt ausnutzt. Hingegen gibt es kaum einen, der imstande wäre, bei einer Erwägung die ganze Tafel des Für und Wider auf beiden Seiten zusammenzurechnen, d. h. Nutzen und Nachteil nicht nur zu zählen, sondern auch gegeneinander richtig abzuwägen. Daher kommen mir zwei Streitende fast wie zwei Kaufleute vor, die einander verschiedene Kapitalien schulden, die jedoch niemals eine wechselseitige Bilanz ziehen, sondern stattdessen nur immer wieder die verschiedenen Posten ihres Guthabens herausstreichen und einige besondere Titel, ihrer Rechtmäßigkeit und Größe nach, übertreibend hervorheben wollten. Auf diese Weise freilich könnte ihr Streit niemals enden. Man braucht sich somit nicht darüber zu wundern, daß dies bisher in den meisten Streitigkeiten so geht, wo die Sache nicht klar, d. h. nicht auf Zahlen zurückgeführt ist.

Unsere Charakteristik aber wird alle Fragen insgesamt auf Zahlen reduzieren und so eine Art von Statik darstellen, vermöge deren die Vernunftgründe gewogen werden können. Denn auch die Wahrscheinlichkeiten unterliegen der Berechnung und dem Beweis, da man stets abschätzen kann, welcher Fall aus den gegebenen Umständen mit größerer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Wer endlich von der Wahrheit der Religion und ihren Folgerungen fest überzeugt ist und zugleich in seiner Liebe zum Menschengeschlecht dessen Bekehrung ersehnt, der wird sicherlich, sobald er unser Verfahren begriffen hat, gestehen müssen, daß (außer den Wundern und den Taten der Heiligen oder den Siegen eines großen Herrschers) zur Ausbreitung des Glaubens kein wirksameres Mittel gedacht werden kann, als die Entdeckung, von der hier die Rede ist. Denn wenn einmal die Missionare diese Sprache werden einführen können, dann wird auch die wahre Religion, die mit der Vernunft in genauer Übereinstimmung steht, festgestellt sein und einen Abfall von ihr wird man in Zukunft ebensowenig zu fürchten haben, als man eine Abkehr der Menschen von der Arithmetik und Geometrie, die sie einmal gelernt haben, befürchtet. Ich wiederhole deshalb, was ich häufig gesagt habe, daß jemand, der weder Prophet noch Fürst ist, sich keine Aufgabe stellen kann, die zum Wohle des Menschengeschlechts, wie zum Lobpreis Gottes von größerer Bedeutung wäre. Man darf jedoch nicht bei Worten stehen bleiben. Da es aber wegen der wundersamen Verknüpfung, in der alle Dinge stehen, äußerst schwer ist, die charakteristischen Zahlen einiger weniger besonderer Dinge losgelöst darzustellen, so habe ich einen eleganten Kunstgriff ersonnen, vermöge dessen sich gewisse Beziehungen vorläufig darlegen und fixieren lassen, die man sodann weiterhin in zahlenmäßiger Rechnung bestätigen kann. Ich machte nämlich die Fiktion, jene so wunderbaren charakteristischen Zahlen seien schon gegeben, und man habe an ihnen irgendeine allgemeine Eigenschaft beobachtet. Dann nehme ich einstweilen Zahlen an, die irgendwie mit dieser Eigentümlichkeit übereinkommen und kann nun mit ihrer Hilfe sogleich mit erstaunlicher Leichtigkeit alle Regeln der Logik zahlenmäßig beweisen und zugleich ein Kriterium dafür angeben, ob eine gegebene Argumentation der Form nach schlüssig ist. (12) Ob aber ein Beweis der Materie nach zutreffend und schlüssig ist, das wird sich erst dann ohne Mühe und ohne die Gefahr eines Irrtums beurteilen lassen, wenn wir im Besitz der wahren charakteristischen Zahlen der Dinge selbst sein werden.


IV.
Die Methoden der universellen
Synthesis und Analysis

Schon als Knabe lernte ich die Logik, und da ich schon damals die Gewohnheit hatte, bei dem, was man mir vortrug, genauer nach den Gründen zu forschen, so machte ich meinen Lehrern den Einwand, weshalb es nicht, wie man Prädikamente von den einfachen Terminis besitzt, nach denen die  Begriffe  geordnet werden, auch Prädikamente von den zusammengesetzten gäbe, nach denen die  Wahrheiten  in eine bestimmte Ordnung gebracht würden. Ich wußte nämlich nicht, daß beim Beweisverfahren der Geometer und in ihrer Anordung der Sätze nach ihrer gegenseitigen Abhängigkeit eben dies der Fall ist. Ich glaubte nun weiter, es müßte sich dies ganz allgemein bewerkstelligen lassen, wenn man erst einmal die wahren Prädikamente der einfachen Termini besitzt, und wenn man, um dieses Ziel zu erreichen, gleichsam ein neues Alphabeth des Denkens aufstellen würde, d. h. ein Verzeichnis der höchsten Gattungen - oder derer, die als solche angesehen werden - wie  a, b, c, d, e, f,  aus deren Vereinigung dann die niederen Begriffe entstehen. Denn es ist zu beachten, daß Gattungsbegriffe wechselseitig auch zur Bezeichnung der spezifischen Differenz verwandt werden können: daß also jede spezifische Differenz zum Gattungsbegriff, jeder Gattungsbegriff zur spezifischen Differenz werden kann, und man - wenn die Fiktion tatsächlich zulässig wäre - logisch ebensogut von einem "tierischen Vernunftwesen" (rational animale), wie von einem "vernünftigen Tier" (animal rationale) sprechen könnte. (13) Da aber die gewöhnlichen Gattungen in ihrer Verknüpfung die Unterarten nicht aus sich hervorgehen lassen, so schloß ich daraus, daß sie nicht richtig gebildet sind. Ich meinte also, daß diejenigen Gattungsbegriffe, die auf die höchsten zunächst folgen, als  Binionen,  wie  ab, bd, cf;  die Gattungsbegriff dritten Grades als  Ternionen,  wie  abc, bdf  zu bezeichnen wären, und so weiter. Wären jedoch die höchsten Gattungsbegriffe oder die, die man dafür ansieht, unendlich, wie es bei den Zahlen der Fall ist, - denn hier kann man die Primzahlen als die höchsten Gattungen ansehen, alle geraden Zahlen sodann als "Zweizahlen", alle durch 3 teilbaren als "Dreizahlen" bezeichnen usw., während jede abgeleitete Zahl durch die Primzahlen, die hier gleichsam die Gattungsbegriffe vertreten, ausgedrückt wird, jede durch  6  teilbare Zahl z. B. als Produkt einer Zwei- und Dreizahl: wären also auch die höchsten Gattungsbegriffe unendlich, so müßte sich doch zumindest, wie bei den Zahlen, ihre Ordnung festsetzen lassen, aus der sich dann eine Ordnung auch der niederen Begriff ergibt. Wäre daher irgendein Artbegriff gegeben, so ließen sich ordnungsmäßig alle Sätze aufzählen, die man von ihm beweisen kann, oder alle seine Prädikate, sowohl solche von weiterem Umfang als der Subjektbegriff, wie auch speziell die umkehrbaren Prädikate, und aus diesen könnte man sodann die bedeutsameren auswählen (14). Es soll z. B. eine Spezies  y  gegeben sein, deren Begriff  a b c d  ist, und man setze  a b = 1, a c = m, a d = n, b c = p, b d = q, c d = r,  welches Binionen sind, und wiederum  a b c = s, a b d = v, a c d = w, b c d = x,  welches Ternionen sind. Nun werden diese alle zwar Prädikate von  y  sein, umkehrbar aber werden nur die folgenden sein:  a x, b w, c v, d s; l r, m q, n p.  Hierüber habe ich ausführlicher gehandelt in der kleinen Abhandlung über die "Ars Combinatoria", die ich noch im frühesten Jünglingsalter herausgegeben habe, als das schon lange in Aussicht gestellte KIRCHERsche Werk desselben Titels noch nicht erschienen war (15). Hier hoffte ich, derartige Ausführungen zu findenh jedoch nachher, als es erschienen war, daß nur die Lullische Kunst oder etwas dergleichen in ihm wieder vorgebracht wurde (16), die wahre Analysis der menschlichen Gedanken dem Verfasser jedoch ebensowenig wie anderen, die an eine Reform der Philosophie gedacht hatten, auch nur im Traum in den Sinn gekommen war. Die ersten Begriffe, aus deren Verbindung die übrigen entstehen, sind nun entweder deutlich oder verworren; deutlich sind solche, die aus sich selbst begriffen werden, wie "Wesen" (ens); verworren und dennoch klar die unmittelbaren Wahrnehmungen, wie die Farbe, die wir einem anderen nur dadurch erklären können, daß wir sie ihm zeigen. Denn wenngleich sie ihrer Natur nach auflösbar ist, da sie eine Ursache hat, so läßt sie sich doch von uns nicht in gesonderten, erklärbaren Merkmalen erkennen und genugsam beschreiben, wird vielmehr nur undeutlich erkannt und ist daher auch keiner Nominaldefinition fähig. Die Nominaldefinition besteht in der Aufzählung der Merkmale oder der Konstituentien, die hinreichen, das Objekt von allen anderen zu unterscheiden. Wenn man hierin fortfährt und diese Konstituentien wiederum in ihre Bestimmungen auflöst, so gelangt man schließlich zu den primitiven Begriffen, die entweder, absolut genommen, keine Bestimmungen oder doch keine solchen haben, die von uns weiter erklärt werden können. In dieser Reduktion besteht die Kunst, die deutlichen Begriffe zu behandeln. Zur Behandlung der verworrenen Begriffe aber ist erforderlich, die deutlichen, unmittelbar erkennbaren, oder weiter auflösbaren Begriffe zu bezeichnen, die sie begleiten, da wir durch sie zuweilen zur Ursache der verworrenen oder zu einer Art  Auflösung  von ihnen zu gelangen vermögen.

Sodann entspringen alle abgeleiteten Begriffe aus der Verknüpfung der primitiven, und die weiter zusammengesetzten aus der Verknüpfung der zusammengesetzten; nur muß man sich hüten, unnütze Verbindungen zu schaffen, indem man Unvereinbares zusammenbringt. Hierüber aber läßt sich nur aufgrund des Experimentes oder durch eine Auflösung in die einfachen, distinkten Begriffe ein Urteil fällen. Bei der Festsetzung von Realdefinitionen ist somit sorgfältig darauf zu achten, daß man sich ihrer Möglichkeit, d. h. der Vereinbarkeit ihrer einzelnen Bestandteile versichert. Wenngleich daher auch jede umkehrbare Eigenschaft eines Objekts als Nominaldefinition von ihm gelten kann, da aus ihr stets alle anderen Attribute der Sache bewiesen werden können, so eignet sie sich dennoch nicht stets zu einer Realdefinition. Denn es gibt gewisse paradoxe Eigenschaften, wie ich sie nenne, bei denen man im Zweifel darüber sein kann, ob sie möglich sind. So kann man z. B. bezweifeln, ob es eine Kurve gibt, bei der jeder beliebige Punkt sich zu jedem Segment so verhält, daß er verbunden mit den beiden Enden des Segments stets denselben Winkel bildet. Denn angenommen, wir hätten die Punkte der Kurve für ein bestimmtes Segment so eingerichtet, daß sie die Bedingung erfüllen, so können wir doch noch nicht vorhersehen, ob das, was scheinbar nur einmal durch einen günstigen Zufall geglückt ist, auch immer stattfinden wird, ob also dieselben Punkte, die ja nunmehr bestimmt sind und deren Wahl nicht mehr freisteht, auch für ein anderes Segment der Bedingung genügen werden. Dies ist nun freilich, wie wir wissen, die Natur des Kreises; trotzdem würde, wenn jemand nur diese Eigenschaft zugrunde legen und danach die Kurve benennen würde, daraus noch nicht sicher sein, ob sie möglich, ob also die Definition eine Realdefinition ist. Der von EUKLID angegebene Begriff des Kreises aber, wonach er eine Figur ist, die dadurch zustande kommt, daß eine Gerade sich in einer Ebene um ein festes Zentrum bewegt, gewährt eine Realdefinition: es erhellt sich nämlich aus ihr, daß eine solche Figur möglich ist. Es ist daher von Wert, im Besitz von Definitionen zu sein, die die Erzeugung der Sache, oder, wenn dies ausgeschlossen ist, ihre innere Verfassung in sich schließen, d. h. ein Verfahren, das die Entstehungsart oder zumindest die Möglichkeit des Objekts erkennen läßt. Aus dieser Bemerkung habe ich schon frühe, bei einer Prüfung des ungenügenden Kartesischen Beweises für das Dasein Gottes, über den ich häufig mit den gelehrtesten Kartesianern schriftlich diskutiert habe, Nutzen gezogen. DESCARTES führt seinen Beweis nämlich in der folgenden Weise: Was aus der Definition einer Sache bewiesen werden kann, das läßt sich ihr rechtmäßig beilegen. Aus der Definition Gottes aber - nach der er das vollkommenste oder, nach einem scholastischen Ausdruck, das größtmögliche Wesen ist, - folgt seine Existenz; denn die Existenz ist eine Vollkommenheit, und gibt dem Inhalt, dem sie zukommt, zweifellos einen Zuwachs an Größe und Vollkommenheit: also kann man von Gott die Existenz aussagen, d. h. Gott existiert. Diese von DESCARTES erneuerte Argument hatte schon einer der älteren Scholastiker in einer eigenen Schrift unter dem Titel "contra insipientem" [Gegen den Unverstand - wp] verteidigt (17), doch erwidert THOMAS hierauf mit anderen, hierdurch wird schon vorausgesetzt, daß Gott  ist,  d. h., wie ich dies auslege, daß er eine Wesenheit hat, zumindest in der Art, wie sie die Rose im Winter hat, oder daß ein solcher Begriff möglich ist. Der Vorrang des allervollkommensten Wesens besteht also darin, daß mit seiner Möglichkeit sogleich sein Dasein erwiesen ist, daß also aus seiner Wesenheit oder seinem möglichen Begriff seine Existenz folgt. Wenn aber dieser Beweis streng sein soll, so muß zuvor die Möglichkeit dargetan werden. Offenbar nämlich können wir erst dann Schlußfolgerungen an einen Begriff knüpfen, wenn wir wissen, daß er möglich ist; denn vom Unmöglichen oder dem an sich Widerspruchsvollen lassen sich auch widerstreitende Sätze ableiten. Es ist dies der apriorische Grund, weshalb zu einer Realdefinition die Möglichkeit erforderlich ist. Hiermit wird auch dem Einwand von HOBBES begegnet. Denn dieser hielt, da er sah, daß alle Wahrheiten aus den Definitionen hergeleitet werden können, die nach seiner Annahme willkürlich und bloße Worterklärungen sind, da es ja in unsere Belieben steht, die Dinge zu benennen, auch die Wahrheiten für bloße Namen und für völlig willkürlich. Es ist jedoch zu beachten, daß Begriffe nicht beliebig miteinander verbunden werden dürfen, sondern daß man aus ihnen, um eine Realdefinition zu erhalten, einen möglichen Begriff bilden muß. Hieraus erhellt sich, daß jede Realdefinition zumindest die positive Behauptung einer Möglichkeit in sich schließt (18). Ferner sind zwar die Benennungen willkürlich, dennoch aber folgen, wenn sie einmal gesetzt sind, aus ihnen notwendige Konsequenzen und Wahrheiten, die zwar von den einmal angenommenen Charakteren abhängen, trotzdem aber real sind. So hängt z. B. die Neunerprobe zwar von den Zeichen des dekadischen Zahlensystems ab, enhält aber dennoch eine reale Wahrheit. Der Beweis für die Möglichkeit eines Inhaltes kann weiterhin dadurch geführt werden, daß man eine Hypothese zugrunde legt, aus der man ihn ableitet oder eine Art seiner Erzeugung darlegt. Dies ist auch dann von Nutzen, wenn der fragliche Gegenstand in Wirklichkeit nicht in der bestimmten, angegebenen Art zustande gekommen sein mag. Ein und dieselbe Ellipse z. B. kann man sich durch die Bewegung eines Fadens um zwei feste Brennpunkte, oder durch den Schnitt eines Kegels oder Zylinders entstanden denken. Hat man auf diese Weise eine Hypothese oder eine Erzeugungsart gefunden, so besitzt man eine Realdefinition, aus der man wieder andere ableiten kann. Unter diesen werden dann, wenn es sich um die tatsächliche Entstehungsweise des Gegenstandes handelt, diejenigen ausgewählt, die sich den besonderen Umständen des Problems am besten anpassen. Weiterhin sind von den Realdefinitionen diejenigen am vollkommensten, die allen Hypothesen oder Erzeugungsarten gemeinsam sind und die nächste unmittelbare Ursache des Inhalt in sich schließen; schließlich die, aus denen die Möglichkeit der Sache unmittelbar einleuchtet, ohne daß dazu die Beihilfe der Erafhrung oder der Beweis der Möglichkeit eines anderen Gegenstandes erfordert würde. Dies ist der Fall, wenn der Gegenstand in reine, primitive Grundbegriffe, die unmittelbar erkannt werden, aufgelöst ist, welche Erkenntnisart ich als adäquate oder als intuitive zu bezeichnen pflege; denn hier müßte ein etwaiger verborgener Widerspruch sofort hervortreten, da keine weitere Auflösung stattfindet.

Aus diesen  Ideen  oder Definitionen also können alle Wahrheiten bewiesen werden, mit Ausnahme der identischen Sätze, die offenbar ihrer Natur nach unbeweisbar sind und daher wahrhaft Axiome genannt werden können. Die gemeinhin so genannten Axiome aber werden durch eine Analysis, die sich entweder auf das Subjekt oder das Prädikat oder auch auf beide gemeinsam erstreckt, auf identische Sätze zurückgeführt und damit bewiesen; sofern die Annahme ihres Gegenteils darauf hinauslaufen würde, daß ein und dasselbe zugleich sein und nicht sein würde (19). Hieraus erhellt sich, daß der direke und der indirekte Beweis in der letzten Analysis zusammenfallen, und daß auch das scholastische Prinzip, wonach alle Axiome, wenn erst die Termini völlig begriffen sind, sich auf den Satz des Widerspruchs zurückführen lassen, richtig ist. Es läßt sich daher von jeder Wahrheit ein Grund angeben; denn die Verknüpfung des Prädikats mit dem Subjekt ist entweder aus sich selbst klar, wie bei den identischen Sätzen, oder sie bedarf einer Erklärung, die durch die Auflösung der Termini erfolgt. Und zwar ist dies das einzige und höchste Kriterium der Wahrheit abstrakter und von der Erfahrung unabhängiger Sätze, daß sie entweder identisch oder doch auf identische Wahrheiten zurückführbar sind.

Hieraus lassen sich die Elemente der ewigen Wahrheit und eine Methode ableiten, um alle Begriffe, sofern man nur deren Sinn erfaßt hat, in demonstrativer, geometrischer Strenge zu behandeln. In dieser Weise erkennt Gott alles  a priori  und in der Art der ewigen Wahrheiten, da er der Erfahrung nicht bedarf, und von allem ein  adäquates  Wissen besitzt, während wir kaum etwas  adäquat,  weniges  a priori,  das meiste nur durch die  Erfahrung  erkennen, wobei bei letzterer andere Prinzipien und Kriterien anzuwenden sind. Bei den tatsächlichen oder zufälligen Dingen nun, die nicht von der Vernunft, sondern von der Beobachtung oder dem Experiment abhängen, sind die ersten Wahrheiten - für uns - diejenigen, die wir unmittelbar in uns selbst wahrnehmen oder in unserem Selbstbewußtsein erfassen; denn diese können uns unmöglich durch andere Erfahrungen, die uns innerlich näher ständen, bewiesen werden. In meinem Selbstbewußtsein aber gewahre ich nicht nur mich selbst, als denkendes Subjekt, sondern außerdem eine große Mannigfaltigkeit von Gedanken in mir, woraus ich schließe, daß es auch außerhalb meines Bewußtseins etwas gibt. So gewinne ich zu den Sinnen allmählich Vertrauen und vermag den Skeptikern entgegenzutreten. Denn bei all dem, was keine metaphysische Notwendigkeit besitzt, muß uns die Übereinstimmung der Phänomene unter sich als Wahrheit gelten, da sie nicht planlos zustandekommen, sondern eine Ursache haben wird. (20) So unterscheiden wir sicherlich nur durch diese Übereinstimmung der Phänomene den Traum vom Wachen und sagen auch den Aufgang der Sonne für den morgigen Tag nur deshalb voraus, weil usnere Erwartung dieses Phänomens so oft erfüllt worden ist (21). Hierzu kommt die große Macht der Autorität und des allgemeinen Zeugnisses, da es nicht glaubhaft ist, daß so viele sich übereinstimmend täuschen sollten. All dem kann man noch das hinzufügen, was der heilige AUGUSTINUS über den Nutzen des Glaubens gesagt hat (22). Ist nun einmal die Glaubwürdigkeit der Sinne und der anderen Zeugnisse festgestellt, so lassen sich eine Geschichte der Phänomene und, wenn man abstrakte, aus der Erfahrung gewonnene, Wahrheiten damit verknüpft, schließlich Wissenschaften gemischten Charakters begründen. Es bedarf aber einer ganz besonderen Kunst, um die Erfahrungen so anzustellen, anzuordnen und zu verbinden, daß sich daraus nützliche Induktionen ergeben, die Ursachen aufgedeckt und richtige allgemeine Beobachtungen und Begriffe festgesetzt werden (23). Wundern muß man sich jedoch über die Nachlässigkeit der Menschen, die ihre Zeit mit Nichtigkeiten verbringen, um Dinge aber, durch die sie für ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen sorgen könnten, sich nicht kümmern. Denn es stünde vielleicht in ihrer Macht, einem großen Teil der Übel entgegenzusteuern, wenn sie nur angesichts der schon vorhandenen, äußerst reichhaltigen Beobachtungen unseres Jahrhunderts von der wahren Analysis den richtigen Gebrauch machten. Jetzt aber scheint mir die menschliche Naturerkenntnis wie ein Laden, der mit Waren aller Art vollkommen versehen ist, in dem aber keine Ordnung herrscht und kein Verzeichnis vorhanden ist.

Weiterhin erhellt sich hieraus auch, worin der Unterschied zwischen Synthesis und Analysis besteht. Eine Synthesis liegt vor, ,wenn man von den Prinzipien anfängt, der Ordnung nach die Wahrheiten durchläuft, eine gewisse Regelmäßigkeit des Fortschritts feststellt, und auf diese Weise Tafeln oder auch zuweilen allgemeine Formeln begründet, in denen später ein bestimmter Einzelfall aufgefunden werden kann. Die Analysis aber geht einzig, um das gegebene Problem zu lösen, von diesem zu den Prinzipien zurück und verfährt hierbei, wie wenn nichts sonst, das wir selbst oder andere bereits entdeckt haben, uns bekannt und gegeben wäre. (24) Die wichtigere Aufgabe bietet die Synthesis dar, da ihre Begründung von dauerndem Wert ist, während wir bei der analytischen Behandlung bestimmter Einzelprobleme oft nur getane Arbeit nochmals verrichten. Freilich ist es andererseits eine geringe Kunst, eine Synthesis, die bereits von anderen festgestellt worden ist und Theoreme, die bereits bekannt sind, anzuwenden, als, wie es bei der Durchführung der Analysis notwendig, alles aus sich selbst zu leisten: eine Aufgabe, die umso wichtiger ist, als die Sätze, die wir oder andere gefunden haben, uns nicht immer sogleich gegenwärtig und zur Hand sind. Die Analysis ist eine doppelte: die gewöhnliche, die sprungweise fortschreitet, kommt in der Algebra zur Anwendung; - die zweite, eigenartige Form, die ich als "reduzierende Analysis" bezeichne, ist weit eleganter, jedoch noch zu wenig bekannt (25). Die Analysis ist von größerer Bedeutung für die Praxis, um Probleme, die uns hier entgegentreten, zu lösen; wer jedoch imstande ist, der Theorie genauer nachzugehen, der wird, zufrieden damit, die Analysis soweit zu üben, daß er die analytische Kunst beherrscht, im übrigen lieber die Synthesis verfolgen und fast nur die Fragen berühren, zu denen ihn der geregelte Fortschritt selbst führt. Auf diese Weise wird er stets bequem und leicht vorwärts kommen, ohne je auf Schwierigkeiten zu stoßen oder sich über den Ausgang zu täuschen, und wird so in kurzer Zeit zu weit Größerem gelangen, als er selbst jemals zu Anfang gehofft hätte. Gewöhnlich aber beraubt man sich der Frucht seines Nachdenkens durch Übereilung, indem man ohne Vermittlung auf die schwierigeren Fragen überspringt und so mit aller Mühe nichts erreicht. Zur Vollendung ist die wahre Forschungsmethode erst gelant, wenn wir voraussehen können, ob sie uns bis zur endgültigen Lösung führen wird. Irrtümlich ist dagegen die Unterscheidung zwischen analytischer und synthetischer Darstellungsart, wonach erstere den Ursprung der Entdeckung eines Theorems aufweist, letztere ihn jedoch nicht erkennen läßt. (26) Ich habe häufig bemerkt, daß von den schöpferischen Talenten die einen mehr analytisch, die anderen mehr kombinatorisch veranlagt sind. Sache der Kombinatorik oder der synthetischen Anlage ist es, Nutzen und Anwendung einer Sache zu entdecken, z. B. nachdem der Magnet bekannt ist, seine Anwendung auf den Kompaß zu ersinnen; Sache der analytischen dagegen, wenn Gegenstand und Ziel der Erfindung feststehen; die richtigen Mittel zu finden. Indessen ist die Analysis selten ganz rein; denn meist verfallen wir bei der Aufsuchung der Mittel auf Kunstgriffe, die andere oder wir selbst - zufällig oder auf methodischem Weg - bereits gefunden haben, und die wir nun in unserem Gedächtnis oder in den Berichten anderer, wie in einer Tafel oder einem Verzeichnis vorfinden und zur Anwendung bringen, - wobei dieses Verfahren synthetisch ist. Übrigens ist für mich die  kombinatorische Kunst  speziell diejenige Wissenschaft, - oder auch, wie man sie allgemein nennen könnte, - diejenige  Charakteristik oder Bezeichnungskust, die die Formen oder Formeln der Dinge überhaupt d. h. ihre  Qualität  im allgemeinen oder das Verhältnis des Ähnlichen und Unähnlichen an ihnen behandelt; sofern z. B. aus gegebenen Elementen  a, b, c usw. - sie mögen nun Quantitäten oder irgendetwas anderes darstellen - durch ihre wechselseitige Verknüpfung sehr verschiedene Formeln entstehen können. Hierdurch unterscheidet sie sich von der Algebra, welche von den Formeln der  Quantität  oder vom Verhältnis des Gleichen und Ungleichen handelt. Die Algebra ist daher der kombinatorischen Kunst untergeordnet, und macht fortwährend von deren Regeln Gebrauch, die jedoch weit allgemeiner sind, und nicht nur in der Algebra, sondern auch in der Dechiffrierkunst, bei den verschiedenen Arten von Spielen, selbst in der synthetischen Geometrie nach antiker Methode zur Anwendung gelangen, kurz in allen Fällen, in denen es sich um ein Verhältnis der Ähnlichkeit handelt.
LITERATUR: Gottfried Wilhelm Leibniz, Schriften zur Logik und Erkenntnislehre, Philosophische Werke, Bd. 1, hg. von Ernst Cassirer und A. Buchenau, Leipzig 1924
    Anmerkungen
    1) Wir finden hier einen frühen, noch unfertigen Versuch, das Verhältnis zwischen Denken und Sein, zwischen den Vorstellungen in uns und den Gegenständen außer uns zu bestimmen. Näher ausgeführt und erläutert hat LEIBNIZ die Anschauung, die er hier andeutet, in einem Brief an FOUCHER, der wenige Jahre früher (wahrscheinlich 1674) geschrieben ist. Von unbedingter Gewißheit - so führt er hier aus - sind zunächst alle  hypothetischen  Sätze und Wahrheiten, die lediglich die Geltung einer Beziehung zwischen zwei Denkinhalten feststellen, ohne die Behauptung einer äußeren Existenz einzuschließen. Der Inbegriff dieser reinen Verhältnisbegriffe gibt uns ein System notwendiger Wahrheiten, das wir rein aus uns selbst gewinnen und entwickeln können, in dem wir jedoch andererseits die "ewigen Naturen" und "Wesenheiten", die der Welt der  Wirklichkeit  zugrunde liegen, erfassen. Diese Übereinstimmung bildet das eigentliche Hauptproblem: es muß einen Grund dafür geben, daß nicht nur alle denkenden Subjekte in ihren Urteilen über die logischen und mathematischen Elementarverhältnise übereinkommen, sondern daß auch diese Verhältnisse von der Erfahrung und den äußeren Erscheinungen, die uns entgegentreten, beständig gewahrt und bestätigt werden. Die Erklärung dieses Zusammenhangs erfolgt hier noch nicht im Sinne der späteren ausgebildeten Lehre: der Weg zu ihr ist jedoch schon an dieser Stelle bezeichnet.
    2) "Die echte Methode" - schreibt LEIBNIZ in einem gleichzeitigen Brief - "muß uns einen Ariadnefaden in die Hand geben, d. h. ein rein sinnliches Hilfsmittel, wie es die Linien der Geometrie und die Formeln der Arithmetik sind, die man die Schüler lernen läßt. Ohne eine solche Hilfe müßte unser Geist bei jedem einigermaßen langen Weg notwendig in die irre gehen. Die Analysis gibt uns ein deutliches Beispiel hierfür: - und wären wir in der Metaphysik und Moral nur erst im Besitz solcher Zeichen und der Folgerungen, die sich aus ihnen gewinnen lassen, so würden wir auch hier zu wichtigen, durchaus sicheren Sätzen gelangen." [An GALLOYS, 1677. Math. I, Seite 181). Daß selbst die abstraktesten Gedanken der psychologischen Begleitung und Beihilfe der sinnlichen Einbildungskraft bedürfen, hat LEIBNIZ auch später durchgehend hervorgehoben (An BAYLE 1742); seine Auffassung des "reinen Denkens" wird somit von BERKELEYs Polemik gegen die abstrakten Begriffe nicht getroffen.
    3) Vgl. hierzu die folgende Abhandlung "Beobachtungen über die Erkenntnis etc."
    4) Die sogenannte "Neunerprobe" beruth darauf, daß eine Zahl durch 9 teilbar ist, wenn die Summe ihrer einzelnen  Ziffern  diese Bedingung erfüllt. Dieser Satz sagt also einen bestimmten Zusammenhang zwischen Charakteren und Zahlzeichen innerhalb unseres Dezimalsystems aus; er ist dennoch von der Besonderheit dieses Systems nicht abhängig, sofern sich allgemein zeigen läßt, daß jede systematisch darstellte Zahl: an bⁿ + an₋₁ bⁿ⁻¹ + ... a₁b + a₀ durch b - 1 teilbar ist, wenn dies für ihre Quersumme (an + an₋₁ + ... a₀) gilt - gleichviel welchen Wert wir der Basis  b  geben.
    5) Im Jahre 1683 - also unmittelbar vor der Veröffentlichung der LEIBNIZschen Abhandlung - war ANTOINE ARNAULDs Streitschrift gegen MALEBRANCHE, der "Traité des vraies et des fausses ideés" erschienen: mit ihm wurde eine erneute kritische Prüfung des Begriffs und Terminus der "Idee" innerhalb der Cartesianischen Schule selbst eingeleitet.
    6) LEIBNIZ knüpft hier an die bekannte aristotelische Unterscheidung der sinnlichen Qualitäten an, wonach die einen - wie Farbe und Geschmack - durch ein einziges spezifisches Sinnesorgan vermittelt werden, während die anderen - wie Zahl und Größe, Bewegung und Ruhe - mehreren Sinne gemeinsam (koina) sind (peri psyches II, 6). In den "Nouveaux Essais" sehen wir sodann, wie diese psychologische Bestimmung im Gegensatz zu LOCKE und ARISTOTELES umgebildet und in eine erkenntnistheoretische und metaphysische verwandelt ist. "Die Vorstellungen, die, wie man sagt, von mehreren Sinnen herrühren - wie die des Raumes, der Gestalt und Bewegung - stammen vielmehr aus dem Gemeinsinn:  d. h. aus dem Geist selbst;  es sind  Ideen des reinen Verstandes,  die sich jedoch auf die äußeren Gegenstände beziehen und deren wir uns bei Gelegenheit der sinnlichen Wahrnehmung bewußt werden, - auch sind diese Begriffe der Definition und des exakten Beweises fähig." (Nouv. Ess. II, 5).
    7) HOBBES, De corpore P. I. Kap. III, § 7 - 9
    8) Vgl. hierzu M. CANTOR, Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik II, 3. Auflage, Seite 553
    9) LEIBNIZ hatte die Schriften PASCALs, unter ihnen die Abhandlung "De l'esprit géométrique" schon zur Zeit seines Pariser Aufenthaltes im Manuskript kennengelernt. (Vgl. Opusc. et fragm. Seite 181) - Das Fragment, auf das er sich hier bezieht, ist im vierten Teil der "Art de penser", - des klassischen logischen Schulbuchs des Cartesianismus - enthalten (La logique de Port-Royal, ed. FOUILLÉE, Seite 319).
    10) Der letzte Abschnitt der Schrift steht zunächst in keiner erkennbaren logischen Verknüpfung mit ihrem früheren Inhalt. Die Erklärung dafür, daß LEIBNIZ hier eine metaphysische Streitfrage mitten in den Zusammenhang seiner methodischen Erörterungen stellt, liegt in den geschichtlichen Entstehungsbedingungen seiner Abhandlung. "Daß wir alle Dinge in Gott schauen" ist, wie bekannt der Hauptsatz von MALEBRANCHEs Philosophie, der in ARNAULDs Streitschrift, die den äußeren Anlaß für LEIBNIZ' Abhandlung gab, im Mittelpunkt der Betrachtung steht. (siehe oben Anm. 5).
    11) JOACHIM JUNGIUS (1587 - 1657), dessen wissenschaftliche Größe LEIBNIZ wiederholt hervorhebt, wird von ihm vor allem als Logiker geschätzt; als wichtige Entdeckung von ihm wird besonders die Aufstellung bestimmter neuer Schlußformen genannt, die, obwohl streng beweiskräftig, durch die Formen des Syllogismus nicht dargestellt und erklärt werden können. (siehe Nouveaux Essais IV, 17,4) JUNGIUS' Logik ist 1638 in Hamburg erschienen; von seinen übrigen Schriften ist besonders sein naturphilosophisches Hauptwerk, das unter dem Titel: "Doxoscopiae physicae minores, sive Isagoge physica doxoscopia" im Jahre 1662 aus seinem Nachlaß herausgegeben wurde, bedeutsam, da es eine wichtige Phase der Erneuerung der Korpuskulartheorie im 17. Jahrhundert darstellt. (S. GUHRAUER, Joachim Jungius und sein Zeitalter, Stuttgart 1851. WOHLWILL, Joachim Jungius und die Erneuerung atomistischer Lehren im 17. Jahrhundert, Hamburg 1887. LASSWITZ, Geschichte der Atomistik II, Seite 245f) Über JUNGIUS' Leistungen in der Botanik und beschreibenden Naturwissenschaft hat GOETHE in einem Fragment, das für die Charakteristik seiner eigenen Naturbetrachtung von Bedeutung ist, geurteilt: "Leben und Verdienste des Doktor Joachim Jungius", Naturwissenschaftliche Schriften, Weimarer Ausgabe VII, Seite 105 - 129.
    12) Man vgl. hierzu die Skizzen und Fragmente, die neuerdings von COUTURAT herausgegeben worden sind (Opusc. et fragm. inéd. Seite 42 - 92).
    13) Die Forderung der wechselseitigen Vertauschbarkeit von Genus und spezifischer Differenz ergibt sich für LEIBNIZ aus dem Erfordernissen des logischen Kalküls; da jeder zusammengesetzte Begriff symbolisch als ein  Produkt  primitiver Grundfaktoren dargestellt ist, muß auf ihn, wenn die Analogie mit dem algebraischen Verfahren durchführbar sein soll, das kommutative Gesetz [Vertauschungsgesetz - wp] der Multiplikation anwendbar sein.
    14) Ist, wie im folgenden, ein Begriff  y = a b c d  gegeben, so ist jedes einzelne Prädikat, z. B.  a,  für sich genommen, von einem weiteren Umfang als der Subjektbegriff, da dieser erst durch die Hinzufügung neuer Bestimmungen (b c d) aus  a  hervorgeht. "Umkehrbar" heißt dagegen ein Prädikat  x,  wenn nicht nur jedem  y  die Bestimmung  x,  sondern auch jedem  x  die Bestimmung  y  zukommt, wenn also  x  alle Prädikate von  y  besitzt und somit mit ihm von gleichem Umfang ist.
    15) ATHANASIUS KIRCHER, Ars magna sciendi sive Combinatoria, 2 Bde. Amsterdam 1669.
    16) Die "Ars magna" des RAYMUNDUS LULLUS (1235-1315) ist bis über die Anfänge der neueren Philosophie hinaus wirksam geblieben; ihr Einfluß vor allem auf GIORDANO BRUNO ist bekannt. Eine ausführliche Darstellung von ihr findet sich bei J. E. ERDMANN, Grundriß der Geschichte der Philosophie, vierte Auflage, Berlin 1896, Bd. 1, Seite 417f.
    17) ANSELM von CANTERBURY (1033 - 1109) hat das ontologische Argument für das Dasein Gottes in seinem "Proslogium" entwickelt und sodann gegen die Angriffe, die GAUNILO in einer Schrift ("Liber pro insipiente adversus Anselmi in Proslogio ratiocinationem") dagegen richtete, verteidigt. Der Titel dieser Entgegnung ("Liber apologeticus adversus respondentem pro insipiente") ist es, den LEIBNIZ hier vor Augen hat.
    18) "Man kann sagen, daß die Definitionen, wenn in ihnen die Möglichkeit des definierten Begriffs sogleich ersichtlich ist, eine  intuitive Erkenntnis  enthalten. Auf dieser Weise schließen alle adäquaten Definitionen primitive Vernunftwahrheiten und mithin intuitive Erkenntnisse in sich." (Nouveau Essais IV, 2, 1.)
    19) Ein Beispiel und einen Beleg für diesen Gedanken bietet die folgende Abhandlung über die metaphysischen Anfangsgründe der Mathematik in dem Beweis, den Leibniz hier für das Axiom gibt, daß das Ganze größer ist als sein Teil.
    20) Eine tiefere Ausführung und Begründung dieser Gedanken ist in der Abhandlung "De modo distinguendi phaenomena realia ab imaginariis" enthalten, die im zweiten Band unter den metaphysischen Hauptschriften folgt.
    21) Auch für LEIBNIZ sind somit die gewöhnlichen empirischen Schlußfolgerungen lediglich auf Gewohnheit und subjektive Erwartung gegründet, die Art, in der der Kausalbegriff in der naiven, unmittelbaren Erfahrung zur Anwendung kommt, wird von ihm nicht minder scharf wie später von HUME kritisiert. Aber diese Kritik ist für ihn nur der Ausdruck des  positiven  Grundgedankens, daß die echten kausalen Gesetze erst in der fortschreitenden Arbeit der Wissenschaft: in der Rückführung auf die "idealen Gesetze der Arithmetik, Geometrie und Dynamik" gewonnen werden.
    22) AUGUSTINUS, De ulititate crecendi ad Honoratum.
    23) Unter den "Aphorismen" sind Tatsachenwahrheiten, "Apercus" [geistreiche Bemerkungen - wp] der Beobachtung und Erfahrung von allgemeinerer Geltung verstanden (siehe Nouveau Essais, IV, 7, 11), während die "praenotiones"  Begriffe  bedeuten, die sich jedoch ebenfalls erst zugleich mit der Erfahrung entwickeln und ausbilden.
    24) Allgemeiner bezeichnet Leibniz durch den Unterschied der "Synthese" und "Analyse den Richtungsgegensatz des  deduktiven  und  induktiven  Verfahrens: während bei dem ersten Verfahren von ersten begrifflichen Prinzipien zu den Folgerungen in der Erscheinungswelt fortgeschritten wird, besteht im zweiten Fall die Aufgabe umgekehrt darin, eine gegebene einzelne  Tatsache  auf ihre letzten allgemeinen "Gründe" zurückzuleiten. Beide Methoden fordern und bedingen sich wechselseitig: denn der Erklärungsgrund, den wir analytisch für eine Erscheinung gefunden haben, bleibt solange hypothetisch, wie es uns gelingt, aus ihm in lückenloser synthetischer Verknüpfung das gesuchte Phänomen wieder hervorgehen zu lassen. In diesem Sinne setzt jede Induktion allgemein rationale Hilfssätze ("adminicula rationis") notwendig voraus. Diese sachliche Auffassung und Beurteilung des wissenschaftlichen Verfahrens enthält zugleich das genaue Bild der konkreten geschichtlichen Entwicklung, in der Begriff und Problem der Induktion sich herausgebildet haben: LEIBNIZ' Begriff der Analysis ist die genaue logische Wiedergabe von GALILEIs "resolutiver Methode. Auch innerhalb von NEWTONs Wissenschaft, so sehr im übrigen ihre Begriffe und Methoden der von LEIBNIZ entgegengesetzt sind, bleibt dieser allgemeinste Zusammenhang erhalten: die Worte, in denen ROGER COTES in seiner Vorrede zur zweiten Auflage der "Mathematischen Prinzipien der Naturlehre" das Wechselverhältnis der Synthesis und Analysis darstellt, stehen mit LEIBNIZ' Grundanschauungen in genauer Übereinstimmung. (siehe "Mathematische Prinzipien der Naturlehre", deutsch von WOLFERS, Seite 5)
    25) Von der gewöhnlichen Analysis ist diese zweite Form dadurch unterschieden, daß sie sich nicht auf das einzelne gegebene Problem beschränkt und aus ihm allein die Bedingungen der Lösung entwickelt, sondern eine stetige Umformung des Problems selbst vornimmt, indem sie es fortschreitend auf einfachere und immer einfachere Fragen reduziert, bis wir schließlich zu einer Aufgabe gelangen, deren Lösung uns bereits bekannt ist. Mit Hilfe dieser "anagogischen Analysis" hat LEIBNIZ einen Beweis des Pythagoräischen Lehrsatzes gegeben, indem er ihn sukzessiv auf einfachere geomentrische Sätze, als notwendige und hinreichenden Bedingungen seiner Gültigkeit zurückgeführt hat. (siehe Math. VII, Seit 299f) Vgl. Opusc. et. fragm., Seite 350 und 558.
    26) Eine Unterscheidung, die von DESCARTES herrührt: siehe dessen  Responsio ad secundas objectiones  (Opera, Amsterdam, 1670, Seite 82f).