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KARL FRIEDRICH STÄUDLIN
Geschichte und Geist
des Skeptizismus

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"Ich suche nichts zu wissen, als was mir für mein Verhalten wichtig ist; was aber die Dogmen betrifft, welche weder auf Handlungen, noch auf Moral Einfluß haben, und mit welchen so viele Menschen sich quälen, so beunruhige ich mich darüber gar nicht."


II. Über die Quellen
und den Ursprung des Skeptizismu
s

Der Ursprung des Skeptizismus kann entweder bloß historisch oder psychologisch betrachtet werden. Historisch betrachtet man ihn, wenn man die verschiedenen Ursachen entwickelt, welche dazu beitrugen, daß eine Kunst erfunden wurde, alle dogmatischen Behauptungen zweifelhaft zu machen, und daß sich gewisse Männer öffentlich als solche ankündigten, welche sich nicht getrauen, etwas zu bejahen oder zu verneinen, ausgenommen gewisse Wahrnehmungen - welche die Wahrheit, die andere gefunden zu haben glauben, andere für unerreichbar erklären, suchen. - Den Ursprung des Skeptizismus psychologisch erklären, heißt die Ursachen untersuchen, welche bei jedem einzelnen Menschen die skeptische Denkart hervorbringen können. Vom psychologischen Ursprung ist hier die Rede, der historische gehört in die Geschichte.

Der Zweifel überhaupt entsteht alsdann in der Seele, wenn man in den Gründen für und gegen eine Behauptung ein Gleichgewicht entdeckt. Der Grund kann entweder in der Natur der Sache, oder an uns selbst liegen. Das wird niemand leugnen, daß es gewisse Gegenstände gibt, über welche die einige, dem Menschen geziemende Denkart der Zweifel ist. In uns selbst allein liegt der Grund des Zweifels, wenn uns die Gründe, welche das Übergewicht geben könnten, unbekannt sind, oder wenn wir uns derselben gerade jetzt nicht mehr deutlich bewußt sind, oder wenn wir fürchten, daß in den Beweisgründen, aus welchen wir etwas für wahr und gewiß halten sollen, ein heimlicher Betrug liegt, oder daß es uns unbekannte Beweise für das Gegenteil gibt. Wenn sich der Zweifel bei den Menschen nach und nach auf immer mehrere Gegenstände ausdehnt und der Seele eine neue Stimmung gibt, so entsteht der Skeptizismus.

Die Quellen des Skeptizismus sind sehr mannigfaltig und selbst oft entgegengesetzt. Je nachdem die Quellen beschaffen sind, aus welchen er herfließt, so ist er entweder philosophisch oder seicht, roher oder verfeinerter, kalt oder leidenschaftlich und was dergleichen Unterscheidungen mehr sind. Verschiedene dieser Ursachen bringen oft bloß eine vorübergehenden oder periodischen Skeptizismus hervor, der zuweilen zur vollen Überzeugung, zuweilen zum vollendeten Skeptizismus führt.

Es gibt im Leben vieler denkenden und rechtschaffenen Menschen eine Periode, in welcher das Erwachen der Vernunft und das eigene Untersuchen der Lehren, die man bisher bloß geglaubt hat, einen Zustand des Zweifels bei ihnen hervorbringt, der gewöhnlich sehr peinlich ist, ihre ganze Denk- und Gemütsart erschüttert, und oft für die Bildung ihres ganzen Charakters und ihr ganzes Lebensglück entscheidet. Dieser Zustand tritt bald früher beim Jüngling, bald später erst beim Mann ein. Er ist psychologisch sehr merkwürdig, und es ist daher zu verwundern, daß noch kein Philosoph ihn einer besonderen Aufmerksamkeit gewürdigt hat. Glücklich, wer sich aus diesem meist sehr unglücklichen, und man kann sagen konvulsivischen [zuckenden - wp] Zustand gerettet hat und zu einer ruhigen Überzeugung übergegangen ist, ohne an seiner Moralität Schaden gelitten zu haben!

Verschiedene große Schriftsteller, die sich zu einer gewissen Zeit ihres Lebens in diesem Zustand befanden, haben denselben in ihren Schriften geschildert. Unter diesen hat wohl keiner sich darüber so treffend und stark ausgedrückt, als der Meist in der Kunst, psychologische Phänomene zu beschreiben. - Ich hoffe, meine Leser werden die hierher gehörigen Stellen aus seinen Werken hier nicht ungern lesen. Ich werde aber, um den Zusammenhang nicht zu zerreißen, und das Gemälde nicht verstümmelt zu geben, Verschiedenes anführen müssen, was nicht gerade zur Entstehung und Natur dieses Zustandes gehört.

Der savoyische Vikar, dessen Glaubensbekenntnis ich nicht genug lesen kann, und in dessen Denkart ROUSSEAU seine eigene schildert, drückt sich unter anderem so aus (4):
    "Ich lernte in meiner Jugend was man wollte, daß ich lernen sollte, ich sagte, was man wollte, das ich sagen sollte, ich machte mich verbindlich, so wie man es begehrte - ich wurde Priester. Aber bald empfand ich, daß indem ich mich verpflichtet hatte, nicht Mensch zu sein, ich mehr versprochen hatte, als ich halten konnte. Man sagt uns, das Gewissen ist das Werk der Vorurteile; aber ich weiß aus eigener Erfahrung, daß es der Ordnung der Natur hartnäckig allen Gesetzen der Menschen zuwider folgt. Man kann uns wohl dieses oder jenes verbieten, die Gewissensbisse werfen uns immer vor, was die wohl geordnete Natur erlaubt, und aus einem noch stärkeren Grund, was sie uns gebietet. Von meiner Jugend an habe ich den Ehestand als die erste und heiligste Anstalt der Natur verehrt. Da ich mir das Recht genommen hatte, mich derselben zu unterwerfen, so entschloß ich mich, sie nicht zu entheiligen. - Dieser Entschluß wurde mein Unglück. Meine Achtung für das Bett anderer stellt meine Vergehen der Welt bloß. Das Ärgernis mußte ausgesöhnt werden. Ich wurde eingeschlossen, exkommuniziert, vertrieben - mehr das Opfer meiner Gewissenhaftigkeit, als meiner Unkeuschheit. Ich begriff aus den Vorwürfen, die mir mein Fall zuzog, daß man oft seinen Fehler nur vergrößern darf, um der Strafe zu entgehen. Wenige Erfahrungen führen einen nachdenkenden Geist weit. Da ich sah, daß meine Idee von dem, was recht ist, und von allen Pflichten des Menschen durch traurige Beobachtungen umgestürzt wurde, so verlor ich jeden Tag eine der Meinungen, welche ich angenommen hatte. Da diejenigen, welche mir übrig geblieben waren, nicht mehr hinreichten, um ein Ganzes zu bilden, das sich durch sich selbst halten könnte, so fühlte ich, daß sich nach und nach in meiner Seele die Evidenz der Prinzipien verdunkelte. Ich kam endlich dahin, daß ich nicht mehr wußte, was ich denken sollte - Ich war in der Stimmung der Ungewißheit und des Zweifels, welche Descartes zur Erforschung der Wahrheit fordert. Dieser Zustand ist nicht dazu gemacht, lange zu dauern, er ist beunruhigend und peinlich; nur das Interesse des Lasters oder die Trägheit der Seele kann uns darin beharren lassen. Mein Herz war nicht so verdorben, daß ich mir lange darin hätte gefallen können und nichts erhält die Gewohnheit nachzudenken besser, als wenn man mehr mit sich selbst, als mit seinem Glück zufrieden ist.

    Ich dachte also über das traurige Los der Sterblichen nach, welche auf diesem Meer menschlicher Meinungen ohne Ruder und Kompass, ihren stürmischen Leidenschaften überlassen, ohne irgendeinen anderen Führer, als einen unerfahrenen Steuermann, der seinen Weg nicht kennt, und nicht weiß, woher er kommt und wohin er geht, hin und her fahren. Ich sagte zu mir selbst: Ich liebe die Wahrheit, ich suche sie und kann sie nirgends erkennen; man zeige sie mir, ich will ihr getreu bleiben: warum muß sie sich der Sehnsucht des Herzens entziehen, das gemacht ist, sie anzubeten?

    Ob ich gleich oft die größten Übel erduldet habe, so habe ich doch niemals ein so ununterbrochen unangenehmes Leben geführt, als in diesen Zeiten der Unruhe und der Bangigkeit, wo ich unaufhörlich von Zweifel zu Zweifel irrend, von meinem langen Nachsinnen immer nichts als Ungewißheit, Dunkelheiten, Widersprüche über die Ursache meines Daseins und über die Regel meiner Pflichten davontrug.

    Wie kann man Skeptiker aus System und mit gutem Gewissen sein? Ich kann es nicht begreifen. Solche Philosophen gibt es entweder nicht oder sie sind die unglücklichsten Menschen. Der Zweifel über Sachen, deren Kenntnis wichtig für uns ist, ist ein für den menschlichen Geist zu gewaltsamer Zustand; lange kann er nicht widerstehen, er entscheidet sich wider seinen Willen auf die eine oder andere Weise, und er will sich lieber betrügen, als nichts glauben.

    Was meine Verlegenheit vermehrt, war, daß ich, geboren in einer Kirche, welche Alles entscheidet und keinen Zweifel erlaubt, sobald ich einen Punkt verworfen habe auch alles Übrige zu verwerfen pflegte und daß die Unmöglichkeit, so viele ungereimte Entscheidungen zuzugeben, mich auch von denjenigen los machte, welche es nicht waren. Indem man mir sagte: Glaube Alles! so hinderte man mich, irgendetwas zu glauben, und ich wußte gar nicht mehr, wo ich still stehen sollte.

    Ich frug die Philosophen um Rat, ich durchblätterte ihre Schriften, ich untersuchte ihre verschiedenen Meinungen; ich fand sie alle stolz, entscheidend, dogmatisch selbst in ihrem vorgeblichen Skeptizismus, alles wissend, nichts beweisend, einer spottend über den andern, und dieser letzte Punkt, in dem sie alle übereinstimmen, schien mir der einzige zu sein, in dem sie Recht haben. Sie sind siegreich beim Angriff und kraftlos, wenn sie sich verteidigen sollen. Wenn man ihre Gründe wägt, so haben sie nur welche, um zu zerstören; wenn man die Stimmen zählt, so behält jeder nur die seinige; sie vereinigen sich nur, um zu streiten; sie anzuhören, war nicht das Mittel, aus meiner Ungewißheit zu treten.

    Ich begriff, daß die unzureichenden Kraft des menschlichen Geistes die erste Ursache dieser erstaunenden Verschiedenheit von Meinungen ist und der Hochmut die zweite. Wir haben den Maßstab zu dieser unermeßlichen Maschine nicht, wir können ihre Verhältnisse nicht berechnen; wir wissen ihre ersten Gesetze und ihre Endursachen nicht; wir sind uns selbst unbekannt; wir kennen weder unsere Natur, noch das tätige Prinzip in uns; kaum wissen wir, ob der Mensch ein einfaches oder zusammengesetztes Wesen ist; undurchdringliche Geheimnisse umgeben uns von allen Seiten; sie sind über die Region des Sinnlichen erhaben; wir glauben sie durch unseren Verstand durchdringen zu können und wir haben dazu nichts als Einbildungskraft. Jeder bahnt sich durch diese eingebildete Welt einen Weg, den er für den rechten hält; keiner kann wissen, ob der seinige zum Zweck führt. Und doch wollen wir Alles durchdringen, Alles wissen. Das Eine, was wir nicht verstehen, ist, das nicht zu wissen, was wir nicht wissen können. Wir wollen uns lieber auf Ungefähr hin entscheiden und glauben, was nicht ist, als gestehen, daß keiner von uns sehen kann, was wirklich ist. Ein kleiner Teil eines großen Ganzen, dessen Grenzen wir nicht kennen und das sein Urheber unseren törichten Zänkereien überliefert, sind wir eitel genug, entscheiden zu wollen was dieses Ganze an sich selbst ist, und was wir im Verhältnis zu demselben sind.

    Wenn die Philosophen imstande wären, die Wahrheit zu entdecken, wer unter ihnen würde Interesse an ihr nehmen? Jeder weiß wohl, daß sein System nicht besser begründet ist, als das andere; aber er behauptet es, weil es das seinige ist. Es gibt nicht einen, der, wenn er etwas das Wahre und Falsche erkennen sollte, die Lüge, die er gefunden hat, nicht der Wahrheit vorzöge, die durch einen anderen entdeckt worden ist. Wo ist der Philosoph, der, zu seinem Ruhm, nicht gerne das menschliche Geschlecht betrügt? Wo ist derjenige, der heimlich in seinem Herzen eine andere Absicht hätte, als die,, sich auszuzeichnen? Wenn er sich nur über die Menge erhebt, wenn er nur den Glanz seiner Nebenbuhler verdunkelt, was verlangt er mehr? Das Wesentliche ist, anders zu denken, als die Übrigen. Unter den Gläubigen ist er Atheist, unter den Atheisten würde er ein Gläubiger sein.

    Die erste Frucht, welche ich von den Reflexionen erntete, bestand darin, daß ich lernte, meine Untersuchungen auf das einzuschränken, was mich unmittelbar interessiert; mich in Anbetracht aller übrigen Gegenstände mit einer tiefen Unwissenheit zu befriedigen und mich nie bis zum Zweifel zu beunruhigen, ausgenommen in solchen Dingen, welche zu wissen mir wichtig war.

    Alsdann ließ ich die verschiedenen Meinungen, die mich seit meiner Geburt abwechselnd an sich gezogen hatten, vor meinem Geist noch einmal vorübergehen und sah, daß, obgleich keine evident genug war, um die Überzeugung unmittelbar hervorzubringen, sie doch verschiedene Grade von Wahrscheinlichkeit hatten und daß der innere Beifall sich ihnen in verschiedenem Maß schenkte oder verweigerte. Nach dieser ersten Bemerkung legte ich den Vorurteilen ein Stillschweigen auf und verglich alle diese verschiedenen Ideen untereinander. Auf diesem Weg fand ich, daß die erste und die gewöhnlichste auch die simpelste und vernünftigste ist, und daß ihr, um die Stimmen aller davon zu tragen, nicht mangelte, als zuletzt vorgetragen worden zu sein. Man stelle sich alle alten und neuen Philosophen vor, wie sie ihre verworrenen System von Kräften, von ungefähren Zufällen, von Fatalismus und Notwendigkeit, von Atomen, von Weltseele, von lebender Materie, von Materialismus aller Art erschöpfen - und nach ihnen den erhabenen Clarke, wie er die Welt erleuchtet und endlich das Wesen der Wesen und den Weltregengen ankündigt. Mit welcher allgemeinen Bewunderung, mit welchem einstimmigen Beifall würde nicht dieses neue, so große, so tröstende, so erhabene System aufgenommen worden sein - ein System, das so geschickt ist, die Seele zu erheben, und der Tugend eine Stütze zu geben - das zugleich so eindringend, so lichtvoll, so simpel ist und, wie mich dünkt, dem menschlichen Geist weniger Unbegreifliches vorhält, als er in jedem andern System Ungereimtes antrifft. Ich sagte mir selbst: Die unauflöslichen Einwürfe sind allen gemeinschaftlich, weil der menschliche Geist zu eingeschränkt ist, sie aufzulösen; sie beweisen also gegen keines mehr als gegen das andere; aber welcher Unterschied unter den unmittelbaren Beweisen! Wenn dieses System Alles erklärt und nicht mehr Schwierigkeiten hat, als das übrige, muß es nicht vorgezogen werden?

    Indem mir nun die Liebe zur Wahrheit statt aller Philosophie und eine leichte und simple Regel, die mich von der eitlen Spitzfindigkeit der Beweise dispensiert [entbindet - wp], statt aller Methode zu dienen, so untersuche ich nach dieser Regel alle diejenigen Kenntnisse aufs Neue, welche mich interessieren, mit dem festen Entschluß, alle diejenigen als evident anzunehmen, welchen ich in der Aufrichtigkeit meines Herzens meinen Beifall nicht versagen kann - als wahr alle diejenigen, die mir mit den ersten in einer notwendigen Verbindung zu stehen scheinen werden, und dann alle übrigen in der Ungewißheit zu lassen, ohne sie zu verwerfen oder anzunehmen, ohne mich damit zu quälen, sie aufzuhellen, wenn sie auf nichts Praktisch-Nützliches führen."
Hier ist eine Geschichte der Entstehung dieses skeptischen Zustandes, seiner Natur, seiner Wirkungen und seiner Auflösung in eine volle, aber bescheidene religiös-moralische Überzeugung. Wieviel allgemein-wahres in derselben enthalten ist, wievieles in derselben sich von diesem Zustand überhaupt annehmen läßt - dies will ich hier nicht weiter auseinandersetzen - ich darf es sicher der eigenen Abstraktion meiner Leser überlassen. Nachdem der savoyische Vikar sein Glaubensbekenntnis über die natürliche Religion abgelegt hat, so bekennt er ebenso offen den Skeptizismus, der ihm in Anbetracht der Offenbarung übrig geblieben ist.

    "Die Untersuchung, die ich noch anzustellen habe", sagt er (5), "ist von der bisherigen sehr verschieden; ich sehe darin nichts als Verworrenheit, Geheimnis, Dunkelheit; ich bringe nichts als Ungewißheit und Mißtrauen zu derselbigen. Ich kann mich nicht anders als zitternd entscheiden und, was ich vortrage, sind eher meine Zweifel, als meine Meinung - Ich weiß übrigens nicht, ob ich im Irrtum bin - Es ist schwer, bei Untersuchungen nicht zuweilen den affirmativen [zustimmenden - wp] Ton anzunehmen: aber alle meine Affirmationen sollen nichts als Zweifelsgründe sein - Wenn (6) ich ein besserer Räsonneur oder Gelehrter wäre, so würde ich vielleicht die Wahrheit der Offenbarung, ihren Nutzen für diejenigen, welche das Glück haben, sie zu kennen, fühlen. Aber wenn ich Gründe für dieselbige sehe, die ich nicht bestreiten kann, so sehe ich auch Einwürfe gegen dieselbe, die ich nicht auflösen kann. Es gibt so viel starke Gründe für und wider, daß ich, unvermögend mich zu entscheiden, sie weder annehme noch verwerfe. Nur die Verbindlichkeit, sie anzunehmen, verwerfe ich, weil mir diese vorgebliche Verbindlichkeit unvereinbar mit Gottes Gerechtigkeit scheint und weil er dadurch, weit entfernt die Hindernisse des Heils wegzuräumen, sie vielmehr vervielfältigt, ja für den größten Teil des menschlichen Geschlechts unüberwindbar gemacht hätte. Dies ausgenommen, halte ich mich über diesen Punkt in einem ehrfurchtsvollen Zweifel. Ich bin nicht eingebildet genug, um mich für unfehlbar zu halten: anderen Menschen haben entscheiden können, was mir unentschieden scheint; ich räsonniere für mich, nicht für sie; ich tadle sie nicht, ich ahme sie aber auch nicht nach: ihr Urteil kann besser sein, als das meinige, aber es ist nicht meine Schuld, wenn es nicht das meinige ist. - Übrigens setzt mich die Majestät der Schrift in Erstaunen, die Heiligkeit des Evangeliums spricht zu meinem Herzen. - - Das (7) Evangelium hat so große, so rührende, so vollkommen unnachahmliche Charaktere der Wahrheit an sich, daß der Erfinder desselben noch mehr Erstaunen erregen würde, als sein Held. Bei all dem ist eben dieses Evangelium voll unglaublicher Dinge, die der Vernunft widerstehen und die ein vernünftiger Mensch unmöglich fassen und annehmen kann. Was ist mitten unter all diesen Widersprüchen zu tun? - Immer bescheiden und vorsichtig zu sein; stillschweigend zu verehren, was man weder verwerfen noch begreifen kann und sich vor dem großen Wesen zu demütigen, das die Wahrheit allein kennt. Dies ist der unwillkürliche Skeptizismus, in dem ich geblieben bin; aber dieser Skeptizismus ist mir im Geringsten nicht peinlich, weil er sich nicht auf die praktisch-wesentlichen Punkte ausdehnt und ich über die Prinzipien all meiner Pflichten vollkommen mit mir einig bin. Ich diene Gott in der Einfalt des Herzens. Ich suche nichts zu wissen, als was mir für mein Verhalten wichtig ist; was aber die Dogmen betrifft, welche weder auf Handlungen, noch auf Moral Einfluß haben, und mit welchen so viele Menschen sich quälen, so beunruhige ich mich darüber gar nicht."
Dies also wäre ein reiner supernaturalistischer Skeptizismus, wie ich ihn oben genannt habe. Man sieht, um dies gelegentlich zu bemerken, daß ein ROUSSEAU sich da mit einem bescheidenen Zweifel begnügt, wo jetzt so manche, die sich ausschließend den Namen der Aufgeklärten zueignen wollen, mit dem dezidiertesten [entschiedensten - wp] Dogmatismus verwerfen. Aber die wahre Weisheit ist immer bescheidener gewesen, als die Afterweisheit [Pseudo-Weisheit - wp] Noch jetzt hat ein KANT da Ehrerbietung und erlauben sich höchsten eine Unententschiedenheit (8), wo andere stolz über ihre eingebildeten Siege triumphieren und mit ihrer stürmenden Aufklärung die Welt zu beseligen hoffen.

ROUSSEAU spricht noch an einer anderen Stelle und zwar ohne alle erdichtete Einkleidung von der Zweifelsperiode, in welcher er sich eine Zeitlang befunden hat und aus welcher die schöne Überzeugung hervorgegangen ist, die er nachher während seines ganzen Lebens selbst gegen viele immer wieder aufsteigende Zweifel behauptete (9). Es ist auch nach den bereits angeführten Stellen der Mühe wert, einige Züge aus dieser Schilderung auszuheben.
    "Geboren in einer Familie, wo Moralität und Frömmigkeit herrschte, mit wohlwollender Sanftmut erzogen bei einem Geistlichen voll Weisheit und Religion - hatte ich seit meiner zartesten Kindheit, Grundsätze, Maximen, andere würden sagen, Vorurteile, eingesogen, die mich nie gänzlich verlassen haben. - - Die ländliche Einsamkeit, in welcher ich den Frühling meiner Jugend verbrachte, das Studium guter Bücher, dem ich mich ganz überließ - machten mich zuletzt zu einem frommen Schwärmer, ungefähr wir Fenelon. Das Nachdenken in der Einsamkeit, das Studium der Natur, die Betrachtung des Weltalls, nötigen den Einsamen, sich unaufhaltsam zum Urheber der Dinge aufzuschwingen und mit einer süßen Unruhe den Zweck all dessen, was er empfindet, zu suchen. Als mich mein Schicksal in den Strom der Welt zurückwarf, so fand ich in ihr nichts mehr, was einen Augenblick meinem Herzen hätte schmeicheln können. Die Sehnsucht nach meiner süßen Muße folgte mir überall und machte mir alles, was mich etwa zum Glück und zu Ehrenstellen hätte leiten können, gleichgültig und ekelhaft. Ungewiß in meinen unruhigen Neigungen, hoffte ich wenig, erlangte ich noch weniger, und empfand selbst, wenn mir das Glück günstig zu werden schien, daß, im Fall ich auch alles erhalten hätte, was ich zu suchen glaubte, ich doch darin das Glück nicht würde gefunden haben, nach welchem mein Herz sich so feurig sehnte, ohne den Gegenstand desselben enträtseln zu können. So trug alles bei, meine Neigungen von dieser Welt los zu machen, selbst vor meinen Unglücksfällen, die mich ihr ganz fremd machen sollten. Ich kam bis zum vierzigsten Jahr, hin und her getrieben zwischen Dürftigkeit und Wohlstand, zwischen Weisheit und Verirrung, voll von Lastern der Gewohnheit ohne irgendeine böse Neigung im Herzen, auf das Ungefähr hin lebennd ohne feste, durch meine Vernunft entschiedenen Grundsätze, zerstreut in Anbetracht meiner Pflichten, ohne sie zu verachten, aber oft, ohne sie recht zu kennen.

    Seit meiner Jugend hatte ich mir vorgenommen, mit der Epoche von vierzig Jahren meine Bemühungen, um zeitliches Glück zu endigen, und alle meine Ansprüche aufzugeben. - Da der Augenblick gekommen war, so führte ich dieses Projekt ohne Mühe aus, und obgleich mein Glück damals einen festeren Grund zu gewinnen schien, so tat ich doch darauf Verzicht, nicht nur ohne irgendeinen Kummer, sondern mit wahrem Vergnügen. Ich befreite mich von all diesen Anlockungen, von all diesen eitlen Hoffnungen und überließ mich ganz der Sorglosigkeit und der Ruhe des Geistes, die immer mein herrschendster Geschmack und meine dauerhafteste Neigung war. Ich verließ die Welt und ihren Pomp, ich legte allen äußerlichen Schmuck ab. - - - Ich riß aus meinem Herzen die Wurzel der Begierden und Lüste, welche all dem, was ich verließ, Wert geben. - Ich schränkte meine Reformen nicht auf das Äußerliche ein. Ich fühlte, daß selbst diese noch eine andere weit schwerere, aber notwendigere, nämlich eine Reform in den Meinungen erforderte; und entschlossen, alles auf einmal zu tun, unternahm ich es, mein Inneres einer strengen Prüfung zu unterwerfen, die es in denjenigen Zustand versetzen sollte, in welchem ich es bei meinem Tod finden wollte.

    Eine große Revolution, die eben in mir vorgegangen war; eine andere moralische Welt, die sich meinen Blicken enthüllte; die unvernünftigen Urteile der Menschen, deren Ungereimtheit ich zu fühlen anfing, ohne vorauszusetzen, daß ich das Opfer derselben werden würde; das immer wachsende Bedürfnis eines anderen Guts, als der literarische Ruhm war, den ich kaum zu schmecken angefangen hatte, als er mich schon anekelte; der Wunsch, für den Rest meines Lebens mir eine weniger ungewisse Laufbahn vorzuzeichnen, als diejenige war, auf welcher ich die schönste Hälfte meines Lebens gegangen war - all dies nötigte mich zu der großen Untersuchung, deren Bedürfnis ich seit langer Zeit fühlte. Ich unternahm sie also. -

    Von dieser Epoche fängt mein gänzlicher Abschied von der Welt, und mein lebhafter Geschmack für die Einsamkeit, der mich bisher nicht wieder verlassen hat, an. Das Werk, das ich unternommen hatte, konnte nur in einer vollkommenen Zurückgezogenheit ausgeführt werden; es erforderte lange und ruhige Überlegungen, welche das Geräusch der Gesellschaft nicht erlaubt. Diese nötigte mich, eine Zeitlang eine ganz andere Lebensart zu führen, bei der ich mich dann so gut befand, daß ich sie seitdem nie wieder unterbrochen habe, außer wenn ich dazu genötigt wurde und auf wenige Augenblicke, und dann immer wieder von ganzem Herzen zu derselben zurückkehrte. -

    Ich verrichtete die Arbeit, die ich unternommen hatte, mit vielem Eifer, welcher der Wichtigkeit der Sache und dem Bedürfnis, das ich in mir fühlte, proportiniert war. Ich lebte damals mit den neuen Philosophen, welche den alten kaum in etwas glichen: statt meine Zweifel zu heben und meine Unentschlossenheit zu fixieren, hatten sie alle Gewißheit erschüttert, die ich über die Punkte zu haben glaubte, deren Kenntnis mir am wichtigsten war. Eifrige Missionare des Atheismus, und gebieterische Dogmatiker - konnten sie es ohne Grimm gar nicht ausstehen, daß man in irgendetwas anders zu denken wagte, als sie. - Ich verteidigte mich oft ziemlich schwach gegen sie, aus Haß gegen das Streiten und weil ich wenig Talent hatte, einen Streit fortzusetzen: aber niemals habe ich ihre kraftlose Lehre angenommen; und dieser Widerstand gegen so intolerante Menschen, die noch dazu ihre besonderen Absichten hatten, trug nicht wenig dazu bei, ihre Animosität [feindselige Einstellung - wp] anzufeuern.

    Sie haben mich nicht überredet, aber beunruhigt. Ihre Beweisgründe hatten mich wankend gemacht, ohne mich je überzeugt zu haben; ich fand keine gute Antwort darauf, aber ich fühlte, daß es eine geben müßte. Ich klagte mich nicht sowohl des Irrtums, als der Ungeschicklichkeit an, und mein Herz antwortete ihnen besser, als meine Vernunft.

    Endlich sagte ich mir selbst: soll ich ewig das Spiel der Sophisten sein, die alles besser wissen wollen, von denen ich nicht einmal sicher bin, ob die Meinungen, welche sie predigen und die sie anderen mit so viel Eifer aufdringen wollen, ihre eigenen Meinungen sind? Ihre Leidenschaften, von welcher ihre Lehre abhängt; ihr Interesse, dies oder jenes glauben zu machen, machen es unmöglich, das zu durchdringen, was sie selbst glauben. Kann man Redlichkeit bei den Anführern einer Partei suchen? Ihre Philosophie ist für andere, ich brauche eine für mich. Ich will sie also mit all meinen Kräften suchen, so lange es Zeit ist, um eine feste Regel des Lebens für den Rest meiner Tage zu haben. Schon bin ich in der Reife meines Alters, in der ganzen Kraft meines Verstandes. Bald geht es mit mir wieder abwärts. Warte ich länger, so werde ich bei meiner späten Überlegung nicht den Gebrauch all meiner Kräfte mehr haben; meine intellektuellen Kräfte werden schon ihre Wirksamkeit verloren haben; ich werde gewiß alsdann dasjenige nicht so gut tun, was ich jetzt so gut, als mir immer möglich ist, tun kann. Ich will diesen günstigen Augenblick ergreifen; er ist die Epoche meiner äußerlichen und materiellen Reform, er soll auch die meiner intellektuellen und moralischen sein! -

    Ich führte dieses Projekt langsam und unter verschiedenen Unterbrechungen aus, aber mit aller Anstrengung und Aufmerksamkeit, deren ich fähig war. Ich empfand lebhaft, daß die Ruhe meiner übrigen Lebenslage und mein ganzes Schicksal davon abhängt. Ich befand mich dabei Anfangs in einem solchen Labyrinth von Verlegenheiten, Schwierigkeiten, Einwürfen, Verworrenheiten, Finsternissen, daß ich zwanzigmal versucht war, alles dahin gestellt sein zu lassen, allen vergeblichen Untersuchungen zu entsagen, mich in Überlegungen an die Regeln der gewöhnlichen Klugheit zu halten, ohne je dergleichen in den Prinzipien selbst zu suchen, die sich ungeachtet all meiner Mühe mir in ein so tiefes Dunkel gehüllt hatten. Aber diese Klugheit selbst war mir so fremd, ich fand mich selbst so wenig geschickt, sie zu erwerben, daß, sie zu meiner Führerin wählen zu wollen, ebensoviel gewesen wäre, als durch Meere und Stürme, ohne Ruder und Kompass einen beinahe unzugänglichen Leuchtturm, der mir gar keinen Hafen zeigt, suchen zu wollen.

    Ich blieb standhaft: das erstemal in meinem Leben hatte ich Mut; seinem glücklichen Erfolg bin ich es schuldig, daß ich das fürchterliche Los aushalten konnte, welches seit dieser Zeit anfing, mich zu verfolgen, ohne daß ich die mindeste Ahnung davon hatte. Nach den eifrigsten und redlichsten Untersuchungen, die vielleicht je ein Sterblicher angestellt hat, entschied ich mich auf mein ganzes Leben für all die Grundsätze, welche zu haben, mir wichtig war; und wenn ich mich in meinen Resultaten betrog, so bin ich wenigstens sicher, daß mein Irrtum mir nicht zugerechnet werden kann: denn ich habe alles getan, um mich davor zu bewahren. - -

    Ich gestehe, daß ich nicht immer zu meiner Befriedigung all die Schwierigkeiten gehoben habe, die mich beunruhigten. - Aber entschlossen, mich endlich über die Gegenstände zu entscheiden, an welchen der menschliche Verstand so wenig fassen kann - und von allen Seiten mit undurchdringlichen Geheimnissen und unauflöslichen Einwürfen umgeben, nahm ich bei jeder Frage die Meinung an, welche mir am besten begründet, am glaubhaftesten an und für sich schien, ohne mich bei den Einwürfen aufzuhalten, die ich nicht auflösen konnte, welchen aber im entgegengesetzten System ebenso starke Einwürfe korrespondieren. Der dogmatische Ton bei solchen Gegenständen schickt sich nur für Scharlatane; aber es ist wichtig, für sich selbst eine Meinung zu haben und sie mit aller Reife des Urteils zu wählen, deren man fähig ist. -

    Das Resultat meiner mühsamen Untersuchungen war ungefähr das, welches ich im Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars verzeichnet habe - ein Werk, welches unter den gegenwärtigen Generationen unwürdigerweise geschändet und entheiligt worden ist, aber einst eine Revolution unter den Menschen hervorbringen kann, wenn jemals unter ihnen gesundert Verstand und Redlichkeit wiederkehren. - - - Es ist wahr, daß miotten unter Beleidigungen ohne Zahl und unter Schlechtigkeiten ohne Maß, von welchen ich mich von allen Seiten bestürmt fühlte, Zwischenräume von Unruhe und Zweifel von Zeit zu Zeit meine Hoffnung erschütterten und meine Ruhe trübten. Die mächtigen Einwürfe, die ich nicht hatte auflösen können, stellten sich alsdann meinem Geist mit mehr Stärke dar, um mich vollends niederzuschlagen und zwar gerade in den Augenblicken, wo ich, nur zu schwer gedrückt von der Last meines Schicksals, eben in eine gänzliche Mutlosigkeit versinken wollte. Oft kamen dann neue Beweise, die vortragen hörte, in meiner Seele denjenigen zu Hilfe, die mich bereits quälten. Ach! sagte ich dann zu mir unter Herzensbeklemmungen, die mich ersticken wollten, wer wird mich vor der Verzweiflung bewahren, wenn ich, in meinem unglücklichsten Zustand, nichts mehr als Chimären in den Tröstungen finde, die mir meine Vernunft darreicht! Wenn sie auf diese Art ihr eigenes Werk zerstört und jede Stütze der Hoffnung und des Zutrauens umstürzt, die sie mir in der Not erhalten hatte! Was für eine Stütze können überhaupt Täuschungen sein, die nur mich allein in der Welt einwiegen! Die ganze gegenwärtige Generation sieht nichts als Irrtümer und Vorurteile in den Grundsätzen, von denen sich mein Geist nährt; sie findet Wahrheit, Evidenz in einem System, das dem meinen entgegengesetzt ist; sie scheint sogar nicht zu glauben, daß ich es im Ernst annehme; und ich selbst, wenn ich mich demselben mit meinem ganzen Herzen ergebe, finde Schwierigkeiten darin, die mir unüberwindbar sind, die ich unmöglich auflösen kann und die mich doch nicht hindern, bei denselben zu beharren. Bin ich denn also allein weise, allein aufgeklärt unter den Sterblichen? Ist es hinlänglich, daß die Sachen mir anstehen, um zu glauben, daß sie wirklich so sind? Kann ich ein aufgeklärtes Zutrauen zu Wahrscheinlichkeiten haben, welche in den Augen der übrigen Menschen keinen festen Grund haben, und welche mir selbst trüglich erscheinen würden, wenn mein Herz meiner Vernunft nicht zu Hilfe käme? Wäre es nicht besser gewesen, meine Verfolger mit gleichen Waffen zu bestreiten, indem ich ihre Maximen angenommen hätte, als bei meinen chimärischen Grundsätzen ihren Angriffen bloß zu stehen, ohne etwas zu tun, um sie zurückzuschlagen? Ich halte mich für weise und ich bin nichts als betrogen, ein Opfer und ein Märtyrer eines eitlen Irrtums.

    Wie oft war ich in diesen Augenblicken des Zweifels und der Ungewißheit nahe dabei, mich der Verzweiflung zu überlassen! Hätte ich je in diesem Zustand einen ganzen Monat zugebracht, so wäre es um mein Leben und mich geschehen! Aber diese Krisen, obgleich sie sonst sehr häufig bei mir waren, sind doch immer kurz gewesen. Noch bin ich nicht ganz von denselben befreit, aber sie sind jetzt so selten und so schnell vorübergehend, daß sie nicht einmal die Kraft haben, meine Ruhe zu stören. Es sind unbedeutende Erschütterungen, die meine Seele nicht mehr affizieren [anreizen - wp], als eine Feder, die in den Fluß fällt, den Lauf des Wassers verändern kann. - - Es ist nicht möglich, daß nicht eine so vollkommene, so fortdauernde, so traurige Einsamkeit - daß nicht die immer tätige Animosität der ganzen gegenwärtigen Generationen und die Ungerechtigkeiten, mit welchen sie mich unaufhörlich drückt, mich zuweilen niedergeschlagen zu machen. Wenn dann meine Hoffnung erschüttert ist, so kommen von Zeit zu Zeit zaghafte Zweifel zurück, stören die Ruhe meiner Seele und erfüllen sie mit Traurigkeit. Unfähig der Operationen des Geistes, welche nötig wären, um mir Mut und Stärke zu geben, muß ich mir alsdann meinen alten Entschluß in die Seele zurückrufen: die Sorgfalt, die Aufmerksamkeit, die Redlichkeit des Herzens, welche ich anwandte, um ihn fassen zu können, kommen alsdann in mein Gedächtnis zurück und schenken mir meine Zuversicht wieder. Ich entferne also alle neuen Ideen, als ebenso viele traurige Irrtümer von mir, die bloß einen falschen Schein haben und zu nichts gut sind, als meine Ruhe zu stören." -
Ich habe ROUSSEAU lange reden lassen, aber wenn es auf die Darstellung psychologischer Phänomene ankommt, so ist es am besten, diejenigen reden zu lassen, welche sie selbst erfahren haben und das Talent der Selbstbeobachtung und der Schilderung ihrer Gemütszustände in hohem Grad besitzen. Wenn ich nicht irre, so schließt ROUSSEAUs Schilderung über die Ursachen, die Natur, den Gang, die Wirkungen des skeptischen Zustandes überhaupt ungemein viel auf. Nur daß sich nicht bei allen dieselben Phänomene in demselben Grad finden. Nur in einem Geist, der an wichtiger Wahrheit ein so lebhaftes Interesse genommen hat, in welchem Scharfsinn, Imagination, Empfindung eine solche Stärke haben und zugleich dieser Hang zur Schwermut so stark war, konnte dieser Zustand so fürchterlich drückend und der Verzweiflung so nahe sein, und nur ein solcher Geist konnte von der anderen Seite Kraft genug besitzen, eine solche Krise zu überwältigen und die neuen Anfälle immer standhaft auszuhalten und zurückzuschlagen. Bei andern bringt dieser Zustand weniger gewaltsame Wirkungen hervor und endet oft mit einer trägen Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit. Das aber läßt sich mit mehr Allgemeinheit aus dieser Geschichte folgern, daß der skeptische Zustand, von welchem hier die Rede ist, gewöhnlich dann entsteht, wenn der Mensch, der bisher in seinen Meinungen und Überzeugungen meist durch Zufall, Neigung und Autorität bestimmt wurde, nun eine eigene Überzeugung zu erringen sucht, wenn er zugleich auf die widerstreitenden Denkarten und Meinungen hinblickt, und bei seiner unauslöschlichen Idee vom Absolut-Wahren überall nur Relativ-Wahres erblick - wenn ihm endlich das Bestreben, seine Ideen zu ordnen, noch nicht gelingen will - und daß der Zweifel meist bei der Religion anfängt. Auch das kann man aus ROUSSEAUs Geschichte abstrahieren, daß jener Zustand, wenn er einmal in einer Menschenseele eine Zeitlang und in einer gewissen Stärke vorhanden gewesen ist, gewöhnlich von Zeit zu Zeit wieder zu kommen pflegt. Hier sind aber nun die Folgen verschieden. Es gibt nur sehr wenige Menschen, die wie ROUSSEAU, sich auf einmal ihr ganzes Gedankensystem eigentlich schaffen, es dann immer nur weiter entwickeln und anwenden, und trotz aller Angriffe von innen und außen behaupten. Bei anderenn gelingt diesem Zustand oft nachher, was ihm vorher vielleicht oft mißlungen war - er bemächtigt sich der Seele ganze. - Die Leidenschaft nimmt ab - und zuletzt entsteht der ruhige Zustand des Skeptizismus, der vom Zustand des leidenschaftlichen Zweifels sehr verschieden ist. Oft erzeugt dieser öfters wiederkehrende Zustand aber auch eine Leere im Geist, einen Mangel an aller Überzeugung, eine Indifferenz an allem, was doch zu wissen wichtig ist, und damit oft beinahe eine unheilbare Immoralität der Gesinnung. Doch davon nachher, wenn wir von den Folgen des Skeptizismus reden werden.

Meist fängt der Zweifel bei der Religion, und zwar bei der positiven, in welcher man erzogen worden ist, an. Vieles kommt hier auf die Beschaffenheit der positiven Religion und auf den Jugendunterricht, den man in derselben genossen hat, an (10). Solche, die in einer sehr abergläubischen Religion geboren und erzogen sind, die einen sehr abstrakten, unverständlichen Religionsunterricht genossen haben, bei welchen wenigstens der moralische Unterricht dem dogmatischen nicht beständig zur Seite ging, sind daher weit mehr in Gefahr, als andere, in jenen Zustand zu versinken, sobald sie selbst nur etwas nachzudenken anfangen. Sie beginnen mit Zweifeln an der positiven Religion, in welcher sie geboren sind, sie dehnen nach und nach diese Zweifel auf die Offenbarung überhaupt aus, sie gehen zur Vernunftreligion über, bis ihnen endlich auch diese zweifelhaft wird. Man bemerkt diesen Gang menschlicher Denkart oft nicht nur bei einzelnen Menschen, sondern auch bei ganzen Geschlechtern und Nationen. Der Katholizismus, sagt RAYNAL einmal, strebt unaufhörlich zum Protestantismus, der Protestantismus zu Sozianismus, der Sozianismus zumm Deismus, der Deismus zum Skeptizismus.

Ich bin während meiner Universitätsjahre mit verschiedenen denkenden Jünglingen bekannt geworden, welche eine solche Bahn durchlaufen haben. Die Zweifelsperiode hat nicht bei allen dieselben Wirkungen hervorgebracht, und ist nicht bei allen aus denselben Quellen geflossen. Einer, der vortreffliche Anlagen, besonders zur Mathematik hatte, endete mit Verzweiflung und Elend - Hypochondrie, Gesundheitsschwäche, Hang zur Paradoxie wirkten bei ihm in Verbindung mit einem wilden Skeptizismus. - Religion war der erste Gegenstand, auf welchen sein lebhaftes Gefühl mit aller Stärke gefallen war. - Er wurde schwärmerischer Pietist. Eine Komödie von MOLIERE, in welcher der Skeptizismus lächerlich gemacht wird, nahm ihn für denselben ein, weil ihm der Tadel unbillig erschien. Mit diesem Hang zum Zweifel hörte er metaphysische Vorlesungen - der Hang vermehrte sich nur umso mehr. - Er macht die Bestimmung des Menschen zum Hauptgegenstand eigener Untersuchungen, und versank immer tiefer in Ungewißheit. Er las TETENS und KANT, und versank immer tiefer - Er ist nicht mehr - und ich will hier durch eine detailliertere Schilderung seines Zustandes und seiner Schicksale, die ich in einer sehr interessanten Korrespondenz vor mir liegen habe, das Andenken an seine Leiden bei mir und denjenigen meiner Freunde, die ihn gekannt haben, nicht wieder lebhaft machen. Von ein paar andern habe ich schriftliche Aufsätze in Händen, worin sie ihre Bemerkungen über diesen Zustand mitgeteilt haben. Ich glaube, daß sie für die empirische Psychologie nicht unwichtig und auch sonst lehrreich sind - ich will daher das Merkwürdigste aus denselben hier auszeichnen. Nur das muß ich voher noch bemerken, daß beide schon vor acht Jahren geschrieben worden sind.
    "Ich will sehen", schreibt der eine, "wie weit ich imstande bin, Ihr Verlangen in Anbetracht der Geschichte meines Skeptizismus zu erfüllen. Aber ich glaube nicht, daß ich sie ganz genau werden entwickeln können: denn ich nahm mir schon lange vor, mich so viel wie möglich der Gedanken über diese Materie zu entschlagen, wenigstens mich nicht mehr mit der Aufbauung eines besonderen Systems abzugeben. Ich las also über dergleichen Dinge, was ich ungefähr darüber zu lesen bekam, aber ich dachte nicht mehr, wenigstens nicht mehr sorgfältig nach, wie weit das Gelesene mit emeinen übrigen Ideen von dieser Art harmoniert: und weil meine Begriffe aus jenen Zeiten, die meine Zweifelsperiode ausmachen, meist schwankend waren, so läßt sich begreifen, wie Meinungen und Gründe sowohl gegen als auch für die Vorsehung, die Unsterblichkeit usw. gleich leicht Eingang findent konnten, wiewohl ich gestehen muß, daß die letztere mehr nur wahr zu finden wünschte, die erstere hingegen gern und leicht wahr fand: den letzteren stimmte mein Herz bei, den ersteren mein Kopf.

    Ich glaube übrigens, daß meine Geschichte die Geschichte der meisten oder doch vieler anderer sein wird: wenigstens schließe ich das aus der Allgemeinheit der Entstehungsursachen meines Zweifelns. Doch ist es natürlich, da´bei jedem Individuum demungeachtet noch gewisse Besonderheiten vorhanden sein müssen; deswegen und weil ich überhaupt eine Freude daran habe, meine Ideen und ihre Entstehung mir zu entwickeln, weill ich sie Ihnen so offen und so deutlich, als ich kann, darlegen.

    Meine Erziehungsart war die gewöhnlichste und, bei allem guten Willen der Erzieher, doch eben keine der guten. In den Kinderjahren angefüllt mit Gebeten, nachgehends mit dogmatischen Lehren von der Person und dem Amt Christi, vom Nachtmahl etc. kam ich ins Seminar. Bei aller Undeutlichkeit dieser Begriffe blieben sie doch unangetastet, bis ich auf die Universität kam, und zweifeln - hätte mir ein Greuel in Gottes Augen geschienen. Erst als ich Philosophie studieren sollte, sah ich, daß die Sachen anders stehen, als ich bisher wähnte. Ich hatte Alles für wahr angenommen, solange ich keine Beweise dafür hatte, als Autorität und mir diese Autorität hinreichend war. Aber als ich Beweise suchte, so hatte ich erst an diesen und dann an den Sachen selbst etwas auszusetzen. Um diese Zeit geschah es, daß ein vertrauter Freund einige Unterredungen mit mir über dogmatische Lehren, über Inspirationen, über Christus etc. hielt, und ich weiß nicht, woher es kam, daß mir die Zweifel dagegen so gar nicht fremd, nicht auffallend waren. Wenn es eine Seelenwanderung gäbe, so wollt ich glauben, ich habe schon in meiner vorigen Periode als Ketzer existiert; da nun das nicht ist, so will ich den Grund lieber darin suchen, daß ich schon vorher zuweilen solche Gedanken hatte, die sich aber wieder in den Abgrund der dunklen Vorstellungen verloren haben und erst jetzt, nicht nur wieder zum Bewußtsein erhöht, sondern auch deutlicher gemacht wurden.

    Die Periode begann, wo ich nachdenken lernen sollte. Das Erste, was vorgeht, wenn man nachzudenken anfängt, ist meist dies, daß man alte Meinungen, die man für Vorurteile mit Recht oder Unrecht ansieht, wie den Staub vom Kleid abschüttelt und das vorzüglich aus folgenden Gründen:

      1. Das Nachdenken selbst ist uns alsdann etwas Neues. Daß man Wahrheiten beweist, die man vorher auf Treu und Glauben annahm, ist uns neu - und weil der Seele in diesem Zustand alles so ungewohnt und neu ist, so will sie selbst auch etwas Neues zustande bringen, welches sie in diesem Fall nicht tun kann, ohne sich zu bestreben, das Alte wegzuwerfen.

      2. Dieses Bestreben, das Alte zu zerstören und etwas Neues aufzubauen, wird verstärkt durch das aufkeimende Kraftgefühl. Jetzt erst wird man sich des Rechts bewußt, Wahrheiten, die man für unverletzbare Heiligtümer gehalten hat, vor sein Forum zu ziehen und seine Stimme darüber zu geben. Einem Knaben, der bisher an den Gedanken, daß er auch etwas gilt, nicht gewohnt war, tut das wohl. Nun will er auch sein Recht in Ausübung bringen, er zerstört und baut auf und freut sich des Werks seiner Hände, wenn es auch ein noch so elendes Flickwerk wäre!

    Wenn aber nun die Ungewohnheit nachzudenken das Nachdenken selbst erschwert, wenn die Unfähigkeit, tief in die Lehren einzudringen, ihnen selbst den Schein der Undurchdringlichkeit gibt, wenn der alte eingewurzelte Hang zu diesen Lehren sich wieder zeigt, und mit den neuen Grundsätzen kontrastiert, alsdann entsteht ein Zustand des Zweifels, der seine verschiedenen Grade hat.
Ich hatte drei Grundsätze festgestellt.
    1. Meine Vernunft muß die Lehren billigen, die man mir aufdrängen will;

    2. ich darf ohne Gewissensunruhe an allem zweifeln, solang es auf die Moralität nicht nachteilig wirkt;

    3. ich habe eine Menge Vorurteile, die ich anfangs nicht dafür erkannte, kennen gelernt und sie mit Fug und Recht in Zweifel gezogen.
Was mir also irgendwie das Gepräge der Vorurteile zu haben scheint, das muß oder darf bezweifelt werden, bis es näher geprüft ist. Der dritte Satz führte mich am weitesten: denn Alles, was so schlechthin von der Menge angenommen wird, verführte mich schon eben dadurch, daß ich geneigt wurde, es unter die Zahl der Vorurteile zu setzen, besonders wenn es hie und da mit meinen übrigen Ideen nicht harmonieren wollte. Da fand ich dann, daß Alles eine Vorsehung annimmt und doch vielleicht unter tausenden nicht zwei aus vernünftiger Überzeugung. Ich glaubte außerdem in den Vorstellungen davon Manches übertrieben zu finden und dies war mir Grund genug, an der Vorsehung zu zweifeln. Dieses Übertreiben bestand darin, daß man die Vorsehung vorstellt, als ein beständiges unmittelbares Einwirken der Gottheit, und doch - dachte ich - sind alle Dinge dieser Welt in einer ewigen Verknüpfung: alles hat seine Ursachen, alles seine Wirkungen. Eine Krankheit z. B. hat ihre natürlichen Ursachen, die man zuweilen ganz genau und deutlich bestimmen kann - Wozu ist also hier eine Gottheit nötig? Freilich ist es diese, welche diese Dinge aneinandergeknüpft hat: aber mein individuelles Schicksal hat sie doch nur in Verbindung mit dem Ganzen und nicht als individuell geordnet. Nur das Ganze und nicht das Schicksal jedes Individuums, als solches, war das Objekt des göttlichen Willens. Dieses Ganze ist das Möglichstvollkommene: aber sagt nicht die Erfahrung genug, daß in diesem vollkommensten Ganzen Einzelne leiden müssen? Und das müßten sie nicht, wenn nicht das Ganze es forderte: also ist dies, nicht das Individuum das Objekt der göttlichen Absichten.

Dieser Gedanke machte die Lehre, daß Gott mein Schicksal regiert - Denn wenn er es nicht als mein Schicksal regiert, was nützt es mir? oder bin ich versichert, daß es mir nützt? - schwankend, machte mir das Gebet unnütz.

Darin wurde ich bestärkt, wenn ich mir den Menschen als frei dachte. Muß er nicht, wenn er frei handelt, jeden Augenblick den Plan des Schöpfers umstoßen? Und wenn Gott eine allgemeine Verknüpfung der Dinge nicht nur untätig vorhergesehen, sondern vorher tätig geordnet hat, wenn von einer großen Kette auch nicht ein Glied weggenommen werden darf, ohne daß Alles zusammenfällt, wie konnte der Mensch seiner eigenen Willkür, seinen eigenen eingeschränkten Fähigkeiten überlassen werden? Oder hat Gott etwa nur solche freie Menschen erschaffen, von deren freien Handlungen er wußte, daß sie mit seinem übrigen Plan harmonieren werden?

Ich scheue mich nicht, meine damaligen Meinungen zu sagen, wie sie waren. Ich war und bin noch jetzt kein geübter Denker und es war und ist mir noch jetzt leid, daß ich so oft bei meinen Untersuchungen auf der Oberfläche stehen bleibe, und tief eindringen teils nicht kann, teils, weil ich kann, nicht will. Dies leitet mich noch auf eine andere Ursache meiner Zweifelsucht, die ich wahrscheinlich auch wieder mit vielen gemein habe.
LITERATUR - Karl Friedrich Stäudlin, Geschichte und Geist des Skeptizismus vorzüglich in Rücksicht auf Moral und Religion, Leipzig 1794
    Anmerkungen
    4) Rousseau, Emile, Buch IV, Seite 16f, Zweibrücken 1829
    5) a. a. O., Seite 72f
    6) a. a. O., Seite 98
    7) a. a. O., Seite 100f
    8) Immanuel Kant, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Königsberg 1793 (an vielen Stellen).
    9) Rousseau, Les Reveries du promeneur Solitaire (Promenade 3, Fenelon).
    10) Resewitz, Gedanken und Vorschläge, Bd. 1, Seite 86f, beruft sich deshalb auf seine eigenen Erfahrungen, daß ein unzweckmäßiger Religionsunterricht viele Zweifler hervorbringt.