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Intelligenz und Wille
Vorwort Mit der Untersuchung von Intelligenz und Wille und ihrer Bedeutung für die Persönlichkeit und das Leben behandeln wir eine Seite der angewandten oder praktischen Psychologie. Denn die praktische Bedeutung der Intelligenz und des Willens ist nur verständlich zu machen aufgrund einer vorausgehenden theoretisch-psychologischen Erforschung ihres Wesens, ihrer Eigenschaften, ihres Zusammenwirkens oder ihrer relativen Isolierung voneinander bei den "einseitigen" Willens- oder Intelligenzmenschen. Zu solchen Betrachtungen drängt ein allgemein verbreitetes Bedürfnis unserer Zeit. Durch die gegenwärtige Wissenschaft geht ein gemeinsamer Zug, sie aus ihrer rein theoretischen Isolierung - in der sie ein bloßer Besitz des theoretischen Forschers ist - zu lösen und die Ergebnisse aller Forschung in der Form der angewandten Behandlungsweise den Fragen des Lebens näherzubringen. Eine angewandte Psychologie, angewandte Ethik, Ästhetik, Religionswissenschaft, angewandte Gesellschaftslehre und Nationalökonomie suchen diesem Bedürfnis zu dienen. Insbesondere ist es aber die Wissenschaft von der Seele, die von allen Seiten - leider oft in recht dilettantischer Weise - in unseren Tagen dem Leben und seinen Aufgaben dienstbar gemacht wird. Als Psychologie des Verbrechens, der Zeugenaussage, des Verhörs, als "Tatbestandsdiagnostik" tritt sie in den Dienst der Rechtspflege; als Psychologie des Kindes und psychologische Grundlegung der Pädagogik widmet sie sich den Aufgaben der Erziehung; als Psychologie des Handelns erstrebt sie die Grundlegung einer Technik des sittlichen Lebens und einer Charakterlehre. Als Psychologie der individuellen Differenzen sucht sie unser Verständnis der Persönlichkeiten zu fördern. Ja unser ganzes Zeitalter kann man ein psychologisch denkendes nennen. Sind nun wirklich Intelligenz und Wille die Grundmächte der Persönlichkeit, auf deren Entfaltung, Vervollkommnung und Wirksamkeit nach außen die Macht der Persönlichkeit beruth, so dürfen wir in einer Erforschung ihres Wesens, ihres Verhältnisses zueinander, und in den Folgerungen, die sich aus der vertieften Erkenntnis dieser Fragen für die Bildung der Persönlichkeit, und für die Praxis des Forschens und des Handelns ergeben einen Beitrag zu einer zukünftigen Wissenschaft vom persönlichen Leben erblicken. Einen solchen Beitrag versuchen die folgenden Ausführungen zu geben. ![]() Einleitung Nähere Bestimmung der Aufgabe der folgenden Untersuchungen Unsere erste Aufgabe muß die sein, genauer zu bestimmen, was unsere Aufgabe ist. Wodurch werden Intelligenz und Wille für die Forschung und für das Leben zum Problem? Welche Fragen, welche Rätsel geben sie uns auf, die nach einer wissenschaftlichen Lösung verlangen? Trennen wir zunächst zwei Hauptfragen: die theoretische und die praktische: beide Seelenmächte, Intelligenz und Wille müssen rein theoretisch erforscht werden, wir müssen ihr "Wesen", das heißt nichts anderes als ihre Grundeigenschaften mit den Mitteln der allgemeinen Psychologie zu verstehen suchen, und das Verhältnis oder die Verhältnisse bestimmen, in die sie zueinander beim Menschen treten können. Wir müssen aber ferner die verschiedenen Stufen, Grade und Formen, insbesondere die individuellen und die typischen Formen entwickeln, die Intelligenz und Wille jede für sich und in ihrem Verhältnis zueinander im Menschen erlangen können. Gesetzt, wir hätten alle diese Fragen mit den Mitteln der Psychologie beantwortet, so bliebe uns im theoretischen Verständnis von Intelligenz und Wille noch eine große Lücke, die ganz besonders dann empfindlich wird, wenn wir angewandte oder praktische Psychologie treiben wollen. Unser Seelenleben existiert nun einmal nicht für sich, sondern in einem Körper, und wie man auch das Verhältnis von Seele und Leib auf dem Boden einer bestimmten Weltanschauung auffassen mag - ob als Wechselwirkung (dualistisch), oder als das einer inneren Einheit (monistisch), oder als ein völlig übereinstimmendes Nebeneinanderlaufen der geistigen und gewisser körperlicher Prozesse (Parallelismus): auf alle Fälle bietet uns die Erfahrung das Bild einer scheinbaren ständigen Abhängigkeit beider voneinander und einer ständigen wechselseitigen Beeinflussung beider "Substanzen" dar. Ist der Körper eines Menschen schwächlich oder zeigt er eine verspätete Entwicklung, so ist immer auch nach irgendeiner Richtung eine geistige Schwäche und geistige "Verspätung" vorhanden - zumindest zeigt sich dann die Körperschwäche in einem Mangel an Ausdauer in geistiger Arbeit. Und umgekehrt: starker und ausdauernder Wille und den Durchschnitt des Menschen überragende Intelligenz setzt als unerläßliches physisches "Äquivalent" einen starken Körper, zumindest ein leistungsfähiges Gehirn voraus. Die scheinbaren Ausnahmen von dieser Regel sind wirklich nur scheinbare! Wenn wir sehen, daß ein großer Philosoph wie KANT seinem schwachen, flachbrüstigen, zu Kränklichkeiten neigenden Organismus durch Geistes- und Willenssstärke eine Arbeit abgewinnen konnte, die an Tiefe, Gründlichkeit und Umfang nur wenige Menschen erreichen, oder wenn die römischen Feldherrn CÄSAR und BELISAR an Epilepsie litten und auch die härtesten körperlichsten Strapazen ertrugen und zugleich die größten strategischen Leistungen vollbrachten, so müssen wir annehmen, daß auch ihr Körper in gewisser Hinsicht eine hervorragende Leistungsfähigkeit besaß; sie müssen, etwas drastisch ausgedrückt, ein "starkes Großhirn" besessen haben, dessen nervöse Stärke den übrigen Körper mit fortriß, und ihm abzugewinnen wußte, was ihm abzugewinnen war. Auch die einzelne vorübergehende körperliche Verstimmung, Ermüdung, Erschöpfung, Erkrankung, ebenso wie ihr Gegenteil, die körperliche Frische, eine große Ansammlung unverbrauchter Spannkräfte des Nervensystems spiegeln sich im geistigen Leben unmittelbar wieder als geistige Erschlaffung, Erschöpfung oder als Förderung geistiger Arbeit und ihr glückliches Gelingen; und umgekehrt: eine gewaltsame Aufraffung des Willens, oder die Begeisterung zu einer geistigen Aufgabe reißen für unsere Erfahrung auch den Körper mit sich und zwingen ihn zu höheren Leistungen. So werden wir auch das Wesen und die Formen von Intelligenz und Wille nur verstehen, wenn wir auch auf ihre körperlichen Grundlagen zurückgehen, soweit unser sicheres Wissen von ihnen reicht. Damit ist unsere theoretische Aufgabe in großen Umrissen gekennzeichnet. Aber - wie wir sehen werden - nur die unmittelbar theoretische Aufgabe! Mit ihr müssen wir eine weitere verbinden, die erst verständlich werden kann, wenn die praktische Seite unseres Themas betrachtet haben. Diese legt uns im allgemeinen die Beantwortung der Frage auf: Was bedeuten Intelligenz und Wille für die menschliche Persönlichkeit und das Leben - das Leben des einzelnen und der Gesamtheit? Sie zerlegt sich naturgemäß in die Unterfragen: was bedeutet die Intelligenz für die Persönlichkeit und das Leben, was der Wille, was das Verhältnis, in das beide Seelenmächte zueinander treten können? Und es wiederholen sich nun hier die weiteren Unterfragen der theoretischen Erforschung beider Seelenmächte: was für eine praktische Bedeutung haben die verschiedenen Stufen, Grade und Formen, insbesondere die individuellen Formen der Intelligenz und des Willens und des Verhältnisses von Intelligenz und Wille? Nunmehr lassen sich auch die höheren Probleme andeuten, zu denen uns die Lösung unserer unmittelbaren theoretisch-psychologischen und praktischen Fragen hinführen muß. Indem wir das Verhältnis von Intelligenz und Wille theoretisch für unser Seelenleben als solches, und praktisch hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Leben bestimmen, treten wir ja auch an Fragen wie diese heran: Gibt es überhaupt eine große Intelligenz ohne großes Wollen? Setzt nicht die Intelligenz in ihren höheren Entwicklungsformen überall ein starkes und ausdauerndes Wollen voraus? Ist nicht die Intelligenz als solche gedacht immer nur eine bloße Möglichkeit oder Anlage zu intellektuellen Leistungen, eine bloße "Begabung", ein intellektuelles "Können" die bloße Potenzialität, die stets des Willens bedarf, um zur Aktion, zur Tat, zum Fortschritt, zur Ausbildung zu gelangen? Und weiter: Gibt es andererseits ein zielbewußtes und seiner Aufgabe gewisses Wollen ohne eine Intelligenz, die ihm die Ziele vorschreibt, die Erfolge und Mißerfolge gegeneinander abwägt, und die Beweggründe prüft; ist es nicht die Intelligenz, die aufgrund von Erfahrungen im Handeln den Wert der einzelnen Erfolge des Wollens uns zu Bewußtsein bringt? Ein Wille ohne die Arbeit des Intellekts ist selbstverständlich ein blinder Wille, und er wird umso mehr "sehend", d. h. seiner Ziele und Beweggründe klar bewußt, je mehr er von hoher Intelligenz geleitet wird. Setzt also andererseits nicht der Wille die Intelligenz voraus? Und wenn wir sehen, daß es im praktischen Leben zwar nie zu einem Willen kommt, der ganz ohne den Intellekt arbeitet und nie zu einem intellektuellen Seelenleben ohne alles Wollen, so finden wir doch die ganz gewöhnliche Erscheinung, daß es einseitige Willensmenschen gibt, bei denen ein starkes Wollen über die Intelligenz überwiegt, und ebenso sehen wir auf Schritt und Tritt den typisch einseitigen "Intellektuellen", der seinen Geist bildet, aber im praktischen Handeln und in der tatkräftigen Verfolgung seiner äußeren Lebensziele schlaff und unpraktisch bleibt. Ja, jeder kennt wohl sogar in seinem Bekanntenkreis solche Persönlichkeiten, die als "hervorragend begabt" gelten, aber nichts aus ihrer Begabung "machen", die alles mögliche "können" oder vielleicht "könnten, wenn sie nur wollten", bei denen aber immer mit dem Wollen auch das Können ausbleibt. Das sind die einseitig intellektuellen Menschen. Was ist nun wertvoller für das Leben, der einseitige Willensmensch, der blinde, impulsive "Draufgänger" oder der bei seiner bloßen intellektuellen "Begabtheit" stehenbleibende Mensch? Und wenn wir diese beiden Einseitigkeiten auch leicht beide als relativ wertlos für das Leben betrachten können, so bleibt die Frage: was ist das wertvollste Verhältnis von Intelligenz und Wille? und was ist dann in seinen höchsten Entwicklungsformen das Wertvollere, das Überwiegen des Willens oder der Intelligenz? Sind die Willensmenschen, die "Männer der Tat" (heutzutage müssen wir sagen: die Frauen und Männer der Tat) höher zu schätzen als die Intelligenzmenschen? Wir können diesen Gegensatz als den des praktischen Voluntarismus und Intellektualismus bezeichnen. Aber die psychologische Frage nach dem Verhältnis von Wille und Intelligenz hat vielleicht noch einen ganz anderen Sinn. Man kann nämlich nicht nur versuchen, die Frage zu beantworten, ob der Wille die Intelligenz bestimmt, oder aber die Intelligenz den Willen, sondern oft ist in der Psychologie der Versuch gemacht worden, eine von diesen beiden Geistesmächten auf Kosten der anderen ganz zu beseitigen und z. B. zu beweisen, daß das ganze geistige Leben "im Grund genommen" nur Wille und nichts anderes als eine Summe von Willensäußerungen ist; das "Ich", die menschliche Persönlichkeit, wird dann so aufgefaßt, daß ihm als sein wahres Wesen eine Willensmacht zugrunde liegt, die sich die Intelligenz als ein Mittel zur Erreichung ihrer Ziele selbst erst beschafft; das ist die Ansicht des psychologischen oder theoretischen Voluntarismus. Oder man kann die umgekehrte Auffassung durchzuführen suchen: Das Wesen des menschlichen Geistes ist nur "Vorstellung", Vorstellungsverlauf, und Denken als eine besondere Art von Vorstellungstätigkeit; der Wille ist dann nichts als das Streben der Vorstellungen ins Bewußtsein zu treten, oder die Vorstellung eines Zieles und deren Ausführung im Handeln. Das ist die Grundansicht vom Seelenleben, die der psychologische Intellektualismus für die richtige hält. So tritt also dem Gegensatz des praktischen Voluntarismus und Intellektualismus der des theoretischen Voluntarismus und Intellektualismus zur Seite. Der Intellektualist, versucht alles geistige Tun in intellektuelle Prozesse aufzulösen, in Wahrnehmen, Vorstellen, Denken, Phantasie und Gedächtnistätigkeit. Dem Voluntaristen erscheint gerade das am Seelenleben das Eigenartige, daß es nie ein bloßes "Geschehen" ist wie die Naturvorgänge, sondern immer den Charakter einer inneren Tätigkeit eines handelnden "Ich" hat, jener denkt sich daher auch das Ich selbst als seinem Wesen nach vorstellendes, dieser als wollendes Ich. So wird der ganze Anblick, den das geistige Leben des Menschen gewährt, dem Intellektualisten zu einer Kette von Vorstellungs- oder Denktätigkeiten, dem Voluntaristen zu einer Kette von Willenshandlungen, demgemäß muß auch die geistige Entwicklung, der psychische Fortschritt dem Intellektualisten eine Zunahme der klaren Vorstellungen, ein Überwinden dunkler, halbbewußter, unklarer Vorstellungen sein, und die höchste Form des Geisteslebens erblickt er in der vollkommenen Intelligenz. Dem Voluntaristen ist alle geistige Entwicklung eine Willensentwicklung, eine Erreichung immer höherer Stufen des Handelns, und das ideale Ziel aller geistigen Entwicklung ist ihm der sich selbst bestimmende, von einem höchsten Prinzip einheitlich geleitete Wille. Es ist also ein Gegensatz der gesamten Lebensanschauung, zu dem die Entscheidung über Intelligenz und Wille und ihr Verhältnis Stellung nimmt. Und vielleicht sogar ein Gegensatz der Weltanschauung. Denn nach der Analogie unseres eigenen geistigen Lebens denkt sich die philosophische Weltanschauung auch bisweilen das gesamte Weltgeschehen und seine letzten Ursachen, bzw. seine letzte und höchste Ursache: diese kann als eine die gesamte Wirklichkeit beherrschende Intelligenz oder ein "absoluter" Wille gedacht werden, der als "Weltwille" für den Voluntaristen dasselbe bedeutet, wie die "Weltintelligenz" oder der Weltgeist für den Intellektualisten. So erstreckt sich die Tragweite unserer Untersuchung über Intelligenz und Wille möglicherweise weit über die unmittelbaren psychologischen Überlegungen hinaus, sie kann Bedeutung gewinnen für unsere Gesamtansicht vom geistigen Leben und den geistigen Beziehungen der Menschen, sie kann die Basis bilden für eine bestimmte Lebens- und Weltanschauung. ![]() Erstes Kapitel Vorläufiger Begriff der Intelligenz und des Willens Eine endgültige Bestimmung dessen, was Intelligenz und Wille sind, und damit eine bestimmte Definition der Begriffe Intelligenz und Wille, soll uns diese ganze Untersuchung erst geben, es würde daher den Schein einer Voreingenommenheit und einer künstlichen Zurechtstutzung der Tatsachen erwecken können, wenn wir diese Definitionen voranstellen wollten. Wir bedürfen aber eines Zieles und leitenden Gesichtspunktes für die folgenden Untersuchungen, und müsse deshalb eine vorläufige Feststellung beider Begriffe vornehmen. Diese wollen wir teils dem Sprachgebrauch, teils den auffallendsten und sichersten Erfahrungen des Lebens entnehmen, durch die Rücksicht auf den Sprachgebrauch sichern wir uns dagegen, daß wir vielleicht auf eine der allgemeinen Bezeichnungsweise nicht entsprechende Definition von Intelligenz und Wille verfallen, und rechnen mit der konventionellen Natur aller Wortbedeutungen; durch den Ausgangspunkt von der Erfahrung, den wir in der weiteren Untersuchung auf Schritt und Tritt beibehalten werden, schützen wir uns vor willkürlichen logischen Konstruktionen der Eigenschaften und des Wesens der Intelligenz und des Willens. Dies ist der Weg, den alle empirische Forschung unerbittlich gehen muß. Unsere Erfahrungsbegriffe sind nicht ein für allemal fertig gegeben, sie sind wandelbar und haben ihre Entwicklung, ihre Brauchbarkeit schreitet mit zunehmender Erkenntnis fort. Die empirische Forschung bedarf ihrer als leitender Gesichtspunkte und korrigiert sie dann wieder durch die Zergliederung derselben Tatsachen, für die sie als leitende Gesichtspunkte gedient haben. So stehen die Erfahrungsbegriffe am Anfang und Ende jeder Einzelforschung, und wenn die Forschung wahrhaft empirisch verfährt, darf sie niemals darauf ausgehen, einfach "bestätigen" zu wollen, was in den Anfangsbegriffen formuliert wurde, sondern sie muß immer bereit sein, die Begriffe aus einer vertieften Erkenntnis der Tatsachen heraus zu korrigieren und umzubilden. Drücken wir den Inhalt eines solchen leitenden Begriffs, z. B. in unserem Fall den der Intelligenz, in einem oder mehreren Sätzen aus, die das Wesen der Intelligenz genauer angeben, so sind solche Sätze der zukünftigen Forschung gegenüber vermutende Behauptungen oder Hypothesen, die nun durch die Forschung bestätigt, korrigiert, erweitert oder umgestaltet werden können. Betrachten wir zuerst, was nach dem Sprachgebrauch und der täglichen Erfahrung als das Wesen der Intelligenz und des Willens angesehen wird, so können wir zunächst zum Begriff der Intelligenz bemerken, daß die allgemeine Meinung in ihrem Urteil über die Intelligenz der Menschen sich auf einige Merkmale stützt, die ohne weiteres anzuerkennen sind, und in denen sich eine einheitliche, von Widerspruch freie Anschauung verrät, aber auch auf manche andere, die mehr schwankend und widerspruchsvoll sind. Und ähnlich steht es bei den allgemeinen Anschauungen über das Wesen des Willens. Am meisten herrscht in der allgemeinen Meinung eine Übereinstimmung darüber, daß der denkende und urteilende Mensch als intelligent zu bezeichnent ist, und daß die Intelligenz auf gewissen Eigenschaften des Denkens und Urteilens beruth. (Die Begriffe Denken und Urteilen wollen wir vorläufig als gleichbedeutend nehmen.) Das Prädikat der Intelligenz sprechen wir z. B. ohne Bedenken einem Menschen zu, der sich durch eine Selbständigkeit des Urteils auszeichnet, und dasselbe gilt von den Eigenschaften der Originalität und Produktivität des Denkens, und natürlich von allen geistigen Eigenschaften, auf denen diese Fähigkeiten etwa beruhen können. Ebenso werden wir nie Bedenken tragen, die Eigenschaften des Scharfsinns und des Tiefsinns zur Intelligenz zu rechnen. Dieses sind aber ebenfalls Eigenschaften des Denkens, denn der scharfsinnige Mensch ist der scharfsinnig Urteilende, der tiefsinnige ist der tiefsinnige Denker. Intelligenz, so scheint es also, ist nach der allgemeinen Meinung in erster Linie eine Urteilsfähigkeit, Fähigkeit zu denken und insbesondere gehört zu ihr all das, was wir die Selbständigkeit des Urteils, Produktivität, Scharfsinn und Tiefsinn des Denkens nennen. Weniger übereinstimmend ist die allgemeine Meinung in anderen Merkmalen der Intelligenz. Gehen wir in der Reihenfolge der geistigen Funktionen von unten nach oben, von den elementaren zu denjenigen Funktionen, welche die elementaren voraussetzen, so ist es zunächst schon zweifelhaft, ob wie die Gabe der Beobachtung und Anschauung zur Intelligenz rechnen können. Wenigstens sind wir im allgemeinen geneigt, nur bei einer bestimmten Art der Beobachtungsgabe den Menschen intelligent zu nennen, nämlich wenn er eine Selbständigkeit und Originalität der Beobachtung, oder eine besondere Schärfe und Genauigkeit im Beobachten zeigt. Noch schwankender steht es mit den Gedächtnisfähigkeiten. Wir pflegen sogar manchmal ein großes Gedächtnis in einen gewissen Gegensatz zur Intelligenz zu bringen. Man sagt wohl, diesesr Mensch hat zwar ein gutes Gedächtnis, aber das ist auch alles, es fehlt ihm an der Urteilsfähigkeit, und wir werden dann kein Bedenken tragen, ihm die eigentliche höhere Intelligenz abzusprechen. Und wie steht es mit der Phantasietätigkeit? Denken wir uns einen Menschen, der nicht imstande ist, selbständig zu urteilen und produktiv zu denken, der dazu eine geringe Phantasiebegabung besitzt, die vorwiegend einen reproduktiven, d. h. wenig originellen Charakter trägt, so werden wir gewiß Bedenken tragen, diese Art der Begabung als Intelligenz zu bezeichnen. Auch die Phantasiebegabung macht also höchstens dann den intelligenten Menschen aus, wenn wir eine originelle, reiche, lebhaft und produktive Phantasie vorfinden. Ferner rechnet man auch manche formale Eigenschaften wohl zur Intelligenz, so z. B. die Schnelligkeit und Leichtigkeit der Auffassung und die Schnelligkeit und Mühelosigkeit der Urteilsbildung. Wer beim Anhören eines Vortrags oder eines Gesprächs schwierige Gedankengänge leicht und schnell erfaßt, oder wer eine schwierige Lektüre leicht versteht, und sich rasch ein Urteil über ein Buch zu bilden vermag, daß gewisse Ansprüche an das Nachdenken stellt, den nennen wir im allgemeinen ohne Bedenken intelligent. Aber diese rein zeitlichen Merkmale der Bewußtseinsvorgänge, die Schnelligkeit der Auffassung und Urteilsbildung sind schon etwas zweifelhafter Natur. Denn eine leichte und schnelle Auffassung bleibt auch oft bei der ersten und oberflächlichsten Deutung des Gehörten und Gelesenen stehen, und wir werden schwerlich eine ausgeprägte Oberflächlichkeit mit zur Intelligenz in einem höheren Sinn des Wortes rechnen. Ferner können wir umgekehrt bemerken, daß Langsamkeit und eine umständliche Sorgfalt der Verarbeitung des Gelesenen oder Gehörten sehr häufig zusammen besteht mit einer Tiefe und Gründlichkeit des Denkens! Der langsame Denker ist eben oft wegen seiner Langsamkeit zugleich der Gründliche. Aus dieser Gegenüberstellung sieht man, daß das Merkmal der Schnelligkeit der Erkenntnisvorgänge ein unsicheres Kennzeichen der Intelligenz ist und als solches noch keine Intelligenz beweisen kann, es kann also höchstens im Verein mit anderen Merkmalen zur Kennzeichnung der Intelligenz gebraucht werden. Aus diesen Überlegungen ergibt sich im allgemeinen, daß wir unter Intelligenz gewisse Eigenschaften des Denkens oder Urteilens verstehen, denn auch die produktive Beobachtung und die wertvollste Art der produktiven Phantasie, die wir neben den eigentlichen Fähigkeiten des Denkens zur Intelligenz rechnen konnten, kommen (wie wir später noch genauer sehen werden) unter dem Einfluß des Denkens zustande. Versuchen wir nun die allgemeine Meinung auch bei der vorläufigen Vorstellung des Willensbegriffs zurate zu ziehen. Hier ist nun wohl als sicher anzunehmen, daß unter dem Willen durchaus nicht alles äußere "Handeln", das äußerlich betrachtet in der Form einer Kette von zweckmäßigen Bewegungen verläuft, als Willenshandlung angesehen wird. Schon die populäre Anschauung macht vielmehr unter unseren Handlungen, auch wenn sie äußerlich betrachtet den Charakter zweckmäßig geordneter Bewegungen tragen, gewisse durchgreifende Unterschiede. Wenn wir bei einem heftigen Schallreiz, auf den wir nicht gefaßt waren, erschreckend zusammenfahren und vielleicht zur Seite springen (z. B. wenn plötzlich hinter uns auf der Straße eine Pistole abgeschossen wird), so ist das ganz gewiß eine Anzahl zweckmäßig geordneter Bewegungen, denn das Zusammenfahren und das Beiseitespringen dient objektiv dem Zweck des Schutzes vor einer von diesem Schuß her drohenden Gefahr. Aber Jedermann wird Bedenken tragen, das eine wirkliche Willenshandlung zu nennen, dazu fehlt doch zu sehr die klar Vorstellung von einem Ziel dieser Bewegungen und die innere Zustimmung zu ihrer Ausführung. Wir sind vielmehr geradezu der Ansicht, daß eine solche Bewegung ganz ohne Zutun unseres Willens zustande kommt. Ebensowenig nennt man all die zweckmäßigen Bewegungen wirkliche Willenshandlungen, welche uns durch zahllose Wiederholungen und Gewöhnungen ganz automatisch geworden sind. Deutlich sieht man das daran, daß wir den Menschen für solche Handlungen in vielen Fällen gar nicht verantwortlich machen und der Ansicht sind, daß er selbst kaum noch etwas von ihnen weiß. Das ist z. B. der Fall, bei allen sogenannten Angewöhnungen oder Angewohnheiten. Manche Menschen haben Angewohnheiten wie diese, beim Sprechen stets etwas in den Fingern herumzudrehen, oder die Hände in die Hosentaschen zu stecken und dgl. mehr. Solche Angewöhnungen kommen oft ohne unser Wissen zustande und wir werden schwerlich behaupten, daß sie durch einen besonderen Willensakt herbeigeführt werden. Dasselbe gilt von den zahllosen anderen gewohnheitsmäßig eingeübten Bewegungen, wie von der Bewegung der Gliemaßen bei Gehen, Sitzen, Laufen, Springen, beim Essen und Trinken, beim Schreiben, von der Bewegung der Zunge und des Kehlkopfes beim Sprechen und dgl. mehr. Allen diesen reinen Gewohnheitshandlungen sprechen wir den Charakter der Willenshandlung ab. Sehen wir zu, was es ist, daß uns diese Handlungen nicht eigentlich als Willenshandlungen erscheinen läßt, so besteht das hauptsächlich darin, daß wir bei ihnen gar nicht mehr an das Ziel und an den Erfolg der einzelnen Handlungen denken - wir denken gar nicht mehr an die Art und Weise, wie wir beim Gehen die Beine stellen und mit welchem Druck der Fußboden berührt wird und dgl. mehr - und ferner, daß wir jeder einzelnen dieser Handlungen nicht mehr eine besondere Zustimmung zu ihrer Ausführung erteilen, daß wir also für ihre Ausführung gar keinen besonderen Entschluß mehr nötig haben. Kurz, wir scheiden alle solche Handlungen aus dem Bereich der eigentlichen Willenshandlung aus, die zwar dem äußeren Erfolg und Verlauf nach den Anblick zweckmäßig geordneter Bewegungen gewähren, denen aber gewisse innere psychische Akte nicht vorausgehen, wie insbesondere der Entschluß, sie auszuführen und Vorstellung ihres Ziels und die Zustimmung zu diesem Ziel und der Ausführung der Handlung. Damit stellt auch schon die allgemeine Meinung, die zielbewußte Handlung als die eigentliche Willenshandlung hin, spricht den reinen Gewohnheitshandlungen und all den ausführenden Bewegungen, die mehr automatischen und mechanischen Charakter tragen, das Merkmal der Willenshandlung [munster] in einem engeren Sinn ab. Etwas schwierig steht es mit solchen Handlungen, die wir auf niederen Entwicklungsstufen des Seelenlebens auftreten sehen, z. B. in den ersten Lebensjahren des Kindes und bei den intelligenteren Tieren. Führt ein intelligenter Hund, der den Befehlen seines Herrn gehorcht, damit eine eigentliche Willenshandlung aus und können wir annehmen, daß beim Hund auch eine klare Vorstellung vom Ziel der Handlung vorausgeht und eine innere Zustimmung zur Ausführung, oder steht die Sache so, daß die Ausführung des Befehls einfach aufgrund einer vorausgegangenen Übung und Erfahrung sich ganz mechanisch mit dem Befehlt assoziiert hat, so daß dieser gewissermaßen nur wie ein starker suggestiver Reiz zur Ausführung der Bewegungen wirkt? Und wie steht es mit den ersten Handlungen des Kindes? Wenn das neugeborene Kind schon in den ersten Lebenswochen den Kopf wendet, sobald ein lebhaftes Geräusch an seiner Seite hörbar wird, oder wenn es einige Zeit später die Hand nach einem Gegenstand ausstreckt, ist das eine Willenshandlung oder nicht? Hierüber kann nur eine genauere wissenschaftliche Zergliederung, die von der Untersuchung des allgemeinen Geisteszustandes beim Tier oder dem unentwickelten Kind ausgeht, eine Entscheidung bringen. So stoßen wir also auch bei der vorläufigen Bestimmung der Willenshandlung auf gewisse Merkmale (wie namentlich das Merkmal, daß sie ein zielbewußtes Handeln sein muß), in welchem die allgemeinen Meinung übereinstimmt, auf andere hingegen, bei denen die Bestimmung der Merkmale einer Handlung der wissenschaftlichen Analyse überlassen bleiben muß. Die beiden Begriffe der "Intelligenz" und des "Willens", die wir hier aus dem übereinstimmenden Sprachgebrauch abgeleitet haben, genügen vorläufig, um uns im allgemeinen das Ziel unserer Untersuchung anzugeben, und wir werden sehen, wie die genauere Zergliederung dieser beiden geistigen Mächte im wesentlichen die allgemeine Meinung bestätigt und sie nur nach manchen Richtungen genauer abgrenzt und sie von manchen Unklarheiten und Widersprüchen befreit. Sobald wir nun versuchen, eine genauere wissenschaftliche Bestimmung des Wesens der Intelligenz und des Willens zu geben, zeigt sich, daß unsere erste vorläufige Definition noch nach einer Richtung einer wesentlichen Ergänzung bedarf. Sowohl die Intelligenz wie der Wille setzen zu ihrer Entwicklung und Bildung und zu allen großen Leistungen ein bestimmtes Maß an Entwicklung elementarer geistiger Fähigkeiten voraus, ohne welches keine große Intelligenz und kein höheres Wollen möglich ist. So ist z. B. große Intelligenz nicht denkbar ohne gewisse Eigenschaften der Aufmerksamkeit, wie intensive und ausdauernde Konzentration, und jede wahrhaft große intellektuelle Leistung setzt eine gewisse Güte des Gedächtnisses voraus, das dem Denken die Materialien beschafft. Und ein zielbewußtes, konsequentes Wollen hat zur Voraussetzung, daß Aufmerksamkeit und Gedächtnis die Ziele und Entschließungen des wollenden Menschen festhalten. Daher bedürfen wir zum vollen psychologischen Verständnis der Intelligenz und des Willens zunächst einer Durchmusterung all der übrigen geistigen Fähigkeiten, auf welche jene Fähigkeiten angewiesen sind, und wir haben den Beitrag zu bestimmen, den diese für das Wirken und Walten jener zu leisten haben, wenn eine große Intelligenz und ein hervorragendes Wollen entstehen soll. Dabei dürfen wir uns nicht bei der allgemeinen Versicherung begnügen, daß große Leistungen des Denkens und des Wollens auch im allgemeinen eine große Entfaltung der ihnen untergeordneten geistigen Fähigkeiten, wie des Gedächtnisses und der Phantasie voraussetzen, vielmehr werden wir sehen, daß es immer in bestimmtes Verhältnis zwischen den niederen geistigen Fähigkeiten und der Intelligenz und dem Willen ist, das sich als das allein günstige erweist, und wenn dieses nicht vorhanden ist, treten sogar die niederen geistigen Fähigkeiten in ein feindliches Verhältnis zur Intelligenz wie zum Wollen. Unter diesen geistigen Fähigkeiten, die als Vorbedingungen und Voraussetzungen - zunächst für die Intelligenz - zu betrachten sind, unterscheiden wir wieder zwei Gruppen: erstens solche, die formaler und allgemeiner Natur sind, indem sie bei jeder Art von Tätigkeit des Bewußtseins mitwirken oder zumindest mitwirken können; zweitens material oder qualitativ bestimmte Tätigkeiten, die in ein bestimmtes Verhältnis zur Intelligenz treten. Unter dem ersten Gesichtspunkt erörtern wir das Verhältnis der Aufmerksamkeit, der Übung und Gewöhnung, der Ermüdung und einiger mit ihnen zusammenhängender Vorgänge zur Intelligenz; unter dem zweiten Gesichtspunkt soll die Bedeutung der Anschauung und Beobachtung, des Gedächtnisses und der Phantasie für die Intelligenz erläutert werden. ![]() LITERATUR - Ernst Meumann, Intelligenz und Wille, Leipzig 1908 |