tb-1cr-2ra-2O. Külpevon AsterH. Rickertdow
 
MAX FRISCHEISEN-KÖHLER
Über die Grenzen der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung

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"Vielmehr kann die Wissenschaft immer nur einen relativ kleinen Teil aus der Wirklichkeit aufnehmen und dazu bedarf sie, soll ihr Verfahren nicht willkürlich sein, eines Prinzips der Auswahl, mit Rücksicht auf das sie im gegebenen Stoff das Wesentliche vom Unwesentlichen scheidet."

"Wir kennen keine allgemeine Wirklichkeit, sondern das Wirkliche ist uns immer im Anschaulichen und Individuellen gegeben. Die Naturwissenschaft ist die Lehre vom Unwirklich-Allgemeinen."

"Daß den Gedanken etwas in der Wirklichkeit entspreche, ist mit der Einsicht in die totale Irrationalität des Seienden unvereinbar."

"Nicht die erschöpfende Beschreibung einer irgendwie abgegrenzten Wirklichkeit, so daß nun überhaupt kein begrifflich nicht zu fassender Rest von Anschaulichkeit mehr zurückbleibt, ist das Wertvolle, denn sie ist unmöglich."

Im Mittelpunkt der Diskussion über das Verhältnis der naturwissenschaftlichen und historischen Methoden zueinander, das seit den Arbeiten der großen französischen und englischen Positivisten zu einem Hauptproblem der modernen Logik geworden ist, steht noch immer RICKERTs Werk (1) Dies ist zunächst durch die Entschiedenheit und Klarheit bedingt, mit der in ihm der prinzipielle Kern der Frage erfaßt und mit grundsätzlicher Ausscheidung aller nicht unbedingt die Sache fördernder Abschweifungen eine Entscheidung in umfassender, streng systematischer Begründung vorgelegt wird. Indem es unternimmt, die Methoden der geschichtlichen Forschung nach ihren letzten Zielen und Voraussetzungen aufzuklären, um den eigenen Charakter des geschichtlichen Denkens und Darstellens vom naturwissenschaftlichen Verfahren zu sondern, tritt es in die Reihe der Arbeiten von DILTHEY, SIGWART, WUNDT und SIMMEL, die einem ähnlichen Nachweis gewidmet sind. Aber durch die strenge Bezogenheit aller Erörterungen auf das eine Grundproblem, durch die Konsequenz, mit der die hier entwickelte Scheidung naturwissenschaftlicher und historischer Begriffsbildung allseitig durchgeführt ist, durch die scharfe Herausarbeitung der rein logischen Seite der Frage und die formalistisch-deduktive Behandlung empfängt das Werk schon in formeller Hinsicht ein Eigenes. Für RICKERT kommen die Methoden der Forschung nicht als Tatsachen, die sich in den Leistungen der großen naturwissenschaftlichen und geschichtlichen Forscher darstellen, in Betracht, sondern lediglich als Mittel, deren Zweckzusammenhänge mit den letzten Zielen wissenschaftlicher Tätigkeit aufgeklärt werden soll. Seine Entwicklung der Methoden erhält dadurch einen streng systematischen Charakter, die von der Besinnung auf die ewigen Aufgaben des Denkens in einem logisch-teleologischen Fortgang die Denkmittel zu konstruieren sucht, wie sie unabhängig von der besonderen historischen Lage der Wissenschaften aus der Natur des logischen Denkens sich selbst ergeben. Und wenn hier, zumeist von seiten der Historiker, sonderbare Mißverständnisse aufgetreten sind, so liegt das jedenfalls nicht an eben dieser Darstellungsweise, die vielmehr außerordentlich klar ist und auch eine gewisse Breite der Gründlichkeit, ja Umständlichkeit nicht scheut, um jeden Rest von Undeutlichkeit und Unbestimmtheit auszuschließen. Gewiß gibt dies dem Ganzen etwas Weitschichtiges und ein für den philosophisch geschulten Leser bisweilen ermüdendes; aber die Diskussionen, in die es eingriff und die sich an dasselbe angeschlossen haben, zeigen doch, wie nützlich in einer Zeit verschwommener Schlagwörter derartige umfassende Begriffsanalysen sind. Eine Auseinandersetzung mit den von RICKERT gegebenen und begründeten Definitionen ist schon wegen dieser ihrer systematischen Ableitung und Vollständigkeit sowie wegen der allgemeinen Beachtung, die sie mit Recht gefunden haben, für jede weitere Untersuchung auf diesem Gebiet unumgänglich.

Aber gerade der Umstand, daß dieses Werk zu einer Zeit erschien, als der bekannte Historikerstreit die interessierten Kreise aufs lebhafteste beschäftigte, daß es zudem selbst offensichtlich gegen die "neue, die kulturhistorische Methode", gegen den "Naturalismus" in der Geschichtsschreibung Stellung nahm, hat vielleicht verschuldet, daß nun das, wodurch es einen Anspruch auf Originalität auch in inhaltlicher Beziehung machen darf, einigermaßen verdunkelt worden ist. Daß die Auffassung des geschichtlichen Lebens und die Verfahrungsweisen seiner Einzelforschung als ein selbständiges Gebiet wissenschaftlicher Untersuchung zu betrachten sei, das in sich selbst das Prinzip seiner Eigenart trägt, ist die Überzeugung, welche stets in der historischen Schule Deutschlands leitend gewesen ist. Seitdem die Hoffnung immer illusorischer geworden ist, das Rätsel der geschichtlichen Welt durch einfache Übertragung naturwissenschaftlicher Prinzipien und Methoden lösen zu können, lag die bedeutsamste Aufgabe einer philosophischen Methodenlehre in der logischen Grundlegung der historischen Wissenschaften. An ihrer Auflösung haben in Deutschland vor alle DILTHEY, SIGWART und WUNDT gearbeitet. Von den Werken dieser Forscher unterscheidet sich die Auffassung RICKERTs vornehmlich durch die Entschiedenheit, mit welcher er jede Art von psychologischer Grundlegung der "Geisteswissenschaften" ablehnt. Denn nach ihm empfangen die Methoden der Naturwissenschaften wie die der historischen Disziplinen ihre wesentliche Bestimmung einzig durch die ihnen gesetzten Ziele, dagegen nicht oder doch ganz unwesentlich durch das Material, zu dessen Bewältigung sie dienen. Die Scheidung der "Geisteswissenschaften", als deren Objekt in erster Linie das geistig-historische Leben der Menschheit gesehen wird, von den Naturwissenschaften ist schief und trifft nicht das Wesenhafte der methodischen Gegensätzlichkeit. Denn aus den Eigenschaften des geistigen Lebens können keine Gründe abgeleitet werden, welche etwa seine Erforschung nach naturwissenschaftlicher Methode unmöglich machen. Schon die Tatsache der empirischen Psychologie beweist hinreichend das Gegenteil, die ihrem Gegenstand nach den Geisteswissenschaften, aber nach ihrer Methode durchaus den Naturwissenschaften zuzurechnen ist. Der Gegensatz von Natur und Geschichte ist allein ein logischer Gegensatz, der mit den sachlichen Verschiedenheiten von Natur und Geist zunächst gar nichts zu tun hat. Es kann vielmehr dasselbe Objekt, derselbe Vorgang einer wissenschaftlichen Bearbeitung durch beide Methoden unterzogen werden. Das klassische Beispiel hierfür ist die Biologie, die als Systematik einerseits die gesetzmäßigen Formen der organischen Natur zu erforschen, als Entwicklungsgeschichte andererseits den individuellen Umwandlungsprozeß der Arten, den Stammbaum der Geschlechter und Typen zu beschreiben sucht.

Denn der grundlegende Unterschied in der erkenntnismäßigen Verwertung der Tatsachen, der allein eine folgenrichtige Einteilung der Wissenschaften begründen kann, liegt in der Verschiedenheit der letzten Erkenntnisziele. So können in der begrifflichen Bearbeitung der Wirklichkeit zwei einander entgegengesetzte, logisch sich ausschließende Richtungen abgegrenzt werden: die eine sucht Gesetze, die andere individuelle Gestaltungen. In der einen treibt das Denken von der Feststellung des Besonderen zur Auffassung allgemeiner Beziehungen in der Form der Naturgesetze, in der anderen wird es bei der Betrachtung des einmaligen in sich bestimmten Inhaltes des wirklichen Geschehens festgehalten. Von hier aus scheiden sich die Wege aller Erfahrungswissenschaften. Der Naturwissenschaft als der Lehre vom Unwirklich-Allgemeinen tritt die Geschichte gegenüber, die in der Mannigfaltigkeit ihrer Disziplinen stets eine individuelle Wirklichkeit darstellen will und daher auch als Wirklichkeitswissenschaft charakterisiert werden kann.

Nun ist richtig, daß auch diese Auffassung vom Wesen der wissenschaftlichen Methoden nicht RICKERT eigentümlich, sondern nach ihrem prinzipiellen Gehalt bereits von WINDELBAND in seiner bekannten Rektoratsrede entwickelt worden ist; und in gewissem Sinn kann man geradezu sagen, daß sein Werk nur eine Ausführung des dort zwar sehr knapp skizzierten aber doch zugleich ungemein scharf und glücklich formulierten Programmes ist. Aber eben in dieser Ausführung tritt nun hervor, was als das Originale in der Leistung RICKERTs anzusprechen ist. Denn so deutlich bei WINDELBAND der Gegensatz der Naturforschung und Geschichte, der "nomothetischen" und "ideographischen" Wissenschaften nach ihren letzten Zielen herausgearbeitet ist, so ist damit für die Darstellung der Methoden zunächst nur ein Problem gegeben. Allerdings erscheint es sehr leicht, das Verfahren der Naturforschung dem Schema WINDELBANDs einzuordnen. Es mag fraglich sein, ob die Naturwissenschaft durch die Aufgabe, die Natur mit Rücksicht auf das Allgemeine zu betrachten, schon hinreichend charakterisiert ist: daß jedoch in ihr, als der Gesetzeswissenschaft, der Gegenstand ihrer Untersuchung ein allgemeiner ist, sofern das Verhältnis des Gesetzes zu den Fällen seiner konkreten Verwirklichung immerhin als ein Verhältnis der logischen Überordnung angesehen werden kann , unterliegt keinem Zweifel. Aber was heißt wissenschaftliche Darstellung des Besonderen?

Das "ideographische" Verfahren ist ein bloßes Postulat, dessen Erfüllung auch nicht einmal seiner allgemeinen Möglichkeit nach gesichert erscheint. Denn streng genommen schließt diese Begriffsbestimmung der Geschichte einen inneren Widerspruch ein. Alle wissenschaftliche Darstellung von Wirklichkeit ist eine begriffliche Bearbeitung und enthält insofern stets eine Vernachlässigung von gewissen Zügen der besonderen Gestaltungen; sollte nun die Eigenart der Geschichte eben darin gegründet sein, daß sie eine konkrete, einmalige Wirklichkeit gerade so, wie sie ist, abbildet, so wäre Geschichte als Wissenschaft unmöglich. Will man dieser Absurdität entgehen, dann bleibt auf dem Boden der WINDELBANDschen Erörterungen eigentlich nur eine Auffassung übrig, durch welche aber letzten Endes das Charakteristische dieser Methodologie wieder aufgehoben wird. Denn wenn es eine übrigens von WINDELBAND ausdrücklich hervorgehobene Tatsache ist, daß die "ideographischen Wissenschaften auf Schritt und Tritt der allgemeinen Sätze bedürfen, welche sie in völlig konkreter Begründung nur den nomothetischen Disziplinen entlehnen können", (2) möchte der Gegensatz dieser Wissenschaften auf den der reinen und abstrakten, die ihre Vollendung in einem deduktiven System erhalten und der angewandten und konkreten zurückgeführt erscheinen. Die Tätigkeit des Historikers verhielte sich dann zu der Forschungsweise, sagen wir des Soziologen oder Psychologen, unter einem allgemeinsten logischen Gesichtspunkt wie die Tätigkeit des Arztes, der eine Diagnose stellt, zu der Forschungweise des Physiologen und pathologischen Anatomen. Auf der einen Seite handelt es sich beidemal um Erkenntnis und Erklärung eines gegebenen besonderen Tatbestandes, aber soweit dieses Verfahren wissenschaftliche Bedeutung besitzen soll, stellt es sich nur als Subsumtion des Einzelnen unter jene allgemeinen Sätze und Begriffe dar, welche die reine Theorie zuvor aus einer Summe ähnlicher Fälle abstrahiert haben muß. Unter dieser Voraussetzung wäre aber die von WINDELBAND vorgeschlagene Einteilung der Wissenschaften weder neu noch gerade in dieser Ausführung für das Verständnis der historischen Methode sehr aufklärend: denn was dieselbe nun von anderen angewandten Wissenschaften unterscheidet, liegt nur in der Bezogenheit auf Vorgänge vornehmlich des geistigen Lebens und somit müßte doch die Psychologie - ob gerade die Psychophysik mit ihren Theorien der Sinneswahrnehmung, ist nicht gesagt - als die theoretische Grundwissenschaft angesprochen werden, deren Sätze die Geschichte lediglich auf die besonderen Geschehnisse anwendet. Damit ist aber der prinzipielle Gegensatz des WINDELBANDschen Standpunktes zu den Ausführungen von DILTHEY, SIMMEL und WUNDT soweit abgeschwächt, daß nunmehr auch auf ihm als das Grundproblem der historischen Methode die Frage nach der Möglichkeit und der Tragweite der wissenschaftlichen Behandlung geistigen Lebens in den Vordergrund tritt. Und es ist weiter dann nicht mehr abzusehen, warum den historischen Disziplinen die eingeführte Bezeichnung der "Geisteswissenschaften" durchaus genommen werden soll.

An diesem Punkt greift aber RICKERT ein. Sein Werk hat in erster Linie den Nachweis zur Aufgabe, daß diese soeben angedeutete Auffassung oder wenn man will Umdeutung der WINDELBANDschen Wissenschaftstheorie nicht haltbar, daß sie in sich unmöglich ist. Er unternimmt daher zunächst in systematischer Begründung zu zeigen, daß die Naturwissenschaft niemals, selbst bei höchster Vollendung ihrer Einsichten, imstande sein könne, durch irgend einen Prozeß der Rekonstruktion eine empirische Einzeltatsache in ihrer Individualität zu beschreiben oder zu erklären: hier sind "Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung", die dem naturwissenschaftlichen Denken selbst immanent sind, da sie durch das logische Prinzip, das in diesem wirksam ist, gesetzt sind. Die Geschichte kann so auch nicht als eine Umkehrung der naturwissenschaftlichen Denkweise angesehen werden; vielmehr sind die in ihr verwendeten und von ihr erarbeiteten Begriffe nach einem ganz anderen Prinzip gebildet, das aus der Bestimmung der Geschichte als der Wirklichkeitswissenschaft sich ergibt.

In dieser durchgeführten Theorie der historischen Begriffsbildung liegt der weitere wesentliche Schritt, durch welchen RICKERT über die Position von WINDELBAND hinaus zu einer Auflösung des Problems fortgeht, das in dessen Begriff des "ideographischen" Verfahrens gegeben war. Und zwar gewinnt hierdurch nicht nur, was nun als das Wesen der historischen Methode anzusehen ist, diejenige Bestimmtheit, welche eine fruchtbare Diskussion ermöglicht, sondern indem RICKERT ein der historischen Begriffsbildung eigenes Bildungsprinzip aufdeckt, gelangt er zu Ergebnissen, durch welche die traditionelle Lehre vom Begriff eine wesentliche Ergänzung und Erweiterung empfängt. Das ist ja eine Tatsache, die keinem Zweifel unterliegt, daß diese Lehre vom Begriff das Stiefkind der modernen Logik ist. Wenn KANT von der Logik im allgemeinen behauptet hat, daß sie seit ARISTOTELES keinen Fortschritt gemacht hat, so ist fraglich, ob nicht eben durch KANT selbst eine Bewegung eingeleitet worden ist, welche zu einer vollständigen Umgestaltung der formalen Logik im Sinn des ARISTOTELES und seiner Schule führen muß. Aber wie hoch auch die Einsichten einzuschätzen sind, welche die Reformversuche der Logik im 19. Jahrhundert auch noch von ganz anderen Gesichtspunkten aus hervorgebracht haben, so ist gewiß, daß von ihnen die Lehre vom Begriff am wenigsten dauernd beeinflußt worden ist. Noch immer erhält sie sich im wesentlichen in der Gestalt, die ihr Schöpfer ihr einst gegeben und schon ihre äußerliche Stellung im System der Logik ist charakteristisch für das geringe Interesse, welches das philosophische Denken der Gegenwart ihr zuwendet. Aus dieser Vernachlässigung und isolierten Stellung rückt sie nun RICKERT wieder in den Mittelpunkt der logisch-methodologischen Erörterungen. Indem er vom weit verbreiteten Begriff des Erkennens als eines Abbildens der Wirklichkeit ausgeht, ergibt sich ihm wegen der extensiven als auch der Intensiven Unendlichkeit der empirischen Wirklichkeit die Unmöglichkeit, die in diesem Begriff gegebene Aufgabe zu lösen. Vielmehr kann die Wissenschaft immer nur einen relativ kleinen Teil aus der Wirklichkeit aufnehmen und dazu bedarf sie, soll ihr Verfahren nicht willkürlich sein, eines Prinzips der Auswahl, mit Rücksicht auf das sie im gegebenen Stoff das Wesentliche vom Unwesentlichen scheidet. So bildet die Wissenschaft aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit von Anschauungen Begriffe. Die Aufgabe der Methodenlehre ist nun, die bei dieser Begriffsbildung maßgebenden Gesichtspunkte ihrem formalen Charakter nach zum ausdrücklichen Bewußtsein zu bringen; denn von der Art, wie die Auswahl vorgenommen wird, ist der Charakter der wissenschaftlichen Methode bestimmt. Für die traditionelle Logik gilt als das einzige und universale Prinzip der wissenschaftlichen Begriffsbildung die Rücksicht auf das Allgemeine. Das ist an sich richtig in bezug auf die naturwissenschaftlichen Begriffe, diese Rücksicht leitet in der Tat die Auswahl der in ihnen aufzunehmenden Merkmale. Die Anfänge hierzu treten schon in der gewöhnlichen Sprache und den Allgemeinbedeutungen der Worte zutage, wissenschaftlich wird dieses Verfahren aber erst, wenn die Begriffe durchgängig bestimmt werden, insofern die gemeinsamen Merkmale der Dinge mit Bewußtsein ihrer Gemeinsamkeit an mehreren Objekten zusammengefaßt und ohne Rücksicht auf verbleibende Anschauungen durch Auflösung des Begriffs in Urteile hervorgehoben werden. Indem aber hierbei die individuellen und anschaulichen Merkmale wegfallen, erhebt sich durch Auslassung von immer mehr spezielleren Merkmalen eine Stufenleiter immer umfassenderer Begriffe übereinander, nicht unähnlich der platonischen Begriffspyramide. (3) Seine Vollendung erhält dieses Verfahren, wenn die allgemeinen Begriffe so gebildet sind, daß sie auf jede Gestaltung der Welt, wo auch immer sie im Raum sein möge, passe, daß mithin Urteile, welche den Inhalt jedes vollkommenen Begriffs ausmachen, nicht nur empirisch allgemein, sondern von unbedingt allgemeiner Gültigkeit sind. Bezeichnet man solche unbedingt allgemeinen Urteile über Wirklichkeit als Naturgesetze, so ist die Aufgabe der Naturwissenschaft, alle Objekte allgemeinen Begriffen, womöglich Gesetzesbegriffen unterzuordnen. So ergibt sich das Ideal einer allgemeinen Theorie der Körperwelt, die alles enthält, was allen Objekten gemeinsam ist. Aber eben darum ist sie prinzipiell nicht imstande, die Besonderheiten der individuellen Erscheinungen in sich zu fassen. Sie ist keine Abbildung der Wirklichkeit; um so vollkommener die naturwissenschaftlichen Theorien ausgebildet sind, um so mehr entfernen sie sich von der erlebbaren Realität. Wir kennen keine allgemeine Wirklichkeit, sondern das Wirkliche ist uns immer im Anschaulichen und Individuellen gegeben. Die Naturwissenschaft ist die Lehre vom Unwirklich-Allgemeinen.

Aber dieses Prinzip der Begriffsbildung ist weder das einzig denkbare, noch auch tatsächlich allein wirksame. Denn es gibt Wissenschaften, die nicht auf Bildung allgemeiner Begriffe gerichtet sind. Das sind die historischen Disziplinen. Auch sie wählen aus dem unendlichen Reichtum des Gegebenen aus, aber der Inhalt ihrer Begriffe ist stets ein Individuelles und Besonderes; daher können diese Begriffe auch als Individualitätsbegriffe den Allgemeinbegriffen der Naturwissenschaft gegenübergestellt werden. Und zwar ist das Verfahren ihrer Bildung ein teleologisches. Das Prinzip der Auswahl für die in ihnen aufgenommenen Merkmale liegt in der individuellen Eigenart oder Einzigartigkeit, die nur als eine Beziehung zu einem Wert zu bestimmen ist, so kann diese Rücksicht auf Werte (die, wenn das historische Denken Anspruch auf Allgemeingültigkeit machen soll, selbst allgemein gelten müssen) als das Prinzip der historischen Begriffsbildung angesprochen werden.

So entstehen ganz andersartige Denkformen als in den Naturwissenschaften. Während diese nach einer Entfernung vom rein Individuellen streben und Begriffe zu bilden suchen, welche möglichst umfassende Allgemeinheit besitzen, hebt die historische Forschung gerade die individuellen Tatbestände nach ihrem allgemeinen Kulturwert hervor. Der Begriff "Pferd" z. B. faßt in sich nur, was einer Gruppe von Tieren gemeinsam ist und bringt daher diesen gemeinsamen und beliebig oft sich wiederholenden Inhalt zum Ausdruck; der Begriff der "romantischen Schule in Deutschland" aber umschließt eine reale Gruppe von Individuen, die in zusammenhängendes Ganzes bilden und durchaus nicht nur als beliebiges Exemplar einer Gattung anzusehen sind. Das im naturwissenschaftlichen Begriff herausgehobene "Gemeinsame" ist ein Abstraktum, das im historischen Begriff Bezeichnete ein reales einmaliges Ganzes, mag es nun aus einem einzigen Individuum im gewöhnlichen Sinne des Wortes oder aus einer Anzahl von solchen bestehen. Daher erschließt erst die von der Logik bisher durchweg vernachläßigte Theorie der Begriffe mit einem individuellen Inhalt das Verständnis für die logische Eigenart der historischen Methode.

Es ist begreiflich, daß zunächst diese Ausführungen des RICKERTschen Werkes, soweit sie rein logisch sind, weniger Beachtung gefunden haben. Das Buch interessierte in erster Linie doch die Kreise der Historiker. Und hier wurde insbesondere die Entschiedenheit, mit der die anmaßlichen Ansprüche, durch einfache Übertragung der naturwissenschaftlichen Methode die "Geschichte zum Rang einer Wissenschaft" zu erheben, zurückgewiesen wurden und weiter die Einführung der Kulturwerte, als der Voraussetzung aller geschichtlichen Forschung, in die Diskussion gezogen. Gleichwohl muß betont werden - und RICKERT selbst hat stets mit Deutlichkeit darauf hingewiesen, daß seine Arbeit vor allem als eine logische zu betrachten sei, welche den logischen Begriff der Naturwissenschaft einerseits, der Geschichtswissenschaft andererseits zur höchsten Klarheit zu bringen habe. Daher kann über die Bedeutung dieser Methodologie auch nur vom Standpunkt der Logik ein Urteil gewonnen werden. Soweit ich sehe, ist von diesem Gesichtspunkt aus RICKERTs Werk bisher noch nicht einer genügenden Prüfung unterzogen worden. Und doch hätte gerade die Logik alle Veranlassung, die in ihm entwickelte Theorie der Begriffsbildung sorglichst zu beachten. Ist wirklich die traditionelle Auffassung vom Begriff einer derartigen Erweiterung bedürftig, wie sie hier in der Lehre von den Individualbegriffen gegeben wird? Bildet die Darstellung eines einmaligen Verlaufes tatsächlich eine unübersteigbare Grenze für die naturwissenschaftliche Begriffsbildung? Kann überhaupt die Lehre vom Begriff, wie sie RICKERT auffaßt, derart zum Mittelpunkt der Methodologie gemacht werden? Und sind die Methoden der Erfahrungswissenschaft so unabhängig von der Eigenart ihres Materials und Gegenstandes, daß sie ohne Rücksicht darauf lediglich aus dem formalen Begriff ihrer letzten Ziele entwickelt werden können? Denn gesetzt, alle diese Fragen seien ohne Einschränkung zu bejahen, so müßte RICKERTs Arbeit zweifellos als ein äußerst wertvoller Beitrag zur modernen Logik angesehen werden. Aber es will mir scheinen, als ständen einer unbedingten Bestimmung doch noch eine Reihe gewichtiger Bedenken gegenüber, Bedenken, die wenigstens durch die bisher vorliegenden Veröffentlichungen RICKERTs noch nicht als erledigt gelten können.

Das Ziel der RICKERTschen Arbeit liegt in der Klarstellung der logischen Eigenart der historischen Methode; aber die Grundlage für ihre Begründung gibt die in der ersten Hälfte des Buches entwickelte Auffassung vom Wesen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Daher hat eine kritische Untersuchung mit ihr zu beginnen.


1. Das Allgemeine in der Naturwissenschaft

Zunächst kann die Tragweite des nach RICKERT für die naturwissenschaftliche Begriffsbildung maßgebenden Prinzips in Frage gezogen werden. Daß in irgendeinem Umfang tatsächlich das logische Denken durch jene "Rücksicht auf das Allgemeine" wenigstens seiner allgemeinen Tendenz nach bestimmt wird, ist zweifellos. Die klassifikatorische Begriffsbildung, wie sie in den Systemen der sogenannten deskriptiven Naturwissenschaften, der Zoologie und Botanik, hervortritt, verdeutlicht hinreichend dieses Verfahren der Abstraktion. Aber es erscheint doch in hohem Maße problematisch, ob diese Weise der Begriffsbildung als typisch für das naturwissenschaftliche Denken schlechthin betrachtet werden darf.

Denn sieht man auch vorläufig ganz davon ab, daß der hier als Auswahlprinzip fungierende Begriff des "Allgemeinen" immerhin einigermaßen unbestimmt ist, so ist es doch keineswegs so selbstverständlich, wie RICKERT es anzunehmen scheint, daß die "Rücksicht auf das Allgemeine" nun ausschließlich die naturwissenschaftliche Begriffsbildung leitet. RICKERT selbst betont gelegentlich, daß der Gesichtspunkt, unter dem das logische Ideal einer allgemeinen Theorie der Körperwelt von ihm betrachtet wird, vielleicht nicht die einzig mögliche ist; es reiche für ihn aber aus, wenn er nur ein richtiger unter anderen sei. (4) Man wird diese Einschränkung nicht nur in dem Sinne zugeben müssen, daß im naturwissenschaftlichen Denken neben der Rücksicht auf das Allgemeine auch noch andere, wenn schon untergeordnete Momente von Bedeutung sind, vielmehr kann sich die Wissenschaftstheorie der Tatsache nicht verschließen, daß die naturwissenschaftliche Begriffsbildung in weiten Gebieten von anderen Gesichtspunkten beherrscht wird, hinter welchen die Rücksicht auf das Allgemeine mehr oder minder zurücktritt. Gewiß wird man sagen dürfen, daß die Naturwissenschaft in der Regel ihre Objekte nicht nach ihrer Individualität und ihrer Besonderheit untersucht und begrifflich zu fixieren unternimmt, aber der Weg der Abstraktion, den sie nun einschlägt, führt durchaus nicht immer zur Feststellung dessen, was diesem Objekt mit jenem und schließlich mit allen gemeinsam ist. Vor allem muß von dieser Form der Abstraktion, der generalisierenden, eine andere geschieden werden, welche WUNDT mit treffendem Ausdruck als isolierende Abstraktion bezeichnet und in ihrem Wesen caharakterisiert hat. (5) Jene geht allerdings stets darauf aus, gewisse einer Gruppe von Gegenständen oder Vorgängen gemeinsamen Merkmale abzulösen und zu Merkmalen eines allgemeinen Begriffs zu erheben; das Eigentümliche dieser hingegen liegt darin, daß man aus einer in der Beobachtung gegebenen komplexen Erscheinung einen bestimmten Bestandteil oder mehrere willkürlich abgetrennt denkt und für sich der Beobachtung unterzieht. Die Generalisation setzt stets eine Vielheit von Objekten voraus, bei der Isolation ist jedoch der Umstand, daß die isolierte Eigenschaft oder das isolierte Verhalten einer Reihe von Objekten gemeinsame ist, unwesentlich; nötigenfalls ließe sie sich an seinem einzigen Erfahrungsgegenstand vollziehen.

Man kann diese Einsicht auch direkt vom Ausgangspunkt RICKERTs gewinnen. Die Tatsache der Unendlichkeit, die er zugrunde legt, ist als solche nicht unmittelbare Realität. Erlebbar ist nur die Unübersehbarkeit eines Bezirkes der Wirklichkeit. Spricht man diese Unübersehbarkeit theoretisch als Unendlichkeit aus, so kann dieselbe auch in einem Sinn aufgefaßt werden, die dem naturwissenschaftlichen Geist eine Aufgabe stellt, welche nur durch jene isolierende Abstraktion lösbar wird. Denn gesetzt, das Wirkliche bestünde aus einer bestimmten, wenn schon außerordentlich großen Anzahl von Elementen, die unabhängig voneinander existieren oder sich zu ändern imstande sind, so könnte das Gegebene, d. h. die individuellen Gestaltungen, immerhin als ein Unendliches angesprochen werden, denn selbst unter der Voraussetzung einer Unendlichkeit der Zeit bleibt doch die Anzahl der Kombinationen dieser Elemente unendlich. Bei dieser Annahme, über deren Zulässigkeit keine bloß logische Untersuchung befinden kann, liegt aber das erste Ziel der Naturforschung in der Ermittlung eben dieser Elemente. Nicht eine Flucht vor der Wirklichkeit, sondern ein Eindringen in dieselbe, nicht eine Generalisation der Einzelfälle, sondern die Analyse der Erscheinungen wäre die Aufgabe. Die Überwindung der unendlichen Mannigfaltigkeit würde gelungen sein, wenn alle Elemente gefunden wären, durch deren Zusammensein die praktische Unübersehbarkeit der Zusammenhänge bei der Unkenntnis ihrer Komponenten bedingt ist.

Nun ist allerdings richtig, daß auch mit diesem analytischen Verfahren immer eine Vernachlässigung gewisser Eigenschaften der zu untersuchenden Objekte verbunden ist. Aber diese Vernachlässigung bedeutet keine Vereinfachung im Sinne von RICKERT und sie muß sorgfältig von jenem Absehen der individuellen Züge unterschieden werden, welche für die generalisierende Abstraktion allerdings wesentlich ist. Denn die bei der Isolation und Analyse zunächst nicht berücksichtigten Merkmale werden nicht definitiv aus dem naturwissenschaftlichen System ausgeschieden, sondern nur für den jeweiligen Untersuchungszusammenhang zurückgestellt. Die Analyse des Gegebenen geht immer in Zerlegung in Teilinhalte vor sich. Daß an einem Gegenstand ein Besonderes, daß schließlich auch an einer Reihe von Objekten ein Gemeinsames ausgesondert wird, schließt nicht aus, sondern erfordert vielmehr, daß der verbleibende Rest, der als solcher nach dieser Auffassung nur in Verbindung mit den schon abgezogenen Teilen ein Individuelles ausmacht, mit Eigenschaften und Verhaltungsweisen irgendeiner anderen Reihe von Objekten unter einen Begriff, in einen Zusammenhang gebracht wird. Es ist nun gleichgültig, wie weit die Herrschaft der isolierenden Abstraktion im lebendigen naturwissenschaftlichen Denken sich erstreckt; ja es ist auch nicht erforderlich, die Gesichtspunkte näher zu bestimmen, von denen sie nun ihrerseits, wenn es die Rücksicht auf das Allgemeine nicht ist, geleitet wird. Daß sie jedenfalls eine außerordentliche Wichtigkeit für unsere Naturerkenntnis besitzt, kann nicht geleugnet werden. Die Mehrzahl der Begriffe, mit denen etwa die Chemie arbeitet, in erster Linie die Begriffe der chemischen Elemente, sind weder mittels jenes von RICKERT allein untersuchten Abstraktionsverfahrens gefunden, noch lassen sie sich logisch durch dasselbe begründen. Die Aufgabe der speziellen Methodenlehre wäre, hier Genaueres zu ermitteln und das beständige Ineinandergreifen der Isolation und der Generalisationi, die gewiß nicht zu vernachlässigen aber auch nicht zu überschätzen ist, im einzelnen zu verfolgen. Aber es ist zumindest eine Einseitigkeit, das Wesen der naturwissenschaftlichen Methode allein in der generalisierenden Abstraktion, das Wesen des naturwissenschaftlichen Begriffes allein in der mit ihr gegebenen Vereinfachung zu sehen. Solange nicht die Tragweite festgestellt ist, welche dem analytischen Denken in der Naturwissenschaft zukommt, können die Konsequenzen, welche sich aus dem Umstand ergeben, daß sie sich auch der Generalisation bedient, nicht als für die gesamte naturwissenschaftliche Begriffsbildung gültig angesehen werden.

Nun legt RICKERT allerdings den größten Wert darauf, daß das Prinzip der Rücksicht auf das Allgemeine in logischer Hinsicht für das gesamte Naturerkennen doch von einer entscheidenden Bedeutung sei und jedenfalls die Naturwissenschaft, sofern sie eine Gesetzeswissenschaft ist, völlig charakterisiere. Um dies zu zeigen, unternimmt er, den Begriff des Gesetzes als die Vollendung der von ihm beschriebenen Begriffsbildung darzutun.

Die Aufgabe, die unübersehbare Mannigfaltigkeit des Gegebenen in allgemeinen Begriffen darzustellen und übersehbar zu machen, möchte ja zunächst durch eine umfassende Klassifikation aller individuellen Gestaltungen, wie sie etwa historisch das System des ARISTOTELES angestrebt hat, als gelöst gelten. RICKERT betont nun aber ausdrücklichst, daß das wissenschaftliche Denken niemals bei einer bloßen Klassifikatioin stehen bleiben könne und in der Tat bezeichnet die Einsicht, daß das Ziel der Naturerkenntnis in der Auffindung von Gesetzen liege, den Abstand, der das Zeitalter des GALILEI von dem des ARISTOTELES trennt. Aber es scheint, daß die begriffliche Entwicklung RICKERTs nicht über das Ideal einer bloßen Klassifikation hinausführt oder doch jedenfalls nicht zur Naturwissenschaft als einer Gesetzeswissenschaft hinführt. Der Kunstgriff, durch dessen Anwendung er von den Begriffen als bloßen Merkmalskomplexen zu Gesetzesbegriffen gelangt, besteht in der Hervorhebung einer bisher noch nicht berücksichtigten Seite des "Allgemeinen", welches das Prinzip der Auswahl bildet. Daß er sich hierbei noch in besonderer Weise der Auflösung der Begriffe im Urteil bedient, ist nicht erheblich. Immerhin ist beachtenswert, daß durch die neue Fassung des Begriffs des "Allgemeinen" dem "Gemeinsamen", das bisher promiscue [vermischt - wp] mit jenem gebraucht wurde, streng genommen ein neuer Begriff, nämlich der des "Notwendigen" substituiert wird. Nehmen wir nun an, so argumentiert RICKERT, daß wir nicht nur empirisch allgemeine, sondern auch unbedingt allgemeine Urteile zu bilden imstande sind, die für alle Vorgänge und Dinge gelten und nennen wir solche Urteile Naturgesetze, so folgt, daß die unendliche Fülle von Einzelgestaltungen durch Begriffe nur unter der Voraussetzung überwunden werden kann, daß sein Inhalt aus Urteilen besteht, in denen ein Naturgesetz zum Ausdruck kommt. Dies ist durchaus klar und an sich keinem Zweifel unterworfen, nur daß es nicht aus dem Postulat, die Begriffe zur höchsten Allgemeinheit zu erheben, folgt. Solange nicht feststeht, was als das Gemeinsame in den Dingen und Vorgängen vom Begriff erfaßt werden soll, kann nur die Forderung, daß die in ihm aufgenommenen Merkmale einen notwendigen, für alle Zeiten und Räume geltenden Zusammenhang aufweisen, als Bedingung seiner höchsten Vollkommenheit eingeführt werden. Daß dieser Zusammenhang als ein Gesetzeszusammenhang zu bezeichnen ist, ist hierin nicht eingeschlossen. Denn logisch angesehen erfüllen auch die Formen des ARISTOTELES die gleiche Bedingung. Auch sie umspannen als ein abgeschlossenes, nach Graden der Allgemeinheit aufsteigendes System zeitlos geltender Begriffe das gesamte Reich des Seienden und so ist auch in ihnen jene Übersicht geleistet, welche RICKERT als die Aufgabe des naturwissenschaftlichen Denkens gestellt hat. Für die Entscheidung aber zwischen der peripatetischen [aristotelischen - wp] Naturphilosophie und der Naturwissenschaft, wie die großen Denker des siebzehnten Jahrhunderts sie schufen, gibt die formale Logik kein Mittel an die Hand. Die Erkenntnis, daß das Allgemeine in der Natur nicht in den substanzialen Formen oder den objektiven Zwecken, sondern in den Regelmäßigkeiten von Koexistenz und Sukzession, in den Relationen von Ursache und Wirkung zu suchen sei, kann durch keine Reflexion auf die logische Bedeutung des "Allgemeinen" begründet werden. Denn die Tatsache, welche vor allem eine vollkommene Klassifikation des Gegebenen nach jenem Gesichtspunkt als undurchführbar erscheinen läßt, die Tatsache der Veränderlichkeit der zu klassifizierenden Objekte, kann an so entgegengesetzter Weise aufgefaßt und begrifflich überwunden werden, wie es das platonisch-aristotelische Denken einerseits, das demokratisch-galileische andererseits veranschaulicht. Jenes geht von der Voraussetzung aus, daß die Notwendigkeit des Zusammenhangs der Merkmale und ihres Wandels eine innere, dem Ding einwohnende ist. Dies greift auf die Annahme zurück, daß alle Eigenschaften der Objekte durch äußere Relationen bestimmt und bestimmbar sind. Jenes gelangt zu immanenten Entwicklungsgesetzen, zu einer teleologischen Betrachtung der Wirklichkeit, welche insbesondere in der Welt der Organismen ihre Anwendung fand, dieses führt zur Aufstellung von Kausalgesetzen, wie sie zuerst bei den einfachen Bewegungsvorgängen der Erkenntnis sich darboten. Unter rein logischem Gesichtspunkt sind beide Auffassungen gleichberechtigt. Welches die wissenschaftlich fruchtbarere ist, kann eine Untersuchung der logischen Formen niemals ermitteln.

Hier greift eine weitere Voraussetzung ein, welche über die Beschaffenheit des Materials, nicht über die begriffliche Fassung desselben etwas aussagt. Man kann gewiß über die letzte Begründung des Prinzips der Kausalität verschiedener Meinung sein; aber das ist eine Sache der Erkenntnistheorie; für den Logiker, der lediglich die Methoden der Begriffsbildung feststellen will, tritt es, wie dem empirischen Forscher als gegeben und von seiner begrifflichen Darstellung ganz und gar unabhängig gegenüber. Die formal-teleologische Konstruktion RICKERTs hat hier offenbar eine Lücke, die "Rücksicht auf das Allgemeine" ist nicht allein, nicht einmal in erster Linie, bei der Bildung der Gesetzesbegriffe maßgebend; vielmehr führt erst die inhaltliche Einsicht, daß ein allgemeiner Zusammenhang von Ursache und Wirkung das Naturganze konstituiert, über die rein klassifikatorische Begriffsbildung zu wirklichen Gesetzesbegriffen hinaus.

Gleichwohl wird man zugestehen können, daß auch die Gesetzesbegriffe allgemein sind, d. h. stets oder doch vielleicht nur mit einer einzigen Ausnahme für eine unbeschränkt große Reihe möglicher Fälle gelten. Diese Ausnahme ist im zweiten Hauptsatz der Wärmelehre ausgesprochen. Aber da seine Anwendung auf die Welt als ein Ganzes immerhin gewissen Schwierigkeiten begegnet, die jedoch nicht logischer Natur sind und da andererseits RICKERT überhaupt auf die verschiedenen Formen der Gesetzesbegriffe nicht näher eingegangen ist, mag von ihm hier abgesehen werden. Wesentlich dagegen ist die Frage, ob der Umstand, daß jedenfalls der überwiegenden Mehrzahl von ihnen Allgemeingültigkeit in dem Sinne zukommt, daß sie immer eine beliebige Anzahl von konkreten Geschehnissen umfassen können, zu den Konsequenzen berechtigt, die RICKERT zieht.


2. Die "letzte Naturwissenschaft"

Aber um die Tragweite dieses Momentes richtig einzuschätzen, bedürfen die bisherigen Darlegungen RICKERTs noch einer Ergänzung. Denn es ist ersichtlich, daß der Inhalt der naturwissenschaftlichen Theorien, selbst in ihrer denkbar vollkommensten Form, nicht nur aus Gesetzesbegriffen bestehen kann; mag die wissenschaftliche Bearbeitung der Erfahrung an Stelle der Merkmale der unmittelbaren Anschauung  Kausalgesetze  treten lassen, so müssen die Gesetze doch von irgendetwas gelten. Es muß immer ein Substrat vorausgesetzt werden, das jene Regelmäßigkeiten und Relationen aufweist und eben darum niemals in sie vollständig aufgelöst oder aus ihnen abgeleitet werden kann; anders ausgedrückt: wenn jeder vollkommene Begriff nur ein Komplex von Urteilen ist, so können die Subjekte und Prädikate dieser Urteile nicht wieder Urteile und so fort bis ins Unendliche sein.

Neben das Problem des Gesetzesbegriffes tritt so das des Dingbegriffs. RICKERT löst dasselbe, indem er einem namentlich in gewissen Richtungen des Kritizismus hervorgetretenen Zug folgt, die Kategorien der Substanz möglichst auszuschalten und durch die Kausalität zu ersetzen. Denn nach ihm muß alle Naturwissenschaft, wie weit sie gegenwärtig auch noch vom Ziel entfernt sei, die Tendenz haben, die Dingbegriffe soweit wie möglich in Relationsbegriffe umzuwandeln. Man wird diese Tendenz wenigstens in dieser allgemeinen Formulierung zugeben können; bezeichnet doch die Auflösung der Dingvorstellung, wie sie die vorwissenschaftliche Weltbetrachtung ausgebildet hat und wie sie auch in der peripatetischen Körperlehre noch herrschend war, den Beginn der neuen, der mechanischen Naturauffassung des 17. Jahrhunderts. Doch es verdient zunächst hervorgehoben zu werden, daß diese Zerlegung der Dinge in ihre konstituierenden Elemente und die Beziehungen zwischen diesen nur auf dem Wege jenes analystischen Verfahrens vor sich gehen kann, das von der generalisierenden Begriffsbildung sorgfältig zu sondern ist. In der Tat bedient sich RICKERT zur Begründung ihrer Berechtigung und Notwendigkeit nicht mehr der "Rücksicht auf das Allgemeine"; entscheidend ist für ihn vielmehr, was er nunmehr als das Ziel jeder Naturwissenschaft bestimmt, nämlich Einsicht in den naturgesetzlichen Zusammenhang der Dinge zu gewinnen [78]. Es ist aber schon gezeigt, daß die Aufgabe einer Kausalerkenntnis nicht in der Richtung der generalisierenden Abstraktion liegt.

Bedeutsam ist jedoch ein anderes. RICKERT behauptet, daß die Auflösung der Dinge in die Beziehungen ihrer Elemente zueinander notwendig zu einer Umformung des Dingbegriffs führen muß, von dem alsdann das gleiche wie von den Gesetzesbegriffen gilt, nämlich daß auch er eine Vereinfachung und Abstraktion von der anschaulichen Mannigfaltigkeit der empirischen Wirklichkeit erstrebt und erreicht. Gegen eine solche Auffassung scheinen allerdings sofort die Ergebnisse der tatsächlichen Forschung zu sprechen; wenn z. B. die Biologie dazu fortgeht, den Organismus der höheren Pflanzen und Tiere in einen Inbegriff von Relationen niederer Einheiten, etwa der Zellen, aufzulösen, so übernimmt sie hierbei noch kein Element, das als solches nicht anschaulich und als möglicher Erfahrungsgegenstand zu betrachten ist. Aber nach RICKERT hat die Logik keinen Grund, diesen Zustand der Wissenschaften als einen endgültigen, dem logischen Ideal bereits entsprechenden anzusehen. Wenn auch dieser Zustand für die Zwecke einer Spezialwissenschaft genügen mag, so muß die Benutzung von derartigen komplizierten Dingbegriffen, wie etwa den der Zelle, jedenfalls als eine Unvollkommenheit empfunden werden, sobald man die verschiedenen Naturwissenschaften als Zweige eines einheitlichen Ganzen auffaßt. Als logisches Ideal läßt sich ein System der Naturwissenschaft denken, in welchem die von den niederen Disziplinen noch als unaufgelöst hingenommenen Dingbegriffe von den höheren in Relationsbegriffe umgewandelt werden, die ihrerseits wiederum die bei ihnen auftretenden Dingbegriffe den noch höheren Disziplinen überlassen und so fort. An der Spitze des Ganzen steht dann eine "letzte Naturwissenschaft"; die Dinge, deren sie sich noch bedient, von denen die Gesetze gelten, welche sie ausspricht, die "letzten Dinge", welche keine empirische Wissenschaft weiter beseitigen kann, können aber nicht als anschauliche Elemente gedacht werden. Denn diese müssen, wenn anders eine vollkommene Übersicht über sie gewonnen werden soll, unveränderlich, unteilbar und daher schließlich auch voneinander nicht mehr quantitativ verschieden sein. Auch qualitativ dürfen sie sich nicht voneinander unterscheiden. Denn die Theorie will gerade die Sicherheit erstreben, daß niemals irgendwo im Raum und irgendwann in der Zeit neue, eventuell unübersehbar viele neue Qualitäten anzutreffen sind, die sich unter keinem unserer Begriffe bringen lassen. Eine solche Gewißheit ist jedoch nur dann erreichbar, wenn alle qualitativ voneinander verschiedenen Dinge sich unter einen Begriff bringen lassen, der jede denkbare Qualität umfaßt. Das heißt aber nichts anderes, als daß schließlich der Begriff einer letzten unauflöslichen Qualität gebildet werden muß, als dessen Arten sich alle Begriffe der verschiedenen Qualitäten auffassen lassen. Die letzten Dinge sind somit in jeder Hinsicht einander gleich, denn sie sind in jeder Hinsicht einfach. Und diesem einen Dingbegriff, welchen allein die "letzte Naturwissenschaft" übrig behält, entspricht nun genau, was als Inhalt ihrer Gesetzeserkenntnis anzusehen ist. Denn wenn wir eine vollständige Erkenntnis des Weltganzen gewinnen wollen, dürfen wir nicht bei der Möglichkeit stehen bleiben, daß es vielleicht eine unendliche Anzahl ganz verschiedener Gesetzesbegriffe gäbe. Wir müssen vielmehr auch voraussetzen, daß eine vollkommen übersehbare Reihe von Gesetzen alle Einzelgestaltungen der unendlichen Wirklichkeit umfaßt. Und auch diese Gewißheit können wir nur erreichen, wenn wir imstande sind, einen "letzten Gesetzesbegriff" aufzustellen, der die verschiedenen Naturgesetze als seine Arten umfaßt. In der "letzten Naturwissenschaft" gibt es daher nur  einen  Dingbegriff und nur  einen  Gesetzesbegriff. Beides sind rein logische Forderungen, denn nur in einem solchen Weltbegriff wäre alle Mannigfaltigkeit der anschaulichen Wirklichkeit überwunden und die Körperwelt wirklich im Ganzen und im Einzelnen begreiflich gemacht.

Man wird diesem logischen Ideal einer universalen Naturlehre Geschlossenheit und Konsequenz nicht versagen, auch wenn man es weder für notwendig, noch für einen erschöpfenden Ausdruck der Tendenzen ansieht, welche in der theoretischen Physik, Chemie und Biologie unserer Zeit leitend sind.

Zunächst verdient es besondere Beachtung, daß der Begriff einer letzten Naturwissenschaft aus RICKERTs Prämissen sich nicht zwingend ergibt. Selbst einmal zugestanden, daß die "Rücksicht auf das Allgemeine" für eine logische Begründung der Gesetzesbegriffe und Einschränkung der Dingbegriffe hinreiche, so folgt aus ihr allein auf keinen Fall die Notwendigkeit der Annahme, daß der Inbegriff aller naturwissenschaftlichen Begriffe sich zu  einem  System zusammenschließen müsse. RICKERT meint allerdings, daß diese Voraussetzung, wenigstens in Bezug auf den "letzten" Gesetzesbegriff sich von der Voraussetzung, daß wir überhaupt Gesetzesbegriffe bilden können, prinzipiell nicht unterscheide [74]. Aber es ist ersichtlich, daß mit ihr ein ganz neues Moment eingeführt wird, das in der Forderung, das Gemeinsame der Objekte herauszuheben oder allgemeingültige Relationen zwischen ihren Merkmalen aufzustellen, nicht enthalten ist. Die Steigerung zur höchsten Vollkommenheit, welche die "letzte Naturwissenschaft" erreichen soll, ist weniger durch das Bedürfnis, die Mannigfaltigkeit der Natur prinzipiell übersehbar zu machen, als vielmehr durch das Postulat bestimmt, zu irgendeiner Zeit die Gewißheit zu haben, daß die durch jenes Bedürfnis gestellte Aufgabe restlos gelöst sei. Und zwar eine Gewißheit, die nicht auf empirischen Daten beruht und daher immer nur eine vorläufige sein könnte, sondern die durch das Denken als eine endgültige und absolute gesetzt ist. An sich ist durchaus nicht abzusehen, warum nicht auch eine Mehrzahl von auseinander nicht ableitbaren obersten Gesetzes- und Dingbegriffen dem weitestgehenden Erkenntnisstreben der positiven Naturwissenschaften Genüge leisten sollte. Freilich müßten diese als ein rein Tatsächliches hingenommen werden; aber daß darum eine Überwindung der unendlichen Mannigfaltigkeit der Anschauung "durch nicht gewährleistet" sei, weil, wie RICKERT meint [74], wir dann niemals wissen können, ob nicht noch eine unbegrenzte Anzahl von neuen "letzten" Begriffen bei weiterer Forschung hinzutreten wird, ist kein zwingender Schluß. Denn wenn nur vorausgesetzt wird, daß die Anzahl der letzten Begriffe nicht unendlich groß ist, verringert jede Aufstellung eines solchen die Chancen der Überraschung durch weitere Forschung. Ihrer Vollständigkeit wäre die Naturwissenschaft gewiß, wenn auf keinem Weg mehr Tatsachen hervortreten wollen, die nicht den bereits bekannten Obersätzen oder Begriffen untergeordnet werden können; dann ist jedenfalls praktisch die geforderte Übersicht erreicht. Daß die letzten Begriffe in  einem  ihren Abschluß finden müssen, daß es sozusagen eine Gesetzmäßigkeit der Gesetze gibt, ist eine Forderung für sich, welche durchaus von der Annahme der Gesetze zu trennen ist und auch durch sie gerechtfertigt werden kann; denn sie gilt nicht einer Bestimmung des Erkenntnisinhaltes oder seiner begrifflichen Fassung, sondern ist nur der Ausdruck des subjektiven Strebens nach der absoluten Gewißheit, daß das Erkenntnisziel erreicht sei.

Nun ist es aber gleichwohl zweifellos, daß eine Tendenz nach einheitlicher Fassung der Forschungsergebnisse, nach Erklärung der Vielheit der Erscheinungen durch eine geringste Anzahl von Voraussetzungen, im idealen Grenzfall also durch eine einzige Annahme, in der Naturwissenschaft aller Zeiten lebendig gewesen ist. In der Tat wird es immer als theoretischer Fortschritt zu bezeichnen sein, wenn es gelungen ist, eine Gruppe von Vorgängen Gesetzen und Begriffe unterzuordnen, die zunächst der Darstellung ganz anderer Geschehnisse dienten. Man wird diese Tendenz annehmen müssen, auch wenn man die RICKERTsche Begründung preisgibt. Aber entscheidend ist nun, daß sie nicht uneingeschränkte Geltung beanspruchen darf. Mag man selbst zugeben, daß es berechtigt sei, Begriffe zu bilden, unter welche schließlich alles körperliche Geschehen und alle Vorgänge zu subsumieren sind, so ist von diesem Zugeständnis doch die Behauptung zu trennen, daß alle anderen Begriffe, deren Bildung vielleicht durch andere Gesichtspunkte bestimmt ist, dem vom weitesten Umfang unterzuordnen seien. Wenn RICKERT einmal bemerkt [60], daß, weil die Körperwelt als ein einheitliches Ganzes zu betrachten ist, alle Naturwissenschaften als Glieder eines wissenschaftlichen Systems oder auch als Vorbereitungen zu einer allgemeinen Theorie der Körperwelt anzusehen sind, so ist das keineswegs verständlich. Es ist auch durchaus denkbar, daß die Körperwelt ein mehrseitiges Verhalten aufweist, dessen begriffliche Fassung uns nur durch isolierende Betrachtung der einzelnen Verhaltungsweisen möglich ist. Insofern vielleicht allen Dingen im Raum gewisse Eigenschaften und Relationen zukommen, gelten dann die hierfür gebildeten Begriffe für die Gesamtheit der räumlichen Objekte; aber das schließt nicht andere Abstraktionsreihen aus, in welchen nicht gerade die räumlichen Beziehungen als die gemeinsamen Merkmale herausgehoben werden. In jeder einzelnen dieser Reihen ist gewiß das Streben nach Einheit begreiflich und berechtigt, aber es ist nicht notwendig, daß es auch für eine Verbindung einer Mehrheit von ihnen oder gar für ihre Totalität gilt. Selbst wenn die Natur als eine Einheit oder ein Ganzes zu betrachten ist, folgt nicht, daß sie nur in einem einzigen Begriffssystem dargestellt werden müsse.

Eine interessante Bestätigung hierfür kann man den Ausführungen RICKERTs selbst entnehmen. Offenbar ist das Ideal einer "letzten Wissenschaft" nicht allein auf die Naturlehre im Sinne der Erforschung von räumlichen Gebilden beschränkt. Es kann, wenigstens wie es in jenem Gebiet eingeführt und durchgeführt ist, die gleiche Anwendung auch auf die nichträumlichen, die seelischen Erscheinungen finden. Folgerichtig gelangt RICKERT so zum Ideal einer Psychologie, welche das gesamte seelische Leben unter einen einheitlichen Begriff zu bringen sucht; an die Stelle der "letzten Dinge" treten in ihr die Begriffe von "letzten Elementen", als aus denen die an sich unübersehbare Mannigfaltigkeit des psychischen Seins bestehend gedacht wird. Nun liegt die Frage nach dem Verhältnis dieser letzten Psychologie zur letzten Naturwissenschaft nahe; lassen sich auch diese beiden Disziplinen nicht noch in einer allerletzten Wissenschaft vereinigen, welche dann die allumfassendsten, für die körperliche wie die seelische Wirklichkeit gleichmäßig geltenden Begriffe bildet? Eine Wissenschaft, welche sich diese Aufgabe stellt, pflegt man als Metaphysik zu bezeichnen und in der Tat ist RICKERT geneigt, eine solche Metaphysik nach "naturwissenschaftlicher Methode" als eine "Erfahrungswissenschaft", wenigstens als einen Inbegriff berechtigter Probleme anzuerkennen [215]. Aber es erscheint ihm doch sehr zweifelhaft, ob sie je imstande sein wird, mit den Begriffen zu arbeiten, die von den anderen Erfahrungswissenschaften mit Rücksicht entweder auf die Körper oder das Seelenleben allein gebildet sind [218]. Ja, es hat nach ihm geradezu keinen Sinn, in der Naturwissenschaft etwa nach der Entstehung des Psychischen aus dem Physischen zu fragen, nicht etwa, weil beide als empirische Wirklichkeiten sich voneinander prinzipiell unterscheiden, sondern weil der mechanische Begriff des Physischen mit dem des Psychischen unvereinbar ist. [286 Anm.] Das ist gewiß richtig, aber sollte nicht, was für diese beiden nach naturwissenschaftlicher Methode gebildeten Begriffssysteme gilt, auch auf die zur Darstellung der körperlichen Wirklichkeit allein hervorgebrachte Theorie Anwendung finden können? Wenn es problematisch ist, ob die Totalität der Welt, die doch mit gleichem Recht als ein Ganzes oder eine Einheit wie die Gesamtheit der räumlichen Dinge anzusehen ist, in  einer  letzten Wissenschaft erkannt werden kann, welche Berechtigung kann dann noch das Postulat beanspruchen, daß wenigsten die Naturwissenschaften im engeren Sinne des Wortes ihren Abschluß in einer allgemeinen Theorie finden müssen? Die formale Logik mag ohne Rücksicht auf den Inhalt der Begriffe die Forderung auf Einheit des Systems aufstellen, aber über ihre Durchführbarkeit entscheidet eben einzig der Sachgehalt. Reflektiert man nur auf  ein  Merkmal der Objekte, vielleicht eins, das in der Tat allen räumlichen Dingen zukommt - und bei RICKERT ist immer offen oder versteckt die Beziehung auf die räumlichen Relationen maßgebend -, dann ist allerdings das Ideal einer alle körperliche Wirklichkeit umfassenden Konstruktion möglich. Aber dieses Ideal, das in der Geometrie und Phoronomie [Bewegungslehre - wp] seinen reinsten Ausdruck gefunden hat, ist ein bloß formales Schema, das nur soweit, als die Dinge räumliche Eigenschaften aufweise und im Raum sind, für sie paßt. Und nicht einmal der Umstand, daß aus gewissen, hier unwichtigen Gründen wir stets gezwungen sind, alle Unterschiede in der materiellen Wirklichkeit, selbst die zeitlichen, am Ende durch Verhältnisse von Raumgrößen auszudrücken, kann uns dazu führen, die in ihnen erfaßten oder durch sie gemessenen sachlichen Relationen als in  einem  System darstellbar zu postulieren. Das ist der Glaube der großen Denker des 17. Jahrhunderts gewesen, der im Natursystem des DESCARTES seine entschiedenste Ausbildung gefunden hat. Aber die Geschichte hat dieses wissenschaftliche Ideal zerstört oder doch erheblich eingeschränkt. So wenig, wie uns die Natur als ein bloßer Inbegriff räumlicher Ordnung erscheint, so wenig sind wir davon überzeugt, daß alle Gesetze sich als Sonderfälle eines Gesetzes ergeben müssen, daß alle Dingbegriffe nur Spezifikationen eines Dingbegriffes sind.

In RICKERTs Buch erklingt oft der Vorwurf des Rationalismus gegen die, welche in den Formeln der Naturwissenschaften mehr als bloße Abstraktionen oder begriffliche "Umformungen", "Vereinfachungen" sehen; daß den Gedanken etwas in der Wirklichkeit entspreche, sei mit der Einsicht in die totale Irrationalität des Seienden unvereinbar. Aber betont RICKERT diese Unwirklichkeit der Wissenschaft nicht vielleicht deshalb so stark, um ihr alle Rationalität zu retten? Ist nicht sein Ideal der letzten Naturwissenschaft gerade von demselben rationalistischen Gesichtspunkt, wie die Systeme des DESCARTES oder SPINOZA geleitet? Wenn SPINOZA - wenigstens im Sinne der traditionellen Darstellung - es für möglich hielt, alle Erscheinungen aus  einem  Begriff abzuleiten, so ist das freilich auch nach RICKERT ein hoffnungsloses Unternehmen; aber mit dem Aufbau des Ganzen, mit dem Aufstieg vom Besonderen zu  einem  allumfassenden Begriff des Seienden ist RICKERT im Grunde völlig einverstanden. Wäre man nicht berechtigt, RICKERT den Vorwurf des Rationalismus zurückzugeben? Oder ist die Konstruktion eines wissenschaftlichen Ideals lediglich auf der Grundlage der logischen Forderung höchster Durchsichtigkeit ohne Berücksichtigung ihrer tatsächlichen Erfüllbarkeit nicht ein Zeichen eines spezifisch rationalistischen Denkens?

Denn dies ist nun die andere Seite der RICKERTschen Wissenschaftstheorie, daß sie Tendenzen, welche doch auch in der Forschung lebendig sind, gegenüber der Richtung auf einen einheitlichen logischen Abschluß stark vernachlässigt. Vor allem wird man eine Aufgabe nicht so gering einschätzen dürfen, an deren Auflösung die Naturwissenschaft seit ihrer Entstehung arbeitet: das ist Aufschluß über die tatsächliche Ordnung des Weltganzen im Großen wie im Kleinen zu gewinnen.

Diese Aufgabe ist durch den beschränkten Standort des Menschen gegeben, der zunächst eine Orientierung auf der Erde und über sie erstrebt und so von der Entdeckung ihrer Kugelgestalt zu den Einsichten fortschreitet, die man nach der wichtigsten von ihnen unter dem Namen der heliozentrischen Kosmologie zusammenfassen kann. Und wie die Wissenschaft den perspektiven Schein beseitigt, der uns über die wahre Verfassung des Weltbaues täuscht, erweitert sie auch beständig mit Hilfsmitteln aller Art die Grenzen, welche uns durch unsere Sinnesorgane gegeben sind. Und wenn die Leistungsfähigkeit der Instrumente versagt, tritt die Hypothese und das Schlußverfahren an ihre Stelle, um auch dort, wo eine direkte Beobachtung nicht mehr möglich ist, wenigstens Vermutungen über die untersinnlichen Strukturen und Beschaffenheiten zu wagen. (6)

Und zwar ist die hieraus gewonnene Aufklärung durchaus nicht nur als bloße Sammlung von Material oder als Vorbereitung zur eigentlich allein wertvollen theoretischen Deutung und Bearbeitung zu betrachten und abzutun; denn sie wird von einem methodischen Prinzip beherrscht, das geradezu zu einer Einschränkung jener logisch-systematischen Tendenz führen kann. Der Hauptsatz ihres Verfahrens ist, wenn sie die Analyse der Erscheinungen über die Schranken unserer Sinnesorgane hinausführt, die hypothetisch gesetzten Gliederungen nur nach Analogie der der Erfahrung zugänglichen Gegenstände zu konstruieren. So enthält etwa die kinetische Gastheorie kein Element, das einer möglichen Erfahrung prinzipiell entrückt wäre. So sind die Hypothesen NÄGELIs und WEISMANNs über die verborgenen Konstitutionen der Erbmasse auf Voraussetzungen aufgebaut, die bereits teilweise die Bestätigung durch direkte Wahrnehmung gefunden haben. (6)

Durch diese Forschung erhält die Wissenschaft eine beständige Steigerung ihres Wirklichkeitsgehaltes und immer neue Tatsachen treten in die Beobachtungssphäre ein. Aus ihr empfängt jene positivistische Wissenschaftsauffassung, die alle wissenschaftliche Arbeit auf die Aufdeckung dieser tatsächlichen Zusammenhänge einschränken will, ihre stärkste Kraft. Was RICKERT gegen die "Beschreibung" in den Naturwissenschaften vorbringt, nimmt nur auf den sehr engen Sinn Bezug, in welchem die Klassifikationen der Botanik oder der Zoologie diese Bezeichnungen verdienen. Von den Beschreibungen aber der Art, wie etwa KEPLERs Planetengesetze verdeutlichen, kann man nicht sagen, daß sie nur als Vorstufen höherer Theorien einen Wert besitzen. In ihnen sind doch Tatsachen festgestellt, die von jeder Theorie unabhängig sind. Das heißt natürlich nicht, daß die Konstatierung einer Tatsache ohne Begriffe und Abstraktionen, ohne methodische und erkenntnistheoretische Voraussetzungen möglich wäre; wohl aber heißt es, daß schließlich, auf welchen Umwegen auch immer, der beschriebene Sachverhalt in der Erfahrung ebenso aufweisbar ist, wie das Papier, das vor mir liegt, wenn ich auf ihm schreibe. Jede Entdeckung neuer Sterne, neuer Strahlen ist das theoriefreie Konstatieren eines Faktischen in diesem Sinne. Man wird nicht leugnen können, daß hiermit eine Bereicherung unserer Kenntnis von der Wirklichkeit gegeben ist, die eine Wissenschaftstheorie nicht vernachlässigen darf. Ja, auch ohne sich geradezu auf den Standpunkt des extremen Positivismus zu stellen, möchte die Reduktion aller eigentlichen Theorien auf ein ökonomisches Arrangement der Symbole für die konkreten Einsichten doch noch begreiflicher erscheinen, als die ausschließliche Entwicklung einer auf rein logischen Voraussetzungen gegründeten rationellen Weltkonstruktion.

Aber wie auch ein endgültiger Ausgleich dieser Richtungen zu bestimmen sei, entscheidend für unseren Zusammenhang ist, daß jedenfalls die meisten der von der Naturwissenschaft unserer Tage erarbeiteten Dingbegriffe den Bedingungen genügen, welche für die Naturwissenschaft als eine Erforschung von Tatsachen gestellt werden können. Das heißt, sie sind nicht zu Zusammenfassungen irgendwelcher Art, irgendeines "Allgemeinen" in RICKERTs Sinn gebildet, sondern sie bezeichnen in erster Linie tatsächliche Bestände. Natürlich ist die Phoronomie und in gewisser Hinsicht auch die Mechanik davon ausgenommen; aber einmal bedeutet ihre universelle Anwendbarkeit doch auch, daß in sie ein objektiver Sachverhalt aufgenommen ist, daß eine allgemeine mechanische Struktur die körperliche Wirklichkeit durchzieht und sodann ist gerade in neuerer Zeit immer stärker mit schwer zu widerlegenden Gründen dargetan worden, daß die Wirklichkeit auch für die Wissenschaft mehr als ein Inbegriff bloß quantitativer sein müsse. (7)

Diesen Wirklichkeitsgehalt der positiven Wissenschaft, den sie niemals verlieren kann, ohne sich selbst aufzugeben, hat RICKERT nicht genügend gewürdigt. Wenn er einmal gegen HAECKEL bemerkt [272 Anm.], daß wir bei der Beobachtung eines Lichtphänomens nicht den schwingenden Äther, sondern immer nur das Licht sehen, den schwingenden Äther "hinzudenken", so ist das für die naive Beobachtung allerdings zutreffend; seitdem es aber WIENER gelungen ist, stehende Lichtwellen auf der photographischen Platte festzuhalten, sind die Schwingungen keine begrifflichen "Umformungen" der Wirklichkeit mehr, sondern Tatsache. Es ist ein wenig treffender Ausdruck für die Leistungen der physikalischen Optik und Akustik, wenn diese, wie RICKERT es einmal als ihre Aufgabe auszusprechen scheint [509], nur zu ermitteln hätten, welcher "Begriff von Atombewegung" dem Licht, welcher dem Schall entspricht. Gerade beim Schall ist ersichtlich, daß die Arbeit der Wissenschaft nicht nur auf eine begriffliche Fassung der unmittelbaren Erlebnisse beschränkt ist; denn es ist eine Tatsache, die allerdings erst die genauere Untersuchung festgestellt hat, daß die Reizungen unserer Hörnerven wenigstens im normalen Zustand nur durch Erschütterungen des ihn umgebenden Mediums zustande kommen, und nur mit diesen Erschütterungen, die jederzeit auch ohne alle Berücksichtigung der subjektiven Schallerscheinungen der Beobachtung z. B. optisch zugänglich zu machen sind, hat es die Akustik zu tun. Der Physiker möchte diese Einsicht nicht als eine "armselige Abstraktion" bezeichnen, da sie dort gerade Kenntnis von objektiven Tatbeständen gibt, die zunächst dem ungeschulten Blick verborgen sind. Und wenn auch er von den subjektiven Reaktionen absieht, so bedient er sich doch hierbei nur der isolierenden Abstraktion, der analytischen Denkweise, welche Teilinhalte aussondert, um sie rein in ihren Gesetzmäßigkeiten zu erfassen.

Was das Wirkliche ist, ist uns eben nicht unmittelbar als "volle Realität" gegeben, die der menschliche Geist nur in Allgemeinbegriffen zu klassifizieren oder sonst irgendwie übersehbar zu machen hat. Vielmehr ist die unermüdliche Arbeit der Forschung darauf gerichtet, die naive, beschränkte, von Fehlschlüssen und Einseitigkeiten durchsetzte Erfahrung zu reinigen, zu erweitern und die Wirklichkeit - es handelt sich dabei immer um die empirische Wirklichkeit - sowohl in extensiver wie intensiver Hinsicht nicht sowohl zu überwinden, als zu erschließen. So sind wir mittels der geschärften Beobachtung und des Experimentes imstande, in die Natur gewissermaßen wie ein Reisender in ein unbekanntes Gebiet einzudringen und aus dem Verborgenen hervorzuholen, was der naiven Kenntnis sich entzieht.

Von dieser Auffassung aus erhält auch der Begriff des Atoms, den RICKERT gern als den Typus der leblosen und wirklichkeitsfremden Begriffe der Naturwissenschaft zitiert, eine etwas andere Bedeutung. So wenig wie die mechanischen Begleitvorgänge beim Schall brauchen die Atome und Moleküle des Chemikers als bloße Fiktionen, Hilfsbegriffe oder Bilder betrachtet zu werden. Wer will leugnen, daß es Gebilde von Dimensionen dieser Art gibt, daß die Stoffe, die wir mit unseren Sinnesorganen als Kontinuitäten wahrnehmen, eine untersinnliche Gliederung aufweisen, wo wir doch innerhalb der sinnfälligen Welt allerorten eine ähnliche Gliederung einwandfrei konstatieren können? Es ist durchaus nicht notwendig, daß wir die Atome, wenigstens die, welche die Chemie verwendet, als prinzipiell unwahrnehmbar voraussetzen müssen [510]; darf ihnen doch nach der Elektronentheorie geradezu eine Sichtbarkeit in demselben Sinne wie etwa der Sonne oder dem Mond zugeschrieben werden. Wesentlich ist hierbei auch nicht, ob man die Lehre von der Subjektivität der sinnlichen Qualitäten, die wir erleben, annimmt oder ablehnt; denn die physikalischen oder chemischen Theorien erfordern ja nicht, daß nur das, was sie aus der Wirklichkeit herausheben, allein Realität besitze. Und wenn man nun gar wie RICKERT die Behauptung von der Unwirklichkeit der Qualitäten als eine "abenteuerliche Ansicht" entschieden verwirft [510], so kann man gewiß gegen das Gerede von der farblosen und tonlosen Atomwelt protestieren, aber es berechtigt nicht, den Glauben an die reelle Existenz jener kleinen Einheiten, der sich vom Glauben an die Existenz der Planeten oder Doppelsterne prinzipiell nicht unterscheidet, als "rationalistische Metaphysik" abzutun. (8)

Nun bezieht allerdings RICKERT, wie es scheint, seine Ausführungen auf den "konsequent zu Ende gedachten Begriff der Atomwelt, der allein der Begriff einer vollkommenen rationalen Welt ist" [510], und in der Tat sind die chemischen Atome und Moleküle noch weit vom "letzten Dingbegriff" entfernt, den allein die "letzte Naturwissenschaft" enthält. Der Begriff etwa des Elektrons möchte schon jenem Ideal näher stehen, wenn auch in ihm noch keineswegs die geforderte sozusagen punktförmige Einfachheit erreicht ist. Aber eben hier kann ein Bedenken geltend gemacht werden, welches allen weiteren Konsequenzen, die RICKERT aus jenem Begriff einer vollkommen rationalen Welt ableitet, den Boden entzieht. Wenn es tatsächlich zutrifft, daß alle von der Naturwissenschaft verwendeten Dingbegriffe nur zu Bezeichnungen von Tatbeständen gebildet sind, welche die fortschreitende Forschung der Beobachtung zugänglich macht oder als vermutlich existent erweist, haben wir kein Recht mehr, die von RICKERT geforderte Umbildung der Dingbegriffe auch nur für möglich zu erachten. Soweit die Naturwissenschaft Tatsachenforschung ist, wird sie immer auf Ermittlung von Elementen ausgehen, die als solche wenigstens prinzipiell Gegenstand möglicher Erfahrung sein könnten. Und wenn der Theoretiker sich der Formeln der Kinematik [Lehre der Bewegung von Punkten und Körpern im Raum - wp] oder Mechanik zur Darstellung der Bewegungsvorgänge bedient, so mag er allerdings im Sinne dieser Formelsprache von "materiellen Punkten" als dem Bewegten reden, aber er wird sich hüten, die reellen Träger der bewegenden Kräfte mit Punkten zu verwechseln. So wenig wie dem Astronomen die kosmischen Massen mit ihren Mittelpunkten identisch werden, weil er in gewissen Rechnungen alle Bestimmungen auf diese allein beziehen darf, so wenig wird eine Theorie der Materie jemals die absolut einfachen, mathematischen Punkten gleichwertigen "letzten Dinge" erreichen. Auch für sie bleiben diese stets, was sie ihrem Ursprung nach sind: Postulate des formal-logischen Denkens, von dem eine mögliche Prädizierung gelten soll, die aber gewissermaßen nur die leeren Stellen bezeichnen, in welche die Fakta stets eingesetzt werden müssen.

Die Mechanik kann ja rein für sich und ganz abstrakt entwickelt werden und es scheint an sich wohl nicht unmöglich, daß einst eine Ableitung aller Bewegungsgesetze aus  einem  Grundgesetz durchführbar sein wird, wie es etwa die HERTZsche Mechanik anstrebt und richtig ist schließlich auch, daß dieser vollkommenen Mechanik alle denkbaren Dinge und Vorgänge der Körperwelt sich unterordnen lassen müssen: aber diese Mechanik allein gibt uns nicht den vollkommenen Weltbegriff; vielmehr erfordert dieser immer die Kenntnis bestimmter Ordnungen, bestimmter Substanzen, die mehr als die idealen Einheitspunkt für die Anwendung der Gesetze sind. Denn wir wollen nicht nur die Möglichkeiten übersehen, nach denen Verläufe in der Natur sich abspielen können, sondern wir wollen auch wissen, welche von ihnen verwirklicht sind. Die Bedeutung, welche allein die Größentatsachen, die Konstanten und absoluten Zahlen, in allen wissenschaftlichen Theorien, in allen Gesetzen und Feststellungen der Naturwissenschaft besitzen, erweist unwiderleglich einen Gehalt an Wirklichkeitswissen in ihr, ohne welchen alle ihre Sätze zu leeren Schemata werden, die im günstigsten Fall ein rein mathematisches Interesse beanspruchen können. (9) Bezeichnet man diese Rücksicht auf die Tatsachen und die Bestimmtheit ihrer Konfiguraton und Abfolgen als "historische Erkenntnis", so kann man sagen, daß in diesem Sinne die Naturwissenschaft immer historisch bleiben wird. Denn die Welt ist uns in ihrer Totalität nur als ein einmaliges Faktum gegeben und wenn auch die Naturwissenschaft sich gewiß nicht mit der Aufzählung aller individuellen Ereignisse hier und jetzt, einst und dort beschäftigt, so kann sie sich jedoch niemals der Beziehung auf die Bestimmtheit, die dem Ganzen eignet, entledigen, ohne ihren eigentlichen Sinn zu verlieren. Hierdurch sind der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung Grenzen gesetzt, wenn schon von ganz anderer Art, als die, welche RICKERT glaubt aufstellen zu können. Seine Begründung der "letzten Naturwissenschaft" stützt sich auf die Argumentation, daß, wenn es eine logisch vollkommene Übersicht und Erklärung der Welt geben soll, auch diese Schranken fallen müssen; wir schließen umgekehrt: weil sie unübersteiglich sind, weil das inhaltlich bedeutsame Denken immer an die Beziehung auf Tatsachen gebunden ist, kann es eine "letzte Naturwissenschaft", die nur die logischen Formen der Systematik enthält, als Wissenschaft von der Natur nicht geben.


3. Die Beschreibung individueller Wirklichkeiten
mit naturwissenschaftlichen Begriffen

Unter Zugrundelegung dieser Einsicht können dann aber die Grenzen, welche RICKERT der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung setzt, bedeutend zurückgeschoben und - wie es scheint - ganz und gar aufgehoben werden. Was die Naturwissenschaft nicht darzustellen vermag, liegt nach ihm in der empirischen Wirklichkeit selbst; das Individuelle ist nach den Formen und Bedingungen unserer Erkenntnis ihre absolute Grenze. Das Besondere eines einmaligen Verlaufes naturwissenschaftlich zu deduzieren, ist nicht nur ein tatsächlich Unausführbares, sondern schließt geradezu einen logischen Widerspruch ein. [509] Denn einmal geht die Vereinfachung, welche die naturwissenschaftliche Begriffsbildung einschließt, notwendig mit einer Vernichtung der Anschaulichkeit Hand in Hand [230]. Der vollkommene Weltbegriff enthält nichts mehr, was in dem Sinne anschaulich ist, wie die empirische Wirklichkeit. Daher gibt es wohl einen Weg von der anschaulich-empirischen Welt zur Welt der Atome, aber es kann keinen geben, der von ihr wieder zur empirischen Wirklichkeit zurückführt, denn um zu Atomwelt zu gelangen, muß man von allem absehen, was als Realität erlebbar ist und es ist so niemals möglich, aus diesen Abstraktionen das geringste Stückchen Wirklichkeitswelt wiederzugewinnen.

Zum anderen aber ist die Beseitigung der empirischen Anschauung immer zugleich die Beseitigung des individuellen Charakters der gegebenen Wirklichkeit. Das ist bereits durch die Rücksicht auf das Allgemeine, als welche das Prinzip der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung ist, bedingt; und schließlich kommt die Naturwissenschaft darauf hinaus, daß alle Wirklichkeit im Grunde genommen immer und überall dieselbe ist , also gar nichts Individuelles mehr enthält. [236]

Man kann nun zunächst von vornherein ein Zugeständnis machen. In ihrem vollen Umfang ist die Wirklichkeit oder ein besonderer Abschnitt von ihr niemals mit Worten und Begriffen beschreibbar; denn die Bedeutung der Worte und Zeichen, deren wir uns bedienen müssen, ist in der Tat immer allgemein. Aber man wird hinzufügen, daß diese Einschränkung in gleicher Weise für jede wissenschaftliche Darstellung, auch für die historische im Sinne von RICKERT gilt, daher denn aus ihr, so viel oder so wenig sie am Ende zu besagen habe - und RICKERT hält diesen Umstand für das historische Denken unerheblich - irgendein charakteristisches Unterscheidungsmerkmal naturwissenschaftlicher und geschichtlicher Denkweisen oder ihrer Begriffsbildung nicht folgt. Das sind Grenzen, in denen jede Beschreibung sich bewegt, sofern sie Darstellungen geben will, die unabhängig von unübertragbaren individuellen Anschauungen sind. Und noch eins darf, um hier zu einem billigen Urteil zu gelangen, nicht außer acht gelassen werden. Nicht die erschöpfende Beschreibung einer irgendwie abgegrenzten Wirklichkeit, so daß nun überhaupt kein begrifflich nicht zu fassender Rest von Anschaulichkeit mehr zurückbleibt, ist das Wertvolle, denn sie ist unmöglich. Vielmehr liegt die Fruchtbarkeit einer wissenschaftlichen Darstellung eines Sondergeschehnisses in der beliebig großen Annäherung an die Wirklichkeit. In diesem Sinne wird man Einschränkungen zugeben können.

Ein anderes ist aber die Frage, ob es der Naturwissenschaft in jeder Hinsicht und grundsätzlich unmöglich ist, das Besondere, den Einzelfall, von dem sie zu allgemeinen Sätzen fortgeht, aus diesen wieder zu rekonstruieren. Die Aufgabe kehrt sich um; kann, was zunächst das Ziel war, jetzt auch zum Mittel werden, um den ursprünglichen Ausgangspunkt wieder zu gewinnen? Solange man allerdings das Wesen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung allein in einer Vereinfachung des Gegebenen, in einer Abstraktion von der Wirklichkeit, in jenem spinozistischen Aufstieg vom Einzelnen zum Allgemeinen und Allgemeinsten erblickt, ist der Rückweg zum Besonderen ausgeschlossen. Hält man aber in Übereinstimmung mit dem tatsächlichen Verfahren der naturwissenschaftlichen Forschung dafür, daß dieselbe in erster Linie eine Analyse der Wirklichkeit und Zerlegung ihrer Elementarfaktoren erstrebt, dann ist nicht einzusehen, warum nicht auch der umgekehrte Prozeß, die Synthese, zum vollen Reichtum der besonderen Erscheinungen zurückführen sollte.

Daß die naturwissenschaftliche Begriffsbildung eine Vernichtung der empirischen Anschaulichkeit bedeute, ist nicht erwiesen, solange nicht gezeigt ist, daß auch die isolierende Abstraktion es ausschließlich oder auch nur vorwiegend mit Gebilden zu tun hat, die in keiner Anschauung gegeben sein können. Gewiß ist der Begriff "Wirbeltier" ein unanschauliches Allgemeines, das nie und nirgends existiert und aus dem etwa HASDRUBALs Elefanten zu deduzieren schlechterdings unmöglich ist. Aber verhält es sich nicht ganz anders mit den Begriffen der Gestirne oder der chemischen Elemente? Und selbst wenn, was etwa unter dem Begriff der leitenden Wärme zusammengefaßt wird, in der Erfahrung auch niemals völlig rein und isoliert darstellbar ist, so ist es jedenfalls ein Etwas, das jederzeit an einem objektiven Sachverhalt aufzuweisen ist und nach seiner Abhängigkeit von gewissen Bedingungen studiert werden kann.

In RICKERTs "letzter Naturwissenschaft", seinem vollkommen rationalen Weltbegriff, können allerdings anschauliche Vorstellungen immer nur die Rollen von stellvertretenden Bilder spielen, daher RICKERT auch sie allein "als von historischen Elementen vollkommen frei zu denken" bezeichnet. [269] Aber zunächst haben wir es ausschließlich mit den Erfahrungswissenschaften zu tun, von denen RICKERT selbst gesteht, daß sie nicht nur tatsächlich mehr oder weniger Begriffe von anschaulichen Dingen haben, sondern auch stets behalten müssen und der Übergang von diesen Elementen und Substanzen, mit denen die positive Wissenschaft rechnet, zu den "letzten Dingen" erscheint uns als ein niemals ausführbarer Schritt. Können jedoch die Subjekte, von denen oder für die die in den naturwissenschaftlichen Theorien ausgesagten Gesetzmäßigkeiten gelten, stets das anschauliche, d. h. als Gegenstände möglicher Erfahrung, gedacht werden, so bleibt allein der Umstand noch zu erwägen, daß sowohl die Ding- wie die Relationsbegriffe immer in dem Sinne allgemein sind, daß sie eine unbestimmt große Anzahl konkreter Geschehnisse umfassen. In der Tat sind Begriffe wie das Fallgesetz oder der Sauerstoff Ausdrücke von Sachverhalten, die in beliebigen Zeiten und Räumen beliebig oft auftreten können. Aber es scheint, als begründe auch diese Eigenart der Begriffe nicht notwendig die Unfähigkeit, mit ihnen individuelle Wirklichkeiten zu beschreiben oder zu deduzieren.

Allerdings kann die Erklärung jedes gegebenen Tatbestandes auf ein logisches Schema gebracht werden, in welchem ein durch unmittelbare Wahrnehmung gewonnener Satz auf einen allgemeingültigen Obersatz zurückgeführt und unter ihm subsumiert wird, sodaß mithin dasjenige, was der Sonderfall verschiedenes von den Fällen gleicher Art aufweist, aus denen der Obersatz gewonnen wurde, aus diesem nicht abgeleitet werden kann. Aber es ist ja auch keineswegs erforderlich, daß nun jedes besondere Ereignis nur unter  einen  allgemeinen Begriff zu subsumieren sei. Dies war der Fall im Aufbau des aristotelischen Begriffssystems und daher bot es auch schlechterdings kein Mittel, das Individuelle der empirischen Gestaltungen verständlich zu machen. Und es ist der Fall in dem von RICKERT entworfenen Ideal einer logisch vollkommenen Naturwissenschaft, wo alle Wirklichkeit nur unter  einen  Gesetzesbegriff und  einen  Dingbegriff fallen soll. Aber es ist nicht erforderlich, solange sich die Naturwissenschaften noch in einem Stadium der Ausbildung befinden, das zwar nach RICKERT ein nur vorläufiges ist, in welchem sie sich jedoch noch einer Mehrheit von (übrigens ausschließlich nach naturwissenschaftlicher Methode gebildeten) Ding- und Gesetzesbegriffen bedienen.

So zeigt die Analyse stets ein mehrseitiges Verhalten jedes einzelnen Dinges oder Vorganges; immer sind mechanische Änderungen mit gleichzeitigen thermischen und elektrischen Änderungen, um ein einfaches Beispiel herauszugreifen, verbunden. Und wenn nun jede Reihe dieser Änderungsweise einem allgemeinen Begriff oder Satz untergeordnet werden kann, so ist natürlich jeder einzelne dieser Sätze oder Begriffe inhaltsärmer oder auch einfacher als das Ganze des Geschehens, aber in ihrer Gesamtheit, wenn sie nun zugleich auf dieselbe Erscheinung bezogen werden, ergänzen sie einander eben doch die Seiten, welche die isolierende Abstraktion beim Verfolg jedes einzelnen außer Betracht gelassen hatte. Versteht man unter dem Individuellen oder Besonderen eines Sachverhaltes das, wodurch er sich von einem ähnlichen unterscheidet - niemand wir die bloße Orts- und Zeitbestimmtheit zu den individuellen Merkmalen rechnen - so liegt das Individuelle oder Besondere schließlich nur im Zusammensein der ihn konstituierenden Elemente, deren Unterschiede gegen die anderen Vertreter ihrer Klasse im Verhältnis zum Ganzen vernachlässigt sind.

Soweit das naturwissenschaftliche Denken ein Unterordnen bestimmter Fälle unter generelle Sätze ist, schließt es einen Erklärungsverzicht der ihnen nicht gemeinsamen Momente ein. Aber so wenig es sich in Generalisationen einerseits erschöpft, ist es andererseits auf blosß Subsumtion eingeschränkt. Wenigstens ist nicht einzusehen, warum ihm auch ein Verfahren der gegenseitigen Zuordnung der Reihen, welche die Erkenntnis isoliert voneinander verfolgt hat, untersagt sein sollte. Allerdings ist das Zusammentreffen dieser an einem Ort und zu einer Zeit im allgemeinen selbst nicht gesetzmäßig begründet. Es ist eine reine tatsächliche Koexistenz. Von jedem einzelnen Ereignis gilt, was DILTHEY einmal von der ganzen Welt sagt: "Unser Verstand muß die Welt wie eine Maschine auseinandernehmen, um zu erkennen; er zerlegt sie in Atome, daß aber die Welt ein Ganzes ist, kann er aus diesen Atome nicht ableiten." Aber der Naturwissenschaft ist, soweit sie überhaupt ein Interesse hat, besonderen Fällen ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden, dieses Tatsächliche, das nicht deduzierbar ist, stets gegeben. (10) Entweder handelt es sich um Erklärung eines gegebenen Tatbestandes aus seinen Ursachen oder um die Berechnung eines eintretenden Zustandes aus gegebenen Ursachen. Indem sie beidemal den Komplex von Relationen in die einzelnen Reihen auflöst, welche eine Erklärung je eines Momentes des Ganzen gewähren, ergeben sie in ihrer Totalität auch eine Erklärung der Änderung des Ganzen. So erscheint es auf diesem Wege, unter Voraussetzung einer vorgängigen Analyse, wenigstens prinzipiell wohl möglich, jede beliebige bestimmte Erscheinung mit Begriffen zu beschreiben, die ausschließlich nach naturwissenschaftlicher Methode gebildet sind.

Der Beweis hierfür liegt denn auch in den Disziplinen vor, wo die Naturwissenschaft die Untersuchung individueller Tatbestände aufgenommen hat. vor allem zeigt die Astronomie, daß die von RICKERT bestrittene Darstellung einmaliger Vorgänge und Dinge mit naturwissenschaftlichen Begriffen im Prinzip geleistet werden kann. Sein Versuch, die Astronomie dieser ihrer hervorragenden und seinen Deduktionen geradezu zuwiderlaufenden Leistungen als eine Art von Ausnahme zu konstruieren und das "Ideal einer astronomischen Erkenntnis" auch nur auf die Astronomie zu beschränken, kann nicht als gelungen angesehen werden.

Zunächst vermag auch er nicht in Abrede zu stellen, daß wenigstens die quantitativen Bestimmungen an den Weltkörpern "in ihrer Individualität in Gesetze eingehen", daß mithin soweit eine sehr genaue Vorausbestimmung künftiger Ereignisse möglich ist [445f]. (11) Aber wenn er diesen Umstand darauf zurückführt, daß die Objekte der Astronomie "faktisch immer so gegeneinander isoliert sind, wie sich dieses für einen Körper auf der Erde gar nicht oder nur mit größter Mühe bewerkstelligen läßt" [448], so möchte gerade daraus für die Untersuchung der irdischen Gegenstände sich die Aufgabe ihrer künstlichen Isolierung und der gesetzmäßigen Feststellung des störenden Einflusses anderer Wirklichkeiten auf sie ergeben. Gewiß kommt es auf der Erde niemals vor, daß ein Körper genau so fällt, wie es das Fallgesetz lehrt. Nach RICKERT muß die "Individualität" jedes wirklichen Falles von der Fallformel für immer naturwissenschaftlich unerklärlich bleiben. Aber sollte nicht vielmehr die Forschung durch Berücksichtigung etwa der Abhängigkeit der Geschwindigkeiten vom Luftwiderstand, die ihrerseits genauso gesetzmäßig zu bestimmen ist, wie der isoliert gedachte Fall, doch schon zu einer viel weiteren Annäherung an die Wirklichkeit kommen können? Für das Fallgesetz wie für die Gesetze der Reibung kommt der einzelne Fall immer nur als beliebiges Exemplar dieser allgemeinen Begriffe in Betracht; aber in ihrer Verbindung und unter Einsetzung der individuellen Größen bestimmen diese Gesetze oder Begriffe wenigstens prinzipiell genauso eindeutig den Sturz von MARTINITZ und SLAWATA im Schloßhof zu Prag, wie die astronomischen Gesetze die nächste Mondfinsternis.

Und was für die Erklärung der mechanischen Seite der Erscheinungen durch mechanische Gesetze gültig ist, daß nämlich stets eine Mehrheit von ihnen zu jedem besonderen Vorgang angezogen werden muß, ist nun in gleicher Weise auch auf das Verhältnis der mechanischen zu den uns als qualitativ erscheinenden Seiten der empirischen Wirklichkeit anwendbar. RICKERT liebt es zu betonen, daß die Naturwissenschaft nur mit rein begrifflichen "quantitativen" Elementen operiere; so gehe auch bei der Astronomie nicht der volle Reichtum der Erscheinungen, sondern nur ein kleiner, lediglich begrifflich zu isolierender, nicht faktisch abtrennbarer Teil in seiner quantitativen Besonderheit in Gesetze ein. Das ist in gewisser Hinsicht richtig, aber es erweist nicht, was es soll. Versteht man unter dem Qualitativen an den Erscheinungen das, was wir als qualitativ erleben, so wird man doch hervorheben müssen, daß die Qualitäten jedenfalls faktisch, z. B. von den Gestirnen, trennbar sind; denn auf welchem erkenntnistheoretischen Standpunkt man auch stehe, so unterliegt es schlechterdings keinem Zweifel, daß die empfundenen Sinnesqualitäten in unseren Sinnesorganen lokalisiert sind; auch wenn man den "physiologischen Idealismus" wie RICKERT ablehnt, muß doch der in unserem Sinnesorgan gewirkte Effekt von den Eigenschaften gesondert werden, die ihnen im Objekt vielleicht entsprechen. Soweit die Astronomie die Bewegungen der Gestirne gesetzlich bestimmt, berücksichtigt sie allerdings nur die Quantitäten, ohne aber darum die Gestirne als bloße Quantitäten denken zu müssen. Soweit sie aber z. B. die Farben derselben der Untersuchung unterzieht, hat sie es mit Eigenschaften von ihnen zu tun, die uns im Erlebnis als etwas anderes denn als bloße Raum- und Zeitbestimmtheiten gegeben sind. Es ist hier gleichgültig, welche objektiven Ursachen die Astrophysik und die Physik im allgemeinen in den Lichtquellen setzt, ob sie dieselben mit oder ohne Qualitäten ausgestattet denkt; für uns ist nur wesentlich, daß jedenfalls ein Zusammenhang zwischen gewissen wie immer definierten äußeren Reizen und den in den Sinnesorganen auftretenden Sinnesbildern besteht. Und wie die Erforschung dieses Zusammenhangs in der Sonderung der Disziplinen Gegenstand einer eigenen Wissenschaft, der Psychophysik, geworden ist, die nach RICKERT methodisch durchaus als eine Naturwissenschaft zu bezeichnen ist, können auch hier individuelle Erlebnisse wenigstens prinzipiell begrifflich beschrieben und vorausgesagt werden.

Setzen wir die Einsichten der Psychophysik als vollendet voraus, so ist nicht zu verstehen, warum nicht durch eine Vereinigung der physikalischen Erkenntnisse mit ihnen auch der qualitative Reichtum der Erscheinungen unter Berücksichtigung aller im besonderen Fall wirksamen Faktoren und hier vor allem auch des wahrnehmenden Menschen, naturwissenschaftlich beschrieben und erklärt werden sollte.

Nun weist RICKERT allerdings in diesem Zusammenhang auf weitere Grenzen hin, die der vollkommensten astronomischen Erkenntnis gesetzt sind; dieselben liegen im Dasein und der faktischen Ordnung der Gestirne, die durch keine Gesetze zu verstehen sind. Das ist zweifellos richtig; im Faktischen der Erscheinungen ist etwas gegeben, das sich niemals restlos erklären läßt; aber in diesem Sachverhalt tritt doch nur wieder jene Beziehung des wissenschaftlichen Denkens auf ein Tatsächliches hervor, das jeder Wissenschaft vom Seienden, mag man dasselbe auch nur als eine empirische Wirklichkeit gelten lassen, wesentlich ist. Nicht nur in der Astronomie stehen Urteile, die Gesetze enthalten, neben "Urteilen, die lediglich individuelle Tatsachen konstatieren" [449]; vielmehr setzt, wie ausgeführt, schon jedes Urteil, das ein Gesetz enthält, als die Bedingung seiner Gültigkeit und Anwendbarkeit Urteile über Tatsachen voraus. Und insofern die Welt in ihrer Totalität uns als ein Einmaliges gegeben ist, kann diese Beziehung auch unseres allgemeinsten Wissens auf ein individuell Bestimmtes niemals aufgehoben werden. Es müßte denn gelingen, die letzten Gesetze der "letzten Naturwissenschaft" auch in ihrer inhaltlichen Bestimmtheit anders, als durch Rückgang auf die Erfahrung zu begründen, eine Möglichkeit, die RICKERT allerdings nicht auszuschließen scheint, da er einmal [130 Anm.] von ihrer Erklärung durch Erkenntnis ihrer unmittelbaren Notwendigkeit spricht.

Und weiter trifft zu, daß hiermit zugleich unüberschreitbare Schranken unserer Erkenntnis gegeben sind. Zum Bewußtsein ihrer Tragweite erhoben sich schon die großen Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts. Aber DESCARTES bereits entwarf aus der Einsicht in diesen Gegensatz, mag man ihn nun als Gesetz und Ereignis, als Form des Geschehens und seinen Inhalt, als die Rationalität des Wirklichen und seine Faktizität oder wie sonst immer formulieren, den Gesichtspunkt, von welchem aus die Wissenschaft des Irrationalen, soweit es ihr überhaupt möglich ist, Herr werden kann. Gelingt es, die Wirklichkeit auf ein System konstanter Elemente zu reduzieren, die aber durchaus nicht die Eigenschaftslosigkeit der RICKERTschen "letzten Dinge" zu besitzen brauchen, dann ist die Erkenntnis jeder Änderung dieses Systems abhängig von der Kenntnis der immer geltenden Gesetze einerseits, der tatsächlichen Konfiguration des Systems, sagen wir der Lagen und Geschwindigkeiten der Raumteile in einem gegebenen Augenblick andererseits. Da nun aber diese Konfiguration von einer vorgängigen in derselben Weise abhängig und durch sie bestimmbar ist, wie eine spätere von ihr selbst, so genügt die Kenntnis der Konfiguration des Ganzen in einem beliebigen Augenblick, um für einen jeden weiteren die eintretenden Zustände abzuleiten. Dieses Ideal einer Welterkenntnis hat nun das Irrationale des Gegebenen auf eine Form gebracht, in der es in jede beliebige Entfernung zurückgeschoben werden kann. Ob die Bedingung der Reduktion auf ein System konstanter Elemente oder Kräfte oder Substanzen als für die Wirklichkeit erfüllt angesehen werden darf, ob insbesondere sie auch für das geistige Leben zu Recht besteht, ist freilich eine andere Frage, aber es ist jedenfalls eine Frage, die nicht durch logisch-formale Erörterungen entschieden werden kann. Soweit diese Voraussetzung aber als gültig hingenommen wird, ist, wenn einmal die Kenntnis des Zustandes der Welt während eines Momentes zugestanden wird, jedes künftige und vergangene Geschehnis in seiner individuellen Beschaffenheit wenigstens im Prinzip deduzierbar.

Gewiß ist die Wissenschaft unserer Zeit noch außerordentlich weit von diesem Ideal der Welterkenntnis entfernt und es mag fraglich sein, ob irgendeine Aussicht vorhanden ist, jemals zur Weltformel des Laplace zu gelangen. Aber darum darf doch nicht verkannt werden, daß ein solches Ideal sich durchaus nicht prinzipiell, wie RICKERT seltsamerweise [511] behauptet, sondern nur graduell von den Leistungen der Wissenschaft unterscheidet. Wenigstens hat, wer die Tragweite der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung nach dem Ideal einer "letzten Naturwissenschaft" bemißt, kein Recht, gegen Konstruktionen solcher Art Einspruch zu erheben.

Unter diesem Gesichtspunkt verliert nun aber die Astronomie die logische Sonderstellung, die RICKERT ihr einräumen möchte. Was sie von anderen Wissenschaftsgebieten unterscheidet, liegt nur darin, daß sie sich nicht mit der Aufstellung von Gesetzen begnügt, sondern zugleich ihre Anwendung und Verwirklichung in einem besonderen Bezirk des Wirklichen untersucht und demgemäß auch zur ausdrücklichen Aufnahme der Konstanten und tatsächlichen Bedingungen in ihrem System fortgeht. Die Motive, die dabei in erster Linie mitwirken, sind jedenfalls logisch indifferent. Mag es ein wie immer zu beurteilendes Interesse sein, das den Menschen bestimmt, sich gerade diesem Ausschnitt aus der Wirklichkeit zuzuwenden: wesentlich ist, daß er zu seiner wissenschaftlichen Darstellung keiner neuen, von der naturwissenschaftlichen verschiedenen Begriffsbildung bedarf. Denn sind einmal erst die Gesetze gefunden, die allgemein den Verlauf irgendeines Geschehens bestimmen, dann erfordert die Erklärung eines gegebenen Verlaufs durch sie nur die Einsetzung der jeweiligen Größen. Und umgekehrt kann nun jeder beliebige Vorgang nach dem Vorbild einer astronomischen Kenntnis behandelt werden. Die Naturwissenschaft hat im allgemeinen kein Interesse, konkreten Angaben dieser Art näher zu treten; aber daraus folgt nicht, daß dieselben, wenn sie z. B. in der Metereologie oder der Geologie auftreten, für sie prinzipiell unlösbar bleiben sollten. Und stellt man selbst den Begriff einer Entwicklungsgeschichte des Universums als Problem, wie es DESCARTES und der jugendliche KANT getan haben, so ist nicht einzusehen, warum nicht eine als vollendet vorausgesetzte Gesetzeswissenschaft in Verbindung mit einer ausreichenden Kenntnis der tatsächlichen, etwa der gegenwärtigen Ordnung der Gegenstände, von denen jene Gesetze gelten, sich einer befriedigenden Bewältigung derselben annähern könnte.

Denn das ist das Entscheidende, worauf RICKERT gegenüber das größte Gewicht gelegt werden muß, daß sich die naturwissenschaftliche Begriffsbildung in der bloßen Abstraktion mit Rücksicht auf das Allgemeine nicht erschöpft, daß neben dieser Tendenz andere und mindestens gleichberechtigte Tendenzen das naturwissenschaftliche Denken beherrschen und erst in ihrer Verbindung ein Urteil über den Leistungswert der Naturwissenschaft gestatten. Die von RICKERT unternommene Isolierung jener einen Richtung, ihre bis zum Extrem gesteigerte Zuspitzung erscheint unhaltbar; gewiß kann die Bildung allgemeiner Begriffe, kann die Aufstellung von Gesetzen als eine Aufgabe der Naturwissenschaft bezeichnet und als Aufgabe von der Orientierung in der wirklichen Welt geschieden werden. Aber so wenig wie die eine Aufgabe ohne Rücksicht auf die andere lösbar ist, so wenig kann der von RICKERT versuchte Nachweis, daß die Begriffe, welche das wissenschaftliche Denken zur Erreichung jenes Zieles erarbeitet, für die Erreichung dieses Ziels grundsätzlich nicht ausreichen, als gelungen angesehen werden. Vielmehr möchte auch die entwicklungsgeschichtliche Behandlung der Natur durchaus innerhalb der Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung durchführbar erscheinen.

Wie sich dieselbe aber zu dem von RICKERT als historische Methode gekennzeichneten Verfahren und dieses zur wissenschaftlichen Geschichtsforschung und Geschichtsauffassung verhält, bedarf noch einer besonderen Untersuchung.
LITERATUR - Max Frischeisen-Köhler, Über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Archiv für systematische Philosophie, Bd. 12, Berlin, 1905
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      Anmerkungen
      1) HEINRICH RICKERT, "Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften." Tübingen und Leipzig
      2) WILHELM WINDELBAND, Geschichte der Naturwissenschaft, 1894, Seite 23
      3) Vgl. HEINRICHT RICKERT, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Freiburg 1899, Seite 34
      4) HEINRICH RICKERT, "Die Grenzen ...", Seite 101. Im folgenden bedeuten bloße Zahlenangaben immer Seiten dieses Werkes.
      5) WILHELM WUNDT, LOGIK II, Seite 1, 12f
      6) Ich bin nicht ganz sicher, ob RICKERT diese Klasse von Einsichten überhaupt noch der Naturwissenschaft zuweist. Da sie sich streng genommen auf Ermittlung eines einmaligen Tatbestandes richten, müßten sie eigentlich als historische im Sinne von RICKERT angesprochen werden: aber es ist ersichtlich, daß zu ihrer Darstellung keine teleologische Begriffsbildung erforderlich ist. Jedenfalls bleibt bezeichnend, daß RICKERT sie, soweit ich sehe, in seinem ganzen Werk nicht berücksichtigt.
      7) Ich verweise z. B. auf die grundlegenden Ausführungen von RIEHL in seinem "Philosophischen Kritizismus", Band II.
      8) Ich spreche hier von den Atomen in dem Sinne, in welchem sie schon BACON in seinem "Novum Organon", II, 8 als die kleinsten uns zugänglichen Wirklichkeiten von den Gedankendingen der atomistischen Metaphysik unterschied.
      9) Vgl. über diesen Punkt, auf den auch ALOIS RIEHL mit Entschiedenheit hingewiesen hat, Dühring "Logik und Wissenschaftslehre", Seite 108f
      10) WILHELM DILTHEY, Einleitung in die Geisteswissenschaften I, Seite 472
      11) Nach Seite 525 ist freilich "dem naturwissenschaftlichen Denken jede Kenntnis der Individualität eines zukünftigen Ereignisses absolut verschlossen".