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AUGUST FOREL
Der Hypnotismus
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"Ich schaue die Frau einige Sekunden, Schlaf suggerierend, an, lasse sie dann zwei Finger meiner linken Hand ansehen; nach 30 Sekunden fallen ihre Lider zu. Ich steche tief mit einer Nadel. Sie fühlt nichts. Ich gebe ihr Aqua fontana als bittere Mixtur, die ihr bitter schmeckt, suggeriere ihr mit Erfolg Appetit und sage ihr, daß sie nach dem Erwachen einen unter dem Tisch stehenden Papierkorb aus eigenem Antrieb einer anwesenden Person auf den Schoß legen wird und daß sie Abends um 6 Uhr von selbst wieder zu mir kommen wird. Ich wecke sie dann, indem ich sie bis vier zählen lasse. Sie weiß von allem absolut nichts mehr, blickt aber unaufhörlich auf den Papierkorb, den sie beschämt und errötend der betreffenden Person auf den Schoß legt. Sie ärgert sich über diese Handlung, zu der sie aber unwiderstehlich getrieben wurde, ohne zu verstehen, warum."

II. Die Suggestion

Hypnotisierbarkeit. - Jeder Mensch ist mehr oder weniger suggestibel und somit hypnotisierbar. Manchen Menschen rühmen sich zwar, nur das zu glauben, was ihnen ihre Vernunft klar und bewußt logisch nachgewiesen oder wenigstens sehr plausibel gemacht hat. Jene Menschen beweisen aber dadurch nur, daß ihnen die elementarste Selbstkritik abgeht. Unwillkürlich und unbewußt glauben wir beständig an Dinge, die ganz oder teilweise nicht existieren. Wir glauben z. B. an die Wirklichkeit unserer Sinneswahrnehmungen, die doch nur subjektive Schlüsse sind. Jeder Mensch erfährt Enttäuschungen, traut anderen Menschen, Sätzen oder Einrichtungen, die sein Vertrauen dann nicht rechtfertigen usw. usw. Das sind Beweise unserer intuitiven Glaubensfähigkeit, ohne welche unser Denken gar nicht möglich wäre, denn - wollten wir warten, bis jedes Motiv unseres Denkens und Handelns, um akzeptiert zu werden, mathematisch oder auch nur durch genügende Induktion nachgewiesen wäre - so kämen wir überhaupt, aus latuer Bedenken, nie zum Denken oder Handeln. Wir können aber weder denken noch handeln, ohne ein gewisses Gefühl zu haben, daß unser Denken und Handeln richtig ist, ohne daran mehr oder weniger zu glauben. Darin liegt der Schlüssel der Suggestibilität.

Wenn wir uns nach etwas recht sehnen, das wir nicht haben, entstehen nicht selten umso intensiver die Gegenvorstellungen der Unerreichbarkeit unseres Wunsches. Besonders klar tritt dieser psychologische Zustand bei der Herbeiwünschung subjektiver Gefühle hervor. Wollen wir dieselben erzwingen, so fliehen sie. Wer mit Gewalt und Bewußtsein schlafen will, wird schlaflos; wer auf dieselbe Weise den Koitus ausüben will, wird momentan (vorübergehend) impotent; wer sich mit Gewalt freuen will, ärgert sich usw. Und je mehr Gewalt das Bewußtsein anwenden will, desto größer wird seine Niederlage, während dieselben erwünschten Gefühle sich ganz von selbst einstellen, wenn man sich ohne Konzentration dem Glauben an dieselben hingeben kann, besonders mit Hilfe entsprechender Phantasievorstellungen.

Wer nun mit Gewalt hypnotisiert werden will, sich nach der Hypnose sehnt, sich dabei klar über ihr Wesen ist und den Erfolg der Suggestion herbeiwünscht, kann sein Bewußtsein nicht vom psychologischen Vorgang abbringen und ist schwer oder nicht hypnotisierbar, wenigstens so lange nicht, als er nicht psychisch passiv werden kann. Und je öfter und je mehr sich jemand  bemüht,  passiv zu werden, desto weniger wird er es. Intensive geistige Aufregung, Geistesstörungen, entschiedener Vorsatz, dem Hypnotiseur zu widerstehen, sind auch Zustände, welche die Hypnose unmöglich machen können.  Es ist jeder geistig gesunde Mensch an sich hypnotisierbar; nur gewisse momentane Zustände der Psyche sind es, welche die Hypnose verhindern können. 

Es galt vielfach als Axiom, daß wer nicht hypnotisiert werden will, nicht hypnotisiert werden kann, wenigstens nicht zum erstenmal. Nach meiner Ansicht darf man nicht allzu viel auf diese Behauptung geben, welche mehr oder weniger auf der psychologisch unrichtigen Annahme einer essentiellen menschlichen Willensfreiheit beruth. Es muß zunächst der Mensch nicht wollen  können,  um wirklich und frei nicht zu wollen. Die Suggestion wirkt aber am schnellsten und sichersten durch Überraschung, Überrumpelung der Phantasie; wie wir soeben sahen, wird sie durch einen langen Vorbedacht gestört. In wenigen Sekunden kann ein leicht suggestibler Mensch, der noch nie hypnotisiert worden ist, zur willenlosen Puppe eines anderen Menschen werden. Und ich habe gerade beobachtet, daß durch eine Art Kontrastwirkung solche Menschen, welche über den Hypnotismus spotten und lächeln, welche ostentativ erklären, "sie könne man nicht einschläfern", gerade oft am schnellstens hypnotisiert werden, wenn sie nicht direkten Widerstand leisten und manchmal sogar trotz geleisteten Widerstandes. Es ist, als ob der dem Hypnotismus hingeworfene Handschuh ihnen eine ängstliche Gegenvorstellung eigener Unsicherheit geben würde, welche sie umso sicherer der Suggestion preisgibt.

Zudem aber werden unbefangene ungebildete Menschen in der Regel äußerst leicht durch Suggestion hypnotisiert, ohne daß sie immer merken, was man eigentlich vorhat. Sie tun und glauben, was man ihnen suggeriert und schlafen nach einer oder zwei Minuten, bevor sie sich dessen versehen, auch dann oft, wenn sie einen Augenblick vorher andere hypnotisierte Personen für Simulanten und den Arzt für düpiert gehalten hatten. Am schwersten zu hypnotisieren sind zweifellos die meisten Geisteskranken.

Eine wichtige Tatsache ist es ferner, daß man nicht selten einen normal schlafenden Menschen durch Suggestion beeinflussen und somit, ohne ihn zu wecken, in Hypnose überführen kann. Noch leichter ist es umgekehrt, die Hypnose in gewöhnlichen Schlaf durch Suggestion überzuführen.

Endlich gibt es sehr suggestible Menschen, welche, im vollen Wachen überrumpelt, ohne vorhergehende Einschläferung alle Erscheinungen der Hypnose zeigen können, bzw. völlig den Suggestionen eines geschickten Hypnotiseurs anheimfallen können. Von einem "Nichtwollen" ist in diesen Fällen keine Rede. Nicht selten gelingt das sogar bei einem noch nie hypnotisierten Menschen.

Der durch Suggestion erzeugte  Schlaf  bleibt für gewöhnlich ein Hauptmittel, die Suggestion zur vollen Wirkung zu bringen.

Derselbe wirkt wie die Lawine auf den ersten Anstoß, der sie erzeugt hat. Je mehr sie wächst, desto gewaltigere Anstöße werden durch die Lawine erzeugt. Durch Suggestion wird Schlaf oder Schlummer erzeugt. Kaum ist aber derselbe vorhanden, so wächst die Suggestibilität eben durch den Schlaf und zwar meistens desto mehr, je tiefer der Schlaf wird.

Wir sagten eingangs, daß jeder Mensch ansich suggestibel ist. Kann man einen Menschen nicht hypnotisieren, so liegt dieses im Grunde nur daran, dessen sei man ja gewiß, daß er sich bewußt oder unbewußt die Autosuggestion des "Nichthypnotisiertwerdenkönnens" macht.

Herr Professor BERNHEIM teilt mir brieflich den folgenden Fall aus seiner Klinik mit, den er mir hier zu veröffentlichen erlaubt, wofür ich ihm bestens danke:
    "Vor einigen Tagen tritt in meine Abteilung eine Bauernfrau mit Magen- und Bauchschmerzen ein, die ich für hysterischer Natur halte. Ich kann sie nicht hypnotisieren. Sie behauptet übrigens, daß Herr Dr. LIEBÉAULT sie in ihrer Kindheit vergebens zu hypnotisieren versucht habe. - Nach zwei vergeblichen Versuchen sage ich ihr: Es ist gleichgültig, ob Sie schlafen oder nicht. Ich werde Ihnen den Bauch, die Brust und den Magen magnetisieren und so die Schmerzen vertreiben. Ich schließe ihr die Augen und fahre auf diese Weise fort, circa zehn Minuten lang zu suggerieren. Der Schmerz verschwindet ohne Schlaf, erscheint aber nach dem Abendessen wieder. Am anderen Tag wiederhole ich die gleiche Prozedur mit dem gleichen Erfolg. Der Schmerz erscheint nur noch leicht am Abend. Heute fange ich wieder an und nun erreiche ich gleichzeitig mit dem Verschwinden des Schmerzes  tiefen  hypnotischen Schlaf mit Amnesie!"
Herr Kollege BERNHEIM fügt hinzu: "Alles liegt in der Eingebung; man muß nur die Feder auffinden, um jede individuelle Suggestibilität in Tätigkeit zu versetzen, bzw. zu erwecken."

Diesen Satz kann ich nur bekräftigen. BERNHEIM konnte einmal jemanden nicht hypnotisieren und es stellte sich heraus, daß der Betreffende von BEAUNIS hypnotisiert worden war, der ihm die Suggestion gegeben hatte, er allein könne es tun. Ich selbst habe eine Dame in tiefen Schlaf mit posthypnotischen Suggestionen versetzt, bei welcher Prof. BERNHEIM nur Somnolenz [Benommenheit mit Schläfrigkeit - wp] hatte hervorrufen können - nur deshalb, weil sie sich die Autosuggeston gebildet hatte, ich allein könne sie beeinflussen und kurieren.

Schlaf und Hypnose.  Die Verwandtschaft der Hypnose mit dem normalen Schlaf ist unverkennbar und ich muß LIEBÉAULT beistimmen, wenn er sagt, daß sie sich nur durch die Verbindung des Schlafenden mit dem Hypnotiseur von ihm grundsätzlich unterscheidet. Man erlaube mir hier einige Haupttatsachen anzuführen.
Man sagt herkömmlicherweise in der Physiologie, der Schlaf werden durch Ermüdung erzeugt. Das ist aber nicht richtig. Wenn auch die wirkliche Erschöpfung des Gehirns gewöhnlich das subjektive Ermüdungsgefühl hervorruft, so müssen wir auf der anderen Seite festhalten:
    1. daß nicht selten starke Erschöpfung schlaflos macht;

    2. daß man oft umgekehrt durch Schlaf immer schlafsüchtiger wird;

    3. daß Ermüdungsgefühl, Schläfrigkeit und wirkliche Erschöpfung oft ganz unabhängig voneinander vorkommen;

    4. daß die Schläfrigkeit in der Regel zu bestimmter, gewohnter (autosuggerierter) Stund erscheint und, wenn man sie besiegt hat, nachher trotz wachsender Erschöpfung verschwindet.
Diese Tatsachen sind durch die sehr unbefriedigenden chemischen Theorien der Physiologen (Milchsäuretheorie von PREYER etc.) ganz unerklärlich.

Die Physiologen (KOHLSCHÜTTER) haben die Intensität des Schlafes durch die Schallstärke messen wollen, welche zum Wecken nötig ist. Wie wenig damit bewiesen ist, zeigt die Tatsache, daß ein gewohntes Geräusch bald nicht mehr weckt, auch wenn es sehr stark wird (z. B. eine Weckuhr), während leise, ungewohnte Geräusche sofort wecken. Manche sorgsame Mutter wird durch das leiseste Geräusch ihres Kindes geweckt, während sie beim Schnarchen ihres Ehemannes oder sonstigen gewohnten Lärm durchaus nicht erwacht.

Stille, sowie langweilige, eintönige Vorgänge, welche den Wechseln der Vorstellungen nicht fördern, machen uns schläfrig; ebenso eine bequeme Lage des Körpers und Dunkelheit. Dabei treten assoziierte Erscheinungen ein, wie Gähnen, Einnicken, Gliederausstrecken, die das subjektive Schläfrigkeitsgefühl noch erhöhen und die bekanntlich von Mensch zu Mensch sehr ansteckend sind.

Wir sagten, daß die Gewohnheit, zu einer bestimmten Zeit einzuschlafen, eine gewaltige Schläfrigkeit zu der betreffenden Zeit hervorruft. Aber auch ein bestimmter Ort, die Stimme einer bestimmten Person, das Liegen in einem gewissen Lehnstuhl, wo man gewöhnlich einschläft, das Anhören einer Predigt, das Liegen in einer bestimmten Körperstellung, bei HANS eine Rosshaar-, bei JAKOB eine Federmatraze usw. usw., vor allem noch der Lidschluß sind sehr gewöhnliche schlaferzeugende Mittel. Warum das? - Man hat es bisher Gewohnheit, assoziierte Angewöhnung genannt. Wir müssen aber anerkennen, daß diese Tatsachen einer unbewußten Autosuggestion völlig gleichkommen. - Mein zweijähriges Söhnchen hatte sich angewöhnt, mit einem Taschentuh in der rechten Hand, am Gesicht angelegt, einzuschlafen. Als wir es ihm wegnahmen, konnte er lange Zeit nicht mehr einschlafen. Bei gewissen Leuten müssen sogar gewisse Handlungen dem Schlaf vorangehen, damit er erfolgen kann (Lektüre, Aufziehen der Uhr, usw. usw.).

Die kräftigste aller jener Assoziationen ist aber die Schwere der Augenlider, ihr unwiderstehliches Fallen. Daher ist dieses die beste Suggestion des Schlafes.

Beobachten wir schlafende Menschen, so merken wir bald, daß sie sich bewegen, daß sie auf sensible Reize reagieren, sich wieder bedecken, wenn man sie entblößt, nicht selten sprechen, stöhnen oder das Schnarchen auf Befehl unterlassen, sogar manchmal Antwort auf Fragen geben, ja ab und zu aufstehen und handeln. Gewisse Menschen schlafen nur leicht, still, und erwachen beim leisesten Geräusch. Dieselben zeigen mehr Verbindung mit der Außenwelt.

Subjektiv kennen wir unseren Schlaf nur durch das Träumen. Wir fühlen nun, daß unser Traumbewußtsein  anders  ist als unser Wachbewußtsein, sich jedoch demselben umso mehr nähert, je leichter der Schlaf ist. Das Schlafbewußtsein unterscheiden sich vor allem durch folgende Tatsachen vom Wachbewußtsein:
    1. Es zeigt keine scharfe Trennung zwischen Vorstellung und Wahrnehmung. Alle Vorstellungen werden mehr oder weniger halluziniert, d. h. sie haben den subjektiven Charakter der Wahrnehmungen und täuschen wahre Ereignisse vor.

    2. Während diesen Schlaf- oder Traumhalluzinationen die Schärfe, die Präzision der durch äußere Vorgänge erzeugten Wachwahrnehmungen meistens fehlt, gehen dieselbe dennoch mit sehr intensiven Gefühlsbetonungen einher und können gewaltige Rückwirkungen auf das Zentralnervensystem ausüben. Ein Traum kann Schweiß und krampfhafte Muskelkontraktionen, intensive Angst usw. erzeugen. - Erotische Träume erzeugen Pollutionen ohne mechanische Reibung des Penis, was die erotischsten Wahrnehmungen im Wachen selten vermögen.

    3. Die Traumhalluzinationen sind im Gegensatz zum Denken und Wahrnehmen im Wachen ganz mangelhaft assoziiert. Meist nur lockere äußere Assoziationen verknüpfen oft die eine mit der anderen. Die organische, durch die im Lauf des Lebens allmählich automatisierten psychischen Dynamismen unbewußt und instinktiv gewordene Logik des Denken im Wachen geht dem Denken im Schlaf ab. Der unvermitteltste, barockste Unsinn wird daher geträumt, im Traum zeitlich und räumlich assoziiert und zudem geglaubt. Meistens nur im leichten Schlaf, selten im tiefen Schlaf erfolgt öfters ein geringer oder höherer Grad logischer Korrektion.
Jene drei charakteristischen Eigenschaften des Traumlebens sind zugleich die Kriterien des hypnotischen Bewußtseins: Halluzinieren der Vorstellungen, instensive Gefühlswirkungen derselben, Dissoziation der organischen logischen Assoziationen. Dieselben sind aber zugleich die besten Bedingungen intensiver Suggestibilität.

Das Erwachen, das Umgekehrte vom Einschlafen, zeigt ganz dieselben suggestiven Erscheinungen wie das Einschlafen. - Ein leichter Schlaf bildet oft einen allmähliche Übergang des Schlafes zum Erwachen und hinterläßt Traumerinnerungen. Träume wecken nicht selten. Eigentümlich ist die Fähigkeit vieler Menschen, zur bestimmten beabsichtigten Zeit zu erwachen, somit die Zeit im Schlaf genau abzumessen. Dasselbe finden wir in der Hypnose.

Wie in der Hypnose unterscheidet LIEBÉAULT im normalen Schlaf den leichten Schlaf mit Traumerinnerungen vom tiefen Schlaf ohne solche. Die Charakteristik des letzteren ist die totale Amnesie beim Erwachen. Nichtsdestoweniger finden wir gerade bei tief schlafenden Menschen die Erscheinungen des Somnambulisums und der Schlaftrunkenheit, bei welchen der Schlafende geht, handelt (oft sogar sehr geordnet und kompliziert), spricht und sogar Gewalttaten verüben kann - eine Erscheinung, welche bereits im Strafrecht als ein Grund der Unzurechnungsfähigkeit anerkannt ist. Das zeigt, daß die Amnesie nach tiefem Schlaf eben nur Amnesie ist und absolut nicht beweist, daß das Bewußtsein im tiefen Schlaf erloschen, sondern nur, daß es verändert war. In WUNDTs "Philosophischen Studien" hat neulich FRIEDRICH HEERWAGEN unter KRÄPELINs Leitung "Statistische Untersuchungen über Träume und Schlaf" veröffentlicht, welche auf den eigenen Angaben vieler Personen beruhen. Die Angabe jener Personen, daß sie viel träumen, wenig träumen oder gar nicht träumen, soll nun nach HEERWAGEN maßgebend sein und bildet die Grundlage seiner Statistik. Da jedoch das Studium des Hypnotismus und viele Erfahrungen über den normalen Schlaft beweisen, daß auf diese subjektiven Erinnerungen oder Nichterinnerungen von Träumen nichts zu geben ist, weil viele Menschen einfach alle ihre Träume und fast alle Menschen den größten Teil ihrer Träume vergessen (Autosuggestion der Amnesie), so kann ich dieser Statistik keinen Wert beilegen und glaube vielmehr, daß alle Menschen im Schlaf fortwährend träumen.

Das bringt uns zur Besprechung der Amnesie als eine der allerwichtigsten, ja, als forensisch die praktisch wichtigste Erscheinung des Schlafes und der Hypnose. In der Regel ist der normal tief Schlafende zugleich auch in der Hypnose ein tiefer Schläfer und dieser ist nun meist dem Hypnotiseur auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Man kann bei ihm Errinnerung und Amnesie nach Belieben über diese und jene Zeit seines Lebens oder mindestens seines Schlafes hervorrufen. Bei mehr als der Hälfte der Patienten seiner Spitalabteilung erzeugt BERNHEIM tiefen Schlaf. Um die enorme Verbreitung der tiefen Hypnotisierbarkeit unter normalen Menschen zu zeigen, will ich nur anführen, daß ich von den 26 gegenwärtigen Wärterinnen der Anstalt Burghölzli bei 23 und zwar bei allen mit Erfolg die Hypnose zu erzeugen versucht habe. Darunter erzielte ich bei einer nur Somnolenz, bei 3 leichten Schlaf ohne Amnesie, bei 19 tiefen Schlaf mit Amnesie, posthypnotische Erscheinungen und Suggestionszustand beim Wachsein. Bei 2 davon wurden Katalepsie [Gliederstarre - wp] und Anästhesie [Empfindungslosigkeit - wp] das erste Mal sofort im Wachzustand durch Affirmation [Bekräftigung - wp] erzielt; beide waren vorher noch nie hypnotisiert worden.

Grade der Hypnose.  Die berühmten CHARCOTschen Phasen: Lethargie, Katalepsie und Somnambulismus beruhen zweifellos auf Selbsttäuschung. BERNHEIM hat eine Einteilung in viele Grade versucht. Jedoch gibt es eine Grenze. Ich finde, daß es genügt, wenn man drei Grade annimmt, welche übrigens auch Übergänge zeigen:
    1. Somnolenz.  Der nur leicht Beeinflußte kann noch mit Anwendung seiner Energie der Suggestion widerstehen und die Augen öffnen.

    2. Leichter Schlaf  oder  Hypotaxie  oder  charme.  Den Beeinflußte kann die Augen nicht mehr aufmachen, muß überhaupt einem Teil der Suggestionen bis allen Suggestionen gehorchen, mit Ausnahme der Amnesie. Er wird nicht amnestisch.

    3. Tiefer Schlaf  oder  Somnambulismus.  Durch Amnesie nach dem Erwachen und posthypnotische Erscheinungen charakterisiert. - Posthypnotische Erscheinungen können nach meiner Erfahrung nicht selten auch nach einem leichten Schlaf eintreten. Die Suggestibilität kann unter Umständen beim sehr tiefen Schlaf sehr gering oder sogar fast Null sein (sehr seltene Fälle). Man kann aber das Schlafen bei offenen Augen, den Erfolg der Suggestion im Wachzustand sowohl als die Amnesie und umgekehrt die Erinnerung durch Suggestion hervorrufen, so daß auch jene drei Grade sehr mangelhaft definiert sind. Es kommt hauptsächlich darauf an, was man anfänglich suggeriert.
Durch Übung oder Dressur mittels Suggestion kann man ferner Somnolenz in Hypotaxie und letztere durch Suggestion der Amnesie in Somnambulismus wenigstens nicht selten (aber durchaus nicht immer) überführen.

Dressur.  Man hat viel von der Dressur der Hypnotisierten gesprochen. Sicher ist es, daß man durch häufiges Hypnotisieren die Suggestibilität eines Menschen erhöhen, vor allem bewirken kann, daß er ohne verbalen Befehl alles wieder tut, was man ihn in den ersten Hypnosen hat tun lassen, scheinbar instinktiv, indem, wie BERNHEIM so wahr sagt, der Somnambule seine ganze Aufmerksamkeit darauf konzentrier, die Absichten des Hypnotiseurs zu erraten. - Aber man hat in neuester Zeit, besonders in Deutschland, die Rolle der Dressur sehr überschätze und die Höhe der individuellen Suggestibilität der meisten normalen Menschen verkannt. Wo ist die Dressur, wenn ich z. B. gestern eine ganz normale tüchtige Wärterin zum erstenmal hypnotisiere. Ich schaue sie einige Sekunden, Schlaf suggerierend, an, lasse sie dann zwei Finger meiner linken Hand (nach BERNHEIMs Verfahren) ansehen; nach 30 Sekunden fallen ihre Lider zu. Ich suggeriere ihr Amnesie, Katalepsie der Arme, lasse dieselben drehen und suggeriere Anästhesie. Alles gelingt sofort. Ich steche tief mit einer Nadel. Sie fühlt nichts. Ich gebe ihr Aqua fontana als bittere Mixtur, die ihr bitter schmeckt, suggeriere ihr mit Erfolg Appetit und sage ihr, daß sie nach dem Erwachen einen unter dem Tisch stehenden Papierkorb aus eigenem Antrieb einer anwesenden Person auf den Schoß legen wird und daß sie Abends um 6 Uhr von selbst wieder zu mir kommen wird. Ich wecke sie dann, indem ich sie bis vier zählen lasse. Sie weiß von allem absolut nichts mehr, blickt aber unaufhörlich auf den Papierkorb, den sie beschämt und errötend der betreffenden Person auf den Schoß legt. Sie ärgert sich über diese Handlung, zu der sie aber unwiderstehlich getrieben wurde, ohne zu verstehen, warum. - Um 6 Uhr ist sie allein auf der Abteilung, kann daher nicht fort, wird aber innerlich zu mir getrieben, sehr aufgeregt und ängstlich darüber, daß sie dem Trieb nicht folgen darf. Wer kann da von Dressur sprechen? Das junge Bauernmädchen ist erst vor kurzem hier als Wärterin eingetreten und war zum  erstenmal  hypnotisiert. - Und doch handelte sie fast genau wie eine schon oft hypnotisierte Somnambule.

Erscheinungen der Hypnose.  Man kann sagen, daß durch Suggestion in der Hypnose sämtliche bekannte subjektive Erscheinungen der menschlichen Seele und einen großen Teil der objektiv bekannten Funktionen des Nervensystems produzieren, beeinflussen, verhindern (hemmen, modifizieren, lähmen oder reizen) kann. - Einzig und allein scheinen die rein gangliösen Funktionen und die spinalen Reflexe, sowie die äquivalenten Reflexe der Hirnbasis durch die Suggestion nicht beeinflußbar zu sein. Ja mehr noch! Die Suggestion kann gewisse sogenannte somatische Funktionen wie die Menstruation, die Verdauung, sogar die Bildung von Epidermisblasen derart beherrschen, daß dadurch die Abhängigkeit dieser Funktionen vom Dynamismus des Großhirns am klarsten nachgewiesen wird. Damit soll nicht gesagt werden, daß diese Erfolge alle bei jedem Hypnotisierten zu erzielen sind. Beim tiefen Schlaf jedoch erzielt man mit Geduld den größten Teil derselben.

Man erzielt diese Erscheinungen durch einfache Affirmation, daß sie vorhanden sind, am besten unter Berührung des Körperteiles, wo sie subjektiv empfunden werden und unter Schilderung (mit lauter, überzeugter Stimme) des Vorgangs ihrer Entstehung. Man fängt damit an, daß man den zu Hypnotisierenden auf einen Lehnstuhl bequem setzt, ihn anschaut und ihm versichert, daß seine Lider schwer wie Blei werden, daß sie sich schließen usw., kurz indem man ihm die Erscheinung des Einschlafens suggeriert.

Beispiele:
    Motorische Erscheinungen.  Ich sage, indem ich den Arm hebe, derselbe sei steif und könne nicht bewegt werden. Der Arm bleibt in kataleptischer Starre (suggestive Katalepsie); das Gleiche gelingt für jede erdenkliche Muskelstellung eines Körperteils. Ich sage: der Arm ist gelähmt und fällt wie eine Bleimasse. Es erfolgt sofort und der Hypnotisierte kann ihn nicht mehr bewegen. - Ich erkläre dem Hypnotisierten, er könne sprechen und mir antworten. Er fängt an, auf Fragen zu antworten. Auf gleiche Weise kann er gehen, handeln, kommandieren, Krämpfe bekommen, lallen usw. Ich sage ihm, er sei betrunken und schwanke; sofort geht er wie ein Betrunkener.

    Sensible Erscheinungen.  Ich sage: "Ein Floh sitzt auf Ihrer rechten Backe; es juckt." Sofort erfolgt eine Grimasse und der Hypnotisierte kratzt sich an der bezeichneten Stelle. - "Sie empfiden eine angenehme Wärme in den Beinen und Armen." Sofort bejaht er es. - "Sie sehen vor sich einen bösen Hund; er bellt Sie an." Mit Angst zuckt der Hypnotisierte zurück und jagt den vermeintlichen Hund, den er sofort sieht und hört. - Ich gebe ihm Luft in die Hand mit der Versicherung, es sei ein duftendes Veilchenbouquet. Mit Wonne aspiriert er den nicht vorhandenen Veilchenduft. - Aus einem und demselben Glas Wasser kann ich den Hypnotisierten in wenigen sich folgenden Sekunden und Schlücken bitteres Chinin, Salzwasser, Himbeersaft, Schokolade und Wein trinken lassen; es braucht auch dazu weder Wasser noch Glas; die Behauptung, er habe ein Glas des betreffenden Getränkes in der Hand, genügt. - Schmerz kann leicht suggeriert, vor allem aber, wenn vorher vorhanden, wegsuggeriert werden. Kopfschmerzen kann man z. B. meistens mit Leichtigkeit in wenigen Sekunden, höchstens Minuten zum Verschwinden bringen.

    Aber auch Anästhesie, Anosmie [Fehlen des Geruchssinns - wp], Blindheit, Farbenblindheit, Doppelsehen, Taubheit, Unempfindlichkeit für den Geschmack können leicht suggeriert werden. Ich habe Zähne in der Hypnose ausziehen lassen, Abszesse geöffnet, ein Hühnerauge exstirpiert, tiefe Stiche gemacht, ohne daß die Hypnotisierten irgendetwas gespürt hätten. Es genügte dazu die Versicherung, der betreffende Körperteil sei tot, unempfindlich. Chirurgische Operationen, Geburten sind sogar in der Hypnose möglich, welche dann mit Vorteil und ohne jede Gefahr die Chloroform-Narkose ersetzt.
Negative Halluzination  nennt BERNHEIM mit Recht die wunderbare Trugwahrnehmung des Verschwindens eines vorhandenen Objekts. Einem Hypnotisierten, der mit offenen Augen schläft, sage ich, daß ich verschwinde und er sieht mich, hört mich und fühlt mich nicht mehr. Er ergänzt von selbst die Lücke im Sehfeld durch positive Halluzinationen der umgebenden Gegenstände. Auf Suggestion hin kann er mich auch hören und fühlen, ohne mich zu sehen usw.

Reflexe.  Ich sage: "Sie müssen gähnen." Der Hypnotisierte gähnt. - "Es sticht Sie in der Nase und Sie müssen dreimal nacheinander niesen." Der Hypnotisierte niest sofort dreimal in natürlichster Weise. Erbrechen, Diarrhöe, Verstopfung usw. können auf gleiche Weise erzeugt werden.

Die vasomotorischen Wirkungen  gehören zu den wunderbarsten Erscheinungen. Man kann die Menstruation der Frauen durch einfache Prophezeiung in der Hypnose hervorrufen oder zum Aufhören zwingen, ihre Dauer und Intensität regulieren und zwar habe ich bereits bei zwei Personen die Pünktlichkeit ihres Gehorsams bis auf die angesagte Minute mit Sicherheit erzielt, sowohl für den Beginn als für das Ende. - Erröten und Erblassen können erzielt werden. Ebenso Rötung bestimmter Körperteile oder Hautstellen, Nasenbluten, ja sogar  Vesikation  [Blasenbildung - wp] und  blutende Stigmata.  Das sind allerdings sehr seltene Erfolge. Ferner können Puls und Respiration beschleunigt oder verlangsamt werden.

Gefühle, Triebe, Gemütsaffekte.  Appetit ist leicht durch Affirmation zu suggerieren. Man kann durch Berührung des Magens, eventuell durch Essenlassen suggerierter Speisen die Wirkung der Suggestion verstärken. Angst, Freude, Hass, Zorn, Eifersucht, Liebe zu jemandem oder zu etwas usw. sind mit Leichtigkeit durch Suggestion zu erzeugen; ebenso Lachen und Weinen. Onanie wurde, sowie auch das Bettnässen, öfters auf ähnliche Weise kuriert.

Denkvorgänge, Gedächtnis, Bewußtsein, Wille  sind ebenso beeinflußbar. Ich sage: "Sie werden alles, was ich Ihnen im Schlaf gesagt habe, vergessen haben und sich einzig und allein daran erinnern, daß Sie ein Kätzchen auf dem Schoß hatten und es streichelten." Nach dem Erwachen hat der Hypnotisierte bis auf die Kätzchenepisode alles vergessen. - Einem Fräulein, das gut französisch sprach, sagte Kollege FRANK: "Sie können kein Wort französisch mehr, bis ich es Ihnen wieder eingebe." Und die Arme konnte sich der französischen Sprache so lange nicht mehr bedienen, bis ihr diese Suggestion genommen wurde. Dieselbe konnte überhaupt stumm gemacht werden und aller ihrer psychischen Eigenschaften momentan und nach Belieben durch einfache Suggestion beraubt werden. Ähnliche Experimente sind mir seither oft gelungen. Ich ließ einer Somnambule posthypnotisch längst verstorbene Angehörige erscheinen, mit welchen sie sich lange unterhielt. Andere ließ ich wie PETRUS auf dem Meer oder über einen Fluß zu Fuß wandern. Andere verwandelte ich in hungrige Wölfe oder Löwen, so daß sie sich bellend auf mich warfen und mich beißen wollten. Einen Mann verwandelte ich in ein Mädchen, das sich seiner Menstruation erinnerte, ein Mädchen umgekehrt in einen Offizier. Bei Suggestion der Kindheit wandeln sich bei guten Somnambulen Sprache und Schrift entsprechend um. Solche Dinge hinterlassen oft einen tiefen gemütlichen Eindruck, wenn man nicht Amnesie suggeriert.

Ich kann einem Hypnotisierten jeden beliebigen Gedanken, alle beliebigen Einfälle eingeben. Ich kann ihm vor allem jede Überzeugung geben, zum Beispiel diejenige, daß er den Wein nicht mehr möge, daß er diesem oder jenem Verein beitreten solle, daß er das oder jenes mag, das er früher nicht mochte. Bei einer ihrem Abstinenzgelübde untreu gewordenen Alkoholistin habe ich durch Suggestion und ohne ihr im Wachzustand ein Wort zu sagen, tiefe Gewissensbisse, Reue, offenes (spontanes!) Geständnis an den Präsidenten des Mäßigkeitsvereins und Erneuerung ihres Abstinenzgelübdes erzielt. Der Erfolg war richtig eklatant und schloß sich unmittelbar an eine einmalige Hypnose an, während vorher von alledem nichts zu bemerken war.

Besonders wichtig ist die Einwirkung auf den Willen. Die Willensentschlüsse des Hypnotisierten können beliebig beeinflußt werden. Man hat oft behauptet, derselbe werde dadurch willenlos, willensschwach. Das ist ein Irrtum, der zum Teil aus der falschen Voraussetzung eines essentiell freien menschlichen Willens hervorgeht. Man kann sogar durch die Hypnose einen schwachen Willen kräftigen.

LITERATUR - August Forel, Der Hypnotismus - seine Bedeutung und seine Handhabung, Stuttgart 1889