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HEINRICH RICKERT
Die Grenzen der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung

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Einleitung
Erstes Kapitel - Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt
Zweites Kapitel - Natur und Geist
Drittes Kapitel - Natur und Geschichte
I. Begriffsbildung und empirische Wirklichkeit
II. Der Begriff des Historischen
III. Historische Bestandteile in den Naturwissenschaften
IV. Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft
Viertes Kapitel - Die historische Begriffsbildung
Fünftes Kapitel - Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie

"Die Bezeichnung der Organismen als relativ Historisches Bedenken setzt voraus, daß zwischen der toten und lebenden Natur im Prinzip kein anderer Unterschied besteht, als etwa zwischen Elektrizität und Gold, und diese Voraussetzung läßt sich unter logischen Gesichtspunkten nur dadurch rechtfertigen, daß, wenn sie falsch wäre, eine vollkommen allgemeine Theorie der physischen Welt nicht einmal als Ideal aufgestellt werden könnte."


Drittes Kapitel
Natur und Geschichte

III. Die historischen Bestandteile
in den Naturwissenschaften

Wenn wir uns dieser Aufgabe zuwenden, so müssen wir von vornherein uns darüber klar sein, daß eine Einteilung der Wissenschaften unter dem Gesichtspunkt des rein logischen Gegensatzes von Natur und Geschichte einen Nachteil im Vergleich zu den sonst üblichen Einteilungen haben muß. Die Wissenschaften selbst sind ja immer früher da als die Reflexion auf ihre logische Struktur. Die Teilung der wissenschaftlichen Arbeit knüpft jedenfalls zuerst an sachliche Unterschiede der gegebenen Wirklichkeit an, und der einzelne Forscher wird oft das Material, das er kennt und beherrscht, unter verschiedenen logischen Gesichtspunkten betrachten, in den meisten Fällen, ohne sich dessen ausdrücklich bewußt zu sein. Überall aber, wo dies der Fall ist, muß die logische Gliederung mit der wirklich bestehenden Teilung der wissenschaftlichen Arbeit in Konflikt kommen. Es wird daher nicht möglich sein, hier die naturwissenschaftlichen Untersuchungen so von den historischen zu trennen, daß der eine Teil der Forscher es ausschließlich mit diesen, der andere es ausschließlich mit jenen zu tun hat. Doch ist dies ein Nachteil, der wohl jeder nicht von sachlichen Eigentümlichkeiten des Materials sondern von logischen Gesichtspunkten ausgehenden Gliederung der Wissenschaften anhaftet.

Ein anderer, noch wichtigerer Umstand dient ebenfalls dazu, unsere Aufgabe zu komplizieren. Wir mußten, um die Begriffe von Natur und Geschichte zunächst einmal rein logisch klar zu stellen, mit einer gewissen Einseitigkeit verfahren, d. h. den Gegensatz von Begriffswissenschaft und Wirklichkeitswissenschaft schärfer herausarbeiten, als er in den bei weitem meisten empirischen Wissenschaften zum Ausdruck kommen kann. Abgesehen davon, daß der Begriff der Wirklichkeitswissenschaft vorläufig ja noch nichts anderes ist als ein logisches Problem, bedürfen auch die Naturwissenschaften mit Rücksicht auf ihr Verhältnis zum Historischen oder zur empirischen Wirklichkeit noch einer genaueren Erörterung, die in gewisser Hinsicht als Einschränkung des bisher gewonnenen Resultates angesehen werden kann. Der Grund hierfür muß sich ebenfalls bereits aus den Ausführungen über das Wesen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung ergeben. Doch ist es notwendig, das logische Prinzip, um das es sich dabei handelt, noch ausdrücklich zu formulieren und an Beispielen zu verdeutlichen.

Der Kernpunkt läßt sich mit wenigen Worten angeben. Wir haben früher wiederholt darauf hingewiesen, daß die Begriffe der Naturwissenschaft sowohl bei der Bearbeitung der Körperwelt als auch des Geisteslebens mit Rücksicht auf das Ideal einer allumfassenden mechanischen oder psychologischen Theorie als mehr oder weniger logisch vollkommen angesehen werden müssen. Erst wenn die Gesamtwirklichkeit des Physischen oder des Psychischen unter einen umfassenden Begriff gebracht worden ist, hat dieser Begriff alle unübersehbare Mannigfaltigkeit überwunden und enthält dementsprechend garnichts mehr von der empirischen Wirklichkeit. Jede Naturwissenschaft jedoch, die mit Begriffen arbeitet, welche diesem Ideal mehr oder weniger fernstehen, nimmt auch noch mehr oder weniger von der Mannigfaltigkeit der empirischen Anschauung in ihre Theorien auf. Da nun diese anschauliche und individuelle Mannigfaltigkeit mit der empirischen Wirklichkeit zusammenfällt, und ferner die empirische Wirklichkeit für uns mit dem logischen Begriff des Historischen in seiner allgemeinsten Bedeutung identisch ist, so können wir diesen Satz jetzt dahin formulieren, daß die verschiedenen Naturwissenschaften mehr oder weniger historische Bestandteile aufweisen, und zwar ist dies so zu verstehen, daß ihre am Ideal der Naturwissenschaft gemessene Vollkommenheit abhängt von dem Grad, in dem es ihnen gelungen ist, die historischen Elemente aus ihren Begriffen zu entfernen. Entsprechend dem Maß von historischen Bestandteilen, das ihre Theorien enthalten, können wir dann auch die Wissenschaften selbst als mehr oder weniger naturwissenschaftlich bezeichnen. Rein naturwissenschaftlich wird allein eine Betrachtung der Wirklichkeit mit Rücksicht auf ihren allgemeinsten Begriff zu nennen sein. Wenn dagegen für eine Wissenschaft nur das Allgemeine eines Teils der Körperwelt oder des Seelenlebens in Frage kommt, so sind in den nur für diesen Teil gültigen Begriffen immer auch noch historische Bestandteile vorhanden.

Eine analoge Betrachtung gilt natürlich auch für die historischen Wissenschaften. Da unsere Begriffe des Naturwissenschaftlichen und des Historischen ja nur Korrelatbegriffe sind, so muß es ebenso, wie es ein mehr oder weniger Naturwissenschaftliches gibt, auch ein mehr oder weniger Historisches geben. Auch das Historische ist somit etwas, das Grade hat, d. h. es ist nicht nur eine absolut historische Betrachtung möglich, welche die Wirklichkeit auf das Individuelle und Einzelne hin ansieht, sondern man wird auch eine Betrachtung noch historisch nennen, die sich zwar auf etwas Allgemeines richtet, dieses Allgemeine aber im Vergleich zu noch Allgemeinerem als ein Besonderes ansieht. So wird der Begriff der Geschichte ebenso relativ wie der der Naturwissenschaft, und wie es historische Elemente in den Naturwissenschaften gibt, so werden wir auch naturwissenschaftliche Elemente in den Geschichtswissenschaften finden. Was das Letztere bedeutet, läßt sich jedoch genauer erst im Zusammenhang mit den logischen Grundbegriffen der historischen Wissenschaften selbst zeigen. Hier, wo unsere Aufmerksamkeit noch auf die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung und den prinzipiellen Gegensatz von Natur und Geschichte gerichtet ist, suchen wir zunächst die Bedeutung der historischen Bestandteile in den Naturwissenschaften zu verstehen.

Wir gehen auch hier wieder so vor, wie wir es früher getan haben, d. h. wir entwickeln unsere Gedanken fürs Erste nur mit Rücksicht auf die Wissenschaften von der Körperwelt. Für diese Untersuchungen über die Methode der Geschichtswissenschaften etwas ungewöhnliche Art der Betrachtung haben wir mehrere Gründe. Zunächst muß, wenn unsere bisherigen Behauptungen richtig sind, es zumindest gleichgültig sein, ob wir an den Körperwissenschaften oder an den "Geisteswissenschaften" ein logisches Prinzip klar machen, denn der Gegensatz von Natur und Geschichte hat ja in seiner allgemeinsten logischen Bedeutung mit dem von Körper und Seele garnichts zu tun. Sodann aber besitzen wir für unseren Zweck die Körperwissenschaften im Vergleich zu den psychologischen Disziplinen den großen Vorzug, daß sie in der logischen Vollkommenheit ihrer Begriffsbildung weiter fortgeschritten sind, und daß besonders das Ideal einer begrifflichen Erkenntnis der Körperwelt, wie wir es als Vereinfachung der anschaulichen Mannigfaltigkeit verstehen, wegen der Möglichkeit einer Quantifikation hier viel deutlicher zutage tritt, als dies bei der begrifflichen Bearbeitung des Seelenlebens der Fall ist. Schließlich bevorzugen wir die Körperwissenschaften auch gerade deshalb, weil es nicht üblich ist, den Begriff des Historischen auf sie anzuwenden. Je ungewohnter nämlich das Material ist, an dem wir unsere Begriffe entwickeln, desto klarer muß ihre vom Material unabhängige logische Bedeutung zutage kommen, und so von Neuem der Gegensatz hervortreten, in dem unsere logische Einteilung der Wissenschaften zu der sonst üblichen in Natur- und Geisteswissenschaften steht.

Greifen wir zunächst auf die Ausführungen über Dingbegriffe und Relationsbegriffe im ersten Kapitel zurück. Die Beseitigung der Dingbegriffe durch Umsetzung in Begriffe von Relationen ist, wie wir wissen, der Weg, auf dem die Naturwissenschaften von der Körperwelt sich der logischen Vollkommenheit annähern. Unter die Begriffe von Relationen "letzter" Dinge soll soweit wie möglich alles körperliche Sein gebracht werden. Je mehr Begriffe von anschaulichen Dingen also eine Wissenschaft noch benutzt, desto weiter ist sie von der Einsicht in den allumfassenden naturgesetzlichen Zusammenhang der Körperwelt entfernt. Die Begriffe nun, die noch nicht Relationsbegriffe geworden sind, können wir jetzt auch als die historischen Bestandtheile der naturwissenschaftlichen Theorien bezeichnen und sagen, daß die Auflösung der Dingbegriffe in Relationsbegriffe einer Beseitigung der historischen Elemente gleichzusetzen ist. Dementsprechend läßt sich dann mit Hilfe unseres Begriffes des Historischen auch ein logisches Idealsystem der verschiedenen Naturwissenschaften konstruieren. Wenn wir die besonderen Disziplinen als Teile eines einheitlichen Ganzen auffassen, müssen wir sie uns in einem System in folgernder Weise angeordnet denken. Die historischen Elemente, die in den Dingbegriffen der einen Wissenschaft noch vorhanden sind und, so lange diese Wissenschaft über die besondere Aufgabe, die sie sich stellt, nicht hinausgeht, auch vorhanden sein müssen, werden von einer anderen Wissenschaft, die sich umfassendere Aufgaben stellt, durch Begriffe von Relationen solcher Dinge, die weniger historische Bestandteile enthalten, beseitigt. Diese Wissenschaft schiebt dann ihre historischen Elemente einer noch umfassenderen Wissenschaft zu, die neue Relationsbegriffe mit immer weniger historischen Bestandteilen zu bilden hat, bis schließlich in einer die ganze Körperwelt umfassenden Theorie alle Begriffe von empirischen Dingen und damit alle historischen Elemente entfernt sind. Erst die "letzte Naturwissenschaft" also ist als von historischen Elementen vollkommen frei zu denken und als "rein" naturwissenschaftlich zu bezeichnen.

Zugleich aber sehen wir, daß unter diesem Gesichtspunkte nur die letzte Naturwissenschaft keine historischen Elemente mehr besitzt. Alle anderen Naturwissenschaften zeigen sie nicht nur tatsächlich mehr oder weniger, sondern müssen sie auch, so lange sie sich eine begrenzte Aufgabe stellen, in ihren Begriffen von anschaulichen Dingen beibehalten. Sie hören daduch aber noch nicht auf, Naturwissenschaften in unserem Sinne zu sein. Sie wollen nur Begriffe für einen Teil der Wirklichkeit bilden, und dürfen daher dort, wo für ihre begrenzten Ziele keine Probleme mehr vorliegen, die Dingbegriffe stehen lassen, ohne auf den Umstand, daß vom Standpunkt einer letzten Naturwissenschaft darin noch historische Elemente enthalten sind, zu reflktieren. Ja, als Spezialwissenschaften haben sie nicht nur ein Recht, von einer rein mechanischen Betrachtungsweise abzusehen, sondern sie können überhaupt nur dadurch Naturwissenschaften eines Teiles der Körperwelt werden, daß sie das Allgemeine innerhalb eines Besonderen, die Natur innerhalb eines Historischen suchen und sich gar nicht darum kümmern, daß das Gebiet, für welches allein ihre Begriffe gelten, auch als etwas Historisches anzusehen ist. Insofern also heben die historischen Bestandtheile der Begriffe den naturwissenschaftlichen Charakter der Disziplinen, in denen sie sich finden, noch nicht auf.

Aber dieses Verfahren ist in den Wissenschaften, die es mit einem "relativ Historischen" zu tun haben, nicht das einzige, das möglich ist, und damit kommen wir erst zu dem Punkt, an dem die Durchführung des prinzipiellen Gegensatzes von Begriffswissenschaft und Wirklichkeitswissenschaft zu scheitern scheint. Je ferner die Spezialdisziplinen nämlich dem Ideal der letzten Naturwissenschaft stehen, um so bedeutsamer muß in ihnen das Geschichtliche und um so größer die Schwierigkeiten werden, die Natur innerhalb dieses Geschichtlichen zu finden. Die empirische Anschauung drängt sich in den Begriffsinhalt immer mehr hinein. Einmal verlieren dadurch die Begriffe nicht nur an Bestimmtheit, sondern auch ihre mehr als empirisch allgemeine Geltung muß um so unsicherer werden, je weiter sie von der Geltung der mathematisch formulierten Bewegungsgesetze entfernt ist, sodann aber – und das ist das Entscheidende – greift unwillkürlich auch ein anderer Gesichtspunkt der Betrachtung als der in unserem Sinne naturwissenschaftliche Platz. Der historische Charakter dessen, was für die begrenzten Aufgaben der Spezialwissenschaft kein naturwissenschaftliches Problem ist, wird nicht ignoriert, und sobald dies geschieht, muß das Verfahren der Wissenschaft selbst historisch werden, d. h. der Forscher sucht dann nicht nur die Natur innerhalb eines Sondergebietes, sondern reflektiert auch auf das Entstehen und die Geschichte seines Materials. Zum historischen Charakter des Materials kommt also auch eine historische Methode. Zwar wird das Material in den meisten Fällen immer noch unter Begriffe gebracht, eine Betrachtung der Besonderheiten einzelner Individuen spielt in den Körperwissenschaften höchstens in Ausnahmefällen eine Rolle, und es kann dementsprechend auch die Methode der Darstellung nur "relativ historisch" sein, aber naturwissenschaftlich in unserem Sinne ist sie auch nicht mehr. Unter rein logischen Gesichtspunkten ist vielmehr eine historische Darstellung für das Gebiet jeder Naturwissenschaft mit Ausnahme der "letzten" möglich, und der prinzipielle Gegensatz von Naturwissenschaft und Geschichte scheint also für die empirischen Wissenschaften überall dort zu verschwinden, wo nicht nur die Begriffe der Naturwissenschaft historische Elemente enthalten, sondern wo auch auf den historischen Charakter dieser Elemente ausdrücklich reflektiert wird.

Es ist nicht schwer, zu zeigen, daß trotzdem die Bedeutung dieses Gegensatzes für die Wissenschaftslehre unangetastet bleibt, und wir werden dies noch viel leichter können, wenn wir uns vorher das Prinzip, um das es sich handelt, an einigen Beispielen zu verdeutlichen suchen. Im wirklichen Betrieb der Naturwissenschaften von der Körperwelt spielt die historische Darstellung vor allem in den biologischen Disziplinen eine erhebliche Rolle, und es sind die logischen Besonderheiten der Biologie auch deshalb hier von Bedeutung, weil zwar wohl kaum im Ernst behauptet werden kann, daß die Geschichte wie Physik oder Chemie zu betreiben sei, man aber dafür um so mehr in der Biologie die Naturwissenschaft gesehen hat, deren Methode auch für historische Wissenschaften anwendbar sein muß. Trotzdem darf die Untersuchung, wenn sie die logische Struktur der Biologie klarlegen will, sich nicht auf diese Wissenschaft beschränken sondern muß zeigen, daß in ihr nur etwas zu besonders deutlichem Ausdruck kommt, das auch in den anderen Naturwisesnschaften mehr oder weniger ausgeprägt zu finden ist.

Aus diesem Grunde versuchen wir, historische Elemente auch in der Chemie, ja als Möglichkeit sogar in der Physik aufzuzeigen. Wir können uns dabei auf das berufen, was wir im ersten Kapitel über das Ideal einer allgemeinen Theorie der Körperwelt und ihr Verhältniss zu Physik und Chemie ausgeführt haben, und werden zugleich imstande sein, jetzt die Ergänzungen zu dem dort Gesagten zu geben, auf die früher hinwiesen wurde. Natürlich sehen wir auch hier wieder von aller inhaltlichen Richtigkeit der herangezogenen Beispiele ab.

Gehen wir von dem Gedanken einer rein mechanischen Naturauffassung in der Gestalt aus, wie HERTZ sie als Äthertheorie angedeutet hat, so suchen wir von diesem Ideal allmählich durch Physik und Chemie hindruch den Weg zur Biologie zu finden.

Der mechanische Begriff der Körperwelt, nach dem alles physische Geschehen als Bewegung "letzter Dinge" zu denken ist, enthält, wie wir wissen, nichts empirisch Anschauliches und nichts Individuelles. Wollen wir trotzdem den "Äther" im Sinn des blossen "raumerfüllenden Mittels", d. h. als Substrat einer absolut allgemeinen Theorie, noch für eine Wirklichkeit halten, so ist er jedenfalls eine Wirklichkeit, die mit der uns bekannten Welt gar nichts gemein hat (1)). Er wäre, wie wir auch sagen können, eine völlig "unhistorische Wirklichkeit", denn es hätte gar keinen Sinn, ihn mit Rücksicht auf das Einzelne und Besondere zu untersuchen. Jeder seiner Teile soll ja seinem Begriff nach genau dasselbe enthalten wie jeder andere.

Zugleich aber ist der Begriff des Äthers auch der einzige naturwissenschaftliche Dingbegriff, der nichts Anschauliches und empirisch Wirkliches mehr enthält. Schon wenn wir uns der Mannigfaltigkeit zuwenden, von der die verschiedenen Teile der Physik handeln, so finden wir, daß Licht, Schall, Magnetismus, Elektrizität, ponderable [wägbare - wp] Materie zwar sehr allgemeine Begriffe sind, die eine unübersehbare Fülle von verschiedenen einzelnen Dingen und Vorgängen umfassen, aber immer noch anschauliche und individuelle, also historische Elemente in unserem Sinne enthalten. Ganz abgesehen davon, daß es bis jetzt noch nicht gelungen ist, alle Mannigfaltigkeit der physikalischen Vorgänge unter einen gemeinsamen Begriff zu bringen, sind Licht, Schall, usw. als anschauliche Gebilde für alle Zeiten nur als etwas Tatsächliches hinzunehmen. Warum es gerade diese und nicht noch andere physikalische Vorgänge gibt, die von den bekannten sich ebenso unterscheiden, wie diese von einander, das wissen wir nicht und können es niemals wissen. Wäre eine Äthertheorie vollständig ausgebildet, so hätte man zwar einen Begriff, unter den jeder denkbare körperliche Vorgang gebracht werden könnte, und ddadurch wäre eine Überwindung der extensiven Mannigfaltigkeit der Körperwelt in ihrer Gesamtheit erreicht, aber man wüßte dadurch nicht nur nicht, welche physikalischen Vorgänge nun wirklich ablaufen, sondern die Theorie selbst enthielte auch nicht einmal das, wovon wir wissen, daß es wirklich ist. Die Begriffe von Licht, Schall, usw. würden in der Äthertheorie aus Zahlen und Formeln bestehen, die sich auf das Wirkliche, das wir kennen, beziehen, mit dem aber, was wir Licht, Schall, usw. erfahren, nichts mehr gemeinsam haben können. Die physikalischen Vorgänge sind begreiflich immer nur in Rücksicht auf das, was sie mit anderen teilen. Wer niemals Licht gesehen oder Töne gehört hat, der würde aus dem Inhalt der Begriffe, die eine absolut allgemeine Theorie der Materie bilden könnte, von dem, was Licht und Ton als empirische Wirklichkeit sind, auch nicht das Geringste erfahren.

Dies meinen wir, wenn wir sagen, daß die physikalischen Einzeldisziplinen, die nicht Äthertheorie sind, auch in ihren allgemeinsten Begriffen noch historische Elemente enthalten. Jede von ihnen beginnt gewissermaßen mit einem historischen Faktum, und so allgemein auch z. B. der Begriff des Lichtes ist, so muss die Optik, um als Lehre vom Licht Naturwissenschaft in unserem Sinne zu sein, ganz davon absehen, daß ihr Material vielleicht lediglich als historische Modifkation des Äthers zu betrachten ist. Sie muß sich darauf beschränken, das festzustellen, was gilt, wo überhaupt Licht ist. Darin erfaßt sie dann die Natur innerhalb des relativ historischen Vorganges. Einmal ergibt sich hieraus, warum die Untersuchungen, die nur für einen Teil der Wirklichkeit gelten, niemals ihren selbständigen Wert verlieren können, und warum es unmöglich ist, die speziellen physikalischen Theorien ganz in reine Mechanik aufzulösen. Zugleich aber sehen wir hieraus auch, daß der Gedanke einer Geschichte des Lichtes durchaus nicht logisch widersinnig ist. Wären nämlich alle naturwissenschaftlichen Lichtprobleme gelöst, so bliebe doch noch eine Reihe von Fragen in Beuzug auf das Licht unbeantwortet. Gab es immer Licht? Wann und wo ist es zum ersten Mal zu finden? Wie viel Licht gibt es, und an welchen Stellen der Welt kommt es vor? Alles dies sind historische Fragen, über die die Optik als Naturwissenschaft nicht das Mindeste auszusagen vermag.

Selbstverständlich wird es allerdings auch keinem Physiker einfallen, solche Fragen wirklich zu stellen, denn abgesehen davon, daß zu einer Geschichte des Lichts aus naheliegenden Gründen die "Urkunden" fehlen, würde eine solche Wissenschaft vielleicht niemanden interessieren. Aber darauf kommt es hier nicht an. Wir wollen nur zeigen, daß für Alles, was noch empirische Wirklichkeit enthält, auch eine historische Betrachtung möglich ist. daß es sich bei einem Begriffe wie dem des Lichts nur um eine logische Möglichkeit handelt, ändert an unserem Resultat nichts. Was wir ausgeführt haben, gilt vielmehr für die gesamte Welt der Physik im engeren Sinn. Auch die ponderable Materie, um das, was vielleicht am fremdartigsten klingt, herauszuheben, ist, wenn die Massenatome als Verdichtungszentren des Äthers angesehen werden, ebenfalls im Vergleich zum ewigen Äther nur ein historischer Vorgang, der eventuell einen Anfang und ein Ende hat wie alles Besondere, und von dem es daher auch eine Geschichte geben könnte.

Wie gesagt, wir würden auf diese Gedanken keinen Wert legen, wenn das logische Prinzip, auf das es uns dabei ankommt, in allen Wissenschaften so bedeutungslos wäre wie in der Physik. Das ist aber nicht der Fall. Schon wenn wir uns von der physikalischen Mannigfaltigkeit der chemischen zuwenden, gewinnen die historischen Bestandteile eine größere Bedeutung auch in der wirklichen Wissenschaft. Denken wir an die Darstellung, welche die unübersehbare qualitative Mannigfaltigkeit der ponderablen Materie begreift, indem sie sie auf eine begrenzte Zahl von Qualitäten, d. h. auf die chemischen "Elemente" zurückführt. Rein naturwissenschaftlich bleibt ihre Methode nur dadurch, daß sie die Elemente als etwas Dauerndes und Unhistorisches betrachtet. Sie findet in ihnen die "Natur" des Chemischen und kann die Möglichkeit ihrer Entstehung ebenso ignorieren wie die Optik die Entstehung des Lichts. Andererseits aber enthalten diese dauernden Elemente nicht nur Standpunkte einer logisch vollkommen gedachten, also absolut unhistorischen Äthertheorie sondern auch schon unter physikalischen Gesichtspunkten im engeren Sinne historische Bestandteile. Insofern nämlich bereits der Begriff der ponderablen Materie als der einer Äthermodifikation etwas relativ Historisches ist, müssen die chemischen Elemente, wenn wir uns außer der Äthertheorie auch eine Theorie der "Urelemente" ausgeführt denken, als historische Modifikationen von etwas angesehen werden, das im Vergleich zum Äther selbst schon eine historische Modifikation war. Man kann daher die Mannigfaltigkeit der chemischen Elemente im Vergleich zu den physikalischen Vorgängen auch als ein Historisches höherer oder zweiter Ordnung bezeichnen, und, wie wir bereits angedeutet haben, ist der Gedanke ihrer Geschichte nicht nur wie der einer Geschichte des Lichtes eine bloße logische Möglichkeit, sondern die empirische Wissenschaft selbst hat sich bereits damit beschäftigt; ja eine völlig unhistorische Betrachtung der Elemente wird sogar immer mehr verdrängt.

Die Versuche, die hier in Frage kommen, hängen einerseits mit den Theorien von LOTHAR MEYER und MENDELEJEFF (2), andererseits mit der Übertragung des historischen Gesichtspunks auf unsere Erde und unser Sonnensystem zusammen, oder folgen ganz im Allgemeinen aus der Besinnung darauf, daß die gesamte empirische Wirklichkeit, in der wir leben, als ein historischer, also ewig wechselnder Prozeß angesehen werden muß. So wie die Weltkörper entstanden sind aus den Elementen, können so nicht auch die Elemente selbst entstanden sein? Damit ist die Möglichkeit einer historischen Betrachtung gegeben. Es taucht die Frage auf: sollte man nicht etwas über diese Entstehung wissen können? Welche Elemente waren zuerst da, welche später? Man hat Antworten auf Fragen dieser Art versucht (3). So wenig wir über den Wert dieser Versuche hier zu urteilen haben, so interessant ist unter logischen Gesichtspunkten die bloße Tatsache, daß es überhaupt chemische Arbeiten gibt, in denen nicht nur die Begriffe, unter welche die zu untersuchenden Objekte fallen, relativ Historisches enthalten, sondern in denen dies relativ Historische auch historisch behandelt wird. Die Darstellung solcher Untersuchungen muß die Form eines historischen Berichts annehmen, d. h. die Chemie gibt hier nicht nur Begriffe, die für immer gelten, sondern sie erzählt auch von dem, was einmal in früheren Zeiten wirklich geschehen ist.

Nachdem wir so die historischen Bestandteile in der Physik und in der Chemie kennen gelernt haben, können wir uns der Biologie zuwenden, in der das logische Prinzip, das uns beschäftigt, am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Wir sind jetzt imstande, die Besonderheiten dieser Wissenschaft als etwas zu verstehen, wodurch sie sich zwar graduell aber nicht prinzipiell von den übrigen Naturwissenschaften unterscheidet. Eine empirische Naturwissenschaft, deren Begriffe gar keine historischen Bestandteile enthalten, gibt es bisher nur als ein logisches Ideal (4): schon die allgemeinsten Begriffe der Physik zeigen ein relativ Historisches, die der Chemie bereits ein Historisches höherer Ordnung. Bietet uns nun auch die moderne Wissenschaft von den Organismen in der Form ihrer Darstellung ein erheblich anderes Bild als Physik und Chemie, so liegt das im Wesentlichen nur daran, daß hier ein Historisches von noch höherer, wenn man will, dritter Ordnung den Gegenstand der Untersuchung bildet, und daß dementsprechend die historischen Bestandteile in dieser Wissenschaft eine noch größere Rolle spielen. Unter diesem Gesichtspunkt ordnet sich also die Biologie dem Idealsystem von Naturwissenschaften ein, das wir mit Hilfe unseres Begriffes vom relativ Historischen aufstellen konnten.

Allerdings, vielleicht wird die Bezeichnung der Organismen als relativ Historisches Bedenken erregen. Sie setzt nämlich voraus, daß zwischen der "toten" und "lebenden" Natur im Prinzip kein anderer Unterschied besteht, als etwa zwischen Elektrizität und Gold, und diese Voraussetzung läßt sich unter logischen Gesichtspunkten nur dadurch rechtfertigen, daß, wenn sie falsch wäre, eine vollkommen allgemeine Theorie der physischen Welt nicht einmal als Ideal aufgestellt werden könnte. Wollen wir überhaupt danach streben, alle Körper unter ein einheitliches Begriffssystem zu bringen, so müssen wir annehmen, daß nicht nur Elektrizität und Gold sondern auch die Vorgänge in den Organismen sich als besondere Arten von Bewegung "letzter" Dinge denken lassen.

Was soll diese Annahme verbieten? Es scheint, als ob wenigstens der schärfste Widerspruch gegen die Voraussetzung einer prinzipiellen Gleichheit der physikalisch-chemischen und der organischen Vorgänge nur dort hervorgerufen wird, wo die Vertreter der mechanischen Naturauffassung behaupten, die Prozesse im lebendigen Körper, so wie sie uns als empirische Wirklichkeit gegeben sind, auch restlos in chemische und physikalische Prozesse auflösen zu können (5).

Dies aber ist nun gerade nach unserer Theorie durchaus nicht notwendig, um das Organische als ein relativ Historisches bezeichnen zu dürfen, denn auch die chemische Welt ist als empirische Wirklichkeit etwas ganz anderes als das, was die Physik in ihre Begriffe aufnehmen kann, und ebenso ist die physikalische Welt als empirische Wirklichkeit etwas anderes als Bewegung von Atomen. Gewiß, das Organische geht in seiner individuellen Eigenart, so wie es anschaulich gegeben ist, in keinen Begriff ein, denn alles Individuelle und Anschauliche setzt der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung eine Grenze. Aber – und darauf kommt es hier an – es braucht sich in dieser Hinsicht nicht noch besonders von den anderen Arten der Wirklichkeit, dem Physikalischen im engeren Sinne und dem Chemischen zu unterscheiden (6).

Wir nehmen ja überall in der Naturwissenschaft an, daß aus gewissen Dingen sich andere neue Dinge bilden, deren anschauliche Wirklichkeit prinzipiell von der verschieden ist, aus der sie entstanden sind. Wenn wir uns also nicht scheuen, das Licht als Ätherbewegung zu denken, obwohl wir seine empirische Wirklichkeit gänzlich vom Äther trennen müssen, so liegt auch kein Grund vor, das Organische, obwohl wir es in seiner empirischen Wirklichkeit den physikalisch-chemischen Vorgängen nie gleichsetzen können, dennoch als aus ihnen entstanden zu denken, und wenn wir dies tun, so dürfen wir auch vom Organischen als von einem Historischen höherer Ordnung im Vergleich zu den physikalischen und chemischen Vorgängen reden. Nichts hindert uns also, die logische Struktur der modernen Biologie als besondere Ausprägung eines allgemeinen Prinzips darzustellen, das mehr oder weniger die gesamte Naturwissenschaft durchzieht.

Bisher haben wir von den Wissenschaften, die sich mit den Lebewesen beschäftigen, nur die deskriptive Zoologie und Botanik berücksichtigt. Sie begnügen sich damit, die ihnen bekannte Mannigfaltigkeit unter ein System empirisch allgemeiner Begriffe zu bringen, und ihr Verfahren ist, obwohl ein relativ Historisches höherer Ordnung den Gegenstand der Darstellung bildet, doch durchaus naturwissenschaftlich, wie wir früher zeigen konnten. Sie erreichen dies dadurch, daß sie nicht nur den historischen Charakter des Lebendigen überhaupt ignorieren, sondern außerdem eine große Menge von verschiedenen Formen der Lebewesen in gewissen Grenzen als für alle Zeiten beständig und dauernd betrachten, obwohl diese "Arten" im Vergleich zum allgemeinen Begriff des Lebendigen als ein Historisches noch höherer Ordnung anzusehen sind. Aus Gründen, die wir als bekannt voraussetzen dürfen, wurde nun aber die Konstanz der Arten zu einem Problem, und schon damit trat ein historischer Gesichtspunkt, nämlich die Frage nach der "Entstehung der Arten" in der Biologie ganz und gar in den Vordergrund. Es lag dann ferner sehr nahe, daß im Zusammenhang hiermit auch auf den historischen Charakter des Lebendigen überhaupt reflektiert wurde, und in der Tat ist es heute der Biologie ganz geläufig geworden, die Welt der Lebewesen als einen einmaligen historischen Vorgang anzusehen, der an einem bestimmten Zeitpunkt in der Entstehungsgeschichte der Erde seinen Anfang hat und einst vermutlich ein Ende nehmen wird. Man versucht daher auch die Geschichte dieses Vorganges kennen zu lernen.

Das Interesse an Darstellungen dieser Art muß um so größer sein, als es sich dabei um den Entwicklungsprozeß zu handeln scheint, der von den primitivsten Stadien des organischen Lebens allmählich zum Menschen hinführt. Dieser Umstand ist sogar, wie wir später noch sehen werden, für den historischen Charakter der Biologie von ganz prinzipieller Bedeutung (7). Doch kommt es hier nur darauf an, auf die Tatsache hinzuweisen, daß es zu einer wesentlichen Aufgabe der Biologie geworden ist, den "Stammbaum" der Organismen, "die Abstammung des Menschen" oder derartiges darzustellen. Welche Rolle diese Darstellungen seit einigen Jahrzehnten in der Biologie spielen, ist so bekannt, daß wir nicht näher darauf einzugehen brauchen. Wir sehen jedenfalls, naturwissenschaftlich in unserem Sinne sind sie nicht. Ein Buch, wie HÄCKELs "Natürliche Schöpfungsgeschichte" - um an das bekannteste Beispiel zu erinnern – muß man nach unseren bisherigen Begriffsbestimmungen vielmehr zum Teil den Geschichtswissenschaften in der allgemeinsten Bedeutung des Wortes zurechnen, wenn auch sein Gegenstand im Wesentlichen nur etwas relativ Historisches ist.

Andererseits aber zeigt uns die Biologie ebenfalls eine auch in unserem Sinne naturwissenschaftliche Seite. Auch wo man die naturwissenschaftlich-deskriptive Methode verlassen hat, beschränkt man sich nicht darauf, die Geschichte der Lebewesen darzustellen, sondern sucht Gesetze zu finden, nach denen sich das Leben der Organismen bewegt, oder wenigstens Begriffe zu bilden, die gelten sollen, wo überhaupt Organismen vorhanden sind. Dann muß, wenn auch nicht von dem historischen Charakter der verschiedenen Arten, so doch von dem Lebendigen überhaupt abstrahiert werden. Die Tendenz der Wissenschaft kann z. B. dahin gehen, die Fülle der fortwährend wechselnden Gestalten auf Vorgänge zurückzuführen, die als organische Vorgänge zwar vom Standpunkt einer allgemeinen Theorie der Körperwelt immer ein relativ Historisches bleiben müssen, im Vergleich zu den fortwährend wechselnden Gestalten der einzelnen Organismen aber als etwas Dauerndes und Unvergängliches zu betrachten sind. Die Sache liegt dann genau wie in der Physik oder der Chemie. Die Biologie sucht die Natur innerhalb des Historischen, um als Biologie zu einer Naturwissenschaft in dem Sinne, wie jene Wissenschaften es sind, zu werden.

In einigen Schriften WEISMANNs kommt dies logische Prinzip zum deutlichen Ausdruck. Seine Lehre von der Kontinuität des Keimplasmas ist nicht nur als eine Theorie anzusehen, in der etwas relativ Historisches naturwissenschaftlich behandelt wird, sondern in der die Möglichkeit einer doppelten Betrachtungsweise geradezu ausgesprochen ist. Wir können daher an dieser Theorie zeigen, daß es sich in unseren Ausführungen nicht etwa nur um eine logische Konstruktion handelt.

Das Keimplasma ist für WEISMANN der "unsterbliche Teil"(8) des Organismus, aber den Begriff der "Unsterblichkeit" grenzt er sorgfältig von dem der "Ewigkeit" ab und hebt hervor, "daß die irdischen Lebensformen einen Anfang gehabt haben". Die Unsterblichkeit ist "ein rein biologischer Begriff und wohl zu trennen von der Ewigkeit der toten d. h. anorganischen Materie." Von den Objekten der Naturwissenschaft ist nichts ewig als die kleinsten Teile der Materie und ihre Kräfte. (9) Noch deutlicher vielleicht als bei dieser Unterscheidung von Ewigkeit und Unsterblichkeit kommt das logische Prinzip, um das es sich handelt, in einer früheren Schrift WEISMANNs zum Ausdruck, die sich nicht speziell auf das Keimplasma sondern auf das Leben der Zellen bezieht. Dies Leben wird dort als "ewig" bezeichnet, aber zum Schluß fügt WEISMANN die charakteristischen Sätze hinzu: "Ich habe wiederholt von einer ewigen Dauer gesprochen, einerseits der einzelligen Organismen, andererseits der Propagationszellen. Ich habe damit zunächst nur eine unserem menschlichen Auge unendlich erscheinende Dauer bezeichnen wollen. Es sollte damit der Frage nach dem tellurischen [die Erde betreffend - wp] oder kosmischen Ursprung des irdischen Lebens nicht vorgegriffen werden. Von der Entscheidung dieser Frage aber würde es offenbar abhängen, ob wir die Fortpflanzungsfähigkeit jener Zellen als wirklich ewig, oder nur als ungeheuer lang anzusehen haben, denn nur was anfangslos ist, kann und muss auch endlos sein (10). WEISMANN selbst erklärt dann sogar ausdrücklich, daß für ihn "die Urzeugung trotz aller Mißerfolge, sie zu erweisen, immer noch ein logisches Postulat ist. Das Organische als eine ewige Substanz, dem Unorganischen als einer gleichfalls ewigen Substanz an die Seite gestellt, ist mir eine undenkbare Vorstellung und zwar deshalb, weil das Organische fortwährend ohne Rest in das Unorganische aufgeht. . . . . Daraus würde folgen, daß das Organische einmal enstanden sein muss."

Es ist also nach WEISMANN, der selber innerhalb einer biologischen Untersuchung ohne Bedenken von der "Ewigkeit" des Lebens redet, dem Organischen unter allgemeineren Gesichtspunkten ewige Dauer im eigentlichen Sinne des Wortes abzusprechen und ihm nur eine ungeheuer lange Dauer zuzugestehn (12). Wir sehen, hier liegt genau das vor, was wir zu zeigen versucht haben. Neben der vollständigen Einsicht, daß einem Begriff in der Wirklichkeit nichts entspricht, was sich zu allen Zeiten findet, wird in der Spezialwissenschaft die Frage nach der historischen Entstehung der betreffenden Objekte doch ignoriert, und, um für die biologischen Vorgänge eine allgemeine naturwissenschaftliche Theorie aufstellen zu können, wird das Historische als "unsterblich" bzw. "ewig" angesehen. Es ist, wie wir auch sagen können, das Unsterbliche für einen besonderen Teil der Wirklichkeit oder die "ewig gleiche Natur" innerhalb eines historischen Vorganges.

Wir verfolgen die logische Gliederung der Naturwissenschaften von der Körperwelt unter diesem Gesichtspunkt nicht weiter, denn ein vollständiges System zu entwerfen, liegt nicht in unserem Plan. Es kam nur darauf an, durch einige Beispiele klarzulegen, welche Bedeutung die historischen Bestandteile innerhalb der Naturwissenschaften haben, und inwiefern der Gegensatz von Begriffswissenschaft und Wirklichkeitswissenschaft bei seiner Anwendung in der Methodenlehre eingeschränkt und abgeschwächt werden muß. Selbstverständlich kann es neben der allgemeinen Biologie noch Spezialdisziplinen geben, welche die Natur eines Historischen immer höherer Ordnung zu erforschen suchen. Auch in der Welt der unbelebten Körper ist es natürlich möglich, ein relativ Historisches höherer Ordnung, als es die chemischen Vorgänge im Allgemeinen sind, zum Gegenstande der Untersuchung zu machen. Als Beispiel sei nur auf die Geologie hingewiesen (12). Ganz besonderes Interesse bietet ferner die Astronomie, die ja in gewisser Hinsicht, nämlich insofern sie es mit den einzelnen Weltkörpern zu tun hat, Individuen im strengen Sinne, also etwas absolut Historisches behandelt, und doch auch wieder der "letzten" Naturwissenschaft nahe steht, da sie in einigen Teilen von aller qualitativen Mannigfaltigkeit der Weltkörper abstrahiert. Sie kann dies, weil die Qualitäten, die sich nicht mathematisch behandeln lassen, auf die Bewegungen der Gestirne, die der Forischer zu berechnen sucht, von keinem wesentlichen Einfluß sind. Die Astronomie wird uns übrigens wegen ihres in gewisser Hinsicht eminent historischen Charakters bei der Untersuchung über die logischen Grundlagen der Geschichtswissenschaften im Zusammenhange mit dem Begriff der Entwicklung noch einmal beschäftigen.

Zunächst verlassen wir jetzt die Körperwissenschaften, um das bisher absichtlich nur mit Rücksicht auf sie gewonnene Resultat auch auf die wissenschaftliche Darstellung geistiger Vorgänge zu übertragen. Prinzipiell Neues wird sich dabei für die Logik nicht ergeben, und wir können uns daher mit wenigen Bemerkungen begnügen.

Eine absolut unhistorische psychologische Disziplin deren Begriffe nichts mehr von dem in der Erfahrung gegebenen Seelenleben enthalten, kann als Ideal, dem die Wissenschaft sich anzunähern hat, natürlich nur unter der Voraussetzung aufgestellt werden, daß es möglich ist, das gesamte Seelenleben unter einen einheitlichen Begriff zu bringen. Wenn aber z. B. eine Theorie uns auffordert, alles Seelenleben als bestehend aus einfachen Empfindungen zu denken, so enthalten die Begriffe der Vorstellung, des Willens, des Gefühls im Vergleich zum absolut allgemeinen Begriff noch historische Elemente. Es wäre denkbar, daß Vorstellungen, Willensakte oder Gefühle einmal nicht da waren, und man könnte dann nach ihrer Geschichte fragen (13). Andererseits lässt sich jedoch auch der historische Gesichtspunkt gänzlich ignorieren, und die Psychologie kann versuchen, die Willensvorgänge oder die Vorstellungen oder irgendeine andere Art des psychischen Seins gesondert unter ein System von Begriffen zu bringen. Wir verfolgen jedoch diesen Gedanken nicht weiter, da alles, was wir vorher von den Körperwissenschaften gesagt haben, sich mit ganz unwesentlichen Modifikationen auf die psychologischen Disziplinen übertragen läßt.

Nur eine dieser Disziplinen heben wir noch hervor. Selbstverständlich kann man auch bei der wissenschaftlichen Darstellung des geistigen Lebens ein Historisches von immer höherer Ordnung zum Gegenstand einer besonderen naturwissenschaftlichen Untersuchung machen, und wir greifen aus der Reihe der Objekte, die dabei in Frage gekommen sind, das menschliche Geistesleben, wie es sich in der Gesellschaft gestaltet, heraus. Es handelt sich dabei um ein besonderes psychisches Sein, das zweifellos nicht immer existiert hat, sondern allmählich entstanden ist, und auch seinem allgemeinsten Begriffe nach als ein relativ Historisches von schon ziemlich hoher Ordnung angesehen werden muß. Seine geschichtliche Darstellung ist nicht nur logisch möglich, sondern dieses Geistesleben gilt als das eigentliche Objekt der Wissenschaft, die man Geschichte im engeren Sinne nennt. Aber gerade deshalb müssen wir hervorheben, daß man sehr wohl versuchen kann, auch ein System von Begriffen zu bilden, welches die Natur des gesellschaftlichen Lebens, d. h. das seinen verschiedenen Formen Gemeinsame und wenn möglich seine Gesetze zum Ausdruck bringt.

Versuche dieser Art bezeichnet man als "Soziologie". So wenig Erfreuliches diese Wissenschaft mit dem wenig erfreulichen Namen auch bisher erreicht haben mag, so wenig ist unter logischen Gesichtspunkten gegen eine naturwissenschaftlichen Darstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit einzuwenden. Ob es möglich ist, hier bis zu Gesetzesbegriffen vorzudringen, denen man mit einiger Wahrscheinlichkeit eine mehr als empirische Geltung zusprechen kann, mag allerdings zweifelhaft sein, denn im Allgemeinen wird die naturwissenschaftliche Behandlung umso mehr Aussicht auf Erfolg haben, je umfassender der Begriff ist, unter den ihr Material fällt, und es wird umso schwerer sein, zu Gesetzesbegriffen zu gelangen, je höherer Ordnung das Historische ist, das man naturwissenschaftlich darstellen will. Aber es handelt sich bei solchen Erwägungen immer nur um graduelle Unterschiede, und die naturwissenschaftliche Darstellung eines relativ Historischen höherer Ordnung, wie das Leben der menschlichen Gesellschaft es bildet, ist schon deshalb niemals vollständig ausgeschlossen, weil man ja immer Begriffe bilden kann, die wenigstens empirisch überall gelten, wo bis jetzt überhaupt gesellschaftliches Leben vorgefunden worden ist.

Schließlich müssen wir sogar noch hinzufügen, daß die menschliche Gesellschaft im Allgemeinen durchaus nicht schon das relativ Historische höchster Ordnung zu sein braucht, das sich naturwissenschaftlich behandeln lässt. Es kann vielmehr, ebenso wie in der Biologie, auch innerhalb der "Soziologie" noch Spezialwissenschaften geben, welche die Natur irgendwelcher besonderen Vorgänge des gesellschaftlichen Lebens, z. B. der Politik, des wirtschaftlichen Lebens, der Kunst, der Wissenschaft usw. darzustellen streben, d. h. versuchen, die betreffenden Vorgänge unter ein System allgemeiner Begriffe zu bringen. Das geistige Leben ist eben nirgends prinzipiell der naturwissenschaftlichen Behandlung entzogen, und niemand kann also der Naturwissenschaft eine Untersuchung der Objekte wehren, mit denen es die Geschichte im üblichen Sinne des Wortes zu tun hat.

Trotzdem können diese Darstellungen nie an die Stelle der Geschichte treten. Warum das so ist, wollen wir jetzt noch ausdrücklich hervorheben, um dadurch unsere Untersuchung über das Verhältniss von Natur und Geschichte, soweit dies ohne einen positiven Begriff der Geschichtswissenschaft möglich ist, wenigstens zu einem vorläufigen Abschluß zu bringen.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung [Eine Einleitung in die historischen Wissenschaften], Freiburg i. Br./Leipzig 1896
    Anmerkungen
    1) Häckel (Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft, S. 16) sagt allerdings: "Wenn wir mittelst der Luftpumpe die Masse der atmosphärischen Luft aus einer Glasglocke entfernen, so bleibt die Lichtmenge innerhalb derselben unverändert: wir sehen den schwingenden Äther!" Aber das kann man doch wohl nicht behaupten, sondern ich meine, wir sehen immer die "Lichtmenge" und denken sie uns als aus schwingendem Aether bestehend.
    2) Vgl. oben Seite 120f, Anmerkung
    3) Eine Uebereinstimmung in den Antworten scheint allerdings in wesentlichen Punkten noch nicht erzielt zu sein. Der Schrift von Crookes über "die Genesis der Elemente" stehen auch diejenigen, die sie "höchst beachtenswerth" finden, als einem "allzu kühnen Fluge seiner Phantasie kopfschüttelnd gegenüber". Vgl. ferner Gustav Wendt: "Die Entwicklung der Elemente. Entwurf zu einer biogenetischen Grundlage für Chemie und Physik." Das Problem wird in dieser Abhandlung klar formulirt.
    4) daß wir nicht nur von der Mathematik, sondern auch von der rein mathematischen Mechanik absehen, versteht sich von selbst. Zu den empirischen Naturwissenschaften rechnen wir nur die, welche eine empirische Wirklichkeit unter Begriffe zu bringen versuchen.
    5) Wenn der "Vitalismus" oder "Neo-Vitalismus" dies für unmöglich erklärt, ist er im Recht. Nur wäre zu wünschen, daß in den vitalistischen Schriften die Frage nach dem mechanischen Charakter der lebenden Körper sorgfältig von den Fragen über die Beseelung der Körper geschieden würde. Wo dies wie bei Bunge ("Vitalismus und Mechanismus") und Rindfleisch ("Neo-Vitalismus") nicht geschieht, kann es nicht einmal zu einer richtigen Stellung des Problems kommen.
    6) Den Begriff der Zweckmässigkeit können wir erst im Zusammenhange mit den logischen Voraussetzungen der historischen Wissenschaften klar legen.
    7) Es bewirkt nämlich, daß manche biologische Darstellung der "Entwicklungsgeschichte" noch in einem ganz anderen Sinne zu den historischen Disziplinen gezählt werden muss als etwa die geschichtlichen Darstellungen in der Chemie. Wir können den Grund dafür erst angeben, wenn wir die Begriffe der zeitlichen Folge, der Entwicklung und des Fortschrittes, die heute nicht selten mit einander verwechselt werden, genau bestimmt und scharf von einander geschieden haben. Inwiefern die Naturwissenschaft ein Recht hat, von Entwicklung, wenn sie darunter mehr als ein blosses Aufeinanderfolgen meint, oder gar von Fortschritt zu reden, lassen wir dahingestellt und gebrauchen hier das Wort Entwicklung in dem ziemlich unbestimmten Sinne, in dem es heute gewöhnlich in naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Schriften angewendet wird.
    8) Vgl. "Die Kontinuität des Keimplasmas als Grundlage einer Theorie der Vererbung". In Weismanns Aufsätzen über die Vererbung und verwandte biologische Fragen, Seite 248.
    9) "Bemerkungen zu einigen Tagesproblemen", ebenda Seite 643f
    10) "Über die Dauer des Lebens", a. a. O., Seite 40
    11) a. a. O., Seite 41.
    12) Wenn wir vorher von einem relativ Historischen zweiter und dritter Ordnung gesprochen haben, so besitzen diese Zahlen natürlich keinen absoluten Wert, sondern sollen nur ausdrücken, daß das eine Historische von mehr oder weniger hoher Ordnung ist als das andere. Erst in einem unter diesem Gesichtspunkte bis ins Einzelne vollkommen ausgeführten Systeme der Naturwissenschaften könnte man die verschiedenen Gebiete der Untersuchung durch Zahlen kennzeichnen und ihnen dadurch ihre Stellung im Systeme anweisen. Doch würde auch dann noch eine neu enstehende Spezialwissenschaft jederzeit den absoluten Wert der Zahlen zu ändern vermögen.
    14) Vom Standpunkt einer die gesammte Wirklichkeit umfassenden Metaphysik könnte eventuell auch nach einer Entstehung der psychischen Vorgänge überhaupt, also auch der einfachen Empfindungen gefragt werden, aber es wäre dann eine Frage nach der Entstehung der "letzten" körperlichen Dinge ebenso möglich. Doch hat es kein Interesse, diese Möglichkeit hier näher zu erörtern. Die Frage nach der Entstehung des Psychischen aus dem Physischen hat jedenfalls in der Naturwissenschaft keinen Sinn, nicht weil beide als empirische Wirklichkeiten sich von einander prinzipiell unterscheiden, sondern weil der mechanische Begriff des Physischen mit dem des Psychischen unvereinbar ist.