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AUGUST MESSER
Einführung in die Erkenntnistheorie
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"In allen Wahrnehmungen - und Analoges gilt für deren Reproduktionen in der Erinnerung - ist ein  Denken enthalten, da sie alle auf etwas  Gegenständliches gerichtet sind und so der Begriff eines Objektes überhaupt in ihnen wohnt."

"Daß uns alles Existierende begreiflich sein muß, ist selbst kein denknotwendiger Satz, es ist das ebenfalls nur eine Voraussetzung, und somit kommt auch dem Kausalsatz nur der erkenntnistheoretische Wert einer Voraussetzung zu."

III. Kapitel
Der Ursprung der Erkenntnis

1. Rationalismus, Empirismus,
Kritizismus

Wir sahen: das Ziel des Denkens ist die Bestimmung seiner Gegenstände in allgemeingültigen Urteilen. Aber woher gewinnt das Denken seinen Inhalt und seine Gültigkeit? Diese Frage wird gewöhnlich als die nach dem "Ursprung der Erkenntnis" bezeichnet. In den Beantwortungen, die sie gefunden hat, lassen sich drei Richtungen unterscheiden: der Rationalismus, der Empirismus und der Kritizismus.

Der erstere behauptet: alle Erkenntnis, die wirklich diesen Namen verdient, stammt aus dem Denken oder, was dasselbe sagt: aus der  Vernunft;  denn mit "Vernunft" (ratio) bezeichnet man das Vermögen des Denkens. Diese Erkenntnis gilt a priori, d. h. unabhängig von der Erfahrung. Was die Erfahrung, insbesondere die sinnliche Wahrnehmung liefert, ist unklar, verworren, ja vielfach trügerich und enthält jedenfalls keine Bürgschaft der Wahrheit.

Der Empirismus dagegen behauptet: die Quelle aller Erkenntnis wie die Grundlage ihrer Gültigkeit ist die Erfahrung (die "Empirie").

Um die große Bedeutung einigermaßen zu verstehen, die der Gegensatz des Rationalismus und Empirismus in der Geschichte der Philosophie gehabt hat, ist zu beachten, daß sich dabei der Streit zugleich um die Grenzen der menschlichen Erkenntnis und damit um die Möglichkeit einer Metaphysik drehte. Diese philosophische Diszipline sucht den Grundbestand des Wirklichen, die letzten Ursachen des Seins und Geschehens festzustellen, um damit die Fundamente einer Weltanschauung zu gewinne. Gibt es einen Gott? ist unsere Seele unsterblich? ist unser Wille frei? - das sind metaphysische Probleme. Solche Fragen aber pflegen die Menschen im Innersten zu bewegen. Der Rationalismus ist in gewissem Sinne eine Fortsetzung der scholastischen Philosophie des Mittelalters, die sich als Dienerin des religiösen Glaubens und der Theologie ansah. Für sie stand also von vornherein fest, daß ein persönlicher Gott existiert, daß die Seele unsterblich ist. Aber die Erfahrung, insbesondere die Sinneswahrnehmung kann uns das nicht lehren. Demnach - so war jene Philosophie überzeugt - kann sie nicht die eigentliche Quelle der menschlichen Erkenntnis bilden. Das menschliche Denen, die Arbeit mit Begriffen, Urteilen, Schlüssen schien da viel leistungsfähiger zu sein. Nehmen wir z. B. den Begriff der Welt vor. Daß es eine Welt gibt, ist nicht denknotwendig, es ist rein tatsächlich und insofern zufällig so. Der Begriff eines zufällig existierenden Wesens weist aber zwingend hin auf den eines notwendig existierenden Wesens, dessen Bestehen von nichts außer ihm abhängt, d. h. eben Gottes. Nicht weniger läßt sich aus der Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welt erschließen, daß ein allmächtiges und allweises Wesen ihr Schöpfer und Erhalter ist. Ebenso kann aus dem Begriff der  Seele  als einer immateriellen, einfachen Substanz abgeleitet werden, daß sie unzerstörbar, also unsterblich sein muß. Der Bestätigung durch die Erfahrung, so meinte man, bedürfen solche Erkenntnisse gar nicht; sie gelten a priori. Ja, viele Rationalisten neigten dazu, Begriffe wie  Gott, Seele, Substanz, Kausalität auch ethische, mathematische Grundsätze als angeboren (zumindest ihrem Keim nach) zu erklären und sie auch in diesem Sinn als a priori, als vor aller Erfahrung vorhanden, anzusehen. Die Empiristen aber verurteilten solche metaphysischen Spekulationen als unfruchtbare Begriffsspielereien. Sie betonten ferner: gäbe es angeborene Begriffe und Sätze, so müßten sie sich bei allen Menschen, auch bei Wilden und Kindern aufweisen lassen. Das ist aber unmöglich. Ist demnach nichts angeboren, ist die Seele also bei der Geburt sozusagen ein unbeschriebenes Blatt, so kann nur durch Erfahrung, d. h. durch sinnliche oder Selbst-Wahrnehmung, irgendeine Erkenntnis in sie gelangen. Aber dann - so schloß man weiter - kann diese Erkenntnis, die ganz aus der Erfahrung stammt und durch sie ihre Gültigkeit hat, auch nie über den Bereich der Erfahrung hinausdringen. Eine Metaphysik als ein Wissen vom dem jenseits aller Erfahrung Liegenden ist unmöglich.

Vertreten ist der Rationalismus in der neueren Philosophie hauptsächlich durch DESCARTES (1596-1650), SPINOZA (1632-1677), LEIBNIZ (1646-1716), FICHTE (1762-1814), HEGEL (1770-1831); der Empirismus durch LOCKE (1632-1704), BERKELEY (1685-1753), HUME (1711-1776).

Der Kritizismus endlich - der Ausdruck ist hier natürlich in einem anderen Sinn gebraucht als im zweiten Kapitel - ist durch KANT begründet. Er unternimmt es, Rationalismus und Empirismus zu einer höheren Einheit zusammenzuschließen, indem er zu zeigen versucht, daß schon in der Erfahrungserkenntnis selbst apriorische Elemente enthalten sind, daß diese aber für sich allein keine wirkliche Erkenntnis bieten, und daß unser Erkennen somit auf den Bereich der Erfahrung beschränkt bleibt.

In der Gegenwart ist KANTs Kritizismus in bedeutsamer Weise durch HERMANN COHEN fortgebildet werden. -

Die Frage nach dem "Ursprung" der Erkenntnis muß, wenn nicht psychologische und logisch-erkenntnistheoretische Betrachtung durcheinander gehen soll, in zwei Fragen zerlegt werden die erste, psychologisch-genetische lautet: welches ist der Ursprung der Erkenntnis im einzelnen Subjekt, d. h. wie gelangt der Mensch zu seinem Wissen; die zweite, logisch-erkenntnistheoretische hat den Sinn: welchen Ursprung hat die Erkenntnis ihrer Geltung nach; worauf ruht diese? Dabei kommt nur der Inhalt der Erkenntnis, losgelöst von allen erkennenden Subjekten, in Betracht.


2. Der Erkenntnisursprung im
psychologisch-genetischen Sinn.

Wir verstehen unter "Erfahrung" den Inbegriff der äußeren und inneren Wahrnehmungen und das darauf beruhende Wissen. Äußere Wahrnehmung ist eine solche, bei der wir Gegenstände im Raum mit Hilfe von Sinnesempfindungen erfassen, innere Wahrnehmung diejenige, durch die wir unserer eigenen Erlebnisse (Vorstellungen, Urteile, Gefühls- und Willensakte) inne werden. Zur Erfahrung dürfen wir auch alles rechnen, was wir durch die Mitteilung anderer, also auch Unterricht, Lektüre usw. aufnehmen. Fassen wir den Begriff der Erfahrung in dieser Bedeutung, so kann es nicht zweifelhaft sein, daß der weitaus überwiegende Teil unseres Wissen in ihr seinen Ursprung hat. Die Annahme, daß bestimmte Begriffe oder Sätze uns angeboren sind, ist schon durch LOCKE mit aller Gründlichkeit widerlegt worden. Es wäre also lediglich für dasjenige Wissen die Quelle im "Denken" zu suchen, das wir durch eigenes Nachsinnen gefunden haben, indem wir empirisch aufgenommene Inhalte unterschieden, zergliederten, verknüpften und Folgerungen daraus zogen. Dabei wäre keine scharfe Grenzlinie zwischen dem aus der "Erfahrung" und dem aus dem "Denken" stammenden Wissen für alle Individuen zu ziehen, da der eine Erkenntnisse durch eigenes Nachdenken gewonnen haben könnte, die der andere der Wahrnehmung oder Mitteilung verdankt.

Denken wir bei unserer Frage nach dem Ursprung der Erkenntnis nicht an den Wissenserwerb des Durchschnitts-Individuums, sondern an den des Forschers, der zugleich den Erkenntnisbesitz der Menschheit vermehrt, so ist es unverkennbar, daß hier das Nachdenken eine weit größere Rolle spielt. Gewiß muß uns in den Natur- wie in den Geisteswissenschaften die Erfahrung den eigentlichen Stoff liefern, gewiß können auch zufälige Wahrnehmungen uns so manche Bereicherung des Wissens bieten, aber alle planmäßige Naturbeobachtung wird von gewissen vorbereitenden Erwägungen und Fragestellungen ausgehen, in besonderem Maß, wenn sie sich des Experiments als Hilfsmittel bedient. Was ist für die Erscheinung wesentlich, was nicht? Wie läßt sie sich in Elemente zerlegen? Wie können durch Variation die einzelnen Bedingungen in ihrem Einfluß auf die Erscheinung festgestellt werden? Wie ist es möglich, diesen Einfluß quantitativ exakt zu bestimmen? Das sind alles Fragen, die eine Denkarbeit erfordern, nicht bloß zu ihrer Beantwortung, sondern auch dazu, daß sie im einzelnen Fall richtig gestellt werden. Nicht weniger ist es Sache des Denkens, Hypothesen über den realen Sachverhalt, der dem unmittelbar Wahrgenommenen (den "Erscheinungen") zugrunde liegt, aufzustellen. Solche Hypothesen geben der Beobachtung und dem Experiment Ziel und Richtung und regen uns zum Aufsuchen neuer Tatsachen an, die als Prüfstein der Hypothese dienen sollen.

Eine ähnliche Rolle spielt das Denken in den Geisteswissenschaften. Es genügt hier ein Hinweis auf die Geschichte: Wie muß da durch Denkarbeit das historisch Bedeutsame ausgesondert, ein Zusammenhang in das Tatsachenmaterial gebracht, durch Vermutung und Kombination der oft trümmerhafte Bestand der Überlieferung ergänzt werden! -

Mit der Unterscheidung zwischen "Erfahrung" und "Denken", wie wir sie bis jetzt zugrunde gelegt haben, kann sich allerdings die wissenschaftliche Psychologie nicht zufrieden geben. Mit beiden Ausdrücken sind Inbegriffe von sehr komplizierten Gebilden und Vorgängen bezeichnet. Die psychologische Analyse sucht sie zu zerlegen, um einen Überblick über die Elemente der Bewußtseinsinhate zu erlangen. Dabei ergeben sich zwei Hauptklassen solcher Elemente. Die erste bilden die "Empfindungen" und ihre Reproduktion, d. h. einfache Inhalte anschaulicher Art, wie grün, gelb, bitter, hart, Ton  C  usw. Während diese im Bewußtsein sozusagen schlicht und einfach da sind, sind die Elemente der zweiten Klasse, die "Akte" oder "Funktionen", diejenigen (unanschaulichen) Momente an den Ereignissen, vermöge deren wir auf etwas Gegenständliches gerichtet sind, entweder lediglich vorstellend und beurteilend oder zugleich fühlend und wollend (9). Bezeichnen wir diese Funktionen, da vermöge ihrer überhaupt erst "Gegenstände" ("Objekte") für uns da sind, als "vergegenständlichend" oder "objektivierend", so enthält offenbar schon jede Wahrnehmung eine solche objektivierende Funktion; denn in ihr "meinen" wir ja etwas Gegenständliches. Lediglich der Umstand, daß dieser Gegenstand sozusagen leibhaftig unserem Bewußtsein gegeben ist, beruth auf den Empfindungen. Zergliedere ich z. B. die Wahrnehmung des vor mir liegenden Blattes, so finde ich als denjenigen einfachen Bestandteil, der sich zunächst am meisten dem Bewußtsein aufdrängt, das Weiß-Moment. Es hat eine gewisse räumliche Ausdehnung und Form, und ich kann es natürlich, räumlich genommen, noch weiter zerlegen, nach seiner Qualität aber, d. h. eben nach seinem spezifischen Charakter als Weiß, ist es einer weiteren Analyse nicht zugänglich, und darum darf es insofern als "einfacher" Inhalt, als Bewußtseinselement  bezeichnet werden. Meine Wahrnehmung besteht aber nicht lediglich in dieser Weiß-Empfindung - sie isoliere ich erst in einer künstlichen Abstration -, ich bin vielmehr auch auf einen Gegenstand innerlich gerichtet, eben auf dieses Blatt, das die Eigenschaft hat, weiß zu sein. Wäre das Weiß nicht da, so wäre nichts vorhanden, was ich anschauen könnte: das Etwas, das die Eigenschaft hat, weiß zu sein, kann ich nicht für sich sehen. Und doch denke ("meine") ich in diesem Blatt nicht lediglich das Weiß, sondern ein (relativ) bleibendes Etwas, das Träger dieser und noch manch anderer Eigenschaft ist, das auch existiert, wenn ich es nicht wahrnehme und das schließich zu dem ganzen Wirklichkeitszusammenhang gehört. Dieses Etwas ist mir nicht "anschaulich" gegeben, es ist bloß "gedacht", vorausgesetzt, daß ich es in der Abstraktion von dem "Weiß" unterscheide. Oder - um ein anderes Beispiel anzuführen - ich sehe auffallende Tropfen und höre das dadurch verursachte Geräusch: beides ist mir also anschaulich gegeben, aber die "Verursachung" sehe oder höre ich nicht, sie muß ich hinzu "denken".

Die Beispiele zeigen uns auch, daß wir uns in einem ausreichenden Einklang mit dem allgemeinen Sprachgebrauch befinden, wenn wir die "vergegenständlichenden Akte" als "Denken" bezeichnen. Auch mit KANT befinden wir uns dabei in terminologischer wie sachlicher Übereinstimmung. So erklärt er z. B.:
    "Mittels der Sinnlichkeit werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungenm durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe."
Ferner:
    "Durch bloße Anschauung wird gar nichts gedacht, und daß diese Affektion der Sinnlichkeit in mir ist, macht gar keine Beziehung von dergleichen Vorstellung auf irgendein Objekt aus."
Schließlich:
    "Die Empfindungen der Farben, Töne und Wärme ... lassen ansich kein Objekt erkennen."
Demnach ist insofern schon in allen Wahrnehmungen - und Analoges gilt für deren Reproduktionen in der Erinnerung - ein "Denken" enthalten, da sie alle auf etwas "Gegenständliches" gerichtet sind und also der Begriff eines Objektes überhaupt in ihnen wohnt. In dieser Allgemeinheit ist der Objektbegriff freilich nur dann im Bewußtsein, wenn wir lediglich ein ganz unbestimmtes "Etwas" wahrnehmen. Wenn wir dagegen Dinge, Eigenschaften, Zustände, Vorgänge, Beziehungen wahrnehmend erfassen, so spielen dabei schon weniger allgemeine Formen des Gegenstandsbegriffs mit; noch speziellere Begriff liegen vor wenn wir z. B. ein Haus, einen Menschen usw. als Haus, als Menschen oder als diese bestimmte Person erkennen. Auch ganze "Urteile" sind Wahrnehmungen immanent; denn man kann nicht bloß einzelne Dinge und Vorgänge usw., sondern auch ganze Sachverhalte wahrnehmen, z. B. daß das Barometer gefallen ist.

In noch höherem Maße zeigt sich der Anteil des "Denkens" an der "Erfahrung", wenn man diesen Terminus nicht sowohl auf die Wahrnehmungen von einzelnen Dingen, Vorgängen und Sachverhalten bezieht, sondern auf die allgemeinen Urteile, die aufgrund solcher Wahrnehmungen gefällt werden, also auf das Wissen, das wir den Wahrnehmungen verdanken. So ist es eine "Erfahrung" daß Wasser bei einer bestimmten Temperatur gefriert; oder daß im Frühjahr die Bäume ausschlagen.

So erweist sich uns das, was wir vorhin vorläufig und summarisch als "Erfahrung" bezeichneten as ein Zusammengesetztes aus anschaulichen und unanschaulichen Elementen, aus Empfindungen (und ihren Reproduktionen) und objektivierenden Funktionen. Aber auch das, was wir früher "Denken" nannten, besteht nicht lediglich aus unanschaulichen Funktionen. Auch bei stillen Nachdenken spielen Empfindungen (vielfach in reproduzierter Form) eine Rolle: aus solchen bestehen ja die Worte, in die wir in der Regel auch beim einsamen Überlegen und Sinnen unsere Gedanken kleiden: mögen es nun optische oder akustische Wortvorstellungen sein oder mögen infolge leichter Innervationen [Nervenimpulse - wp] unserer Sprachmuskeln Bewegungsempfindungen entstehen. Dazu kommt nun noch, daß vielfach anschauliche Sachvorstellungen unser Denken begleiten, ja bisweilen unentbehrlich für seinen Fortgang sind. Ob es überhaupt ein Denken gibt, bei dem weder Worte noch Sachvorstellungen vorhanden sind, bei dem also die anschaulichen Elemente völlig fehlen, das darf zur Zeit zumindest als eine offene Frage bezeichnet werden.

Das Ergebnis unserer genaueren Analyse ist also, daß "Erfahrung" und "Denken" in dem Sinne, wie wir sie zu Beginn dieser Erörterungen faßten und wie sie in der Philosophie auch meist befaßt werden, nicht zwei in der Psychologie brauchbare Klassenbegriffe darstellen. Aber vielleicht wird man es ratsam finden, daß wir die Begriffe "Empfindungen" und "Funktionen" dafür einsetzen. Indessen ist das in der Frage nach dem Ursprung der Erkenntnis, die uns hier beschäftigt, jedenfalls nicht in dem Sinne angängig, daß wir darunter selbständige Erkenntnisquellen verstehen. Nur durch die isolierende Abstraktion sind wir ja zu diesen beiden Klassen von Elementen gelangt, und in allen Erlebnissen des Erkennens - abgesehen von seltenen, und dazu noch umstrittenen Ausnahmefällen - sind Bestandteile der beiden Arten vertreten.

Wenn wir also die von Rationalismus und Empirismus einseitig bewerteten Erkenntnisquellen "Denken" und "Erfahrung" in einer  psychologischen  Bedeutung auffassen, so löst sich uns bei schärferer Analyse der vermeintliche Gegensatz auf, und an seine Stelle tritt die Unterscheidung zweier Arten psychischer Elemente, die durchgehends beim Erkennen zusammenwirken, mag auch bald die eine, bald die andere Art überwiegen.


3. Der Erkenntnisursprung im
logisch-erkenntnistheoretischen Sinn.

Wie wir bereits früher sahen, kann noch in einem anderen Sinn vom "Ursprung" der menschlichen Erkenntnis geredet werden. Um diesen zweiten Sinn im Unterschied vom psychologischen klar zu stellen, betrachten wir ein einfaches Beispiel. Wenn ein Kind bei der Wahrnehmung von zwei Reihen Nüssen, Äpfeln oder Kugeln einer Rechenmaschine zu der Erkenntnis gelangt, daß  6 + 6 = 12  ist, so ist es auf dem Weg der Erfahrung zu dieser Einsicht gekommen. Es kann dieser Satz auch von ihm so erworben werden, daß es ihn einfach seinem Lehrer oder seinem Rechenbuch glaubt und sich einprägt. Das sind Unterschiede, die den Psychologen interessieren, der etwa die Entwicklung mathematischen Wissens und der Rechenfähigkeit im Kind genetisch verfolgt.

In eine ganz andere Betrachtungsweise führt uns dagegen die Frage, worauf Geltung des Satzes  6 + 6 = 12  beruth, welches - in diesem anderen Sinn - der "Urpsrung" dieser Erkenntnis ist. Hierbei wird der Satz (von denkenden Individuen losgelöst) in der Weise aufgefßt, wie wir sie als die "logische" kennen gelernt haben, und die Fragestellung erfolgt aus einem erkenntnistheoretischen Interesse. Die psychologisch-genetische Analyse ergibt für uns dafür keine Aufschlüsse; denn augenscheinlich ruht die Geltung des Satzes nicht darauf, daß eine Anzahl Dinge wahrgenommen wird, oder daß dieser oder jener Mensche ihn gesagt hat, oder daß er in einem bestimmten Buch steht; sie ist vielmehr darin begründet, daß wir bestimmte Begriffe geschaffen haben, zu deren Bezeichnung die Ziffern und Operationszeichen, wie  +, -,  dienen und daß wir mit diesen Begriffen bestimmte Kombinationen vornehmen, die uns die zwischen ihnen bestehenden Verhältnisse erkennen lassen. Die dabei sich ergebenden Sätze ruhen im letzten Grund auf jenen von uns geschaffenen Begriffen; sie sind insofern "denknotwendig"; denn wollten wir sie nicht anerkennen, so müßten wir jenen Begriffen und damit uns selbst widersprechen. Darum gelten auch solche Sätze a priori, d. h. unabhängig von der Erfahrung. Um die Gültigkeit des Satzes von  6 + 6 = 12  zu stützen, brauchen wir nicht erst die Erfahrung zu befragen, vielmehr wissen wir von vornherein, daß in allen Fällen, wo wir 2 Gruppen von je 6 Dingen wahrnehmen, 12 Dinge vorhanden sind, und wenn man Arithmetik auf "Zählerfahrungen", Geometrie auf "Meßerfahrungen" gründen will, so ist dies nur wieder eine Verwechslng der logisch-erkenntnistheoretischen Frage nach dem Grund der Geltung [ssala] mit der psychologisch-genetischen nach dem Erkenntniserwerb der Individuen.

Noch ein weiteres Beispiel sei in Kürze vorgeführt. Es kann mir an einer bestimmten Schlußfolgerung, die ich höre oder lese, einleuchten, daß aus Prämissen von der Form: Alle  M  sind  P;  alle  S  sind  M  folgt: Alle  S  sind  P,  aber die Geltung dieser Schlußform ruht für mich nicht auf dieser Erfahrung, sondern ist im Verhältnis der Denkinhalte selbst begründet.

Faßt man nun die Frage nach dem "Ursprung" der Erkenntnis in einem logisch-erkenntnistheoretischen Sinn, so könenn wir mit gutem Grund "Denken" und "Erfahrung" als zwei verschiedene Erkenntnisquellen bezeichnen. Auf eine psychologische Analyse der Denk- und Erfahrungs- (bzw. Wahrnehmungs-)vorgänge kommt es in diesem Fall gar nicht an. Im "Denken" haben dann diejenigen Sätze ihren "Ursprung", die man bloß zu verstehen, also zu denken braucht, um sie als gültig anzuerkennen, oder - anders ausgedrückt - deren Ungültigkeit uns undenkbar erscheint. Dabei ist die Notwendigkeit oder Unmöglichkeit des Denkens, die wir solchen Sätzen gegenüber erleben, keine blinde, kein von irgendeiner geheimnisvollen Macht auf uns ausgeübter Zwang, sondern etwas ganz Einleuchtendes, Klares, Evidentes, mit den Denkinhalten selbst Gegebenes. Solche Sätze bedürfen darum auch nicht erst der Ableitung aus der Erfahrung oder der Bestätigung durch diese, sie gelten vielmehr unabhängig von ihr, also a priori. Ihren "Ursprung" in der Erfahrung haben dagegen diejenigen Sätze, die wir deshalb als gültig anerkennen, weil wir oder andere einen bestimmten Sachverhalt wahrnehmen oder wahrgenommen haben; sie gelten also aufgrund der Erfahrung, also a posteriori [nachher - wp].

LEIBNIZ hat bereits für die beiden großen Klassen, in die sich so die Urteile ihrer Geltung nach zerlegen lassen, die bezeichnenden Ausdrücke  vérités de raison  und  vérités de fait  ("Vernunftwahrheiten" und "rein tatsächliche Wahrheiten") geprägt.

Aus Sätzen der ersten Art, die also a priori gelten, bestehen die sogenannten  Ideal-(oder Formal-)wissenschaften, wie reine Mathematik und reine Logik. In ihnen sind die Gegenstände bloß gedachte, "ideale", und ihre Sätze gestatten zugleich wegen ihres formalen Charakters eine Anwendung auf sehr verschiedene Materien. Da wir diese idealen Gebilde, wie Zahlengrößen, geometrische Figuren, Wort- und Satzbedeutungen, selbst schaffen, und da wir bei allem Operieren damit die einmal geschaffenen Gebilde in strenger Identität festhalten, so können wir auch die mannigfachsten Verhältnisse zwischen ihnen erkennen, und so zahllose Sätze aufstellen und Folgerungen ziehen, die lediglich in diesen Denkinhalten selbst begründet sind, die darum auch a priori gelten und deren Bestätigung oder Widerlegung von der Erfahrung zu erwarten, sinnlos wäre.

In den  Real wissenschaften dagegen, wo wir - nach der gewöhnlichen Auffassung zumindest - eine vom Subjekt verschiedene Realität zu bestimmen suchen, können wir keine allgemeingültigen Sätze a priori aufstellen, hier gelangen wir günstigstenfalls zu empirisch-allgemeingültigen Sätzen, deren Geltung auf Erfahrung ruht und nur so weit reicht, als die Erfahrung sie bestätigt. Denn woher sollte man etwas über eine solche von uns unabhängig existierende Wirklichkeit wissen, es sei denn aus der Erfahrung?

Wenn man innerhalb der Realwissenschaften zwischen "Gesetzen" und "Tatsachen" unterscheidet, so gehören doch beide zu den  vérités de fait.  Daß Körper ohne Unterlage fallen, ist ebenso etwas Faktisches, wie daß die Entfernung des Mondes vom Erdmittelpunt etwa 60 Erdhalbmesser beträgt. Nur wird in der Formulierung der Gesetze lediglich das Allgemeine beachtet und auf das einzelne Faktum keine Rücksicht genommen. Daß über Naturgesetze gelten, ist selbst etwas bloß Tatsächliches, nichts a priori Feststehendes; ebenso, daß es eine reale Welt gibt, in der sich die Vorgänge den Naturgesetzen entsprechend abspielen.

Wenn nun aber aus solchen Naturgesetzen für zukünftige Fälle, von denen wir noch keine Erfahrung haben können, also a priori, gewisse Folgerungen gezogen werden, so gelten diese doch nicht a priori im eigentlichen und strengen Sinn; denn die Sätze selbst, in denen wir die sogenannten Naturgesetze aussprechen, ruhen ja lediglich auf der Erfahrung; ihnen fehlt gerade das spezifische Merkmal, das die wirklich a priori geltenden Sätze charakterisiert: die Denkunmöglichkeit des Gegenteils. Auch ein in zahllosen Fällen bewährtes Naturgesetz bleibt vérité de fait; es leugnen, schließt keinen Selbstwiderspruch, keine logische Absurdität ein.

So behält hinsichtlich der Formalwissenschaften der Rationalismus recht: ihre Sätze gelten wirklich in einem strengen Sinn a priori, sie haben also ihren "Ursprung" im "Denken", in der "Vernunft". Hinsichtlich der Realwissenschaften aber behauptet der Empirismus das Feld: hier ist die "Erfahrung" die Quelle der Erkenntnis; diese gilt also a posteriori. Jene Sätze aber, die wir aufgrund der seitherigen Erfahrung über den zukünftigen Verlauf der Dinge aufstellen, sollte man überhaupt nicht als a priori geltende bezeichnen, da hierdurch der eigentliche Sinn dieses Begriffs getrübt wird.

Damit soll freilich nicht gesagt sein, daß dem Begriff "a priori" für die Erfahrung selbst und den auf ihr ruhenden Realwissenschaften keinerlei Bedeutung zukäme. Allerdings müssen wir dabei den Inhalt dieses Begriffs wesentlich anders fassen, als in unseren seitherigen Betrachtungen. Was in ihnen a priori gilt, waren Sätze, ja ganze Disziplinen (die Formalwissenschaften), also jedenfalls in sich vollständige Erkenntnisse. Nun aber handelt es sich darum, apriorische Faktoren in den Erfahrungswissenschaften aufzuweisen: Erkenntnis faktoren,  nicht Erkenntnisse, also Begriffe und Sätze, die nicht schon für sich eine Erkenntnis (der Realität) enthalten, aber die unentbehrliche Komponenten in der Erfahrungserkenntnis darstellen. Als a priori bezeichnet man nämlich hier, was die Erfahrung selbst bedingt, ermöglicht.

Ein Beispiel wird die Sache verdeutlichen. Damit Veränderungen für uns begreiflich werden, müssen wir sie auf ihre Ursachen zurückführen. Wir setzen darum a priori voraus, daß jede Veränderung ihre Ursache hat. Dieser Satz gilt in seiner Allgemeinheit nicht etwa auf Grund der Erfahrung (a posteriori); denn dann müßten wir seine Gültigkeit schon an allen überhaupt möglichen Erfahrungen erprobt haben. Freilich brauchen wir andererseits auch nicht zu fürchten, er könne von der erstbesten Erfahrung widerlegt werden. Wenn wir nämlich zu einer Veränderung keine Ursache auffinden könnten, so würden wir uns nicht damit zufrieden geben, daß sie ursachlos ist, sondern wir würden annehmen, daß uns die Ursache vorläufig noch unbekannt ist. Insofern gilt also der Satz unabhängig von der Erfahrung (a priori), aber er steht doch andererseits in engster Beziehung zu ihr, er ist sozusagen nur für sie da. Erst dadurch nämlich, daß wir die Voraussetzung machen, daß er schlechthin gültig ist, gelangen wir dazu, eine wissenschaftliche Erkenntnis von den Veränderungen zu gewinnen. Er ermöglicht also an seinem Teil  Erfahrung; er ist eine "Bedingung möglicher Erfahrung".  Wir müssen dabei freilich den Begriff der Erfahrung in dem etwas engeren Sinn der "wissenschaftlichen" Erfahrungserkenntnis nehmen, nicht in dem ungenauen, in dem er bloß unsere Wahrnehmungen und etwa noch das darauf beruhende Wissen zusammenfaßt, denn "wahrnehmen" können wir allerdings ursachlose Veränderungen und insofern auch von diesen eine "Erfahrung" haben.

Wenn wir aber in dieser Weise den Kausalsatz als apriorische Bedingung der Erfahrung ansehen können, so gilt er doch nicht genau in dem Sinn a priori wie etwa Sätze der reinen Mathematik und Logik. Er ist nämlich nicht wie diese denknotwendig, so daß seine Leugnung einen Widerspruch in sich schließt. Der Begriff der "Veränderung" nämlich enthält den Begriff der "Ursache" noch nicht in sich, so daß wir dem Inhalt dieses Begriffs widersprechen würden, wenn wir von einer Veränderung aussagen, daß sie keine Ursache hat. Nur würden wir freilich von einer solchen Veränderung keine wissenschaftliche Erkenntnis gewinnen können, sie wäre uns das reine Wunder, ihr gegenüber stände uns sozusagen der Verstand still. Aber daß alles Existierende uns begreiflich sein muß, ist selbst kein denknotwendiger Satz, es ist das ebenfalls nur eine Voraussetzung, und somit kommt auch dem Kausalsatz nur der erkenntnistheoretische Wert einer Voraussetzung zu.

Auch dadurch unterscheidet er sich von den mathematischen und logischen Sätzen, als diese in sich vollständige und vollgültige Erkenntnisse darstellen - natürlich Erkenntnisse von der Art, wie sie überhaupt in den Idealwissenschaften enthalten sind, d. h. Erkenntnisse von bloß gedachten Gegenständen. Der Kausalsatz dagegen steht nicht einfach in der Reihe der Erfahrungserkenntnisse. Daß Reibung Erwärmung verursacht, ist eine solche Erfahrungserkenntnis. Auch wenn dieser Satz nicht gelten würde, so könnten die Menschen doch wissenschaftliche Erfahrung besitzen. Daß dagegen jede Veränderung ihre Urache hat, ist eine Voraussetzung allgemeinster Art, von deren Gültigkeit es überhaupt abhängt, ob wir Erfahrungserkenntnis haben oder nicht. Auch sagt uns der Satz bei keiner bestimmten Veränderung, welches die Ursache ist, er gibt uns nur die Anweisung, nach seiner solchen zu suchen, und verleiht uns die Zuversicht, daß sie auch zu finden ist. Er steht also in einem Verhältnis logischer Priorität zu den empirischen Sätzen mit bestimmterem Inhalt, und somit darf gesagt werden: er gilt im Vergleich zu ihnen a priori, wenn auch dieser Begriff des a priori wohl zu unterscheiden ist von demjenigen der Formalwissenschaften.

KANT ist es gewesen, der dem Empirismus gegenüber die Bedeutung der apriorischen Faktoren für die Erfahrungserkenntnis selbst (als "Bedingungen möglicher Erfahrung") aufgewiesen hat (wenn auch nicht ganz in dem eben dargelegten Sinn). Er hat Raum, Zeit, die zwölf Kategorien (Substanz, Kausalität usw.) und die sie enthaltenen Grundsätze als a priori geltend bezeichnet. Er hat aber die Unterscheidung von zwei Arten apriorischer Geltung, zu der wir uns genötigt sahen, nicht, oder zumindest nicht klar vollzogen, und so ist es bei ihm auch nicht zu einer reinlichen Trennung von Formal- und Realwissenschaften gekommen. Er hat außerdem unter den Realwissenschaften lediglich die mathematische Naturwissenschaft auf ihre apriorischen Faktoren hin untersucht. Aber die von ihm aufgeworfene Frage nach dem a priori hat eine darüber hinausgehende Bedeutung. Es ist eine wichtige Aufgabe der Erkenntnistheorie, für  alle  Ideal- und Realwissenschaften festzustellen, welche Begriffe und Sätze für sie a priori gelten, in dem Sinne, daß sie diese Disziplinen überhaupt erst ermöglichen. Die Erfahrung behält deshalb doch ihr Recht, sie ist die Quelle für allen Stoff unserer Realwissenschaften. Aber daß wir überhaupt Erfahrungssätze aufstellen können, die für diese oder jene Wissenschaft bedeutsam sind, dazu bedarf es (wie wir schon in Kapitel I 1. sahen) bestimmter Gesichtspunkte, bestimmter Fragestellungen, bestimmter Voraussetzungen. Diese stehen im Verhältnis logischer Priorität zu den Einzelsätzen der Wissenschaften und gelten insofern a priori - zwar nicht absolut a priori, aber doch relativ, nämlich im Verhältnis zu den eigentlichen Erfahrungssätzen. Auch stellen sie nicht selbst Erkenntnisse dar, sondern sie dienen lediglich dazu, eine Erfahrungserkenntnis zu ermöglichen, und in der Wechselwirkung mit der fortschreitenden Erfahrung können sie ausgestaltet und erweitert, aber auch modifiziert und aufgegeben werden.


4. Die Möglichkeit der Metaphysik

Während es dem Geist des Rationalismus entsprach, daß KANT die Bedeutung der apriorischen Faktoren für die Erfahrungserkenntnis enthüllte, so war es nun andererseits im Sinne des Empirismus, daß er diese Bedeutung zugleich auf den Bereich der Erfahrung einschränkte und damit eine apriorische Metaphysik für unmöglich erklärte. Und dieser seiner Ansicht werden wir beipflichten müssen. Wir fassen dabei die Metaphysik als eine Realwissenschaft und zwar als diejenige, deren Ziel es ist, die von uns unabhängig bestehende Wirklichkeit nach ihrem Grundbestand zu erfassen, auch sofern er der unmittelbaren Erfahrung entzogen, ihre transzendent ist. Eine solche Metaphysik kann augenscheinlich nicht apriorisch sein, weder im ersten noch im zweiten Sinn des Begriffes. Im ersten Fall müßte sie ja aus Begriffen und Sätzen bestehen, die zwar denknotwendig wären, die aber auch  nur für gedachte  Gegenstände Geltung beanspruchen könnten; sie wäre dann eine  Real wissenschaft. Im zweiten Fall würde sie keine wirklichen, inhaltlich bestimmten Erkenntnisse enthalten, sondern nur Bedingungen zu solchen Erkenntnissen, gewissermaßen leere Formen, die erst der Ausfüllung bedürften; sie wäre dann überhaupt keine Wissenschaft.

Doch muß hier einer Begriffsverwechslung vorgebeugt werden. Man kann nämlich auch die Wissenschaft, die den apriorischen Gehalt der Einzelwissenschaften untersucht, als "Metaphysik" bezeichnen; auch KANT gebraucht den Namen in dieser Bedeutung. Dann aber ist Metaphysik ein Teil der Erkenntnistheorie; ihr Gegenstand ist nicht das Seiende, nicht die Realität nach ihrem tiefsten Wesen, sondern das menschliche Erkennen und speziell die diesem innewohnenden apriorischen Faktoren. Metaphysik in diesem Sinn hat natürlich KANT nicht für unmöglich erklärt; ja, er hat es als sein eigentliches Lebenswerk angesehen, diese Metaphysik zu schaffen. Was er für unmöglich erklärt, ist Metaphysik als Realwissenschaft, als angebliche theoretische Erkenntnis des Transzendenten. Um aber diese Verwerfung der transzendenten Metaphysik richtig zu würdigen, ist wohl zu beachten: sie bezieht sich im Grund nur auf eine bestimmte Methode, diese Metaphysik aufzubauen, nämlich die apriorische, wie sie am reinsten wohl von SPINOZA angewendet wurde (10). Und in der Tat, diese Methode wird gegenüber KANTs Kritik nicht zu retten sein. Anders aber steht es mit den Versuchen auf empirischem Weg, eine Metaphysik des Transzendenten zu begründen. Es wird sich uns im weiteren Verlauf unserer Betrachtungen zeigen, daß schon die Realwissenschaften in hypothetischer Weise über das unmittelbar Wahrgenommene, aso über die Erfahrung im strengen Sinne, vordringen dadurch, daß sie Realitäten als existierend annehmen und in ihrer Beschaffenheit zu bestimmen suchen, die selbst nicht wahrnehmbar sind. Es ist nun sehr wohl eine Wissenschaft denkbar, die sich auf den einzelnen Realwissenschaften aufbaut und die durch zusammenfassende Bearbeitung ihrer allgemeinsten Ergebnisse noch etwas weiter in der Erkenntnis der Wirklichkeit vorzudringen sucht. Sie würde keine prinzipiell andere Methode anwenden, als die empirische, die sich in den Realwissenschaften bewährt hat, nur würde sie vor allem jene Probleme zu bearbeiten haben, die nicht innerhalb des Rahmens von Einzelwissenschaften erledigt werden können. Eine solche empirische Metaphysik erscheint durchaus als möglich - auch nach KANTs Kritik.
LITERATUR - August Messer, Einführung in die Erkenntnistheorie, Leipzig 1909
    Anmerkungen
    9) Eine nähere Begründung dieser Zweiteiung findet sich in meinem Buch "Empfindung und Denken", Seite 42f.
    10) OSWALD KÜLPE, Immanuel Kant, Leipzig 1907, Seite 107 und CLEMENS BÄUMKER in einem Aufsatz über "Immanuel Kant" in der Zeitschrift "Hochland", 1. Jahrgang 1904, Seite 586f.