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(1872-1942) Die leitenden Grundsätze der Gesetzesinterpretation
2. Die juristische Hermeneutik ist die Kunstlehre von der richtigen Entscheidung der Rechtsfälle für den auf das Gesetz beeideten Richter - sie ist die Methodik der Rechtssprechung; als solche kann sie den juristischen Takt, kann sie Talent und Genie nicht ersetzen und Charakterfehler nicht beseitigen, sie kann aber auf grobe Irrwege aufmerksam machen; gleich einem Leuchtfeuer vermag sie vor den gefährlichsten Klippen zu warnen, aber der sichere Griff des Steuermanns muß das Seinige tun, und wenn einmal ein undurchdringlicher Nebel den Erfolg vereitelt, so darf sie deswegen nicht schlechthin als nutzlos erklärt werden. 3. Die Vernachlässigung der juristischen Hermeneutik läßt sich historisch begreifen. Historisch, d. h. aus der Geschichte der juristischen Disziplin im verflossenen Jahrhundert und historisch und speziell in dem Sinne, daß es der unvorhergesehene Effekt der historischen Schule war, wenn mit der Abwendung von einer oberflächlichen und falschen Naturrechtsphilosophie (1) allmählich die Abneigung gegen jede philosophische Behandlung juristischer Fragen überhandnahm; so konnte dann auch die Hermeneutik, die logische, psychologische, sprachphilosophische und praktisch-ethische Bestandteile aufweist, von einer einseitig historisch geschulten Richtung keine wesentliche Förderung erfahren. Das Wichtigste aber ist, daß die ganze Lehre von der Interpretation gleich durch ihren Begründer, durch SAVIGNY selbst, wie ich darzutun hoffe, in falsche Bahnen gelenkt wurde. Er, dessen unvergängliches Verdienst darin besteht, die Juristen zur Gewinnung "leitender, stoffbeherrschender Grundsätze" mit größtem Nachdruck aufgefordert zu haben, hat selbst den leitenden Grundsatz der Gesetzeshandhabung verfehlt und - wie weiter gezeigt werden soll - im Widerspruch zu seiner ureigensten Lehre verfehlt. 4. Ich muß zunächst an Allbekanntes erinnern: "Die geschichtliche Schule", sagt SAVIGNY (2) "nimmt an, der Stoff des Rechts sei durch die gesamte Vergangenheit der Nation gegeben; doch nicht durch Willkür, so daß er zufällig dieser oder ein anderer sein könnte, sondern aus dem innersten Wesen der Nation selber und ihrer Geschichte hervorgegangen" und an anderer Stelle (3): "Es ist der in allen Einzelnen gemeinschaftlich lebende und wirkende Volksgeist, der das positive Recht erzeugt"; dies läßt SAVIGNY nicht etwa nur vom sogenannten Gewohnheitsrecht gelten, sondern so lehrt er ausdrücklich, "auch das Gesetz ist ein Organ des Volksrechts" und eine Verkörperung des Volksgeistes. 5. Mit dieser Ansicht trat, wie schon der historisch denkende Rechtsphilosoph FRIEDRICH JULIUS STAHL (4) bemerkt, die geschichtliche Schule im Gegensatz gegen die ganze frühere Bildung, zunächst gegen die Lehre vom "künstlichen Machen" der Gesetze, gegen die "pragmatische Ansicht", die alle rechtlichen Normen und Einrichtungen aus planvoller Überlegung und Absicht aus dem freien Willen des Gesetzgebers hatte hervorgehen lassen. Mit SAVIGNYs Ansicht vom Wesen der Gesetze würde daher eine Ansicht vom Wesen der Gesetzesauslegung harmonieren, die von einer pragmatischen Auffassung möglichst weit absteht. BINDING hat darauf hingewiesen, daß von der Erlassung eines Gesetzes bis zu seiner Aufhebung keine Stauung der Rechtsgeschichte eintritt und die Rechtsentwicklung sich in der Form einer Auslegungsgeschichte vollzieht. Infolgedessen lehrte BINDING, das Gesetz denke und wolle, was der vernünftig auslegende Volksgeist aus ihm entnimmt. (5) Dies wäre - mag sie richtig sein oder nicht - eine anti-pragmatische Auffassung der Auslegung, die der anti-pragmatischen Auffassung der Gesetzgebung entsprechen würde. 6. Allein SAVIGNY hat diese Konsequenz nicht gezogen. Er bekundete vielmehr eine durchaus pragmatische Ansicht, indem er lehrte (6), der Interpret müsse sich auf den Standpunkt des Gesetzgebers stellen und dessen Tätigkeit in sich künstlich wiederholen, also das Gesetz in seinem Denken von neuem entstehen lassen. "Rekonstruktion des gesetzgeberischen Gedankens" ist das Losungswort, das bei seinen Nachfolgern nur allzuwillig aufgenommen wurde. 7. Und doch war die historische Schule damit ihrer Grundanschauung vom Wesen der Rechtsentwicklung in doppelter Hinsicht untreu geworden: Einesteils, indem sie die Rechtsentwicklung während der Zeit ruhender Gesetzgebung übersah, andererseits indem sie den gesetzgeberischen Willen zu einem "primären Prinzip" erhob, was den Tendenzen der Schule widersprach. So gelangt SAVIGNY zu dem Satz, man dürfe nach demjenigen, was sich als Gedanke des Gesetzgebers ermitteln läßt, "unbedenklich" den Ausdruck berichtigen, denn der Ausdruck sei bloß Mittel, der Gedanke aber Zweck (7). 8. Die Aufforderung, sich in den Gedanken des Gesetzgebers zu versetzen, ist eine Regel, die SAVIGNY aus der Hermeneutik historischer Urkunden auf das Gebiet der Jurisprudenz - nicht als erster - übertragen hat. Insbesondere die theologische Hermeneutik lehrt noch heute nach jahrhundertelanger Überlieferung: "Intelligere scriptorem is dicendus est, qui idem quod ille dum scribeat cogitavit legens cogitat." [Um einen Schriftsteller zu verstehen, muß man das Gleiche denken wie er, als er sein Schreiben verfaßte. - wp] "Verstehe die Rede, die Schrift so", lehrt ein anderer Theologe, "wie sie der Autor gemeint hat". Bedenken wir die Wort STINTZINGs (8), daß Jurisprudenz und Theologie das ganze Mittelalter hindurch in der engsten Beziehung gestanden haben, weil die Träger der ersteren überwiegend dem Klerus angehörten und überdies die Pflege des kanonischen Rechts beide in unmittelbarste Berührung brachte, so werden wir es begreiflich finden, wenn auch die hermeneutischen Regeln da und dort weniger Verschiedenheit aufweisen, als die Natur der Sache erfordert, daß mit einem Wort der historisch-philologische Gesichtspunkt in beiden vorwaltet. Hierzu kommt, daß hierin weder durch HUGO GROTIUS, noch durch LEIBNIZ, dessen Einfluß auf SAVIGNY (9) offenkundig ist, eine wesentliche Änderung eintrat. So wenig hat man zwischen juristischer und theologisch-historischer Auslegung einen Unterschied zu finden vermocht, daß noch die letzte bedeutendere Hermeneutik des römischen Rechts von LANG (1857) nicht nur theologische und juristische Hermeneuten in bunter Reihe als Gewährsmänner heranzieht, sondern auch die Identität der Grundsätze darzulegen sich bemüht. Insbesondere verweist LANG auf den Theologen GERMAR (10), der dadurch die beste Aufklärung über das Wesen der Hermeneutik gegeben hat, daß er die Leser auffordert, sich klar zu machen, was sie jedesmal tun, wenn ihnen die Aufgabe wird, einen recht unleserlich geschriebenen Brief zu entziffern.
9. Der Erforscher historischer Urkunden hat dem praktischen Juristen die Auslegungsregeln diktiert. Zahlreiche Juristen ersten Ranges sind ihm gefolgt. "Das vom Gesetzgeber Gemeinte ist das wirkliche Gesetz", sagt KIERULFF (11), "man muß sich in die Seele des Redenden versetzen, den Gedanken gewissermaßen in seiner Heimat aufsuchen"; lehrt JHERING (12); "man muß sich möglichst vollständig in die Seele des Gesetzgebers hineinadenken", fordert ganz ähnlich WINDSCHEID. 10. Dieser Auffassung steht eine andere schroff gegenüber, die - was weniger bekannt zu sein scheint - in THIBAUT, dem bekannten Gegner SAVIGNYs, einen energischen Gegner gefunden hat. "Den Untertanen bindet", lehrt THIBAUT in seiner Theorie der logischen Auslegung der Gesetze, "zunächst nichts, als was ihm publiziert ist. Sollte er schuldig sein, aus der Geschichte den Geist der Gesetze zu lernen, so müßten dies die Gesetze vorgeschrieben haben." "Die Gesetze sind für alle Untertanen gegeben; geht man nun von dem Satz aus, daß auch aus historischen Datis der Umfang der Gestze bestimmt werden kann, so ist eben dadurch die Gewißheit des Rechts untergraben ..." 11. Auch THIBAUT hat nicht unbedeutende Gesinnungsgenossen gefunden - allerdings - mit wenigen Ausnahmen, wie z. B. SCHLOSSMANN - zumeist nicht aus dem romanistischen Lager, wo die Autorität SAVIGNYs überwog. Gegen den Willen des Gesetzgebers spricht sich THÖL ist seiner berühmt gewordenen Einleitung in das deutsche Privatrecht aus (13), ihm schließt sich SCHLESINGER an (14), mit geistvoller Beredtsamkeit tritt KOHLER (15), mit Energie BINDING gegen das Hineindenken in die Seele des Gesetzgeber auf; desgleichen JUNG (16), und WACH in seinem "Zivilprozeß" plädiert ebenfalls mit großem Geschick und triftigen Gründen für den Sinn, welcher - wie er sich ausdrückt - dem Gesetz immanent ist. Ich könnte noch andere nennen, wie z. B. DANZ, begnüge mich aber mit dem Hinweis auf ZEILLERs Kommentar, der ebenfalls ausdrücklich "ein dem erklärten Willen des Gesetzgebers angemessene strenge Auslegung des Gesetzes" fordert. 12. Die Frage ist: Gibt es einen leitenden Grundsatz, der zwischen diesen entgegenstehenden Theorien entscheidet? Was spricht für SAVIGNY? Zunächst scheinbar dies: Das Gesetz ist eine Urkunde, eine Beurkundung des gesetzgeberischen Willens; warum soll man also bei ihrer Auslegung anders verfahren als bei jeder anderen Urkunde? Wenn das Ausdrucksmittel verfehlt ist, warum es nicht nach dem historisch nachweisbaren Gedanken oder Willen richtigstellen? Die Antwort lautet: Darum nicht, weil die Aufgabe des Juristen durchaus verschieden ist von der des Historikers und er der Gesetzesurkunde zu einem ganz anderen Zweck als der Erkenntnis historischer Fakta und ihrer Zusammenhänge gegenübersteht. 13. Glücklicherweise ist einer der wenigen Punkte, in dem nahezu alle namhaften Juristen und Rechtsphilosophen einig sind, die Erkenntnis, daß die positive Rechtsordnung des Staates ihre ethische Sanktion darin findet, jedem zurechnungsfähigen Menschen einen Machtbereich, eine Freiheitssphäre zuzugestehen und zu sichern, innerhalb derer er nach besten Kräften im Diens des Guten zu walten hat. (17) Die Vorteile, die darin gelegen sind, daß auf diese Weise der Krieg aller gegen alle vermieden und die Sicherheit von Handel und Wandel ermöglicht wird, sind seit altersher so eindringlich dargelegt worden, daß ich an dieser Stelle gewiß der Wiederholung enthoben bin. Ich begnüge mich daher auch JEREMY BENTHAM zu verweisen, der in seinen scharfsinnigen "Grundzügen der Zivil- und Kriminalgesetzgebung" (18) die Argumente gehäuft hat, welche den Anforderungen der distributiven Gerechtigkeit einräumen. Im Schutz der Rechtsordnung soll jeder mit Sicherheit darauf rechnen können, daß die Verwirklichung seiner praktischen Bestrebungen innerhalb des ihm zustehenden Bereichs von keinem dauernd gehindert werden wird; in dieser Erwartung nicht getäuscht zu werden, dies ist, was JHERING unsere "moralische Existenzbedingung", d. h. die Bedingung unserer moralischen Existenz nennt. 14. Nichts anderes als die Vorteile der erhöhten Sicherheit waren es, die in der Rechtsentwicklung allmählich, aber unaufhaltsam der Rechtsprechung aufgrund staatlich publizierter Gesetze gegenüber der Rechtsprechung aufgrund überlieferter Rechtsüberzeugungen zum Sieg verholfen haben. Wir haben einen jener Fälle natürlicher Zuchtwahl oder Auslese vor uns, die in der Entwicklung gesellschaftlicher Institutionen, wie Sprache, Staat, Geldwirschaft, weit mehr als in der Entwicklung der Organismen das Überleben des Vollkommeneren herbeigeführt haben (19). Die größere Vollkommenheit aber des gesetzlichen Zustandes, bestehend vor allem in der Verminderung der Gefahr richterlicher Willkür und in der sicheren Voraussehbarkeit (20) der richterlichen Entscheidung, liegt für jedermann zutage. In seiner Abhandlung über "Gesetz und Richteramt" sagt BÜLOW:
15. Steht dies fest, so ist das Weitere leicht zu folgern. Soll die Bevölkerung ihre Erwartungen auf das Gesetz gründen können, so muß der Richter das Gesetz nicht so verstehen, wie es gemeint ist, sondern wir jedermann meinen muß, daß es gemeint ist, d. h. der Richter muß es verstehen nach der eigentümlichen Bedeutung, die den Worten und Sätzen in ihrem Zusammenhang dem Sprachgebrauch gemäß zukommt. Weil die sprachübliche Bedeutung einer zusammenhängenden Rede im Großen und Ganzen etwas relativ Feststehendes ist, darum eben wird ja das Gesetz in einer dem Advokaten, Volk und Richter verständlichen Sprache abgefaßt. Was KRASNOPOLSKI in seiner Schrift über den Schutz des redlichen Verkehrs als höheres Prinzip des Rechtssatzes: "Gesetze wirken nicht zurück" bezeichnet, den Satz nämlich: "das berechtigte Vertrauen in die Gesetzgebung" (scilicet in das gegebene Gesetz) "soll nicht getäuscht weden", das ist nach meiner Ansicht das nächste leitende Prinzip für alle Gesetzesanwendung und Auslegung. Jedermann soll vertrauen dürfen, so wie das Gesetz sprachüblich von jedermann verstanden wird, so wird es auch der Richter verstehen.
MENGER hat daher nur die halbe Wahrheit ausgesprochen (23), wenn er in seinem "System des Zivilprozeßrechts die juristische Auslegung in historische und praktische scheidet: Alle juristische Auslegung wird lediglich von praktischen Zwecken und nirgendwo vom Zweck historischer Erkenntnis beherrscht. 17. Man wird den hier vertretenen Standpunkt umso mehr für den richtigen zu halten geneigt sein, je mehr man beachtet, wie er sich in der Lehre von der Auslegung privater Willenserklärungen bewährt. Bekanntlich stehen auch in der Lehre von den Obligationen die sogenannte Willenstheorie und Erklärungstheorie einander gegenüber. Auch hier hat die Willenstheorie, obwohl ebenfalls von SAVIGNY vertreten, bald zahlreiche und bedeutende Gegner gefunden, von denen mir SCHLOSSMANN einer der geistreichsten, BEKKER einer der vorsichtigsten zu sein scheint. In welchem Sinne wurde hier die Entscheidung getroffen? Ich glaube sagen zu dürfen, daß man gegenwärtig in Theorie, Praxis und Gesetzgebung dem Erklärungsmoment umso mehr Beachtung zu schenken begonnen hat, je mehr man auf die berechtigten Interessen Dritter, auf die sogenannte "Sicherheit des Verkehrs", die nichts anderes ist als die Rechtssicherheit, zu achten genötigt wurde, und daß in demselben Maß das Willensmoment zurücksteht, Das Prinzip, das dem Schutz des redlichen Verkehrs anerkanntermaßen zugrunde liegt, kann ich mit dem Wort der vorhin herangezogenen Schrift wiedergeben:
19. Wenden wir dagegen unseren Blick von den Obligationen [Verpflichtungen - wp] auf die letztwilligen Willenserklärungen, auf Testament und Vermächtnis, auf stifterische Widmungsurkunden und dgl., so sehen wir das umgekehrt Verhältnis: der wahre Wille des Erklärenden steht im Vordergrund, hier handelt es sich vorzugsweise um die Rekonstruktion des urheberischen Gedankens, und wenn auch die Urkunde das nächste Rekonstruktionsinstrument bildet, so ist doch die Rücksicht auf einen ganz singulären Sprachgebrauch des Erklärenden, die unzulässig ist, wo die Verkehrssicherheit in Betracht kommt, hier gestattet und geboten: "in testamentis plenius voluntates testantium interpretantur." [In Testamenten sollten die Intentionen der Erblasser vollständig bestimmt werden. - wp] Dieser römische Satz bewährt sich hier, wo kein Verkehrsinteresse gefährdet, vielmehr das Recht des Verfügenden, welches zunächst in Betracht kommt, dadurch gesichert wird. 20. Wenn daher DANZ in seinem Buch über die Auslegung der Rechtsgeschäfte jedes Rechtsgeschäft als ein Gesetz aufzufassen versucht, um hieraus zugunsten der Erklärungstheorie zu argumentieren, so scheitert dieses Unternehmen - abgesehen von der Unzulässigkeit der Konstruktion - an dem Umstand, daß das Willensmoment bei den erwähnten einseitigen Rechtsgeschäften eine Rolle spielt, die ihm beim Gesetz nicht im Entferntesten eingeräumt werden darf. 21. Es könnte einer einwenden: auch bei der Auslegung von Widmungsurkunden, Testamenten oder dergleichen handelt es sich um praktisch-juristische Zwecke und dennoch wird die Hilfe historischer Daten zum Zweck der Erforschung des Willens neben der Urkunde nicht ganz verschmäht. Darauf ist zu antworten: Wohl ist dies richtig, aber nur darum, weil diese Hilfe hier dem zu schützenden Recht selbst zugute kommt. Bei der Auslegung derartiger Urkunden ist der wichtigste Zweck der, das Recht ihres Urhebers auf Realisierung seiner erlaubten Bestrebungen zur Geltung zu bringen, seine Willensdisposition zu wahren. Bei der Auslegung eines Gesetzes aber handelt es sich um die Regelung der Rechte derjenigen, auch welche sich das Gesetz bezieht, nicht um den Schutz der gesetzgeberischen Disposition. Der Satz voluntas legislatoris suprema lex esto [Der Wille des Gesetzgebers sollte oberstes Gesetz sein. - wp]entspricht nicht der heutigen Überzeugung vom Beruf der Gesetzgebung und ist schlechthin verwerflich. Ein Befehl, ein bloßer Willensausdruck, und wäre er auch von Drohungen begleitet, verpflichtet als solcher zu nichts; noch weniger verleiht Gewaltanwendung die ethische Sanktion, mag sie sein von wem auch immer - selbst vom Staate ausgehen. "Die Pressionsmittel", bemerkt Professor SPIEGEL in seiner Schrift "über die Exekution", "sind die gleichen wie beim Verbrechen der Erpressung, Drohung und Gewalt. Was aber dieser Pression den verbrecherischen Charakter nimmt, was den Gesetzes befehl, den Willensausdruck berechtigt erscheinen läßt, ist seine Funktion, Mittel der Rechtssicherheit zu sein. Eine Hauptbedingung dieser nützlichen Funktion der Gesetzesbefehle und Drohungen liegt aber in der Eignung der Ausdrucksmittel, von den Adressaten in nahezu gleicher Weise, d. h. eben sprachüblich verstanden zu werden und gleiche Erwartungen zu erwecken. Die sprachübliche Bedeutung ist der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht. 22. Wer in der Rechtssicherheit mit PLATO und ARISTOTELES das nächste Ziel der Gesetze erblickt, dem wird bei ihrer Auslegung die sprachübliche Bedeutung - (nicht der einzelnen Worte, nicht der einzelnen Sätze, an und für sich betrachtet) -, sondern der ganzen zusammenhängenden Gesetzesrede, und wenn mehrere Gesetze dieselbe Materie regeln - der systematisch aufeinander bezogenen Gesetze in erster Linie Richtschnur sein. 23. Von den hierher gehörigen, speziellen und allgemein gebilligten Auslegungsregeln scheint jedoch eine dem Vorgebrachten zu widersprechen. Soll doch im Falle eines Bedeutungswandels nicht die heute sprachübliche Bedeutung des Ausdrucks, sondern jene maßgebend bleiben, welche zur Zeit der Gesetzeserlassung die übliche war. Allein man darf nicht vergessen, daß auf ethisch-praktischen und daher auch auf juristischem Gebiet nur eine Norm unter allen Umständen gilt, nämlich die - das Beste unter dem Erreichbaren anzustreben, daß dagegen alle anderen diesem Ziel zugeordneten Regeln ohne Ausnahme - Ausnahmen zulassen (24); von einer Ausnahme - und zwar von einer wohlbegründeten - nicht von einem Widerspruch ist auch in dem angeregten Fall zu reden. Ich sage: wohlbegründet; denn die Regel, die sprachübliche Bedeutung des Ausdrucks maßgebend werden zu lassen, durch Rücksichten der Rechtssicherheit aufgedrängt und durch die relative Stabilität dieser Bedeutung gerechtfertigt, fällt weg, wenn ihre Voraussetzung wegfällt. Dies ist aber der Fall, wenn ein Bedeutungswandel eingetreten ist. Wenn z. B. einzelne frühere Zivilprozeßgesetze von "Notdurftshandlungen der Parteien" sprachen, so darf - wie ANTON MENGER bemerkt - dieses Wort nicht in seiner heutigen Bedeutung verstanden werden. Wollte man solche Ausnahmen nicht anerkennen, so hieße das die Launenhaftigkeiten und Zufälligkeiten des Sprachwandels zum Gesetzgeber erheben; so ist dann diese Ausnahmeregel gerade durch den Gesichtspunkt der Rechtssicherheit geboten: exeptio firmat regulam [Ausnahmen bestätigen die Regel (für die Fälle, die keine Ausnahmen sind). - wp], und Regel bleibt: aus Gründen der Rechtssicherheit, nach der sprachüblichen Bedeutung des Gesetzes Recht zu sprechen. 24. Ist das Vorgebrachte richtig, so handelt der Richter gesetzwidrig, der den Paragraphen des Gesetzes nicht subsumiert, was nach der sprachüblichen Bedeutung diesen Paragraphen subsumierbar ist. Allein was zeigt die Praxis? 25. In seinem Rektoratsvortrag "Über Lücken im Recht" hat ZITELMANN darauf hingewiesen, daß man ein einem doppelten Sinn von Lücken im Gesetz spricht, das einemal, wo es sich um "echte Lücken" handelt und das Gesetz die Antwort auf eine Frage überhaupt schuldig bleibt (z. B. das Gesetz ordnet eine Wahl an, gibt aber keine Bestimmung über die Modalität ihrer Vornahme), und das anderemal bei "unechten Lücken", wo dies nicht der Fall ist, wo das Gesetz also eine Regel enthält, die an und für sich auf den Fall paßt. Allein diese Regel paßt auf den Fall nur in dem Sinne, daß ihr dieser Fall "logisch subsumierbar" ist, aber nicht in dem Sinne, daß sie konvenient ist; wir haben einen Mangel im Sinne eines Fehlers aber nicht in Form eines Fehlens vor uns. Von den Beispielen, die ZITELMANN aus der ihm bekannten Praxis wählt, sind hervorzuheben die Bestimmung über den Vertragsabschluß unter Anwesenden, welche auf den Abschluß unter telefonisch Verbundenen angewendet wurde, obwohl dieser Vertragsabschluß der Bestimmung über Abwesende subsumierbar war; es wird so vorgegangen, als wäre von ihm diese letztere Bestimmung ausgeschlossen und er in jener eingeschlossen. Die tätige Reue des Anstifters, für die eine Milderungsbestimmung m Reichsstrafgesetz nicht vorgesehen ist, wird den milderen Bestimmungen über eine tätige Reue des Täters unterstellt. Oder: Ein Schlafwagen ist kein Gasthof; trotzdem wird der allgemeine Rechtssatz, daß jeder nur für den verschuldeten Schaden haftet, von welchem für Gastwirte die bekannte gesetzliche Ausnahme existiert, hier analog zuungunsten der Schlafwagenunternehmen durchbrochen. 26. Mit Recht sagt ZITELMANN, daß es sich hierbei um eine Korrektur, nicht um eine Ergänzung des Gesetzes handelt. In der juristischen Hermeneutik pflegt man diese korrektorische Tätigkeit als extensive bzw. restriktive Interpretation zu bezeichnen. Ich bemerke, daß die Extension stets mit einer Restriktion verbunden ist. In eben demselben Maß, in dem der eine Satz ausgedehnt wird, wird ein anderer - in den obigen Fällen der allgemeine Satz - eingeschränkt. Manche - wie PFAFF und HOFFMANN in ihrem Kommentar - sprechen hier von abändernder Auslegung im weiteren Sinne, im Gegensatz zur abändernden Interpretation im engeren Sinne, wo ohne analoge Anwendung anderer Gesetzesstellen eine Bestimmung schlechtweg ignoriert wird und eine vom Gesetz abweichende Entscheidung erfolgt. Trotzdem ZEITLER in seinem Kommentar unter Berufung auf SCHÖMANN vor jedem derartigen Verfahren auf das Entschiedenste warnt, trägt auch bei uns bekanntlich die zivil- und strafgerichtliche Praxis kein Bedenken, auf ähnliche Weise zu verfahren. Selbst der Satz nulla poena sine lege [Keine Strafe ohne Gesetz. - wp] wird in vielen Fällen - ich habe dies an anderer Stelle (25) erörtert - von der strafgerichtlichen Praxis durchbrochen, indem sie dem ausdrücklichen Verbot zuwider strafwürdige, aber nicht strafbedrohte Kommissivdelikte durch Unterlassung den durch Handlung begangenen Delikten gleichstellt. Das Gesetz wird nicht ausgelegt, es wird ihm nichts unterlegt, es wird durch die Praxis widerlegt 27. Es ist, wie MATHIAS (26) treffend bemerkt, eine juristisch-psychologisch unhaltbare Fiktion, wenn BRUNO SCHMIDT (27) die Berechtigung des Richters zu derarten unbotmäßigen Entscheidungen aus einer vom Richter angeblich vermuteten Willensänderung der Sozialperson Staat herleitet. Denn ganz abgesehen von der Fiktion eines Sozialwillens, die kein Richter vornimmt: wer einmal klar erkannt hat, daß es nicht der so und so beschaffene Wille des Gesetzgebers ist, der zum Gehorsam gegen die Gesetze verpflichtet, der erkennt auch ohne weiteres, daß es nicht der irgendwie erschließbare veränderte Wille sein kann, der zum Ungehorsam berechtigt. 28. Soll man nun etwa jedes vom Gesetz abweichende richterliche Urteil, wie einst ZEITLER und jüngst MATHIAS es getan hat, schlechthin verdammen und wenn nicht, wie ist es zu rechtfertigen, wie insbesondere mit der eben begründeten Forderung der Gesetzestreue, wie mit dem Postulat der Rechtssicherheit in Einklang zu bringen? Ich habe schon vorhin Gelegenheit gehabt, mich auf die unanfechtbare Erkenntnis zu berufen, daß es auf praktischem Gebiet - außer der Norm, unter allen Umständen das Beste unter dem Erreichbaren anzustreben - keine ausnahmslose Maxime gibt. Es gibt nichts ein- für allemal Feststehendes, wo es sich um praktisches Verhalten und Nützlichkeitserwägungen handelt: Dieser aristotelische Satz löst auch die vorliegende Schwierigkeit. (28) Die Sicherheit ist das nächste Ziel der Gesetze, die Gerechtigkeit - im Sinne der materiellen distributiven Gerechtigkeit das höchste und letzte. "Das Gesetz", sagt BÜLOW, "ist eine Vorbereitung, ein Versuch zur Bewirkung einer rechtlichen Ordnung." Er ist - füge ich hinzu - notwendig ein unvollkommener Versuch, denn er muß ausgehen von einem historischen gegebenen Machtverhältnisse und muß sich vor nichts mehr hüten als vor überstürzter Neuerung. Dennoch ist die interimistische ethische Sanktion, die diesen Versuchen zuteil wird, mächtig genug, um einen SOKRATES den Tod der Nichtachtung des Gesetzes vorziehen zu lassen; sie kann aber auch versagen, wenn Antigone um eines höheren Gesetzes willen gegen das staatliche verstößt, und niemand wird sie darum tadeln. (29) Auch der auf das Gesetz beeidete Richter kann in gewissen Fällen zu der sittlichen Überzeugung gelangen, daß ein starres Festhalten am Gesetz in concreto unzulässig ist, und er kann damit das objektiv Richtige getroffen haben. "Wie können", fragte ich schon in meiner Abhandlung über "Rechtsphilosophie und Jurisprudenz", "wie können dieselben Juristen, welche so weit über das Ziel hinausschießen, daß sie die Relativität aller praktischen Regeln lehren, so inkonsequent sein, die praktische Regel der Gesetzestreue als absolut verpflichtend hinzustellen! Nein! So wenig der erste Satz im Hinblick auf die absolute Gültigkeit des obersten Moralprinzips: Wähle das Beste unter dem Erreichbaren - richtig ist, so wenig ist es der andere, vielmehr ist nichts gewisser, als daß auch die Gehorsamspflicht gegen das Gesetz eine abgeleitete, sekundäre Regel und als solche nicht unter allen Umständen im Gewissen bindend ist. 29. "Für die Lehre von den Lücken im Recht", schrieb EHRLICH in einem diesbezüglichen Aufsatz 1888, "ergibt sich das Resultat, daß zwar der Satz: der Richter habe stets nur nach feststehenden Regeln zu urteilen, im modernen Rechtsbewußtsein tief wurzelt, daß sich der Richter jedoch auch gegenwärtig über ihn hinwegsetzt, wenn es ganz unmöglich ist, einer stürmischen Entwicklung des Rechtsbewußtseins auf dem gewöhnlichen Weg der Rechtsfortbildung Rechnung zu tragen." Mit diesem Satz wiederholt SCHMIDT nahezu wortwörtlich, was ARISTOTELES vor mehr als 2000 Jahren schrieb. Das Faktum einer solchen Rechtsprechung wider das Gesetz steht außer Zweifel. Die Rechtssatzung in einem geschriebenen Gesetz zu suchen ist unmöglich; wer nicht zu den lächerlichen Fiktionen greifen will, dem ziemt es, auszusprechen, daß hier die Rechtfertigung einzig und allein die agraphoi nomoi [ungeschriebenen Gesetze - wp] der Ethik, die je nach Umständen variierenden "natürlichen Rechtsgrundsätze" bieten können. Aufgrund seiner Überzeugung von der Unangemessenheit der Gesetzesregel entschließt sich der Richter zu einer "Korrektur des gesetzlichen Rechts", wie ARISTOTELES es nennt. Der vermutliche Wille eines als anwesend fingierten Gesetzgebers ist hier nichts anderes als ein heuristischer Kunstgriff. 30. Die Gefahr für die Rechtssicherheit darf hierbei nicht überschätzt werden; denn zunächst wird sie abgeschwächt durch die meist bald sich einstellende Gleichförmigkeit der richterlichen Urteile und sodann durch die bei normalen parlamentarischen Zuständen bestehende Möglichkeit einer baldigen Kodifizierung. Dann aber ist zu bemerken, daß sich die sogenannte "abändernde Interpretation" im engeren Sinne, d. h. die vollständie Ignorierung des Gesetzes relativ selten ereignet gegenüber der im "weiteren Sinne", d. h. der extensiv-restriktiven Interpretation. Selbst jene derogierende Interpretation, die zu den merkwürdigsten Fällen gehört, die Ignorierung des Satzes nulla poena sine lege geschieht nur, um Strafdrohungen extensiv-analogisch auszudehnen, und gerade hier sehen wir, wie wenig die Rechtssicherheit dadurch tangiert wird, an dem Umstand, daß weder die große Öffentlichkeit, noch die Mehrzahl der Juristen selbst an ihr Anstoß nehmen. 31. SAVIGNY (30) hat die einschränkende und ausdehnende Interpretation nur in dem Fall für zulässig erklärt, wo sie nachweisbar dem Willen, dem Gedanken des Gesetzgeber entspricht, denn da der Ausdruck Mittel, der Gedanke aber Zweck ist, so ist es unbedenklich, daß der Gedanke vorgezogen und der Ausdruck nach ihm berichtigt wird; für unzulässig erklärt er sie, wo an die Stelle dessen, was der Gesetzgeber wirklich gedacht hat, das gesetzt wird, was er hätte denken sollen. Allein, die Scheidung ist nicht nur zwischen dem, was der Gesetzgeber hat ausdrücken wollen und sollen und nicht ausgedrückt hat, und dem, was er hat denken wollen und sollen und nicht gedacht hat, wie WINDSCHEID bemerkt, mitunter unmöglich durchzuführen, sondern es spricht auch für die Berücksichtigung des historisch ermittelten Willens oder Gedankens des Gesetzgebers weder ein Grund der Sicherheit, noch der Gerechtigkeit, während für die Ermittlung dessen, was er hätte sagen sollen, jedenfalls die letztere, sehr oft auch die erstere spricht. Dies ist zu zeigen. 32. Worin besteht die Rechtssicherheit, die durch gesetzwidrige Entscheidungen in Frage gestellt ist? Darin, daß die Erwartungen hinsichtlich der künftigen Richtersprüche nicht getäuscht werden. Nun gilt das psychologische Gesetz des expectatio similium, der Erwartung des Ähnlichen in ähnlichen Fällen nicht nur beim Tier, sondern auch beim Menschen. Dieser Erwartung des Ähnlichen in ähnlichen Fällen entspricht aber eine Entscheidung, die z. B. einen Restaurationswagenbesitzer wie einen Restaurationsbesitzer, einen der eine fremde Sache ins Meer wirft wie einen Sachbeschädiger, einen reuigen Anstifter wie einen reuigen Täter und den einen Strafwürdigen wie den andern in gleichem Maße Strafwürdigen behandelt. Auf diese Weise wird verhindert, daß sich die Erwartung, die man aufgrund der einen gesetzlichen Bestimmung bildet, durch eine andere gesetzliche Bestimmung enttäuscht wird, eine Enttäuschung, die umso größer wäre, je gerechter die analoge Bestimmung sein würde. 33. Speziell in der Hermeneutik des Zivilrechts ist - trotz mancher Anfeindungen - diese richterliche Tätigkeit im Großen und Ganzen als berechtigt anerkannt; schon der Umstand, daß man sie mit dem Namen "Auslegung" bezeichnet, bezeugt dies. Es finden sich auch Versuche einer diesbezüglichen Theorie; so z. B. der Argumenta a minori ad majus und a majori ad minus, des "umso mehr" und "umso weniger", wie ich sie nennen würde. Beide gründen sich Erwägungen praktisch-ethischer Natur - auf Werturteile, wie RÜMELIN (31) sagt -, indem sie nachweisen, das die ratio, der Grund oder Zweck einer gewissen gesetzlichen Bestimmung, in erhöhtem Maße in einem andern Fall zutrifft, der dieser Bestimmung nicht subsumiert ist, aber umso mehr subsumiert sein sollte. (32) 34. Durch die Abweichung vom Gesetz, die der extensiv-restriktiv Interpretierende sich erlaubt, indem er nach einem Wort KOHLERs die "Gesetzespolitik als Interpretationsmittel" verwendet, wird gar oft ein mit jeder Gesetzgebung notwendig verbundener Nachteil auf relativ unschädliche Weise paralysiert (33); ja mehr als dies, durch diese richterliche Freiheit wird dem Zweifel an den Vorteilen und Segnungen der Gesetzgebung und hiermit einer der Rechtssicherheit drohenden Gefahr vorgebeugt. Wenn auch dem Wort- und Satzsinn, ja dem klaren Sinn der Gesetzesrede (34) entgegen, verdient ein solches und ähnliches Verfahren nicht eigentlich den Namen eines "gesetzwidrigen" (35), denn es ist am rechten Ort angewandt nur geeignet, die Kraft des Gesetzesganzen aufrechtzuerhalten. Darum konnte DERNBURG jüngst sagen (36), das Reichsgericht habe sich in vielen Fällen "entgegen dem Buchstaben des Gesetzbuches ... als Hüter des wahren Rechts erwiesen." So findet die sogenannte "abändernde Auslegung" auch von Seiten der Rechtssicherheit ein Zeugnis ihrer Berechtigung und zugleich eine Begrenzung ihres Anwendungsgebietes. Sie ist regelmäßig dort ausgeschlossen, wo eine Regel in erster Linie dem Bedürfnis nach positiver Determination ihre Entstehung verdankt, wie die rein positiven Bestimmungen über die Zeugenzahl eines Testamentes und dgl. (37) 35. Für die Ausfüllung echter Lücken durch die analoge Anwendung des Gesetzes ergibt sich nun alles von selbst durch ein einfaches argumentum a majori ad minus. An ihrer Berechtigung zweifelt niemand, und daß das Gesetz seine Kraft am meisten bewährt, wenn es auf Fälle, die ihm nicht subsumierbar sind, mutatis mutandis [unter vergleichbaren Umständen - wp] anwendbar bleibt, und daß die expectatio similium und somit die Rechtssicherheit sie gebieterisch fordert, leuchtet ein. Nicht weniger aber steht fest, daß nach Lage des Falles auch eine Entscheidung nach den "natürlichen Rechtsgrundsätzen" (38) anstelle der Auslegung gestattet, ja geboten sein kann. Ob man dieser Tätigkeit ebenfalls den Namen Interpretation beilegen will oder nicht, ist bloßer Wortstreit; ihre Erörterung gehört ebenso wie die der sogenannten "extensiv-restriktiven Interpretation" zur Methodik der Rechtsprechung des auf das Gesetz beeideten Richters. 36. Ich wollte den Nachweis erbringen, daß niemals die Erforschung des historisch ermittelbaren Willens des Gesetzgebers leitender Grundsatz für den Interpreten sein darf, sondern nur das, was schon die alten Römer in bildlicher Sprache "den Willen des Gesetzes" nannten, d. h. die sprachübliche Bedeutung der Gesetzesrede mit jenen Ausnahmsweisen Modifikationen, die von der Rechtssicherheit, der expectatio similium selbst und von der Billigkeit und Gerechtigkeit gefordert werden. Ist also der Wille des Gesetzgeber vollkommen ausgeschaltet und somit den in der neueren Zeit seit WÄCHTER und KRUG in den Vordergrund getretenen Gesetzesmaterialien, Beratungsprotokollen, Kommissions- und Motivberichten, Parlamentsverhandlungen jede juristisch-praktische Bedeutung abgesprochen? Hierüber nur wenige Worte! 37. Ich will zugunsten der Materialienfreunde ganz von den Schwierigkeiten absehen, die sich daraus ergeben, daß "Gesetzgeber" und "Gesetzesverfasser" nicht identisch zu sein pflegen (39) und auch jene Schwierigkeiten beiseite lassen, die damit zusammenhängen, daß eine Mehrheit von Personen mit divergierenden Ansichten und Absichten bei der Gesetzgebung und Gesetzesverfassung mitwirken; diese Schwierigkeiten sind schon oft und zutreffend beleuchtet worden, insbesondere von KOHLER, WACH, BINDING. Ich will ferner nur von solchen Fällen sprechen, wo man das Zurückgreifen auf einen prälegalen Willen am ehesten zuzugestehen geneigt sein könnte; dies ist unter anderem dort der Fall, wo trotz eifrigsten systematischsten Bemühens die Bestimmung des Gesetzes nicht eindeutig festzustellen ist, ferner dort, wo die Bedeutung nicht scharf umgrenzt ist, wie unzähligemal infolge einer Nachlässigkeit der Begriffsbildung oder infolge der Unmöglichkeit einer genaueren Abgrenzung wie bei den Ausdrücken "bona fides" [guter Glaube - wp], Verschulden, Ehrenbeleidigung, Gefahr usw. des weiteren dort, wo eine Aufzählung nur demonstrativ ist und schließlich dort, wo etwas weggelassen wurde, weil es sich von selbst versteht. 38. Was nun die Berücksichtigung des Zusammenhangs einer unbehebbaren Mehrdeutigkeit anlangt, so hat selbst SAVIGNY hier nicht den Willen der Gesetzgeber zu Hilfe gerufen, sondern nur die ratio legis, und wenn dies versagt - ganz so wie neuerlich RÜMELIN - den Wert des Resultats; und dies stimmt mit der ratio meiner Ausführungen. 39. Was die verschwommenen Ausdrücke anlangt, deren Wesen jüngst von Dr. WURZEL (40) gründlich mißverstanden wurde, so ist dort ein Anlaß zu ihrer Bildung gegeben, wo es sich um ein "mehr oder weniger", um Schätzungen von Graden und Abstufungen handelt, wie solche im Leben so überaus häufig vorkommen. "Schnell, langsam, viel, wenig, Auflauf, Gefahr, Standesehre" usw. Wie wenig es angeht, hier auf den Willen des Gesetzgebers zu reflektieren, sieht man aus folgendem: Diese Ausdrücke ändern nicht selten unmerklich ihre Bedeutung mit der Wandlung der Auffassungen und Schätzungen, die ihnen zugrunde liegen. Ein Verbot des Schnellfahrens anno 1804 bedeutet - was WURZEL verkennt - etwas ganz anderes als 1904, im Zeitalter der Automobile; der heutige Durchschnittstypus des Schnellfahrens ist ein anderer geworden und somit die Vorstellung, die dieses Wort in uns aufruft. Und was sehen wir? Nicht die ursprüngliche Bedeutung, nein, die heutige wird der richterlichen Entscheidung zugrunde gelegt, wenn es sich darum handelt, zu beurteilen, ob ein Fiaker wegen Schnellfahrens zu bestrafen ist. Der Mathematiker würde sagen: die Formel ist dieselbe geblieben, nur der Koeffizient hat sich geändert; in der Tat, die beständige Form deckt einen unbeständigen Inhalt; da aber der Bedeutungswandel hier keiner Laune der Sprache entsprungen ist, sondern dem praktischen Bedürfnis, und die neue Bedeutung sich unmerklich an die Stelle der alten Bedeutung geschoben hat, darum behält sie Recht. Eine Ausnahme von der Ausnahme. Exceptio firmat regulam in casibus non exceptis. Wer wollte hier die Gesetzesmaterialien zu Rate ziehen, um den Willen des Gesetzgebers hinsichtlich des Schnellfahrens zu ergründen? Und so ist es mit dem Begriff der Gefahr, des Verschuldens und unzähligen anderen! Der Richter darf nicht in die Vergangenheit blicken, sondern offenen Auges in die Gegenwart. So auch bei den demonstrativen Aufzählungen; die ratio legis kann gute Dienste leisten, aber da sie offenbar weniger bindend ist als die vox legis und wie diese von der Zeit überholt werden kann, so entscheidet auch hier gar oft der "Wert des Resultates". Und schließlich: das vom Gesetz implizit Gebotene, Verbotene, Erlaubte hat der Richter unter Berücksichtigung der Umstände vernünftig und gerecht zu explizieren. (41) Gesetzt, unser Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch würden keinen § 496 enthalten; müßte man da die Protokolle befragen, um demjenigen, dem das Gesetz ein Wasserschöpfrecht einräumt, den Zutritt zu Brunnen zu gestatten? "Die Regel ist so auszulegen", lehrt ganz allgemein JUNG, "wie sie am zweckmäßigsten funktioniert." 40. So scheint es dann, daß ich hier zu einer ähnlichen Argumentation neige, wie sie von Kalif OMAR, dem angeblichen Zerstörer der Alexandrinischen Bibliothek, berichtet wird: Entweder harmonieren die Materialien mit dem Gesetz, dann ist ihre Berücksichtigung überflüssig, oder nicht, dann sind sie schädlich. - Also ins Feuer mit ihnen! Dem ist nicht so: nicht nur für den Historiker, auch für den Juristen können sie von Wert sein. Gewisse historische Daten sind dem Richter unerläßlich: das sind die Zustände der Gegenwart; sofern er nun die Lebensverhältnisse, die das Gesetz regelt, nicht aus eigener Erfahrung kennt, werden sie ihm die Materialien widerspiegeln; daher nimmt aber auch ihr Wert, wie REGELSBERGER bemerkt, ab mit der Änderung der Verhältnisse, die sich unaufhaltsam vollzieht, und schwindet umso mehr, je mehr sich die Lebensverhältnisse der Gegenwart von denen der Abfassungszeit unterscheiden. Sofern zweitens die Voraussetzung berechtigt ist, daß zur Abfassung der Gesetze gerade die durch Sachkenntnis und Herzensbildung Berufensten auserkoren wurden (von den philosophisch gebildeten Verfassern unseres Gesetzbuches gilt dies) und sofern des weiteren sicher ist, daß dieselben in jahrelanger Arbeit ihr Bestes zu bieten bestrebt waren; sofern diese Voraussetzung berechtigt ist, sofern darf ja der Richter mit großer Wahrscheinlichkeit hoffen, sich durch die Berücksichtigung ihrer Meinung den Weg zum wertvollsten Resultat zu bahnen. Die Zeit aber - das ist klar - vermindert aus den eben angedeuteten Gründen auch hier den Wert, und um den Wert, nicht um den Willen handelt es sich. Kein Wille verpflichtet als solcher. Die Pflicht zur Botmäßigkeit erwächst einzig und allein aus der nachweisbaren Ersprießlichkeit des Gehorsams und aus der Weisheit und Gerechtigkeit der Norm. ![]() ![]()
1) SAVIGNY, "Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft", Heidelberg 1814, Seite 48 und 32. 2) Die Bedeutung geschichtlicher Studien für die Rechtswissenschaft hat schon ARISTOTELES vollkommen klar erkannt. In Bezug auf die Gesetzgebung ist es ferner nützlich, nicht nur das Studium der Vergangenheit des eigenen Staates in Erfahrung zu bringen, welche Verfassung ihm zuträglich sei, sondern auch von den anderen Völkern zu wissen, welche Art von Verfassung diesem oder jenem so oder so beschaffenen Staat gemäß ist (Rhet. I, 4, Seite 1360a, 30. 3) SAVIGNY, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I, Seite 14 4) F. J. STAHL, Seite 573 und 574 des I. Bandes seiner "Philosophie des Rechts". 5) KARL BINDING, Handbuch des Strafrechts, Seite 457 6) a. a. O., Seite 13 7) SAVIGNY, System a. a. O., Seite 230 8) Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Seite 81 9) Vgl. "Vom Beruf unserer Zeit" über BACON und LEIBNIZ. 10) Seite 65 seiner Hermeneutik. 11) Theorie des gemeinen Zivilrechts, 1839. 12) JHERING, Geist des römischen Rechts, Bd. I, Seite 473. 13) THÖL, Einleitung in das deutsche Privatrecht, Seite 150 14) SCHLESINGER, Göttingische Gelehrte Anzeigen, 1864 15) KOHLER, Bd. XIII und XXIII dieser Zeitschrift 16) JUNG, "Von der logischen Geschlossenheit des Rechts" in der Festgabe der Gießener Juristenfakultät. 17) Vgl. FRANZ von BRENTANO, "Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis", Wien 1886, Seite 30 und Anm. 44 (Seite 99), sodann SAVIGNY, System I: "Das Recht dient der Sittlichkeit, aber nicht indem es ihr Gebot vollzieht, sondern indem es die freie Entfaltung ihrer, jedem einzelnen Willen innewohnenden Kraft sichert." 18) Übersetzung von BENEKE nach der französischen Bearbeitung des DUMONT; sodann die englische Gesamtausgabe (Ed. BURTON), insbesondere Bd. I. 19) Vgl. FRANZ von BRENTANO, "Die Zukunft der Philosphie." (mit apologetisch-kritischer Berücksichtigung der Inaugurationsrede von ADOLF EXNER: "Über politische Bildung") Wien 1893, Seite 53. - ANTON MARTY, "Über den Ursprung der Sprache", Würzburg 1875. Sodann: "Über Sprachreflex, Nativismus und absichtliche Sprachbildung", 10 Artikel in der Viertelsjahrsschriff für wissenschaftliche Philosophie, insbesondere Artikel 6. 20) Diese Voraussicht bekundet ihre Wirkung nicht so sehr in den durchgeführten als in den als aussichtlos unterbliebenen Rechtsstreiten. 21) Im XXXI. Band der Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht, Seite 108f und 399f. 22) Zitat aus meiner Abhandlung über "Rechtsphilosophie und Jurisprudenz" in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 1903. 23) Oder JUNG, der sie in logische und teleologische teilt. 24) Vgl. hierüber meine Abhandlung über "Rechtsphilosophie und Jurisprudenz". 25) OSKAR KRAUS, "Über das Dogma von der Ursächlichkeit der Unterlassung", Prager jurististische Vierteljahrsschrift, Bd. XXX und "Rechtsphilosophie und Jurisprudenz", 1902. 26) ADOLF MATHIAS, "Der Wille des Gesetzes", Allgemeine österreichische Gerichtszeitung, 1900 27) "Das Gewohnheitsrecht als Form des Gemeinwillens", Leipzig 1899. 28) ARISTOTELES, Nikomachische Ethik, II, 2, Seite 1104a, 4 und speziell die Wandelbarkeit alles Rechts (V, 10, Seite 1134b, 25 und folgende). 29) Vgl. "Das Schlechte als Gegenstand dichterischer Darstellung", Vortrag, gehalten in der Gesellschaft der Literaturfreunde in Wien von FRANZ BRENTANO, Leipzig 1892, Seite 13. 30) SAVIGNY, System a. a. O., Bd. I, Seite 234 und 321 31) GUSTAV von RÜMELIN, Werturteile und Willensentscheidungen im Zivilrecht, Rektoratsrede, Freiburg i. Br. 1891. 32) Was das sog. argumento a contrario anlangt, so bin ich mit KOHLER, Bd. XIII dieser Zeitschrift) der Meinung, daß es lediglich eine Zweideutigkeit zu beseitigen sucht, indem es ein unausgesprochenes "nur" ergänzt. 33) Arist. Eth. Nik. V., 13, Seite 1137b, 18 (vgl. auch THOMAS von AQUINO, Summa theol. Sec. sec. qu. LX de judicio, Art. V) 34) oben § 12. 35) oben § 24. 36) Deutsche Juristenzeitung, X. Jhg., Seite 10 37) Arist. Eth. Ni, V. 10, Seite 1134b 20. 38) Vgl. UNGER in Bd. XXXI dieser Zeitschrift 39) Vgl. neuestens DERNBURG, a. a. O., Seite 7 40) EUGEN EHRLICH, Das juristische Denken, Wien 1904. Vgl. über diese anregende, aber meist vergeblich nach Klarheit ringende Schrift meine demnächst erscheinende Besprechung in der Prager juristischen Vierteljahrsschrift. 41) Der treibt "Buchstabenjurisprudenz", der das implizit Ausgedrückte nicht gelten läßt. Der Vorwurf der Buchstabenjurisprudenz kann sich jedoch auch auf anderes beziehen, so auf den Fall, wo die durch den Zusammenhang bedingten Modifikationen der Bedeutungen ignoriert werden, oder wo an der sprachüblichen Bedeutung festgehalten wird. |