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LUDWIG FEUERBACH
(1804-1872)
Das Wesen der Religion
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32. Die irreligiösen Erscheinungen der Religion enthüllen am populärsten den Ursprung und das Wesen der Religion. So ist es eine irreligiöse, eben deswegen selbst schon von den frommen Heiden mit dem bittersten Tadel bemerkte Erscheinung der Religion, daß die Menschen insgemein nur im Unglück zu ihr ihre Zuflucht nehmen, an Gott sich wenden und denken, aber gerade diese Erscheinung führt uns an die Quelle der Religion selbst. Im Unglück, in der Not, sei sie nun seine eigene oder die Not anderer, macht der Mensch die schmerzliche Erfahrung, daß er nicht kann, was er will, daß ihm seine Hände gebunden sind. Aber die Lähmung der Bewegungsnerven ist nicht zugleich auch die Lähmung der Empfindungsnerven, die Fessel meiner Leibeskräfte nicht zugleich auch die Fessel meines Willens, meines Herzens. Im Gegenteil: je mehr mir die Hände gebunden sind, desto ungebundener sind meine Wünsche, desto heftiger meine Sehnsicht nach Erlösung, desto energischer mein Trieb nach Freiheit, mein Wille, nicht beschränkt zu sein. Die von der Macht der Not auf den höchsten Grad gesteigerte, überreizte, übermenschliche Macht des menschlichen Herzens oder Willens ist die Macht der Götter, für die es keine Not und Schranken gibt. Die Götter können, was die Menschen wünschen, d. h. sie  vollziehen  die Gesetze des menschlichen Herzens. Was die Menschen nur  der Seele  nach sind, das sind die Götter dem Leibe nach; was jene nur im Willen, nur in der Phantasie, nur im Herzen, also nur  geistig  vermögen, z. B. im Nu an einem entfernten Ort zu sein, das vermögen diese  physisch.  Die Götter sind die wohlbeleibten, verkörperten, verwirklichten Wünsche des Menschen - die aufgehobenen Naturschranken des menschlichen Herzens und Willens, Wesen des unbeschränkten Willens, Wesen, deren Leibeskräfte gleich sind den Willenskräften. Die irreligiöse  Erscheinung  von dieser übernatürlichen Macht der Religion ist die  Zauberei  der unkultivierten Völker, wo auf eine  augenfällige  Weise der  bloße  Wille des Menschen der über die Natur gebietende Gott ist. Wenn aber der Gott der Israeliten auf das Gebot JOSUAHs der Sonne Stillstand gebietet, auf das Gebet des ELIAS regnen läßt, der Gott der Christen zum Beweis seiner Gottheit, d. h. seiner Macht, alles Wünsche des Menschen erfüllen zu können, durch sein bloßes Wort die stürmische See beruhigt, Kranke heilt, Tote erweckt, so ist hier eben so gut wie in der Zauberei der bloße Wille, der bloße Wunsch, das bloße Wort als eine die Natur beherrschende Macht ausgesprochen. Der Unterschied ist nur der, daß der Zauberer den Zweck der Religion auf irreligiöse, der Jude, der Christ auf religiöse Weise verwirklicht, indem jener  in sich  verlegt, was diese  Gott  versetzen, jener zum Gegenstand eines  ausdrücklichen  Willens, eines Befehls macht, was diese zum Gegenstand eines  stillen,  ergebenen Willens, eines frommen Wunsches machen, kurz jener durch und für sich selbst tut, was diese durch und mit Gott tun. Aber der gemeine Spruch: quod quis per alium fecit, ipse fecisse putatur, d. h. was einer durch den andern tut, das wird ihm als eigene Tat angerechnet, findet auch hier seine Anwendung: was einer  durch Gott  tut, das tut  in Wahrheit er selbst. 

33. Die Religion hat - wenigstens ursprünglich und in Beziehung auf die Natur - keine andere Aufgabe und Tendenz, als das unpopuläre und unheimliche Wesen der Natur in ein bekanntes, heimliches Wesen zu verwandeln, die für sich selbst unbeugsame, eisenharte Natur in der Glut des Herzens menschlicher Zwecke wegen zu erweichen - also denselben Zweck, als die Bildung oder Kultur, deren Tendenz eben auch keine andere ist, als die Natur theoretisch zu einem verständlichen, praktisch zu einem willfährigen, den menschlichen Bedürfnissen entsprechenden Wesen zu machen, nur mit dem  Unterschied,  daß was die Kultur  durch Mittel  oder, was eins ist, durch die übernatürlichen Mittel des Gebetes, des Glaubens, der Sakramente, der Zauberei bezweckt. Alles daher, was im Fortgang der Kultur des Menschengeschlechts Sache der Bildung, der Selbsttätigkeit, der  Anthropologie  wurde, war anfänglich Sache der  Religion  oder  Theologie,  wie z. B. die Jurisprudenz (Ordalien, Bahrrecht, Rechtsorakel der Germanen), die Politik (Orakel der Griechen), die Arzneikunde, die noch heute bei den unkultivieren Völkern eine Sache der Religion ist. (1) Freilich bleibt die Kultur stets hinter den Wünschen der Religion zurück; denn sie kann nicht die im Wesen begründeten Schranken des Menschen aufheben. So bringt es die Kultur z. B. wohl zur Makrobiotik, aber nimmer zur Unsterblichkeit. Diese verbleibt als ein schrankenloser, unrealisierbarer Wunsch der Religion.

34. In der Naturreligion wendet sich der Mensch an einen Gegenstand, der dem eigentlichen Willen und Sinn der Religion geradezu widerspricht; denn er opfert hier seine Gefühle einem an sich gefühllosen, seinen Verstand einem an sich verstandlosen Wesen auf; er setzt über sich, was er unter sich haben möchte; er dient dem, was er beherrschen will, verehrt, was er im Grunde verabscheut, fleht das gerade um Hilfe an, wogegen er Hilfe sucht. So opferten die Griechen in Titane den Winden, um ihre Wut zu besänftigen; so weihten die Römer dem Fieber einen Tempel, um es unschädlich zu machen; so bitten die Tungusen zur Zeit einer Epidemie andächtig und mit feierlichen Verbeugungen die  Krankheit, sie möchte an ihren Jurten vorübergehen  (PALLAS); so opfern die Widaher in Guinea dem stürmischen Meer, um es zu bewegen, sich zu beruhigen und sie nicht am Fischen zu verhindern; so wenden sich die Indianer bei der Annäherung eines Sturms oder Ungewitters an den Manitu (Geist, Gott, Wesen) der Luft, bei einer Fahrt über das Wasser an den Manitu der Gewässer, damit er alle Gefahr von ihnen abwenden möge; so verehren überhaupt viele Völker ausdrücklich nicht das Gute, sondern das Böse, wenigstens ihnen als böse erscheinende Wesen der Natur. (2) In der Naturreligion macht der Mensch seine Liebeserklärungen einer Bildsäule, einer Leiche; kein Wunder daher, daß er, um sich Gehör zu verschaffen, zu den verzweifeltsten, wahnsinnigsten Mitteln seine Zuflucht nimmt, kein Wunder, daß er  sich entmenscht, um die Natur menschlich zu machen,  daß er  selbst Menschenblut vergießt,  um  ihr menschliche Empfindungen einzuflößen.  So glaubten die Nordgermanen ausdrücklich,  "Blutopfer  könnten  hölzernen Götzen menschliche Sprache und Empfindung,  desgleichen den in den Blutopferhäusern verehrten  Steinen Sprache  und die Gabe der Orakelerteilung verleihen." Aber vergeblich sind alle Belebungsversuche: die Natur antwortet nicht auf die Klagen und Fragen des Menschen; sie schleudert ihn unerbittlich auf sich selbst zurück.

35. So wie die Schranken, welche oder wenigstens wie sie sich der Mensch auf dem Standpunkt der Religion als Schranken vorstellt und fühlt, wie z. B. die Schranke, daß er nicht das Zukünftige weiß, nicht ewig lebt, nicht ununterbrochen und beschwerdelos glücklich ist, nicht einen Körper hat ohne Schwere, nicht wie die Götter fliegen, nicht wie Jehova donnern, nicht seine Gestalt beliebig vergrößern oder unsichtbar machen, nicht, wie ein Engel, ohne sinnliche Bedürfnisse und Triebe leben kann, kurz nicht vermag, was er will oder wünscht, nur Schranken für die Vorstellung und Phantasie, in Wahrheit aber keine Schranken sind, weil sie  notwendig  im Wesen begründet sind, in der  Natur  der Sache liegen; so ist auch das von diesen Schranken freie, das unbeschränkte göttliche Wesen nur ein Wesen der Vorstellung, der Phantasie und des von der Phantasie beherrschten Gefühls oder Gemüts. Was daher auch nur immer Gegenstand der Religion ist, sei es auch selbst ein Schneckenhaus oder Kieselstein, es ist der Religion nur Gegenstand  als  ein Wesen der Gemüts, der Vorstellung, der  Phantasie.  Hierin hat die Behauptung ihren Grund, daß die Menschen nicht die Steine, Tiere, Bäume, selbst Flüsse, sondern nur die Götter in ihnen, die Manitus, die Geister derselben verehren. Aber diese Geister der Naturwesen sind nichts anderes,  als die Vorstellungen,  die Bilder von ihnen, oder  sie als vorgestellte Wesen, als Wesen der Einbildungskraft im Unterschied von ihnen als wirklichen, sinnlichen Wesen,  gleichwie die Geister der Toten nichts anderes sind, als die aus der Erinnerung sich nicht verwischenden Vorstellungen und Bilder der Toten - die  einst wirklichen Wesen als vorgestellte Wesen,  die aber dem religiösen, d. h. ungebildeten, zwischen dem Gegenstand und der Vorstellung von ihm nicht unterscheidenden Menschen für wirkliche, selbstbestehende Wesen gelten. Die fromme, unwillkürliche Selbsttäuschung des Menschen in der Religion ist daher in der Naturreligion eine  sichtbare, augenfällige Wahrheit,  denn der Mensch macht hier seinem religiösen Gegenstand Augen und Ohren, er weiß, er sieht es, daß sie  gemachte, steinerne  oder hölzerne Augen und Ohren sind und doch  glaubt  er, daß es  wirkliche  Augen und Ohren sind. So hat der Mensch in der Religion die Augen nur dazu, um  nicht  zu sehen, um stockblind, die Vernunft nur dazu, um  nicht  zu denken, um stockstumm zu sein. Die Naturreligion ist der sinnfällige  Widerspruch  zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, zwischen Einbildung und Wahrheit. Was in der Wirklichkeit ein toter Stein oder Klotz ist, ist in ihrer Vorstellung ein lebendiges Wesen,  sichtbar kein  Gott, sondern etwas ganz anderes, aber  unsichtbar,  dem Glauben nach ein Gott. Die Naturreligion ist dewegen auch stets in Gefahr, aufs Bitterste enttäuscht zu werden, denn es gehört nichts weiter dazu als ein Axthieb, um sie z. B. zu überzeugen, daß kein Blut aus ihren verehrten Bäumen fließt, also kein lebendiges, göttliches Wesen in ihnen wohnt. Wie entzieht sich nun aber die Religion diesen groben Widersprüchen und Enttäuschungen, denen sie sich in der Verehrung der Natur aussetzt? Nur dadurch, daß sie ihren Gegenstand selbst zu einem  unsichtbaren,  überhaupt  unsinnlichen  macht, zu einem Wesen, das nur ein Gegenstand des Glaubens, der Vorstellung, Phantasie, kurz des Geistes, als  an sich selbst  ein geistiges Wesen ist.

36. So, wie der Mensch aus einem nur physikalischen Wesen ein politisches, überhaupt ein sich von der Natur unterscheidendes, und auf sich selbst konzentrierendes Wesen wird, so wird auch sein Gott aus einem nur physikalischen Wesen ein  politisches, von der Natur unterschiedenes Wesen.  Zur Unterscheidung seines Wesens von der Natur und folglich zu einem von der Natur unterschiedenen Gott kommt daher der Mensch zunächst nur durch seine Vereinigung mit anderen Menschen zu einem  Gemeinwesen,  wo ihm von den Naturmächten unterschiedene, nur im Gedanken oder in der Vorstellung existierende Mächte, politische, moralische, abstrakte Mächte, die Macht des Gesetzes, der Meinung, (3) der Ehre, der Tugend Gegenstand seines Bewußtseins und  Abhängigkeitsgefühls,  die physikalische Existenz des Menschen seiner menschlichen, bürgerlichen oder moralischen Existenz untergeordnet, die Naturmacht, die Macht über Tod und Leben zu einem Attribut und Werkzeug der politischen oder moralischen Macht herabgesetzt wird. ZEUS ist der Gott des Blitzes und Donners, aber er hat diese furchtbaren Waffen nur dazu in seinen Händen, um die Frevler an seinen Geboten, die Meineidigen, die Gewalttätigen niederzuschmettern. ZEUS ist der Vater der Könige, "von Zeus sind die Könige." Mit Blitz und Donner unterstützt also ZEUS die Macht und Würde der Könige. (4) "Der König, heißt es in MENUs Gesetzbuch,  verbrennt gleichwie die Sonne Augen und Herzen,  deswegen kann kein menschliches Geschöpf auf Erden ihn ansehen. Er ist  Feuer  und  Luft,  er ist  Sonne und Mond,  er ist der Gott der peinlichen Gesetze. Das Feuer verzehrt nur einen Einzigen, der ihm aus Sorglosigkeit zu Nahe gekommen ist, aber das Feuer eines Königs, wenn er zornig ist, verbrennt eine ganze Familie mit all ihrem Vieh und Gütern. ... In seinem Mut wohnt Eroberung und in seinem  Zorn  Tod." Ebenso gebietet der Gott der Israeliten mit Blitz und Donner seiner Auserwählten, zu wandeln in allen Wegen, die er ihnen geboten hat, "auf daß sie leben mögen und es ihnen wohl gehe und sie lange leben im Lande. So verschwindet die Macht der Natur als solche und das Gefühl der Abhängigkeit von ihr vor der politischen oder moralischen Macht! Während den Sklaven der Natur der Glanz der Sonne so verblendet, daß er wie der katschinische Tartar täglich zu ihr betet: "Schlag mich nicht tot," verblendet dagegen den politischen Sklaven der Glanz der königlichen Würde so sehr, daß er vor ihr als einer göttlichen, weil über Tod und Leben gebietenden Macht niederfällt: "Eure Gottheit", "Eure Ewigkeit." Ja selbst heutzutage sind bei den Christen Heiligkeit und Majestät, die Titel und Eigenschaften der Gottheit, Titel und Eigenschaften der Könige. Die Christen entschuldigen zwar diesen politischen Götzendienst mit der Vorstellung, der König sei nur der Stellvertreter Gottes auf Erden, Gott sei der König der Könige. Allein diese Entschuldigung ist nur Selbsttäuschung, abgesehen davon, daß die Macht des Königs eine höchst empfindliche, unmittelbare, sinnliche, sich selbst vertretende, die Macht des Königs der Könige nur eine mittelbare, vorgestellte ist - Gott wird nur da als Regent der Welt, als königliches oder überhaupt politisches Wesen bestimmt und betrachtet, wo das königliche Wesen so den Menschen einnimmt, bestimmt und beherrscht, daß es ihm für das  höchste Wesen  gilt. "Brahma, sagt MENU, bildete im Anfang der Zeit zu seinem Gebrauch den  Genius der Strafe  mit einem Körper von reinem Licht als seinen  eignen Sohn,  ja als den Urheber der peinlichen Gerechtigkeit, als den  Beschützer aller erschaffenen Dinge.  Aus  Furcht vor der Strafe  ist dieses Weltall imstande sein Glück zu genießen." So macht der Mensch selbst die Strafen seines peinlichen Rechts zu göttlichen, weltbeherrschenden Mächten, die peinliche Halsgerichtsordnung zur Ordnung des Weltalls, den Kriminalkodex zum Kodex der Natur. Kein Wunder, daß er die Natur den wärmsten Anteil an seinen politischen Leiden und Leidenschaften nehmen läßt, ja selbst den Bestand der Welt vom Bestand eines königlichen Throns oder päpstlichen Stuhls abhängig macht. Was  für ihn  von Wichtigkeit ist, das ist natürlich auch von Wichtigkeit  für alle anderen  Wesen, was  sein  Auge trübt, das trübt auch den Glanz der Sonne, was  sein  Herz bewegt, das setzt auch Himmel und Erde in Bewegung -  sein  Wesen ist ihm das  universale Wesen,  das  Wesen der Welt, das Wesen der Wesen. 

37. Woher kommt es, daß der Orient keine solche lebendige, fortschreitende Geschichte hat, wie der Okzident? weil im Orient der Mensch nicht über dem Menschen, die Natur, nicht über dem Glanz des menschlichen Auges den Glanz der Sterne und Edelsteine, nicht über dem rhetorischen "Blitz und Donner" den meteorologischen Blitz und Donner, nicht über dem Lauf der Tagesbegebenheiten den Lauf der Sonne und Gestirne, nicht über dem Wechsel der Mode den Wechsel der Jahreszeiten vergißt. Wohl wirft sich der Orientale selbst in den Staub nieder vor dem Glanz der königlichen, politischen Macht und Würde, aber dieser Glanz ist doch selbst nur ein Abglanz der Sonne und des Mondes: der König ist ihm nicht als ein irdisches, menschliches, sondern als ein himmlisches, göttliches Wesen Gegenstand. Neben einem Gott aber verschwindet der Mensch; erst wo die Erde sich entgöttert, die Götter in den Himmel emporsteigen, aus wirklichen Wesen zu nur vorgestellten Wesen werden, erst da haben die Menschen Platz und Raum für sich, erst da können sie sich ungeniert als Menschen zeigen und geltend machen. Der Orientale verhält sich zum Okzidentalen, wie der Landmann zum Städter. Jener ist abhängig von der Natur, dieser vom Menschen, jener richtet sich nach dem Stand des Barometers, dieser nach dem Stand der Papiere, jener nach den sich immer gleich bleibenden Zeichen des Tierkreises, dieser nach den immer wechselnden Zeichen der Ehre, Mode und Meinung. Nur die Städter machen darum Geschichte; nur die menschliche "Eitelkeit" ist das Prinzip der Geschichte. Nur wer die Macht der Natur der Macht der Meinung, sein Leben seinem Namen, seine Existenz im Leib seiner Existenz im Mund und Sinn der Nachwelt aufzuopfern vermag, nur der ist fähig zu geschichtlichen Taten.

38. Die Anrede des griechischen Komikers ANAXANDRIDES bei ATHENÄUS an die Ägypter: "In Eure Gesellschaft taug ich nicht, nicht einstimmig sind unsere Sitten und Gesetze, Ihr betet an den Ochsen, den ich den Göttern opfere, ein großer Gott ist Euch der Aal, doch mir ein großer Leckerbissen, Ihr scheut Euch vor Schweinefleisch, ich schmause es mit Vergnügen, Ihr ehrt den Hund, ich schlage ihn, wenn er mir wegschnapt einen Bissen, Ihr seid bestürzt, wenn einer Katz' was fehlt, ihr freue mich und zieh' ihr das Fell ab, Ihr macht Euch aus der Spitzmaus was, ich aber nichts" - diese Anrede charakterisiert vortrefflich den Gegensatz zwischen der gebundenen und ungebundenen, d. i. der religiösen und irreligiösen, freien, menschlichen Anschauung der Natur. Dort ist der Mensch für die Natur, hier die Natur für den Menschen, dort Zweck, hier Mittel, dort über, hier unter dem Menschen. (5) Dort ist eben deswegen der Mensch exzentrisch, außer sich, außer der Sphäre seiner Bestimmung, die ihn nur auf sich selbst verweist, hier dagegen besonnen, nüchtern, bei sich, selbstbewußt. Dort erniedrigt sich konsequent der Mensch zum Beweis seiner naturreligiösen Demut selbst bis zur Begattung mit den Tieren (HERODOT); hier dagegen erhebt sich der Mensch im Vollgefühl seiner Kraft und Würde zur Vermischung mit den Göttern zum schlagenden Beweis, daß auch selbst in den himmlischen Göttern kein anderes als menschliches Blut rollt, daß das eigentümliche ätherische Götterblut nur eine poetische Vorstellung ist, die in der Wirklichkeit, in der Praxis nicht Stich hält.

39. Wie die Welt, die Natur dem Menschen  erscheint,  so ist sie, scilicet [selbstverständlich - wp] für ihn, nach seiner Vorstellung; seine Gefühle, seine Vorstellungen sind ihm unmittelbar und unbewußt das Maß der Wahrheit und Wirklichkeit und sie  erscheint ihm eben so, wie er selbst ist.  Sowie der Mensch zu Bewußtsein kommt, daß trotz Sonne und Mond, Himmel und Erde, Feuer und Wasser, Pflanzen und Tieren zum Leben des Menschen die Anwendung und zwar die richtige der eigenen Kräfte notwendig ist, daß "mit Unrecht klagen die Sterblichen wider die Götter,  sie selber schaffen durch Unverstand auch gegen Geschick sich das Elende,"  daß Laster und Torheit Krankheit, Unglück, Tod, Tugend und Weisheit dagegen Gesundheit, Leben und Glück zur Folge haben, folglich die das Schicksal des Menschen bestimmenden Mächte Verstand und Wille sind, so wie also der Mensch nicht mehr wie der Wilde ein nur vom Zufall augenblicklicher Eindrücke und Affekte beherrschtes, sondern durch Grundsätze, Weisheitsregeln, Vernunftgesetze sich bestimmendes, ein denkendes, verständiges Wesen wird, so erscheint, so ist ihm auch die Natur, die  Welt ein von Verstand und Wille abhängiges bestimmtes  Wesen.

40. Wo sich der Mensch mit Wille und Verstand über die Natur erhebt, Supernaturalist wird, da wird auch Gott ein supernaturalistisches Wesen. Wo sich der Mensch zum Herrscher aufwirft, "über die Fische im Meer und über die Vögel unterm Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht," da ist ihm die Herrschaft über die Natur die höchste  Vorstellung,  das  höchste Wesen,  der Gegenstand seiner Verehrung, seiner Religion daher der Mensch und Schöpfer der Natur, denn eine notwendige Folge oder Voraussetzung vielmehr der Herrschaft ist die Schöpfung. Ist der Herr der Natur nicht zugleich ihr Urheber, so ist sie ja ihrem Ursprung und Dasein nach von ihm abhängig, seine Macht beschränkt und mangelhaft - denn wenn er sie hätte machen können, warum sollte er sie nicht gemacht haben? - seine Herrschaft über sie nur eine  usurpierte,  [an sich gerissene - wp] keine angestammte, keine rechtmäßige. Nur was ich hervorbringe, mache, habe ich ja vollständig in meiner Gewalt. Erst aus der Autorschaft folgt das Eigentumsrecht. Mein ist das Kind, weil ich sein Vater. Erst in der Schöpfung also bewahrheitet, verwirklicht, erschöpft sich die Herrschaft. Die Götter der Heiden waren wohl auch schon Herren der Natur, aber keine Schöpfer derselben, darum nur konstitutionelle, beschränkte, in bestimmte Grenzen eingeschlossene,  nicht absolute Monarchen  der Natur, d. h. die  Heiden  waren noch nicht  absolute  unbedingte, radikale Supernaturalisten.

41. Die Theisten haben die Lehre von der Einheit Gottes für eine ihrem Ursprung nach übernatürliche, geoffenbarte Lehre erklärt, ohne zu bedenken, daß der Mensch die Quelle des Monotheismus in sich selbst hat, daß der Grund der Einheit Gottes die Einheit des menschlichen Bewußtseins und Geistes ist. In unendlicher Vielheit und Verschiedenheit breitet sich die Welt vor meinen Augen aus, aber gleichwohl umspannt alle diese zahllosen und verschiedenen Dinge, Sonne, Mond und Sterne, Himmel und Erde, Nahes und Fernes, Gegenwärtiges und Abwesendes mein Geist, mein Kopf. Dieses für den religiösen, d. i. ungebildeten Menschen wunderbare, übernatürliche, dieses an keine Schranken der Zeit und des Ortes gebundene, auf keine bestimmte Gattung der Dinge eingeschränkte, alle Dinge, alle Wesen, ohne selbst ein Ding oder sichtbares Wesen zu sein, umfassendes Wesen des menschlichen Geistes oder Bewußtseins ist es, was der Monotheismus an die Spitze der Welt stellt und zu ihrer  Ursache  macht. Gott  spricht,  Gott  denkt die Welt, so ist sie;  Gott sagt, sie sei nicht, Gott denkt und will sie nicht, so ist sie nicht, d. h. ich kann in meinem Denken, meiner Vorstellungs- oder Einbildungskraft alle Dinge, folglich auch die Welt selbst nach Willkür kommen und verschwinden, entstehen und vergehen lassen. Der Gott, der die Welt aus dem Nichts geschaffen und, wenn er will, wieder ins Nichts verstößt, ist nichts andere, als  das Wesen der menschlichen Abstraktions- und Einbildungskraft,  in welcher ich mir beliebig die Welt als seiend oder nicht seiend vorstellen, ihr Sein setzen oder aufheben kann. Dieses  subjektive Nichtsein,  dieses Nichtsein der Welt in der Vorstellung macht der Monotheismus, zu ihrem  objektiven, wirklichen Nichtsein.  Der Polytheismus, die Naturreligion überhaupt macht die wirklichen Wesen zu vorgestellten Wesen, zu Wesen der Einbildung, der Monotheismus vorgestellte Wesen, Einbildungen, Gedanken zu wirklichen Wesen oder vielmehr das Wesen der Vorstellungs-, Denk- und Einbildungskraft zum wirklichsten, absoluten, höchsten Wesen. Die Macht Gottes, sagt ein Gottesgelehrter, erstreckt sich so weit, als sich das Vorstellungsvermögen des Menschen erstreckt, aber wo ist die Grenze des Vorstellungsvermögens? was ist der Einbildungskraft unmöglich? Alles, was ist, kann ich mir als nicht seiend, alles, was nicht ist, als wirklich denken; so kann ich mir "diese" Welt als nicht seiend, unzählige andere Welten als wirklich vorstellen. Das als wirklich vorgestellte ist das Mögliche. Gott aber ist das Wesen, dem  nichts unmöglich  ist, der Kraft nach der Schöpfer unzähliger Welten,  der Inbegriff aller Möglichkeiten, aller Vorstellbarkeiten,  d. h. eben er ist nichts anderes, als das verwirklichte, vergegenständlichte, als wirkliches und zwar als das allerwirklichste, als das absolute Wesen gedachte oder vorgestellt Wesen des menschlichen Einbildungs-, Denk- und Vorstellungsvermögens.

42. Der eigentliche Theismus oder Monotheismus entspringt nur da, wo der Mensch die Natur deswegen, weil sie sich nicht nur zu seinen notwendigen, organischen Lebensverrichtungen, sondern auch zu seinen  willkürlichen,  bewußten Zwecken, Verrichtungen und Genüssen  willen-  und  bewußtlos  verwenden läßt, nur  auf sich  bezieht und  diese Beziehung zu ihrem Wesen,  sich also zum Endzweck, zum  Zentral-  und Einheitspunkt (6) der Natur macht. Wo die Natur ihren  Zweck außer sich  hat, da hat sie auch notwendig ihren  Grund  und  Anfang außer sich;  wo sie  nur für ein anderes  Wesen ist, da ist sie auch notwendig  von einem anderen  Wesen und zwar einem Wesen, dessen Absicht oder Zweck bei der Hervorbringung derselben der Mensch als das die Natur genießende und zu seinem Besten verwendende Wesen war. Der  Anfang  der Natur fällt daher nur da in  Gott,  wo das  Ende  derselben in den  Menschen  fällt oder die Lehre:  Gott  ist der  Schöpfer der Welt,  hat ihren  Grund  und  Sinn  nur in der Lehre: Der  Mensch  ist der Zweck der Schöpfung. Schämt ihr Euch des Glaubens, daß die Welt für den Menschen geschaffen,  gemacht  ist, O! so schämt Euch auch des Glaubens, daß sie  überhaupt geschaffen, gemacht  ist. Wo geschrieben steht: "Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde," eben dort steht auch geschrieben: "Gott machte zwei große Lichter und dazu auch Sterne und setzte sie an die Veste [Festung - wp] des Himmels, daß sie  schienen  auf die Erde und den Tag und die Nacht regierten." Bezeichnet ihr den Glauben an den Menschen als Zweck der Natur als menschlichen Hochmut, O! so bezeichnet doch auch den  Glauben an einen Schöpfer der Natur als menschlichen Hochmut.  Nur  das  Licht, das um des Menschen willen leuchtet, ist das Licht der Theologie, nur das Licht, das lediglich wegen des sehenden Wesens da ist, setzt auch als Ursache ein sehendes Wesen voraus.

43. "Das geistige Wesen," welches der Mensch über die Natur und als das sie begründende, schaffende Wesen ihr voraussetzt, ist nichts anderes, als das  geistige Wesen des Menschen selbst,  das ihm aber deswegen als ein  anderes,  von ihm  unterschiedenes  und  unvergleichliches  Wesen erscheint, weil er es zur  Ursache der Natur  macht, zur Ursache von Wirkungen, welche der menschliche Geist, der menschliche Wille und Verstand  nicht  hervorbringen kann, weil er also mit diesem geistigen, menschlichen Wesen zugleich das vom menschlichen Wesen  unterschiedene  Wesen der Natur verbindet. (7) Der göttliche Geist ist es, der das Gras wachsen läßt, das Kind im Mutterleib bildet, die Sonne in ihrer Laufbahn hält und bewegt, die Berge auftürmt, den Winden gebietet, das Meer in seine Grenzen einschließt. Was ist gegen diesen Geist der menschliche Geist! wie klein, wie beschränkt, wie nichtig! Wenn daher der Rationalist die Menschwerdung Gottes, die Vereinigung der göttlichen und menschlichen Natur verwirft, so kommt das hauptsächlich nur daher, daß ihm  hinter  seinem Gott nichts anderes im Kopf spukt, als die Natur, namentlich die Natur, wie sie durch das Teleskop der Astronomie dem menschlichen Auge aufgeschlossen wurde. Wie sollte, ruft er entrüstet aus, jenes große, unendliche, universale Wesen, das nur in dem großen, unendlichen Universum seine entsprechende Darstellung und Wirkung hat, um des Menschen willen auf die Erde kommen, die doch vor der unermeßliche Größe und Fülle des Weltalls in Nichts verschwindet? Welche unwürdige, kleinliche, "menschliche" Vorstellung! Gott auf die Erde konzentrieren, Gott in den Menschen versenken, heißt den Ozean in einen Tropfen, den Saturnring in einen Fingerring fassen wollen. Allerdings ist es eine beschränkte Vorstellung, daß das Wesen der Welt nur auf die Erde oder den Menschen beschränkt, die Natur nur um seinetwillen da ist, die Sonne nur um des menschlichen Auges willen leuchtet. Aber Du siehst nicht, kurzsichtiger Rationalist, daß das, was sich in Dir wider die Vereinigung Gottes mit dem Menschen sträubt, was Dir diese Vereinigung als einen unsinnigen Widerspruch erscheinen läßt, nicht die Vorstellung Gottes, sondern  der  Natur oder Welt ist; Du siehst nicht, daß der Vereinigungspunkt, das  tertium comparationis  zwischen Gott und Mensch nicht das Wesen ist, dem Du die Macht und Wirkungen der Natur, sei es nun mittelbar oder unmittelbar, zuschreibst, sondern vielmehr  das  Wesen, welches sieht und hört, weil Du siehst und hörst, Bewußtsein, Verstand und Willen hast, weil Du sie hast,  das  Wesen also, welches Du von der Natur unterscheidest, weil und wie Du Dich selbst von ihr unterscheidest. Was kannst Du also dagegen haben, wenn Dir dieses menschliche Wesen endlich als wirklicher Mensch vor die Augen tritt? wie kannst Du die Konsequenz verwerfen, wenn Du das Prinzip derselben festhältst? wie den Sohn verleugnen, wenn Du den  Vater  anerkennst? Ist Dir der Gottmensch ein Geschöpf der menschlichen Phantasie und Selbstvergötterung, so erkenne auch im Schöpfer der Natur ein Geschöpf der menschlichen Einbildungskraft und Selbsterhebung über die Natur. Willst Du ein Wesen ohne alle Anthropomorphismen, ohne alle menschliche Zusätze, sie seien nun Zusätze des Verstandes oder Herzens oder der Phantasie, so sei so mutig und konsequent, Gott überhaupt aufzugeben und Dich nur auf die pure, blanke, gottlose Natur als die letzte Basis Deiner Existenz zu berufen und zu stützen.  das  So lange Du einen  Unterschied Gottes von der Natur bestehen läßt,  so lange läßt Du einen  menschlichen Unterschied  bestehen, so lange verkörperst Du in Gott nur Deinen eigenen Unterschied, so lange  vergötterst  Du in diesem  Urwesen  nur  Dein eigenes Wesen;  denn  wie Du zum Unterschied vom menschlichen Wesen kein anderes Wesen hast und kennst, als die Natur, so hast und kennst Du umgekehrt zum Unterschied von der Natur kein anderes Wesen, als das menschliche. 
LITERATUR Ludwig Feuerbach, Das Wesen der Religion, Leipzig 1849
    Anmerkungen
    1) In rohen Zeiten und rohen Völkern gegenüber ist daher die Religion wohl ein Bildungsmittel der Menschheit, aber in Zeiten der Bildung vertritt die Religion die Sache der Rohheit, der Altertümlichkeit, ist sie die Feindin der Bildung.
    2) Hierher gehört auch die Verehrung der schädlichen Tiere.
    3) Bei HESIOD heißt es ausdrücklich:  auch  die Feme (Ruf, Gerücht, öffentliche Meinung)  ist eine Gottheit. 
    4) Die ursprünglichen Könige sind übrigens wohl zu untnerscheiden von den legitimen. Diese sind, ungewöhnliche Fälle abgerechnet, gewöhnliche, für sich selbst bedeutungslose, jene aber waren ungewöhnliche, ausgezeichnete,  geschichtliche  Individuen. Die Vergötterung ausgezeichneter Menschen, namentlich nach ihrem Tod, ist daher die natürlichste Übergangsstufe von den eigentlichen naturalistischen Religionen zu den mytho- und anthropologischen, obwohl sie auch gleichzeitig mit der Naturverehrung stattfinden kann. Die Verehrung ausgezeichneter Menschen als Götter fällt übrigens keineswegs nur in fabelhafte Zeiten. So vergötterten die Schweden noch zur Zeit des Christentums ihren König ERICH und brachten ihm nach seinem Tod Opfer dar.
    5) Ich setze hier die Griechen auf denselben Standpunkt mit den Israeliten, während ich sie im Wesen des Christentums diesen entgegensetze. Welch ein Widerspruch! Mitnichten; Dinge, die, mit sich verglichen, ungleich sind, fallen gegen ein Drittes gehalten zusammen. Übrigens gehört zum Genuß der Natur vor allem auch der  ästhetische, theoretische Genuß. 
    6) Ein Kirchenvater nennt ausdrücklich den Menschen, weil Gott in ihm das Universum in eine Einheit zusammenfassen wollte und daher alles in ihm als seinen Zweck sich vereinige, alles seinen Nutzen bezwecke, das  Band aller Dinge,  syndesmon apanton [Einheitsband des Alls - wp]. Allerdings ist auch der Mensch, als das individualisierte Wesen der Natur, der Schluß derselben, aber nicht in einem anti- und supernaturalistischen Sinn der Teleologie und Theologie.
    7) Diese Verbindung oder Vermischung des  moralischen  und  physischen,  des menschlichen und nichtmenschlichen Wesens erzeugt ein drittes Wesen, welches weder Natur, noch Mensch ist, aber an beiden amphibienartig Teil hat und eben wegen dieser seiner Sphinxnatur der Abgott der Mystik und Spekulation ist.


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