p-4R. BaerwaldH. RickertP. NatorpTh. Lipps   
 
JOHANN WALDAPFEL
Das subjektive und objektive
Moment im Urteil


"Ich will nur bemerken, daß, wenn auch das Zweckmäßige etwas Ethisches wäre, dies durchaus nicht in einem unbedingten Gegensatz zu der Annahme wäre, daß es auch ein Ästhetisches ist, weiß doch der Herr Vorredner gewiß ganz gut, daß es eine philosophische Auffassung gegeben hat, die das Ethische dem Ästhetischen untergeordnet hat."

Ich habe schon im Anschluß an den Vortrag (1) des Herrn Professor JOSIAH ROYCE in der ersten allgemeinen Sitzung und auch im Anschluß an den gestrigen Vortrag von Professor ALEXANDER (2) in der III. Sektion das Wichtigste meiner heute hier zu unterbreitenden Analyse, soweit sie das Logische und Ästhetische (das Wahre und Schöne) betrifft, vorweggenommen. Ich habe nachzuweisen versucht, daß es dort und da ein objektives (bei Wahren das der Natur der Dinge, dem ordo rerum [Ordnung der Dinge - wp] Entsprechende, bei Schönen das Zweckmäßige) und ein subjektives Moment gibt, die erst zusammen die ganze Wahrheit und die ganze Schönheit ausmachen, und daß das subjektive Moment sich wieder in ein individualistisches (beim Wahren das Klare, Verständliche, dem Schönen das Wohlgefällige) und ein kollektivistisches (beim Wahren das Nützliche, Ökonomische, dem Schönen das Nationale, der Rasse Kongeniale etc.) gliedert. Dasselbe gilt nun auch vom Ethischen (vom Guten). Auch hier gibt es vor allem eine individuelles Element des für das einzelne Individuum Genehmen, Gedeihlichen (das personale Element, das verschiedene Färbung haben kann: es kann hedonistisch, asketisch etc. sein), dann das für die Gemeinschaft wichtige Element des sozial Wohltuenden (welches wieder ökonomisch, technisch usw. sein mag). Beide machen eben das aus, was ich das subjektive Moment nenne. Daneben gibt es auch hier einen ordo rerum, eine Ordnung der Dinge, die für das Ethische das objektiv Wichtige und Wertvolle bedeuten (nämlich das historische, traditionelle Element der sittlichen Welt). Wir sehen also durchgängig eine übereinstimmende Struktur des Logischen, Ästhetischen und Ethischen. Es ließe sich leicht zeigen, wie das Subjektive einerseits auch das Rationale, Aprioristische und zugleich Freiheitliche, das Objektive andererseits das Empirische, Aposteriorische und zugleich durch die Schranken des Gegebenen (natürlicher und historischer Art) Bedingte ist. Ich will aber hierauf, wie auch auf die Besprechung der in der Geschichte der Philosophie hinsichtlich des Vorgebrachten auftretenden Erscheinungen bei dieser Gelegenheit verzichten. Nur eines möchte ich noch betonen. Die bekannte kantische Formel für das Ethische: "Handle so, daß die Maxime deines Handelns etc." läßt sich voll und ganz auch auf das Logische und Ästhetische anwenden und wir können zusammenfassend sagen: Denke, handle, schaffe oder fühle so, daß die Maxime deines Denkens, Handelns und Schaffens oder Fühlens zu einem allgemeinen Prinzip werden kann.


DISKUSSION

Dr. Wize: Der Redner hat die Zweckmäßigkeit als eine ästhetische Kategorie aufgefaßt. Zweckmäßigkeit scheint mir aber eine ethische Kategorie zu sein. Wollen wir exakt vorgehen, so dürften wir die Zweckmäßigkeit durch die ästhetische Kategorie Ebenmaß ersetzen. Zweckmäßigkeit in der praktischen, Gesetzmäßigkeit in der theoreitschen Philosophie, Ebenmaß in der Ästhetik sind koordinierte, den betreffenden Gebieten entsprechende Urteilsformen, die einer allgemein aufgefaßten Wohlanordnung, einem kosmos untergeordnet sein. Fließende Übergänge gibt es. Eine ästhetische Wohlanordnung, das Ebenmaß, kann uns zweckmäßig und gesetzmäßig erscheinen, eine theoretische Wohlanordnung, die Gesetzmäßigkeit, kann uns ebenmäßig und zweckmäßig usw. erscheinen. Der Standpunkt wird dann geändert, die begriffliche Exaktheit der Begriffe Ebenmaß, Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit darf trotzdem und muß wohl gewahrt werden.

Dr. Alexander: Nachdem auf meine Ansicht über Zweckmäßigkeit Bezug genommen wurde, muß ich wohl Dr. WIZE antworten, daß Ebenmaß und Zweckmäßigkeit grundverschieden sind. Ebenmaß bezieht sich auf eine gewisse Anordnung im Raum oder der Zeit ohne jede Rücksicht auf praktisches Handeln. Zweckmäßigkeit, die hier in Betracht kommt, bedeutet Angemessenheit des Gegenstandes zu einer bestimmten Verrichtung. Insofern ist Zweckmäßigkeit nicht ästhetisch. Da aber hierdurch eine Einheit des Gegenstandes bemerkt wird, so ist, wenn derselbe anschaulich nachfühlbar geworden ist, die Anschauung der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes ein intellektueller Genuß, der in jeder wesentlichen Beziehung ästhetisch ist. Worauf soll das Ästhetische der Baukunst beruhen? Auf dem Dekorativen? Auch dieses hat eine Beziehung auf das Struktive, also zum Teil auf das Zweckmäßige. KANT hat allerdings diese Zweckmäßigkeit aus der Ästhetik ausgeschlossen, allein er hat auch nur schwer und durch eine Hintertür die Schönheit des menschlichen Körpers in die Ästhetik einführen können.

Waldapfel (Schlußwort): Was die Bemerkung betrifft, daß das "Zweckmäßige" ein ethischer und kein ästhetischer Begriff ist, müßte ich nur auf die lichtvollen Ausführungen von Professor ALEXANDER in der gestrigen Sitzung der III. Sektion hinweisen, die das Wesen des Zweckmäßigen als Elementes des Ästhetischen so klar beleuchtet haben. Ich will auch nur Weniges hinzufügen. Erstens will ich nur bemerken, daß, wenn auch das "Zweckmäßige" etwas Ethisches wäre, dies durchaus nicht in einem unbedingten Gegensatz zu der Annahme wäre, daß es auch Ästhetisches ist, weiß doch der Herr Vorredner gewiß ganz gut, daß es eine philosophische Auffassung gegeben hat, die das Ethische dem Ästhetischen untergeordnet hat. Es war dies bekanntlich HERBARTs Auffassung, die aber wahrscheinlich auf SCHILLER und noch weiter auf SHAFTESBURY zurückgeht. Aber auch ohne diese Annahme kann das "Zweckmäßige" als wesentlicher Bestandteil des Ästhetischen verteidigt werden, und zwar als ein Bestandteil, der durchaus nicht, wie der Vorredner meint, mit dem "Ebenmaß" kongruiert. Es gibt "Ebenmäßiges", das "unzweckmäßig" und "Zweckmäßiges", das unebenmäßig" ist. Etwas, das an und für sich ebenmäßig ist, kann ganz unzweckmäßig sein, und ist infolgedessen nicht vollkommen ästhetisch, ja ganz dieselbe ebenmäßige Form kann an einem Glasgefäß "schön" und an einem Hut "unschön" sein, weil sie eben für eine Kopfbedeckung unzweckmäßig ist.
LITERATUR - Johann Waldapfel Das subjektive und objektive Moment im logischen, ethischen und ästhetischen Urteil, Bericht über den III. Internationalen Kongress für Philosophie zu Heidelberg, Heidelberg 1909
    Anmerkungen
    1) Die von Professor ROYCE beleuchteten Auffassungen sowohl des Individualismus und Instrumentalismus wie auch andererseits der absolute Pragmatismus sagen alle etwas Richtiges über die Natur der Wahrheit aus, jedoch beleuchten sie nur eine Seite der Wahrheit, die an und für sich wirklich vorhanden und sehr wichtig ist, aber nur mit den übrigen Seiten vereinigt das Wesen der vollen, ganzen Wahrheit ausmacht. Individualismus und Instrumentalismus (jener schon bei den Sophisten zur Zeit des SOKRATES, dieser gewissermaßen auch schon hier und ebenso bei den Stoikern und Epikureern) werden nur der subjektiven Seite der Wahrheit gerecht, jene mehr der des Individuums, diese mehr der die Gemeinschaft (Gesellschaft) betreffenden Seite. Daß die Wahrheit dem Einzelnen klar, gedeihlich, auch schön ist, ist ebenso wichtig, wie daß sie für die Gemeinschaft nützlich, ökonomisch usw. ist. Aber zu dieser zweifachen subjektiven Wertung muß sich noch der objektive Wert gesellen, der soviel bedeutet, daß ordo idearum [Ordnung der Ideen - wp] und ordo rerum miteinander übereinstimmen müssen, wenn unsere Vernunft befriedigt werden soll. Ob die Vernunft (d. h. das Denken) durch die Wahrheit befriedigt wird oder der Wille (das Wollen), darüber möchte ich jetzt nicht disputieren. Es ließe sich eben schwer feststellen, ob einen LUTHER, einen BISMARCK und MOLTKE, oder, um Professor ROYCE näherstehende Beispiele zu wählen, einen WASHINGTON und FRANKLIN, die ratio oder die voluntas bei ihrer siegreichen Wahrheit ausharren ließ. Das wäre jedenfalls zu wünschen, daß jeder, der für Wahrheit kämpft, das Beste weiß und Weiseste will.
    2) Die drei Elemente des Ästhetischen, die Professor ALEXANDER hier unterschieden hat, lassen sich sehr gut in Parallele stellen mit jenen drei Momenten des Logischen, wie ich sie im Anschluß an den VOrtrag von Professor ROYCE in der ersten allgemeinen Sitzung beleuchtet habe, und lassen sich ebensogut in die zwei Gruppen des Subjektiven und Objektiven einteilen. Das Element der Nachahmung wäre das individualistische, das in den Ausdrucksbewegungen zutage tretende Element das kollektivistische. Während diese Beiden zusammen das subjektive Moment des Ästhetischen ausmachen, liegt in dem von Professor ALEXANDER hervorgehobenen dritten Element, dem der Zweckmäßigkeit, das objektive Moment des Ästhetischen. - Was die Frage betrifft, ob unter den Seiten unseres Seelenlebens *Intellekt und Wille primär sind und das Gefühl im engeren Sinn des Wortes nur eine sekundäre Begleiterscheinung, oder ob aber nur Intellekt und Gefühl ursprünglich sind, und der Wille nur eine Folgeerscheinung, wie viele behaupten (unter unter anderem auch EBBINGHAUS in seiner sonst so ausgezeichneten Psychologie annimmt, wo dann der Wille sozusagen durch eine Hintertür doch eingeführt wird), so möchte ich Professor ALEXANDER auf ein geistreiches Wort unseres berühmten Kompatrioten, des Dichters und Ästhetikers PAUL GYULAI aufmerksam machen, der einmal, als darüber gestritten wurde, ob die Ballade (wie A. Grepius sagt) ein "Drama im Lied erzählt" ist, oder aber (wie ich glaube K. Szasz meinte) eine Erzählung in dramatischer Weise zum Lied gestaltet, bemerkte: wer weiß, ob die Ballade nicht eher "ein Lied in der Form einer Erzählung dramatisch geartet" ist. Wer weiß, frage auch ich, halb im Scherz, halb im Ernst, ob unter den Erscheinungen nicht Gefühl und Wille primär sind, und Intellekt (Vernunft) sekundär. Man kann ganz gut alle drei Arten von Seelenerscheinungen gleichberechtigt nebeneinander annehmen.