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RICHARD HÖNIGSWALD
Philosophie als
Theorie der Gegenständlichkeit

[2/2]

"So erweist sich das Problem des Gegenstandes nach allen Seiten hin als systematische Grundlage und Richtpunkt philosophischer Fragestellung. Es gibt dem Begriff der Rechtfertigung seine Bestimmtheit.

V.

Mit diesen Gesichtspunkten hätte sich in aller Strenge auseinanderzusetzen, wer das Motiv der "Metaphysik" als Erkenntnisbegriff einführt. Er wird sich, geht er nur methodisch zu Werke, fragen müssen, ob denn das "Wesen" einer Sache ein höheres Maß der Unabhängigkeit zu beanspruchen hat, als die ihrem Begriff nach von "mir", von "jedem" unabhängige Sache selbst. Denn eben, daß sie von "mir" unabhängig ist, macht sie zur "Sache". Und bestimmbar wird die Sache lediglich im Hinblick auf diese ihre Unabhängigkeit von "mir". Freilich, auch Unabhängigkeit von "mir" schließt eine Beziehung auf "mich" ein. Allein, das beeinträchtigt jene Unabhängigkeit nicht nur nicht, das allein sichert ihr erst Sinn und Bestand. In der Unabhängigkeit der Sache von "mir", d. h. im Problem des Gegenstandes, erscheint eben auch das des "Ich" notwendig gesetzt. Eine Unabhängigkeit der Sache, die darin bestünde, daß sie keine Unabhängigkeit von "mir" und in diesem Sinn eine Beziehung auf "mich" wäre, also eine Art von "Überunabhängigkeit", müßte das Recht ihres Daseins noch erst besonders erweisen. Der Verzicht auf die grundsätzliche Bestimmbarkeit des metaphysischen Gegenstandes erbrächte diesen Rechtsnachweis jedenfalls noch nicht. Denn einmal besteht der Verzicht selbst nur kraft seiner Gegenständlichkeit, d. h. in seiner Unabhängigkeit von "mir"; sodann aber bleibt er solange leer, als es ihm nicht gelingt, die "Sache" von ihrem Bestand, d. h. eben ihrer Unabhängigkeit von "mir", zu lösen. Und gerade diese Unabhängigkeit bedeutet ja Bestimmtheit. Natürlich kann man auch versuchen, der "Bestimmtheit" und "Bestimmtbarkeit" des Gegenstandes einen neuen Sinn zu geben. Dann aber achte man peinlich darauf, daß in diesem Sinn nichts eingeht, was noch an das Motiv der Unabhängigkeit des Gegenstandes von "mir" erinnern könnte. Bleibt diese Bedingung unerfüllt, so bleibt auch das Schicksal der Metaphysik als theoretischer Wissenschaft gefährdet. Anders liegen die Dinge, wenn man den Gedanken der Unabhängigkeit mit der "Sache" von mir - und "Sache" erscheint hier natürlich in der denkbar weitesten Bedeutung des Wortes gebraucht - so abwandelt, daß er den Bedingungen dieser ihrer Unabhängigkeit von "mir" nicht zuwiderläuft. Dann strebt man nicht mehr nach der Bestimmung einer davon unabhängigen Sache, daß sie von "mir" unabhängig ist; dann bestimmt man diese Unabhängigkeit der Sache von "mir", indem man zugleich "mich" in einem spezifischen Sinn des Wortes von der Sache abhängig sein läßt. Jetzt erörtert man nicht nur die "Bestimmbarkeit" der Sache, sondern vor allem auch deren "Bedeutung", nicht sowohl deren "Gegebenheit", als vielmehr deren "Würde". Jetzt bestimmt es dieser Gegenstand, daß "ich" von ihm abhängig bin, daß es an meiner Stelle "jeder" ist. Oder anders: Seine Unabhängigkeit von "mir" bekommt durch meine Abhängigkeit von ihm einen neuen Sinn. Jetzt wird der Gegenstand mit Bezug auf diese meine Abhängigkeit von ihm ein Problem. Genauer: Jetzt werde "ich" ein Problem im Hinblick auf die Würde des Gegenstandes. Der Gegenstand verkörpert jetzt besondere Modie der Geltung; er gehört nunmehr den Gebieten etwa der Religion oder der Kunst an. Und "ich" wiederum bestimme "mich" an diesem Gegenstand im Sinne einer neuen Norm, mich "ich" zu nennen: ich bin jetzt bestimmt als Moment und Glied einer "Gemeinschaft".

Gewiß, jede Unabhängigkeit des Gegenstandes von mir bedeutet zugleich meine Abhängigkeit vom Gegenstand. Aber das eben ist die Frage, ob sich der Sinn dieser Abhängigkeit durch den Terminus "Reiz" oder durch den Terminus "Gemeinschaft" erfüllt, wobei "Terminus" als logischer Bezugspunkt, d. h. als Moment einer definierten Beziehung, und "Reiz" im denkbar weitesten Sinn des Wortes, d. h. als ein dem Erlebnis zugeordnetes Ereignis zu verstehen sind. Im ersten Fall liegt der Geltungsmodus der Erkenntnis vor, im zweiten handelt es sich um den eines Wertgebietes. Eine besondere Frage freilich betrifft das Problem ihrer möglichen Interferenz [Überlagerung - wp], d. h. ihre Verknüpfung an gewissen Gegenständen der Bestimmtheitsbereiche von Kultur und Geschichte.

Im Hinblick auf die Gesamtheit dieser Zusammenhänge kennzeichnet sich nun die Philosophie als Theorie des Objekts und erst als Theorie des Objekts zugleich und notwendig als Theorie des Subjekts. Es scheint wünschenswert, diese Feststellung vor nahegelegenen Mißverständnissen zu bewahren. Der Satz steckt der philosophischen Forschung nicht das Ziel einer "Gegenstandstheorie"; er meint nicht, daß Philosophie eine vergleichende Aufzählung möglicher Gegenstände oder eine scharfsinnige Unterscheidung möglicher Schattierungen an Gegenständen bedeutet; ebensowenig betrifft er die triviale philosophische Redewendung "Kein Objekt ohne Subjekt, kein Subjekt ohne Objekt". Denn ganz ganz abgesehen vom Inhalt dieser Redewendung konstatiert dieser Satz keine Tatsachen, sondern er erörtert auf definierter Grundlage ein Prinzip. Er stellt nicht fest, daß niemals ein Objekt angetrofen worden ist oder anzutreffen sein würde, dem nicht ein Subjekt entspricht, und umgekehrt; er sagt vielmehr aus, daß die Bestimmtheit des Objekt die des Subjekts, wenn man so will: der Psychologie mit einschließt. Er formuliert also eine aus dem Gedanken der Gegenständlichkeit fließende methodische Forderung, er ist in diesem Sinn "transzendental". Transzendental ist somit auch das Problem der Psychologie: es folgt mit allen seinen Konsequenzen für Betrieb und Begriff der psychologischen Forschung aus dem letztdefinierten Gedanken der Bestimmtheit selbst.

Und schließlich hat mit dem Satz, "Philosophie ist Theorie des Objekts" und ebendarum zugleich Theorie des Subjekts, auch die weitverbreitete Meinung von einer "Kluft" zwischen Subjekt und Objekt nichts zu tun; nichts daher auch mit den emphatischen oder skeptischen, metaphysischen oder entsagungsbereiten Ansätzen, sie zu überbrücken. Denn nicht eine Kluft, sondern ein "korrelatives Auseinandertreten" von Faktoren liegt hier vor, die in dieser ihrer Korrelation aus dem letztdefinierten Motiv der Gegenständlichkeit selbst folgen.

So entfaltet sich dann, blickt man nunmehr auf eine weitere Strecke zurück, ein Beziehungsreichtum ohnegleichen, in den das Verhältnis zwischen Begriff und Gegenstand eingespannt, durch den es definiert erscheint. Das eben ist das entscheidende Merkmal wissenschaftlich-philosophischer Probleme, daß sie niemals isoliert auftreten können. So interferieren dann auch in der Frage nach Begriff und Gegenstand, den Forscher zur gleichzeitigen Betrachtung des Ganzen anregend, alle Gesichtspunkte, die das Motiv der Gegenständlichkeit in sich schließen: Reiz und Erlebnis, d. h. Natur und "Ich", Mannigfaltigkeit und Wechselbezug der Gegenstandsphären und Geltungsmodi, schließlich das allgegenwärtige Problem der Psychologie mit allen seinen Abwandlungen und Folgen für Methodik und Sinn psychologischer Fragestellungen; seiner entscheidenden Bedeutung für das schlechthin universelle Motiv des "Ansatzes" und nicht zuletzt seinen Konsequenzen für die Begriffsbestimmung der Biologie. Denn der Organismus ist immer "jemandes" Organismus oder er ist überhaupt nicht. Nur als mögliches Korrelat des Psychischen erscheint er als Organismus bestimmt. Natürlich auch der tierische: auch sein "principium individuationis" ist die stets eingeräumte Möglichkeit, sich zu meinen, d. h. zu erleben. Der Gegenstandsgedanke, wie er sich uns oben als definierter Begriff der "Synthesis" darstellte, verkörpert also gleichzeitig das höchste Gesetz des Gegenstandes und die individuellsten Umstände seiner Erfassung; neben der Zeitlosigkeit der Geltung selbst, neben dem zeitlosen Sinn der Geltung, das individuellste "jetzt" und damit den Zeitort des Vollzugs im Kontext der Ereignisse. Nur ein Naturobjekt genügt der allgemeinen Bedingung, diesem Kontext der Ereignisse anzugehören; nur ein bestimmt charakterisiertes Naturobjekt, der Organismus, erfüllt die besondere Voraussetzung, dem Erlebnis seinen Zeitort zu verbürgen. Deshalb verwebt sich dann auch das Problem des Organismus bis hinein in seine letzten Tiefen mit den Prinzipienfragen der Psychologie.


VI.

Begriff und Gegenstand, um nunmehr zu diesem Punkt zurückzukehren, erscheinen also in einem festen Gefüge übergreifender, ja universeller Beziehungen miteinander verbunden. Die Natur dieser Beziehungen aber, es braucht dies kaum mehr wiederholt zu werden, schließt jegliche Starrheit von vornherein aus. In der Struktur des Begriffs, und damit auch in der Bestimmtheit des Gegenstandes, enthüllen sich vielmehr die letzten denkpsychologischen Wurzeln der Dialektik, jenes unaufhörlich sprudelnden Prozesses, in dem sich allein der Gegenstand als "Wahrheit" bestimmt. Im platonischen Progressus der methodischen "Unterredung", im Vorwärtsdrängen von Einsich zu Einsicht, von Grund zu Grund, allein entfaltet sich der Begriff. Mit anderen Worten: Nur als ein Gedachtes oder Zudenkendes ist der Begriff "möglich"; nur im dialektischen Prozeß aber wird er zum Träger der Funktion der Geltung. So offenbart sich in der Norm des Begriffs das Gesetz des Gedachten selbst: schon im Gefüge des Gedachten und damit auch des Denkens liegen die Voraussetzungen für die Wirkungsmöglichkeiten jener Norm. Der Begriff, so sahen wir, bedeutet vermöge der in ihm lebendigen Gesetzlichkeit des Urteils immer Ziel und Methode, Abschluß und weg, Ergebnis und Etappe zugleich. Denn er verkörpert als Korrelat der Gegenstandsbestimmtheit das Gesetz des dialektischen Prozesses. In ihm berühren sich somit die Gesetzlichkeiten des Urteils und des dialektischen Gefüges aller Erkenntnis: am Begriff wiederholt sich nur, um es nun mit einem Wort zu sagen, die Gesetzlichkeit des Schlusses. Darum aber erhebt sich auch an dieser Stelle noch einmal die Frage nach dem dialektischen Gefüge derjenigen Geltungsgebiete, deren Gegenstände kraft ihrer "Würde" allein den Anspruch erheben, bestimmt zu werden. Wie wird, etwa im Tatbestand des Glaubens, der "absolute" Gegenstand ergriffen? In welchen Erlebnisschritten offenbart und bestimmt er sich? Worte wie "Schau" oder "Intuition" besagen hier, wie man begreift, wenig. Sie verhüllen das entscheidende Problem, anstatt es zu fördern. Welcher Anteil gebührt in den genannten Fällen dem Ich-Bezug am Gegenstand? Diese und verwandte Fragen bedeuten nicht, wie eine flüchtige Erwägung befürchten könnte, die Gefahr eines bedenklichen Abgleitens ins Psychologische; sie schließen keinen "Psychologismus" ein. Denn ihre Tendenz ist nicht diese, an die Stelle des Gegenstandes und seiner Bestimtheit etwa die Tatsache des Gegenstandserlebens treten zu lassen. Ihre Absicht geht vielmehr dahin, zu untersuchen, wie ich mich "meine", wie ich, um diesen Ausdruck KANTs zu gebrauchen, zu mir "ich" sage, wenn mir ein Gegenstand des genannten Geltungsanspruchs gegenübertritt. Sie bezieht sich in besonderer Hinsicht auf die Invariante des "Ich", auf das den Gegenstandsgedanken selbst widerspiegelnde Motiv des Urteilsvollzugs; also wiederum auf die Bestimmtheit des Urteils. Sofern sich nun diese Bestimmtheit als die Gesetzlichkeit des Schlusses darstellt, sofern offenbaren auch die "absoluten" Gegenstandswerte der nichterkenntnismäßigen Geltungssphären ihre besondere dialektische Struktur als eine besondere Form der Abhängigkeit vom Strukturgesetz des Schlusses.

Je weiter sich aber so der Kompetenzbereich der Logik erstreckt, umso schärfere Umrisse erlangt ihr Begriff. Sie stellt sich uns nun, und zwar immer in unmittelbarer Beziehung auf die Idee der Methode und deren gegenstandsbestimmende Funktion, als die Lehre vom dialektischen Gefüge des Gegenstandes dar. Gerade darum aber ist sie eben eine Theorie des Begriffs wie des Schlusses. Denn gleichwie der Schluß mehr und ein anderes bedeutet als klassifizierendes Subsumieren, wie er als Verkörperung der Gesetzlichkeit des Urteils durch und durch Funktion ist, so muß auch der Begriff als Ausdruck der gleichen Gesetzlichkeit alles abstreifen, was ihm noch vom schemenhaften Gemeinbild der Abstraktionstheorie her anhaftet. Er ist weder ein unbestimmtes Erinnerungsbild, das aus der Erfahrung vieler Fälle "abgezogen", in der Seele zurückbleibt, noch auch Korrelat eines okkulten "Wesens" der Dinge, das sich auf unerklärliche Weise als transindividuelle Essenz und individuelle Substanz zugleich bestimmt. Der Begriff vereinigt unbedingte Bestimmtheit mit unbegrenzter Gestaltungsfähigkeit im Sinne von Funktion und Leistung. Er vergewaltigt nicht sowohl das Einmalige und Individuelle durch seine "Allgemeinheit" und Leere, als er es vielmehr kraft seines funktionalen Gefüges bestimmt. Denn auch Einmaligkeit bedeutet allemal Bestimmtheit. Zwar gibt es auch Begriffe von klassifizierender Allgemeinheit. Aber sie sind, wie wir schon wissen, wirkliche Begriffe und nicht bloß schematische Gemeinvorstellungen erst dann, wenn sich in dieser ihrer Allgemeinheit ihr eigenes funktionales Gefüge offenbart. Auch der klassifizierende Allgemeinbegriff, wie er sich in den sogenannten beschreibenden Naturwissenschaften in immer neuen Abwandlungen darbietet, erscheint eben gegenständlich, d. h. durch ein System von Relationen gebunden, dessen höchstes Gesetz der Gedanke der Geltung ist. Klassifizierende Allgemeinbegriffe sind, wie wir wissen, nur möglich als Ausprägungen eines "natürlichen" Systems.

Von selbst versteht es sich, daß eine Logik als Wissenschaft vom Begriff der Methode auch die Probleme der Verneinung und der Frage, des Zweifels und des Irrtums unter besonderen und neuen Gesichtspunkten umspannen wird. Doch verkörpern alle diese Faktoren wiederum nur auf besondere Weise, d. h. gemäß besonderen, aber im Gegenstandsgedanken selbst vorgebildeten Bedingungen, den Gegenstandsbezug des Begriffs, die Gegenstandsbestimmtheit des Urteils und des Schlusses. Sie sind mit anderen Worten: nur als Bestimmungselemente desselben dialektischen Prozesses möglich, dessen Gesetz sich in Begriff und Schluß gemäß den allgemeinen Bedingungen des Urteils ausprägt. An diesem Punkt berührt sich die Logik unmittelbar mit einer kritischen Geschichte der philosophischen Probleme. Denn sie übt an allen Lehrmeinungen, die sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung der Philosophie vor allem an die Begriffe des Zweifels und des Irrtums geknüpft haben, eine Art immanenter Kritik. Sie zeigt aber auch, daß und wie Zweifel und Irrtum, an das Schicksal der Erkenntnis selbst geknüpft, erst von deren Begriff her ihren eigentümlichen Sinn und ihre charakteristische Stelle im Zusammenhang des Gedachten erhalten. Damit aber erfaßt und kennzeichnet sie zugleich auch die entscheidende Bedeutung der Verneinung und der Frage für die Probleme des Zweifels und des Irrtums. Sie gliedert nun auch Verneinung und Frage in die Theorie des Schlusses, d. h. der Erkenntnis, ein und befreit sie damit aus jenem Zustand unfruchtbarer Isoliertheit, in dem sie eine nur "formale" Logik durch die Jahrhunderte verharren ließ.


VII.

In der ganzen Breite der philosophischen Problemstellung knüpft sich somit der Begriff des Gegenstandes an die Idee der Methode. Sie wird zum Maßstab der "Möglichkeit" nicht allein des Gegenstandes, sondern vor allem auch seiner Theorie - eine Feststellung, durch die "Gegenstandstheorie" und "Phänomenologie" in den Bereich dieser Betrachtungen mit einbezogen erscheinen. Keine von beiden erfaßt den Gegenstand als Moment innerhalb eines Systems von Geltungsforderungen; jede von ihnen glaubt den Bereich der Gegenständlichkeit über den der Geltung erweitern zu sollen. Beide verzichten also grundsätzlich darauf, ihn in seinem Bezug auf den Begriff der Erkenntnis zu bestimmen. Beide entrücken ihn dann auch dem Bereich und den Bedingungen jenes Beuzugs, d. h. beiden erscheint der Gegenstand aus der methodischen Gemeinschaft der Gegenstände im letztdefinierten Begriff der Geltung herausgehoben und damit isoliert. Denn die bloße Tatsache, daß überhaupt auf den Gegenstand reflektiert wird, bestimmt ihn noch nicht, solange die Struktur dieser Tatsache selbst unerörtert bleibt. Zwar trifft es zu, daß man sich allezeit auf den Gegenstand zu "richten" vermag. Aber das bestimmt den Begriff des Gegenstandes nur, weil und sofern es aus ihm folgt.

Man täte gut, sich dies mit allen seinen Konsequenzen gegenwärtig zu halten. "Gegenstandstheoretiker" wie "Phänomenologen" bekämpfen, unbeschadet aller Unterschiede, den "Psychologismus". Gegenstandstheoretiker und Phänomenologen verfallen aber gleichermaßen dessen Fährnissen, wo sie den Begriff des Gegenstandes durch die Tatsache, daß "ich" mich auf ihn zur "richten" vermag, für bestimmt halten. Beide müßten sich, gerade weil sie, wenn auch in verschiedener Terminologie und Betontheit, "Grundwissenschaft" zu sein beanspruchen, die Frage nach ihrer eigenen "Möglichkeit" stellen. Es ist die Frage nach den Bedingungen ihres eigenen Begriffs. Versuchten sie, sich über diesen Rechenschaft zu geben, so sähen sie sich alsbald auf das System der Beziehungen zurückverwiesen, in denen sich der Gegenstand konstituiert, und die es ebendarum erst möglich machen, ihn bald als Glied eines geltungsmäßigen Ordnungsgefüges, bald wiederum als isolierten Bestand jenseits jedes Ordnungsgefüges zu betrachten. Die Isoliertheit und Isolierbarkeit aller Gegenstände würde sich ihnen dann als Funktion der Geltung in den Vollzug, d. h. als Funktion derselben Gesetzlichkeit erwiesen haben, die sich uns im Gefüge des Urteils offenbart hatte. Gegenstandstheoretiker und Phänomenologen zerreißen mit anderen Worten, ohne sich über ihr Tun grundsätzlich Rechenschaft geben zu können, den funktionellen Zusammenhang zwischen Geltung und Vollzug, wenn man will: die organische Einheit der Ist- und Ich-Bestimmtheit im Gegenstand. Ihr einziges Gegenstandskriterium ist eben letztlich immer wieder dieses, daß ich mich auf "etwas" "richten" kann; d. h. der Gegenstand bestimmt sich ihnen grundsätzlich und ausschließlich nach der Tatsache und der Vielgestaltigkeit der Akte, in denen er erfaßt wird. Gewiß, ihr eigenes Interesse geht nicht sowohl auf diese Akte, als vielmehr auf die Sphäre des Gegenstandes selbst. Allein, der Begriff eines solchen Interesses bleibt ebenso im Dunklen, wie derjenige des Gegenstandes.

Im Dunklen aber bleibt auch, und das ist eine Angelegenheit von höchster grundsätzlicher Bedeutung, die eigene Stellung im System der Wissenschaften. Sie wird beansprucht, schon weil von dieser eigenen Positition aus das Problem der Wissenschaft auf wissenschaftliche Weise erörtert wird; aber sie bleibt prinzipiell unbegründet, weil die Rechtfertigung der eigenen "Möglichkeit", weil Weg und Sinn der Analyse, die diese Rechtfertigung voraussetzt, grundsätzlich, gleichsam ex definitione, verschlossen sind. So bleibt dann auch der Begriff des Gegenstandes bei aller Freude an der Ausdehnung des Gegenstandsbereiches, bei aller Versenkung in die Mannigfaltigkeit möglicher Gegenstände und aller Würdigung ihrer Abhängigkeit nach Merkmalen und Struktur von den Formen und Umständen "meines Gerichtetseins", unbestimmt. Die Gegenstände verharren in grundsätzlich starrer Isolierung; sie sind der Dialektik der Wahrheitserkenntnis entrückt, sie stehen außerhalb jener Beziehungsgemeinschaft, die "Methode" heißt.

Spricht man unabhängig von der Methode als der definierten Beziehungsgemeinschaft möglicher Gegenstände von "Tatsachen" - und die Versuchung es zu tun ist nicht gering -, so hat man den Begriff der Tatsache, und zwar in jeglicher Bedeutung dieses Wortes, bereits geopfert. Keine noch so starke Betonung er Besonderheit "philosophischer" Tatsachen, kein noch so eindrucksvolles Verweilen in den geheimnisvollen Tiefen einer von aller Erfahrung grundsätzlich unterschiedenen "Gegebenheit", keine terminologisch noch so abgetönte und stimmungsvoll sublimierte Zwiesprache mit den Urgründen des Daseins, hilft über diesen Punkt hinweg. Auf Worte kommt es an dieser Stelle überhaupt sehr viel weniger an, als auf den Vorsatz, die eigene Haltung zu rechtfertigen, und auf die Klarheit hinsichtlich der Voraussetzungen, in denen sich jener Vorsatz bestimmt. Nicht ob man den Gegenstand "schauend" oder anders erfaßt, ist also das Bedeutsame, sondern ob "Schau" und "Geschautes" sich als Prinzipien legitimieren. Tun sie das, dann erst und nur dann sind sie "Tatsachen" von eigener Art, Tatsachen, die sich von anderen auf angebbare Weise unterscheiden.

So erfordert dann auch der phänomenologische Gebrauch des Wortes "Wesen" und der ganzen reich abgestuften Fülle verwandter Ausdrücke besondere Vorsicht. Denn ist Philosophie in irgendeinem Sinn des Wortes "Wesenserkenntnis", dann muß sie auch imstande sein, über diesen Begriff, dessen Recht und Struktur, Rechenschaft abzulegen. Gibt es ein System der Wesen, ein "Wesen", das sich als Wesen aller anderen Wesen rechtfertigt? Ist ein Prinzip jenes Systems aufzuzeigen? Erweist sich dieses Prinzip als letztes, d. h. als der sich selbst begründende Sinn aller Begründungen selbst? Gewiß, in solchen Fragen lebt der Geist der platonischen Überlieferung, die Phänomenologie aber liebt es, PLATO abzulehnen. Die Frage ist nur, ob sie ohne Gefährdung ihrer eigenen Sicherheit bei einer solchen Ablehnung beharren kann. Denn alle Ablehnung setzt eine Auseinandersetzung mit der Idee des Rechtsgrundes voraus. Zwar versucht man, sich auf den Begriff der "Gegebenheit" zu beschränken und deren Schichten schlechthin voraussetzungs- und kriterienlos zu sondern. Allein, man vergißt die Frage aufzuwerfen, ob nicht schon in diesem Gedanken der Gegebenheit und in allen seinen Stadien, Abwandlungen und Schattierungen das Motiv der Geltung, die Idee der Norm und deren Selbstrechtfertigun in der Philosophie, der Begriff des Kriteriums, kurz der Gedanke der Gegenständlicheit, notwendig mitgesetzt sind. Die Phänomenologe bleibt auf halbem Weg stehen. Er erkennt die grundlegende Bedeutung des "Meinens", der "Intention". Aber durch eine breite Kluft bleibt für ihn dieses "Meinen" vom Gegenstand getrennt - selbst und ganz besonders dann, wenn es ihm allein dazu bestimmt erscheinen sollte, den Gegenstand zu "erfassen". Und auch die Natur dieser Kluft bleibt grundsätzlich unerforscht, solange nicht eine übergreifende Funktion entdeckt ist, die "Meinen" und "Gegenstand" verbindet, indem sie sie zu unterscheiden gestattet. Der kritische Begriff der "Synthesis" hat eben in den Bereichen der Gegenstandstheorie und Phänomenologie keine Stätte. Gerade darum aber ermangeln diese auch einer theoretisch geklärten Beziehung zum Problem der Psychologie - mag man nun Psychologie selbst betreiben oder aber "ausklammern".


VIII.

Wie der Begriff der "Gegebenheit", so verflüchtigt sich also unter gegenstandstheoretischen und phänomenologischen Voraussetzungen naturgemäß auch der der Psychologie. Denn beide sind ihren letzten Motiven nach betrachtet Eines: Funktionen des Gedankens der Gegenständlichkeit. Nach dem Recht des Begriffs der Gegebenheit zu fragen bedeutet so viel, wie das Problem der Psychologie selbst unter dem Gesichtspunkt seiner organischen Verbindung mit einer Theorie des Objekts zu entfalten. Zur Form des Gegenstandes gehört eben auch die zeitliche Funktion seines Begriffenwerdens. Das "Faktum" der Erfahrung fordert deren "Faktizität", und der Sinn dieser Faktizität enthüllt sich im Begriff der Psychologie. So bedeutet dann auch das "Ich" oder besser: so bedeute "ich", als Exponent dieser Faktizität, d. h. als Ausdruck der Einzigartigkeit der Tatsache des Erlebens, den Gegenstand, nach der notwendigen Bestimmtheit seines Vollzugs betrachtet. Die monas ist das notwendige Widerspiel des Gegenstandes; ihr Begriff ist auch der seinige. Keine Kluft trennt sie voneinander, und keiner sekundär erdachten Konstruktion von Faktoren bedarf es, um diese Kluft zu schließen. Gegenstand und monas sind, wir wissen es schon von früheren Erwägungen her, in ihrem Abstand korrelativ: dieser Abstand konstituiert die Begriffe beider. Nur mit dem Begriff der Erkenntnis selbst also könnte man - ein Lieblingsgedanke aller "Metaphysik" - die Idee dieses Abstandes beseitigen.

Der Begriff der Psychologie aber liefert das höchste Gesetz ihres Betriebs. Zwar ist Psychologie allemal Wissenschaft von "Tatsachen", allein von Tatsachen, in deren Begriff das "Wissen" oder doch das "Wissen-Können", um diese Tatsachen mit allen seinen Konsequenzen notwendig eingeht. Auch im Psychischen verlaufen also Ereignisse, aber nach Bedingungen, die dem Begriff des "Wissens" genügen. Dieser Begriff nun fordert für die Psychologie, gegenüber jeder anderen Wissenschaft, ganz besondere Formen der Fragestellung; er erschließt in einer Dimension, deren Bedingungen kein Objekt zu erfüllen vermag, eigenartig gefügte Probleme; er zeitigt einen vom naturwissenschaftlichen grundsätzlich unterschiedenen Begriff des Experiments; kurz: er schafft auch eine neue methodologische Dimension, die sich dadurch kennzeichnet, daß hier Tatsachen nicht allein, wie sonst auch, der allgemeinen Voraussetzung der Gegenständlichkeit genügen, sondern den Tatbestand der Gegenständlichkeit selbst in ihrer Ich-Bedingtheit unmittelbar ausprägen. Das Erlebnis bedeutet eben eine "Tatsache" sui generis [aus sich selbst heraus - wp]. Denn wie es nur insofern Erlebnis heißen kann, als es der allgemeinen Bedingung genügt, die Gesetzlichkeit des "Ich", des "Ich weiß", zu verkörpern, so ist es als Tatsache immer auch "Prinzip", d. h. Element des Begriffs der Geltung. Es ist derselbe Gedanke, daß nur individualisierte Erlebnisse Erlebnisse sind, daß ihre Einzigkeit sich nicht in geschichtlicher Einmaligkeit erschöpft, sondern daß ihnen als "monadischen" Einzigkeiten eine das Motiv der Gegenständlichkeit selbst darbietende Dimensioniertheit zukommt.

Das muß sich natürlich auch in Prinzip und Anlage des psychologischen Versuchs, es muß sich in der methodologischen Form der Ergebnisse psychologischer Forschung ausdrücken. Der Psychologe operiert nicht mit Naturobjekten, Naturereignissen und deren Gesetzen, sondern mit jemandes "Wissen um etwas". Nicht um Ereignisses handelt es ihm, deren Anfang und Ende nach objektiven Maßstäben zu bestimmen sind, sondern um ein Wissen seiner Versuchspersonen - und mag er selbst zu ihnen gehören -, d. h. um "Aussagen" seiner Versuchspersonen über Anfang und Ende ihrer Erlebnisse. Das Objekt des Psychologen ist stets der "monadische" Einzelfall, das Ergebnis seiner Forschung kein Gesetz, dem der Einzelfall unterliegt, sondern die Antwort auf die Frage, wie sich im Einzelfall die höchste Bedingung des Erlebnisses, Prinzip und Tatsache zugleich zu sein, also der Gedanke der Gegenständlichkeit, abwandelt. Darum stellt sich als Prinzip des psychologischen Experiments zum Unterschied von jedem anderen die "Verständigung" mit dem Objekt dar; darum empfängt jede Gegebenheit ihren besonderen methodologischen Akzent innerhalb der Psychologie erst von der Erwägung der Gründe, aus denen sie überhaupt als psychologisch bezeichnet zu werden verdient; darum stellt jede psychologische Gegebenheit das Problem der Psychologie selbst zur Diskussion; darum ist Psychologie überall auch eine Prinzipienlehre der Psychologie, d. h. Philosophie. Darum aber kennt sie auch den Begriff atomarer Setzungen nicht, und eine Psychologie der "Elemente" oder der "Assoziation" ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Sie wird allenthalben einer Psychologie des "Wissens", in diesem Sinn einer Gefühlserlebnisse und Willensregungen ungeschmälert mitumfassenden "Psychologie des Denkens", weichen müssen.

Daß das methodologische Gefüge der Psychologie von dem der Naturwissenschaft grundsätzlich abweicht, bedeutet freilich nicht, daß es nicht dennoch notwendig, d. h. ihrem eigenen Begriff nach, auf dieses bezogen ist. Synthesis, wir wissen es, bestimmt sich als Funktion schlechthin individueller Erlebnismittelpunkte. Darin offenbart sich die höchste Gesetzlichkeit des Gegenstandes selbst. Sie fordert den Wechselbezug der Einzigkeit des Gegenstandes und einer unbegrenzten Vielzahl der die Synthesis vollziehenden Erlebnismittelpunkte. Oder anders: Das "Zeitlose" und "Überzeitliche" erweist sich als ein Korrelat des "jetzt", ihm muß ein Zeitort des Erlebnisses in der Erfahrung entsprechen. Und dieser Zeitort markiert sich im Begriff eines besonders charakterisierten Naturobjekts: in "meinem", in jemandes Organismus. Sein Begriff ist mitgedacht, wo vom Erlebnis die Rede ist; seine Gesetzlichkeit erweist sich als aller Psychologie zugeordnet. Das Problem der Psychophysik ist in dem des Erlebens enthalten; Physisches Psychischem also weder kausal, noch auch im Sinn der sogenannten "Parallelität" zugeordnet, sondern als Moment der Bestimmtheit des Psychischen überhaupt, als Bestimmungselement der Tatsache des Erlebens selbst, die immer auch die Tatsache des "jetzt" wird sein müssen, gesetzt; der "Reiz" nicht ein Naturvorgang, der sich auf geheimnisvolle Weise ins Erleben "umsetzt", sondern ein notwendiger, aus dem Begriff eben jenes Erlebens folgender Gesichtspunkt, den Zeitort des Erlebnisses zu bestimmen; ein Naturobjekt, das im Hinblick auf den Begriff des Erlebens und damit auf den Organismus bestimmt erscheint und darum selbst wieder eine genau umschriebene funktionelle Gliederung des Organismus voraussetzt: es muß ihm der Besitz von "Sinnesorganen" notwendig zugemutet werden können.

So erweist sich dann der Begriff jenes "jetzt" als der Angelpunkt der ganzen Fragestellung. Er betrifft den eigentümlichen, ja einzigartigen, dem Erlebnis allein zukommenden Zeitwert, die Gleichzeitigkeit des Auseinanderliegenden, also die als Kontinuum gegebene Erlebnisstrecke selbst. Es ist die Zeit im Sinne der "Präsenz" und gleich dem einzigartigen Tatbestand des "Ich" als Funktion der Gegenständlichkeit. Form aller Setzung, konzentriert sich in ihr das Problem der Psychologie. Aus dem gleichen Grund aber offenbart ihr Begriff das höchste Gesetz aller Bestimmtheit, den Gedanken der Geltung. Nun muß aber diesem ihrem Begriff selbst wieder eine Setzung entsprechen, wenn auch Geltung und Vollzug korrelativ genannt werden dürfen. "Synthesis" selbst als Prinzip des Gegenstandes muß sich als Setzung darstellen. Tut sie es nun im Hinblick auf das System der Beziehungen, die im definierten Begriff des Reizes ihren methodisch bestimmten Ausdruck finden, so heißt sie Anschauung; sie ist in dieser Hinsicht Anschauung als Repräsentant des Gedankens der Gegenständlichkeit, also Setzung als "notwendige" Anschauung; sie verkörpert den Sinn des mathematischen Axioms. Wichtigste Motive erhalten damit ihren systematischen Ort: die Frage nach dem Gefüge mathematischer Notwendigkeit, d. h. das Problem vom axiomatischen Charakter der Mathematik, d. h. daß in der Mathematik eine Setzung allemal Geltung bedeutet, daß hier Sinnbestimmtes bereits Gültigem gleichkommt; sodann KANTs tiefsinniger Begriff der "reinen" Anschauung, als des Geltungsprinzips extensiver Setzung; schließlich eine Theorie des Raumes als besonderer Abwandlung der Zeitordnung; der Raum als Allgemeingültigkeit verbürgende Funktion der Präsenz, als allgemeingültiges "Zusammen", wenn man will als "Allgemeingültige Gleichzeitigkeit", kurz: die Begriffe der mathematischen Demonstration im allgemeinen und der geometrischen Konstruktion im Besonderen.


IX.

Das Problem der "Präsenz" nun, nicht freilich als bloße psychische Tatsache, sondern als methodisches Korrelat des Gedankens der Gegenständlichkeit, d. h. die Präsenz in ihrem "transzendentalen" Verstand, betrifft das Gefüge des Gegenstandes, wie weit oder wie eng auch immer dessen Begriff gefaßt werden möchte. Er ist als Gegenstand immer "ganz". Er ist einer, d. h. er ist "überschaubar"; und nur als "überschaubarer" ist er bestimmt, d. h. eben er selbst. Nur als Funktion der "Präsenz" erfüllt er die Bedingung der Identität und sofern sich diese Identität, wie beim Gegenstand der Natur, als Größenwert darstellt, auch die allgemeinen Bedingungen der Größe. Oder allgemeiner und in den Bahnen etwa der kantischen Terminologie: "Kategorie" und "Idee" erweisen sich in der Bestimmtheit des Gegenstandes als genau so wechselbezogen, wie die Gesetzlichkeiten des Urteils und des Schlusses im letzten Grund identisch sind. "Ganzheit" aber ist der größenbestimmte, d. h. naturhafte Gegenstand nur insofern, als er auch extensiv überschaubar, d. h. "Gestalt" ist. So rückt das Problem der Gestalt mitten herein in die Theorie der Natur, nicht etwa, um in die Naturforschung das dieser grundsätzlich fremde Element einer psychologischen Betrachtung hereinzutragen, sondern um den Begriff der gegenständlichen Bestimmtheit der Natur von allen Seiten her zu sichern. Und gleichwie das Naturobjekt "Gestalt" ist, so ist die Gemeinschaft der Naturobjekte "System". Mit Recht besteht der Naturforscher darauf, seine Sätze immer nur auf definierte Systeme zu beziehen. Denn er genügt damit nur einer allgemeinen Bedingung gegenständlicher Bestimmtheit überhaupt, der allgemeinen Voraussetzung der "Präsenz".

Aber auch diejenigen Gegenstände, die sich nicht als Größenwerte, d. h. nicht als Glieder des Kontextes der Natur bestimmen, erfüllen die Bedingung präsentieller Ganzheit. Sie sind, welche besondere Form ihnen auch zukommen mag, welchem Geltungszusammenhang sie auch zuzurechnen wären, Sinnganzheiten. Nur als Sinnganzheiten sind sie überhaupt erst "möglich", d. h. anderen gegenüber bestimmt; nur als Sinnganzheiten erfüllen sie die Bedingung, gegenständliche Geltungsansprüche zu verkörpern.

Ja, tiefer betrachtet verknüpfen sich Naturgegenstand und größenfreies Sinnobjekt gemäß der allgemeinen Voraussetzung der Denkbarkeit, also in der allgemeinen Bedingung der "Präsenz". Beide sind "produziert", nur jener zugleich gemäß den Bedingungen der Größe. Beide sind Funktionen der "Synthesis". Beide aber offenbaren ebendarum die Gesetzlichkeit der "Verständigung". Ich "weiß" um micht, wenn ich um den Gegenstand weiß; ich bestimme ihn "mir" und damit im Prinzip auch jedem "anderen". Der Gegenstand ist grundsätzlich "verständnisbezogen"; und sofern er auch in der Verständigung, was seinem Begriff gemäß ist, beharrt: sprachbezogen.

So entspringt auch das Problem der "Sprache" unmittelbar der Frage nach der Struktur des Gegenstandes, so erweist es sich als mit dieser Struktur gegeben. Der Gegenstand fordert in seiner präsentiellen Bestimmtheit die Sprache und in der Sprache wiederum offenbart sich das Problem des Gegenstandes, das auch hier, gerade weil Gegenständlichkeit Beharrung, d. h. Bestimmtheit, bedeutet, nicht einen starren Bestand, sondern den sich in einem fortgesetzten methodischen Vollzug gestaltenden Sinn anzeigt. Nie und immer zugleich erfüllt daher die Sprache die Bedingungen des Gegenstandes. Immer, sofern die Sprache Bestimmtheit verbürgt, Bestimmtheit in dem mit dem Begriff des Gegenstandes selbst gegebenen Medium der "Verständigung"; nie, sofern sie stets über den Gegenstand hinausweist, sofern sie "mehr" leistet bzw. "weniger" vermag, als der Gegenstand fordert, d. h. eben sofern sie nach ihrem eigenen dialektischen Gesetz den nie abgeschlossenen Prozeß der Bestimmung des Gegenstandes offenbart. In einer anderen Schicht der Überlegung wiederholen sich diese Verhältnisse. Man hat sich daran gewöhnt zu beklagen, daß die Sprache dem Tiefsten gegenüber, das die Seele bewegt, versagt, daß sie die Menschen nicht sowohl verbindet als vielmehr trennt. Man übersieht dabei, daß die monas Voraussetzung aller Verständigung ist. Gerade die Unmöglichkeit, die "Iche" auszutauschen, gerade die Unüberschreitbarkeit, die Ineffabilität [Unaussprechlichkeit - wp] des "Individuums" gibt dem Begriff der Verständigung Sinn und Gehalt. Sich auch nur verständigen zu wollen, heißt bereits die monas bejahen. "Verständigung" liefert geradezu den Korrelatbegriff zu jener dimensionierten Einzigkeit, zur Unvertauschbarkeit des Ich. Sie fordern sich wechselseitig. Nur im Hinblick auf die Bedingungen der Verständigung hat es einen Sinn zu sagen, daß ich den "anderen" letztenendes nicht verstehe, d. h. nur sofern ich dies einräume, gewinnt der Begriff der Verständigung selbst erst eine Bestimmtheit.

Eine Kette von Bedingungen schlingt sich so um die Begriffe "Gegenstand", "Verständigung" und "Ich", wir dürfen auch sagen: um "Sein", "Sprache" und "Erlebnis"; ein System von Voraussetzungen beherrscht "Methode" und die "Gegebenheit meiner selbst". Psychologie ist eben in allem und überall. Allein, auch das bedeutet keine Verwechslung des Gegenstandes mit der psychischen Tatsächlichkeit, also keinen "Psychologismus". Es bedeutet etwas ganz anderes, ja dem Psychologismus schlechthin Entgegengesetztes, nämlich die Gebundenheit des Begriffs der Psychologie an das Problem des Gegenstandes. In allen Bezügen, die von diesem Problem beherrscht erscheinen, offenbart sich daher auch das theoretische Grundmotiv aller Psychologie, der Begriff der "Präsenz". Die methodologische Urfrage nach dem Wechselbezug, d. h. nach Sinn und Grundlagen des Systems der Wissenschaften, stellt sich dabei in erster Reihe zur Erörterung. Denn das System der Wissenschaften ist nur das Widerspiel des Begriffs der Gegenständlichkeit: in jenem System entfaltet sich recht eigentlich dieser Begriff.Und so sieht sich dann der wissenschaftliche Philosoph vor die Aufgabe gestellt, die Mannigfaltigkeit der Wissenschaften denselben Grundsätzen gemäß zu begreifen, denen zufolge sich uns die Psychologie als Korrelat einer kritischen Wissenschaft vom Gegenstand erwiesen hat.

Innerhalb des Problems vom System der Wissenschaften aber fordert die Frage nach dem Verhältnis zwischen Naturerkenntnis und Kulturwissenschaft vor allem anderen eine Klärung. Sie kann hier nur durch einige skizzenhafte Bemerkungen angebahnt werden. Es war oben der kritische Begriff des Reizes eingeführt worden. Der Reiz ist, so sahen wir, der Gesichtspunkt, das Problem des Erlebnisses als Funktion des Kontextes der Erfahrung zu betrachten, eine Funktion, die der Begriff der Gegenständlichkeit zugleich begründet und fordert. Der Reiz repräsentiert also den Begriff der Natur unter den Bedingungen des Erlebnisses. Zweierlei ist nun in dieser Einsicht beschlossen. Einmal die Erlebbarkeit des Kontextes der Erfahrung, sodann aber der Begriff des Wissens um das Erleben dieses Kontextes. Das Problem des Reizes offenbart folglich - unbeschadet seiner naturhaften Bestimmtheit - auf komplexe Wesie die Invarianten der Psychologie: die Möglichkeit, zu sich "ich" zu sagen und, was übrigens das Gleiche bedeutet, das Prinzip der "Verständigung". Das Wissen um den Kontext der Natur, dann das Wissen um das Erleben dieses Kontextes, muß sich also auch auf das Prinzip der Verständigung abbilden, unter den Bedingungen dieses Prinzips begreifen lassen. Es wird sich als besondere Form der Verständigung darstellen müssen. Diese besondere Form nun gilt es zunächst mit einigen Strichen zu umgrenzen.

Schon die Empfindung ist unter dem Gesichtspunkt jener Invariante der Verständigung zu betrachten; sie muß sich, gleichsam ex definitione, sowohl als "Eindruck" wie als "Ausdruck" kennzeichnen. An welchem Erlebnisgefüge das Wissen um den Kontext der Natur sich auch immer offenbaren mag, es muß die Stabilität der Natur, deren Größenbezogenheit und Größenbestimmtheit im Wissen, d. h. in Eindruck und Ausdruck, ihre Repräsentation finden. Als Eindruck und Ausdruck tritt die Natur ins Medium der monas und die Bedingungen, denen sie sich damit unterwirft, erfüllt - aus Gründen, deren Erörterung den Rahmen der vorliegenden Abhandlung sprengen müßte - allein die Sprache. Sie bildet die Stabilität der Natur ab als Kontinuität der Bedeutung. Der substantialen Bestimmtheit der Natur entspricht im Medium der Kontinuität des Erlebens die Überlieferung. Sprache und Natur sind einander ebensowenig wesensfremd, wie Gegenstand und Erlebnis. Daß sich die Bestimmtheit der Natur, die "substantiale" Gegebenheit des Naturobjekts, in einem dialektischen Prozeß der Bestimmung gestaltet, daß Natur und Erleben vom gemeinsamen Band der Präsenz umfaßt sind, das drückt nur auf besondere Weise den Gedanken aus, daß die Natur das Medium der Sprache und den mit diesem Medium gesetzten Gedanken der Kontinuität fordert. So entspringt aus dem kritisch analysierten Problem des Gegenstandes, hier des Gegenstandes der Natur, das Motiv der Überlieferung, mit allem, was es an schwerwiegenden Konsequenzen für die Begriffe "Schrift" und "Gemeinschaft", "Kultur" und "Geschichte" enthalten mag. Naturwissenschaft und Geschichte sind ihren negativen wie ihren positien Beziehungen nach betrachtet keine "Gegebenheiten", die sich nun einmal vorfinden, sondern Aufgaben, die aus der Notwendigkeit des Gegenstandsproblems, d. h. aus dem Begriff der Notwendigkeit selbst, notwendig folgen. Dasselbe Gesetz der Korrelation also, das monas und Gegenstand verknüpft, verbindet auch Naturerkenntnis und Kulturwissenschaft; dasselbe Gesetz bedingt auch die Reihe der Wissenschaften im System der Erkenntnis.


X.

So erweist sich, ich lenke damit zum Ausgangspunkt dieser Erwägungen zurück, das Problem des Gegenstandes nach allen Seiten hin als systematische Grundlage und Richtpunkt philosophischer Fragestellung. Es gibt dem Begriff der Rechtfertigung seine Bestimmtheit; es verbürgt der Logik den unermeßlichen Reichtum der Probleme, der ihr aus der Verbindung mit der forschenden Wissenschaft zuwächst; es knüpft die Logik im Rahmen einer umfassenden Theorie des Urteils, das Schluß und Begriff in sich enthält, für alle Zeiten an das Schicksal der Methode; es erweckt damit das klassische Motiv der Dialektik zu neuem Leben; es sichert dem Begriff der Relation in einem unaufhebbaren Bezug auf jenes Motiv schlechthin eine universelle Bedeutung. Als Theorie der Geltung drängt es zu einer allseitigen Bestimmung des Begriffs "Vollzug" und umgrenzt damit nicht nur den Problembereich der Psychologie, sondern durch eine kritische Analyse des "Ansatzes" die Möglichkeit und das axiomatische Wesen der Mathematik; es verbürgt in einem allseitigen und strengen systematischen Bezug den Eigenwert der psychologischen Fragestellung und erfaßt mit bewußter methodischer Schärfe den Begriff der Psychophysik; es erfaßt in diesem Begriff das Problem des Organismus und wird selbst mittels einer methodischen Bestimmung des "Reizes" und der "Ganzheit" zur Theorie der Natur. Die "transzendentale", d. h. aus dem letztdefinierten Gedanken der Gegenständlichkeit folgende Bestimmung der Psychologie führt es in strenger Konsequenz zum methodischen Begriff des "Ich": die monas, das Motiv der Verständigung und mit ihm das Problem der Sprache erhalten nun ihren endgültigen logischen Ort, die Sprache in ihrer bedingungslosen Naturgebundenheit und ihrem ebenso bedingungslosen Kulturbezug. Indem sich aber Naturgebundenheit und Kulturbezug selbst wieder als Funktionen des Gedankens der Gegenständlichkeit erweisen, wird dieser zur logischen Quelle des Systems der Wissenschaften. Naturforschung und Geschichte hören jetzt auf, nebeneinander oder gegeneinander zu stehen, sie sind einander in der tiefsten Bedeutung des Wortes "affinit" und Früchte eines Baumes: Keines von ihnen wäre ohne das andere. "Natur" und "Kultur" konstituieren sich eben im höchsten Gesetz der Gegenständlichkeit. "Überlieferung" und "Darstellung" treten jetzt in den Kreis methodisch definierter Begriffe und übertragen das volle Maß ihrer Bestimmtheit auch auf die Pädagogik. Das Problem der Gemeinschaft erhält nun seinen schlechthin definierten Gehalt. Gegenständlichkeit als Bestimmungsgrundlage der Gemeinschaft, oder wenn man will: Gemeinschaft als gegenständliche Potenz aber konstituieren sich in den Begriffen des Wertes und der Idee. So offenbaren auch Wert und Idee die höchste Gesetzlichkeit des Gegenstandes, das Gefüge des Urteils, dessen kritische Theorie damit, alle Gefahren des "Rationalismus" grundsätzlich ausschließend und jeder inhaltlich-individuellen Regung prinzipiell erschlossen, zur Grundlage einer Theorie der Sittlichkeit und des Glaubens, des Rechts und der Kunst wird. Das Problem des Gegenstandes ist nicht nurdas an Umfang weiteste, sondern auch das an Inhalt reichste. Es legitimiert sich vor sich selbst als Prinzip aller philosophischen Fragestellung. Es bestimmt damit den Begriff der Philosophie als den einer methodischen Selbstrechtfertigung ihres Begriffs. Darum begleitet es auch die ganze geschichtliche Entwicklung als deren nimmermüder Interpret; darum bedeuten in der Philosophie Geschichte und Theorie ebenso und nach denselben Grundsätzen eines, wie im Begriff der Psychologie Prinzip und Tatsache. Es wäre angesichts der Vielfältigkeit und des Gliederungsreichtums der Aufgabe ein müßiges Beginnen, für die Philosophie eine "Definition" im landläufigen Sinn des Wortes finden zu wollen. Wohl aber läßt sich das, was Philosophie in tatsächlicher Bewältigung und bewußter Bestimmung ihrer Aufgaben an den zentralen wie an den entlegensten Punkten ihres Problembereichs zu leisten berufen ist, auf eine alles in sich fassende Formel bringen: Sie ist Theorie des Objekts.
LITERATUR - Richard Hönigswald, Philosophie als Theorie der Gegenständlichkeit, in Hans-Ludwig Ollig, Neukantianismus,Texte der Marburger und der Südwestdeutschen Schule, ihrer Vorläufer und Kritiker, Reclam, Stuttgart 1982