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WILLIAM JAMES
Psychologie
Das Selbst
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"Das Einzige, was einem solchen üppigen Wuchern nicht-egoistischer Interessen Einhalt gebietet, ist die natürliche Auslese, welche diejenigen ausrottet, die dem Individuum oder der Rasse sehr schädlich sind. Viele solcher Interessen bleiben jedoch unausgerottet - z. B. das Interesse am andern Geschlecht, das im Menschen stärker zu sein scheint, als für die Nützlichkeitsbedeutung, die es hat, erforderlich wäre; und weiter Interessen wie dasjenige am Alkoholgenuß oder an musikalischen Klängen, die, soweit ersichtlich, jedes Nutzens überhaupt entbehren."

Das Mich (1) und das Ich. Woran ich auch denken mag, stets bin ich gleichzeitig mehr oder weniger meiner selbst, meiner persönlichen Existenz bewußt. Dabei bin ebenfalls in demselben Moment Ich es, der das Bewußtsein hat. Mein ganzes Selbst ist also gleichsam verdoppelt. Einerseits zu Bewußtsein Kommendes, andererseits Bewußtsein Habendes, einerseits Objekt, andererseits Subjekt, muß es zwei unterscheidbare Aspekte in sich vereinigen, von denen wir der Kürze halber den einen als das Mich, den anderen als das Ich bezeichnen wollen. Ich spreche von unterscheidbaren Aspekten und nicht von getrennten Dingen, weil der Glaube an die Identität des Ich und des Mich als etwas, was gerade auch während des Aktes der Unterscheidung beider fortbesteht, vielleicht die unerschütterlichste Überzeugung des gesunden Menschenverstandes ausmacht und hier, zu Beginn unserer Auseinandersetzungen, nicht durch unsere Terminologie gefährdet werden darf, zu welchem Ergebnis hinsichtlich seiner Haltbarkeit wir auch am Ende unserer Untersuchung gelangen mögen.

Ich werde deshalb nacheinander behandeln A) das Selbst als zu Bewußtsein Kommendes oder das Mich, das "empirische ego", wie es zuweilen genannt wird, und B) das Selbst als Bewußtsein Habendes oder das Ich, das "reine ego" gewisser Autoren.


A. Das Selbst als zu
Bewußtsein Kommendes.

Das empirische Selbst oder das Mich. Zwischen dem, was ein Mensch als Ich (im Sinne unseres Mich) und dem, was er als mein Eigen bezeichnet, läßt sich schwer eine Grenzlinie ziehen. Wir sind in hohem Maße interessiert und tätig für gewisse Dinge, die wir unser eigen nennen, ebenso wie wir für uns selbst interessiert und tätig sind. Unser guter Ruf, unsere Kinder, unsere Werke können uns so wertvoll sein wie unser Körper und können die nämlichen Gefühle und die nämlichen Reaktionen hervorrufen, wenn sie bedroht werden. Und unsere Körper selbst, sind sie nur unser Eigen oder sind sie Wir? Sicherlich hat es Leute gegeben, die bereit waren, auch ihren Körper von ihrem Selbst zu trennen und ihn als bloße Hülle oder sogar als irdisches Gefängnis zu betrachten, aus dem sie eines Tages befreit zu werden hofften.

Wir sehen also, daß wir es mit einem recht veränderlichen Gegenstand zu tun haben. Das nämliche wird bald als Teil des "Mich", bald einfach als "mein Eigen" und bald auch so behandelt, als ob das Ich überhaupt nichts damit zu tun hätte. Im weitesten Sinn jedoch gehört zu eines Menschen "Mich" die ganze Summe all dessen, was er als sein Eigen bezeichnen kann, nicht nur sein Körper und seine psychischen Fähigkeiten, sondern auch seine Kleider und sein Haus, seine Frau und seine Kinder, seine Vorfahren und Freunde, seine Ehre und Arbeit, seine Güter und Pferde, oder auch eine Yacht und ein Bankkredit. All diese Dinge verursachen ihm die nämlichen Gefühle. Wenn sie zunehmen und gedeihen, hat er ein Gefühl des Triumphes; wenn sie schwinden und zugrunde gehen, fühlt er sich niedergedrückt - nicht notwendig in demselben Grad jedem einzelnen gegenüber, aber stets in der nämlichen Art. Indem wir das "Mich" in diesem weitesten Sinn auffassen, können wir nun beginnen, dasselbe näher zu betrachten. Dabei wollen wir unsere Abhandlung in drei Teile teilen, indem wir berücksichtigen
    a) die Konstituentien des "Mich";

    b) die Gefühle und Gemütsbewegungen, die dadurch bedingt werden, - die Selbsteinschätzung;

    c) die daraus hervorgehenden Handlungen, - die Akte der Selbstversorgung und der Selbsterhaltung.
ad a. Die Konstituentien des "Mich" können in zwei Gruppen eingeteilt werden, aus denen sich folgende Arten des "Mich" aufbauen:
    das materielle "Mich",
    das soziale "Mich" und
    das geistige "Mich".
Das "materielle Mich". Der Körper ist der intimste Teil des materiellen "Mich" bei jedem von uns; und gewisse Teile des Körpers scheinen wieder enger zu uns zu gehören als andere. Nach dem Körper kommen die Kleider. Der bekannte Ausspruch, daß der Mensch aus drei Teilen besteht, aus der Seele, dem Körper und den Kleidern, bedeutet mehr als einen schlechten Witz. Wir legen soviel Wert auf die Kleider und identifizieren uns in dem Maß mit ihnen, daß es wenige unter uns geben dürfte, die nicht sofort eine sehr entschiedene Wahl treffen würden, wenn man sie vor die Alternative stellt, entweder einen schönen Körper in stets schäbiger und unsauberer Kleidung oder eine häßliche, verunstaltete Figur stets tadellos gekleidet ihr eigen zu nennen. Weiter bildet unsere nächste Familie einen Teil unseres Selbst. Vater und Mutter, Frau und Kinder sind Bein von unserem Bein und Fleisch von unserem Fleisch. Wenn sie sterben, verlieren wir mit ihnen einen Teil unseres ureigensten Selbst. Wenn sie etwas Schlechtes tun, ist es unsere Schande. Wenn sie beleidigt werden, so erregt das unseren Groll nicht weniger prompt, als wenn die Beleidigung uns zugefügt würde. Weiter gehört hierher unser Heim. Seine Gestaltung bildet einen Bestandteil unseres Lebens; wir betrachten es mit den zärtlichsten Gefühlen und vergessen es nicht leicht, wenn ein fremder Besucher an der Einrichtung desselben etwas auszusetzen findet oder gar geringschätzig damit umgeht. All diese verschiedenen Dinge sind Gegenstände instinktiver Zuneigung, eng verknüpft mit den bedeutsamsten praktischen Lebensinteressen. Wir alle folgen einem blinden Trieb, wenn wir für das Wohlergehen unseres Körpers Sorge tragen, wenn wir ihn mit gut aussehenden Kleidern schmücken, wenn wir Eltern, Frau und Kinder lieben und wenn wir nach einem eigenen Heim trachten, in dem wir leben und wohnen mögen.

Ein ebenso instinktiver Trieb veranlaßt uns, Besitztümer zu sammeln und was wir so an Eigentum gewinnen, das bedeutet ebenfalls Teile, und zwar je nachdem verschieden intime Teile unseres empirischen Selbst. Am innigsten zu uns gehörig erscheint ein Besitz, der durch eigene Arbeit errungen worden ist. Es dürfte wenig Menschen geben, die nicht ein Gefühl persönlichen Vernichtet-Seins empfinden, wenn ein Werk, an dem sie ihr Lebenlang mit Hand und Kopf gearbeitet haben - etwa eine Insektensammlung oder ein umfangreiches Manuskript - ihnen plötzlich entrissen wird. Der Geizhals hat ähnlich Gefühle gegenüber seinem Geld; und wir alle erleben beim Verlust unseres Besitzes ein Gefühl der Depression, das zwar großenteils bedingt ist durch das Bewußtsein, daß wir nun bestimmte, mit dem betreffenden Besitz verknüpfte Vorteile entbehren müssen. Aber wenn wir von diesem Bewußtsein absehen, so bleibt in solchen Fällen stets noch ein Gefühl der Beeinträchtigung unserer Persönlichkeit zurück. Wir haben den Eindruck, als ob ein Teil von uns selbst zunichte wird. Wir fühlen uns mit einem Mal auf dieselbe Stufe versetzt wie die Bettler und armen Teufel, die wir so verachten, und gleichzeitig weiter als je entfernt von den glücklichen Erdensöhnen, die sich als Herren betrachten über Land und Meer und Leute in der schwellenden Lebenskraft, die Reichtum und Macht verleihen können, und denen gegenüber wir eine gewisse Regung der Achtung und Bewunderung nicht zu unterdrücken vermögen, die sich offen oder versteckt geltend macht, auch wenn wir uns noch so sehr dagegen wehren unter Berufung auf anti-kapitalistische leitende Grundsätze.

Das soziale Mich. Eines Menschen soziales "Mich" ist das, als was er von seinen Genossen betrachtet wird. Wir sind nicht nur Herdentiere, die sich nicht gern weit von der übrigen Herde entfernen, sondern wir haben auch eine angeborene Vorliebe dafür, von unseren Nebenmenschen beachtet, und zwar in einem günstigen Sinn beachtet zu werden. Wollte man jemand recht schwer strafen, so konnte man gar nichts Schlimmeres ersinnen, wenn so etwas physisch überhaupt möglich war, als daß man ihn frei in der Gesellschaft herumlaufen läßt, ohne daß irgendein Mitglied der Gesellschaft irgendeine Notiz von ihm nimmt. Wenn bei unserem Eintritt nie jemand auch nur den Kopf wenden, auf unsere Fragen kein Mensch je eine Antwort geben würde, wenn all unser Tun unbeachtet bleibt, jedermann uns als Luft behandeln und sich so benehmen würde, als ob wir nicht vorhanden wären, so würde bald eine Wut und ohnmächtige Verzweiflung in uns aufwallen, woneben die grausamsten körperlichen Martern verblassen müßten; denn diese würden uns doch noch das Bewußtsein geben, daß wir nicht so tief gesunken sind, um der Beachtung überhaupt nicht mehr wert zu sein, wie schlimm es im Übrigen auch um uns bestellt sein mag.

Streng genommen hat ein Mensch viel mehr als ein soziales Selbst, nämlich ebensoviele als es Individuen gibt, die ihn kennen und ein bestimmtes Bild von ihm in ihrem Bewußtsein herumtragen (2). Eines von diesen Bildern verletzen heißt ihn selbst verletzen. Aber da die Individuen, in denen die Bilder vorhanden sind, in gewisse natürliche Klassen sich einordnen, so können wir den praktisch bedeutsameren Satz aufstellen, daß ein Mensch ein so vielfaches soziales Selbst besitzt als Gruppen von Personen vorhanden sind, an deren Meinung ihm etwas liegt. Gewöhnlich zeigt man sich diesen verschiedenen Gruppen gegenüber in ganz verschiedenem Licht. Mancher junge Mensch, der sich seinen Eltern und Lehrern gegenüber recht ehrbar benimmt, flucht und prahlt wie ein Seeräuber im Kreis seiner "starken" jungen Freunde. Wir geben uns vor unseren Kindern anders als gegenüber unseren Klubfreunden, unseren Kunden gegenüber anders als gegenüber den Arbeitern, die wir beschäftigen, anders auch im Verkehr mit unseren eigenen Meistern und Vorgesetzten als bei unseren intimen Freunden. Daraus sieht man, in welcher Weise sich praktisch die Unterscheidung eines mehrfachen sozialen Selbst bei einem Menschen durchführen läßt. Die verschiedenen Seiten können dabei in einem Verhältnis der Disharmonie stehen wie in dem Fall, wo ein Mensch es ängstlich vermeiden muß, eine bestimmte Klasse seiner Bekannten wissen zu lassen, wie er "sonst ist". Es kann aber auch eine vollkommen harmonische Arbeitsteilung in Betracht kommen wie da, wo ein Mensch zärtlich gegen seine Kinder und streng gegen die seiner Aufsicht unterstellten Soldaten oder Gefangenen ist.

Das speziellste soziale Selbst, das jemand gewinnen kann, ist das Bild im Geist einer geliebten Person. Das gute oder schlechte Geschick dieses Selbst verursacht die stärksten Gefühle des Gehoben- und Niedergedrücktseins - was merkwürdig sinnlos erscheint für jeden, der einen anderen Maßstab als die Organgefühle des betreffenden Individuums anlegt (3). Dieses besitzt in seinen eigenen Augen kein rechtes Dasein, solange dieser besondere Teil seines sozialen Selbst nicht durch die Anerkennung des geliebten Wesens Bestand gewinnt, und wenn dies der Fall geworden ist, dann übersteigt seine Befriedigung alle Grenzen.

Eines Menschen Ruf, ein guter oder ein schlechter, und seine Ehre oder Unehre sind Namen für ein bestimmtes soziales Selbst dieses Menschen. Das besondere soziale Selbst, Ehre genannt, ist gewöhnlich bedingt durch jene innere Zwiespältigkeit, von der oben die Rede war. Es ist sein Bild in den Augen seiner eigenen "Kaste", die ihn lobt oder verurteilt, je nachdem er bestimmten Normen entspricht oder nicht entspricht, die nur für diese ganz bestimmte Art der Lebensführung Geltung haben. So mag ein Laie eine Stadt, in der die Cholera ausgebrochen ist, ruhig verlassen; aber ein Priester oder ein Arzt würde glauben, daß sich eine solche Handlungsweise mit seiner Ehre nicht verträgt. Die Ehre eines Soldaten verlangt, daß er kämpft und unter stirbt unter Umständen, unter denen ein anderer Mensch um Pardon bitten oder die Flucht ergreifen kann, ohne daß sein soziales Selbst einen Makel dadurch erleidet. Ein Richter, ein Staatsmann werden in ganz ähnlicher Weise durch die Würde ihres Amtes davon abgehalten, sich in Geldgeschäfte einzulassen, die für Privatpersonen nichts Unehrenhaftes haben. Nichts ist alltäglicher, als daß die Leute die Spaltung ihres sozialen Selbst betonen in Wendungen wie: "Als Mensch bemitleide ich Sie, aber als Beamter kann ich keine Gnade üben." "Als Politiker sehe ich in ihm einen Bundesgenossen, aber als Moralist verabscheue ich ihn" usw. Das, was man den "Korpsgeist" nennen kann, ist eine der stärksten Mächte im Leben. Der Dieb darf andere Diebe nicht bestehlen; der Spieler muß seine Spielschulden bezahlen, auch wenn er nie daran denkt, seine sonstigen Schulden zu tilgen. Der Ehrenkodex der guten Gesellschaft hat zu allen Zeiten eine Menge Bestimmungen enthalten in Bezug auf das, was man tun darf und was man nicht tun darf, und der einzige Grund dafür, daß wir uns der einen oder anderen von diesen Bestimmungen unterwerfen, besteht darin, daß wir auf diese Weise das Interesse eines sozialen Selbst am Besten wahren. Du darfst im Allgemeinen nicht lügen, aber du darfst lügen, soviel du willst, wenn du über deine Beziehungen zu einer Dame gefragt wirst; du mußt eine Forderung von einem Gleichstehenden annehmen, aber wenn du von einem Niedrigerstehenden gefordert wirst, so darfst du ihm ins Gesicht lachen: dies sind Beispiele von dem, was hier gemeint ist.

Das geistige Mich. Unter einem "geistigen Mich", sofern es zum empirischen Selbst gehört, verstehe ich nicht einen einzelnen meiner vorübergehenden Bewußtseinszustände. Ich meine damit vielmehr die ganze Summe meiner Bewußtseinszustände, meine konkret aufgefaßten psychischen Fähigkeiten und Dispositionen. Diese Summe kann jederzeit Gegenstand meines Denkens werden und Gemütsbewegungen hervorrufen ähnlich jenen, die von anderen Teilen des "Mich" bedingt werden. Wenn wir an uns als Denkende denken, dann erscheinen uns alle anderen Konstituentien unseres Selbst als verhältnismäßig äußerlicher Besitz. Auch im geistigen "Mich" scheinen übrigens gewisse Bestandteile mehr äußerlich zu sein als andere. Unsere Sinnesempfindlichkeit z. B. ist sozusagen ein weniger intimer Besitz als unsere Gefühle und Begehrungen; unsere intellektuellen Prozesse gehören nicht so zu unserem Innersten wie unsere Willensentschlüsse. Die mehr aktiv erscheinenden Bewußtseinszustände sind also zentralere Bestandteile des geistigen "Mich". Der eigentliche Kern und Mittelpunkt unseres Selbst, so wie wir es kennen, das wahre Heiligtum unseres Lebens ist das Aktivitätsbewußtsein, das mit gewissen inneren Zuständen verknüpft ist. Dieses Aktivitätsbewußtsein wird oft für eine direkte Offenbarung der lebenden Substanz unserer Seele gehalten. Ob dies richtig ist oder nicht, ist eine andere Frage. Hier kommt es mir nur darauf an, die besondere Intimität aller derjenigen Zustände nachzuweisen, die durch ein solches Aktivitätsbewußtsein charakterisiert sind. Es ist gerade so, als ob in ihnen alle anderen Elemente unserer Erfahrung zusammentreffen. Diesen Eindruck rufen sie wahrscheinlich übereinstimmend bei allen Menschen hervor.

ad b. Im Anschluß an die Konstituentien des Selbst betrachten wir nun die damit zusammenhängenden Gefühle und Gemütsbewegungen.

Die Selbsteinschätzung. Es gibt zwei Arten derselben, Selbstzufriedenheit und Selbstverwerfung. "Selbstliebe" gehört unter Abschnitt C, wo die Akte behandelt werden, denn was man gewöhnlich so nennt, das ist mehr eine Summe motorischer Tendenzen, als eine Art von Gefühlen im eigentlichen Sinn des Wortes.

Die Sprache besitzt Synonyme genug für beide Arten der Selbsteinschätzung. So Hochmut, Einbildung, Eitelkeit, Selbstgefälligkeit, Arroganz, Aufgeblasenheit, auf der einen Seite und auf der anderen Bescheidenheit, Demut, Verlegenheit, Unsicherheit, Scham, Reue, Zerknirschung, Skrupelhaftigkeit und persönliche Verzweiflung. Diese beiden entgegengesetzten Gruppen von Gefühlen scheinen elementare und direkte Äußerungen unserer Natur zu sein. Die Assoziationspsychologen dürften der Meinung sein, daß es sich hier im Gegenteil um sekundäre Phänomene handelt, die sich ergeben aus einem raschen Überschlag der sinnlichen aus der guten oder schlechten persönlichen Qualifikation wahrscheinlich sich ergebender Annehmlichkeiten oder Unannehmlichkeiten, wo die Summe der vorgestellten Lustgefühle die Selbstzufriedenheit und die Summe der vorgestellten Unlustgefühle das entgegengesetzte Gefühl der Scham konstituieren würden. Nun sind wir zweifellos im Zustand der Selbstzufriedenheit geneigt, uns alle möglichen Belohnungen für unsere Verdienste auszumalen und in einem Anfall von Verzweiflung an uns selbst ahnen wir Schlimmes. Aber die einfache Erwartung einer Belohnung ist nicht die Selbstzufriedenheit und das bloße Bewußtsein von etwas Schlimmen, was uns passieren könnte, ist nicht die Verzweiflung an uns selbst; denn es gibt einen gewissen Durchschnittszustand des Selbstgefühls, den jeder von uns mit sich herumträgt und der unabhängig ist von den objektiven Gründen, die wir haben mögen, befriedigt oder unzufrieden zu sein. Ein Mensch z. B. in recht mittelmäßiger Situation kann strotzen vor unerschütterlichem Selbstbewußtsein, und ein anderer, dem der Erfolg im Leben gewiß ist und der sich der allgemeinen Hochschätzung erfreut, kann bis ans Ende seinen Fähigkeiten mißtrauen.

Das kann man jedoch behaupten, daß die normale Veranlassung zu irgendeiner Art des Selbstgefühls im tatsächlichen Erfolg oder Mißerfolg zu suchen ist und in der tatsächlichen guten oder schlechten Stellung, die man in der Welt einnimmt. "Er steckte seinen Daumen hinein, zog einen Haupttreffer heraus und sagte: Was für ein tüchtiger Kerl bin ich doch!" Ein Mann mit einem reich entwickelten empirischen Ich, mit Fähigkeiten, die ihm gleichmäßig zum Erfolg verholfen haben, mit einer Stellung, einem gewissen Wohlstand, einem Kreis von Freunden und einem guten Ruf wird nicht mehr so leicht von krankhaften Zuständen heimgesucht, in denen er von Mißtrauen und Zweifel gegen sich selbst geplagt ist wie früher in seiner Jugend. "Ist dies nicht das große Babylon, das ich gegründet habe?" Wer dagegen einen Fehler nach dem andern macht und in der Mitte seines Lebens noch in all den Widerwärtigkeiten des Beginnens drinsteckt, der kann darüber zur Verzweiflung an seiner Leistungsfähigkeit gelangen und ängstlich werden Versuchen gegenüber, zu denen seine Kräfte tatsächlich ausreichen würden.

Die Gefühle selbst einerseits der Selbstzufriedenheit, andererseits der Niedergeschlagenheit sind unter sich gleichartig, und jedes derselben kann ebensogut als Repräsentant einer Spezies ursprünglicher Affekte betrachtet werden wie beispielsweise Zorn oder Schmerz. Jedes hat auch seinen besonderen physiognomischen Ausdruck. Bei der Selbstzufriedenheit sind die Streckmuskeln innerviert, der Blick ist fest und stolz, der Schritt wiegend und elastisch, die Nase gebläht und ein besonderes Lächeln spielt um die Lippen. Diesen ganzen Symptomenkomplex kann man besonders ausgeprägt beobachten in der Irrenklinik, wo sich immer einige Patienten finden, die buchstäblich verrückt sind vor übermäßigem Stolz (Größenwahn) und deren wahnwitzige Prätensionen [Anmaßungen - wp] und unsinnig stolzes oder prahlendes Auftreten einen tragischen Kontrast bilden mit ihrem Verlust jedes persönlichen Wertes. An dem nämlichen traurigen Ort finden wir auch die eindruckvollsten Beispiele vom entgegengesetzten Gefühlsausdruck, in harmlosen Leuten, die der Meinung sind, sie hätten diejenige Sünde begangen, für die es keine Gnade gibt und seien für ewig verloren. Diese Leute ducken sich, verbeugen sich tief und suchen sich unserer Beachtung zu entziehen, sind unfähig, laut zu sprechen, oder uns ins Auge zu blicken. Wie Furcht und Zorn und ihn ähnlichen krankhaften Zuständen wie diese können auch die in Rede stehenden entgegengesetzten Ichgefühle auftreten ohne zureichende erregende Ursache. Tatsächlich können wir an uns selbst sehen, wie das Barometer unserer Selbstschätzung und unseres Selbstvertrauens von einem Tag zum andern steigt und fällt, aufgrund von Ursachen, die vielmehr in unseren Eingeweiden und sonstigen Organen als in Vernunftgründen zu suchen sind, und denen sicherlich keine entsprechenden Schwankungen in der Schätzung, die wir bei unseren Freunden finden, parallel gehen.

ad c. Wir kommen nun zu den Akten des Für-sich-selbst-sorgens und der Selbsterhaltung. Diese Wörter bezeichnen eine große Zahl unserer fundamentalen instinktiven Impulse. Wir unterscheiden die Akte der Sorge für das körperliche Selbst, für das soziale Selbst und für das geistige Selbst.

Die Sorge um das körperliche Selbst. All die gewöhnlichen nützlichen Reflexhandlungen und Bewegungen der Ernährung und Verteidigung sind Akte der körperlichen Selbsterhaltung. Furcht und Zorn veranlassen zu Akten, die in der gleichen Weise nützlich sind. Verstehen wir unter einem Für-sich-selbst-sorgen die Berücksichtigung der Zukunft im Unterschied von der gegenwärtigen Selbsterhaltung, so müssen wir Zorn und Furcht, sowie die Instinkte der Jagd, der Besitzanhäufung, des Hausbauens und der Werkzeugherstellung als Impulse der Sorge für das körperliche Selbst bezeichnen. Tatsächlich sind indessen diese letzteren Instinkte ebenso wie die geschlechtliche Liebe, die Elternliebe, die Neugier und der Ehrgeiz nicht nur auf die Entwicklung des körperlichen "Mich", sondern auf die des materiellen "Mich" im weitesten Sinn des Wortes gerichtet.

Die Sorge für unser soziales Selbst hinwiederum betätigt sich direkt in unserer Verliebtheit und Freundschaft, unserem Bestreben zu gefallen und Beachtung und Bewunderung zu erregen, unserem Ehrgeiz und unserer Eifersucht, unserer Sucht nach Ruhm, Einfluß und Macht; und indirekt in all den Impulsen der Sorge für das materielle Selbst, die sich als nützlich für soziale Zwecke erweisen. Daß die direkt auf die Sorge für das soziale Selbst gerichteten Impulse wahrscheinlich reine Instinkte sind, kann man leicht einsehen. Das Bemerkenswerte an dem Bestreben, von anderen erkannt zu werden, liegt darin, daß die Stärke dieses Bestrebens so wenig zu tun hat mit dem Wert der betreffenden Anerkennung, wenn wir ihn hinsichtlich der sinnlichen Annehmlichkeit oder nach Vernunftgründen berechnen. Wir sind darauf versessen, eine recht große Liste von Leuten anlegen zu können, die uns besuchen; wenn von irgendjemandem die Rede ist, sagen zu können: O, ich kenne ihn gut, und auf der Straße von der Hälfte der Leute, denen wir begegnen, gegrüßt zu werden. Natürlich sind berühmte Freunde und bewundernde Anerkennung das Allerwünschenswerteste, und THACKERAY bittet irgendwo seine Leser zu sagen, ob nicht jeder von ihnen ein ganz besonderes Vergnügen daran hätte, wenn man ihn auf der Pall-Mallstraße spazierengehen sähe mit einem Herzog an jedem Arm. Aber in Ermangelung von Herzögen und neidvollen Grüßen begnügt man sich vielfach auch mit irgendetwas anderem. So gibt es gegenwärtig einen besonderen Schlag Menschen, welche die Leidenschaft besitzen, ihren Namen in die Zeitung zu bringen, mag dies nun unter der Rubrik "Ankunft und Abreise", "Personalnotizen", "Interviews" oder sonst wie geschehen. Ja, Geschwätz und sogar Skandal in Verbindung mit ihrem Namen genügt ihnen, wenn nichts Besseres zu haben ist. GUITEAU, der Mörder GARFIELDs, ist ein Beispiel dafür, wie weit diese Gier nach der Berühmtheit des "Gedrucktwerdens" in pathologischen Fällen gehen kann. Die Zeitungen waren alles, was in seinem engen geistigen Horizont Platz gefunden hat und im Gebet des armen Sünders auf dem Schaffot war einer der aus tiefstem Herzen kommenden Stoßseufzer: "Die Presse dieses Landes hat viel auf dem Gewissen, o mein Gott!"

Nicht nur die Leute, sondern auch die Plätze und Dinge, die ich kenne, bedeuten eine Art erweitertes, metaphorisches, soziales Selbst für mich. "Ca me connait" [es kennt mich - wp], wie der französische Arbeiter von einem Werkzeug sagt, das er gut zu gebrauchen versteht. Damit hängt es zusammen, daß Personen, an deren Meinung uns nichts gelegen ist, doch Wesen sind, von denen wir beachtet zu werden wünschen, und mancher wahrhaft bedeutende Mann, manche in vieler Hinsicht wirklich stolze Frau geben sich zuweilen redliche Mühe, auf irgendeinen unbedeutenden Kerl Eindruck zu machen, dessen ganze Persönlichkeit sie von Herzen verachten.

Unter dem Begriff der Sorge für das geistige Selbst sollte jedes auf eine psychische Entwicklung gerichtete Bemühen verstanden werden, mag dasselbe auf intellektuelles, moralisches oder spezifisch "geistliches" Heil gerichtet sein. Man muß indessen zugeben, daß vieles von dem sogenannten geistlichen Heilsbedürfnis nichts anderes ist als Sorge für das materielle und soziale Selbst über das Grab hinaus. In der Sehnsucht des Mohammedaners nach dem Paradies und in dem Wunsch des Christen, nicht in die Hölle verdammt zu werden, tritt die Materialität der erstrebten Güter unverhüllt hervor. In den positiveren und mehr verfeinerten Vorstellungen vom Jenseits spielen viele Güter eine Rolle, die, wie z. B. die Gemeinschaft der Heiligen, das Wiedersehen mit unseren Toten, das Vereintsein mit Gott nur soziale Güter besonders hervorragender Art sind. Nur die Sehnsucht nach Läuterung unseres innersten Wesens, nach Erlösung von der Sünde in diesem oder jenem Leben kann als reines geistliches Heilsbedürfnis ohne fremde Beimischung betrachtet werden.

Aber diese Übersicht über die Tatsachen des "Mich" würde trotz ihrer Ausführlichkeit unvollständig sein, wenn wir nicht noch eingehen würden auf den:

Wettstreit und Konflikt der verschiedenen "Michs". Bei den meisten Wunschgegenständen schränkt die Naturnotwendigkeit unsere Wahl auf ein einziges von vielen vorgestellten Gütern ein. So auch bei den wünschenswerten Gestaltungen unseres Selbst. Oft sehe ich mich in die Notwendigkeit versetzt, für eines meiner empirischen Selbste Partei zu ergreifen und die übrigen im Stich zu lassen. Nicht als ob ich nicht, wenn ich könnte, gern alles zugleich sein wollte, hübsch und stattlich und gut gekleidet und ein großer Athlet und ein Geschäftsmann, der in jedem Jahr eine Million verdient, ein Witzbold, ein Bonvivant [Lebemann - wp] und ein Herzenseroberer, dabei auch ein Philosoph; ein Philanthrop, Staatsmann, Kriegsheld, Afrikaforscher ebensowohl wie ein Tondichter und ein Heiliger. Aber die Sache ist einfach unmöglich. Was der Millionär tun müßte, würde zu einem Heiligen schlecht passen; der Bonvivant und der Philanthrop würden einander im Weg stehen; der Philosoph und der Frauenjäger könnten nicht gut zusammen in einer irdischen Hülle wohnen. Derart verschiedenartige Charaktere mögen beim Beginn des Lebens für einen Menschen gleich möglich sein. Aber um einen derselben wirklich zu gewinnen, müssen die übrigen mehr oder weniger unterdrückt werden. Wer daher sein wahrstes, stärkstes, tiefstes Selbst gewinnen will, der muß alle Möglichkeiten sorgfältig durchmustern und diejenige ergreifen, in die er sein Heil setzt. Alle übrigen Selbste werden nun unwirklich, und nur die Schicksale dieses einen Selbst besitzen Realität. Seine Niederlagen sind wirkliche Niederlagen, seine Triumphe wirkliche Triumphe. Jener schämt man sich, wie man auf diese stolz ist. In all dem zeigt sich wieder so recht die selektive Funktion unseres Geistes, auf die ich schon weiter oben besonderen Nachdruck gelegt habe. Unser Bewußtsein, unablässig zwischen verschiedenen Dingen derselben Art eine Entscheidung darüber treffend, welche von ihnen ihm als Realitäten gelten sollen, wählt hier einen von vielen möglichen Charakteren und hat fortan nur am Schicksal dieses einen ausdrücklich angeeigneten Selbst ein in Scham und Stolz zutage tretendes Interesse.

So ergibt sich die merkwürdige Tatsache, daß sich ein Mensch zu Tode schämt, weil er nur der zweitbeste Faustkämpfer oder der zweitbeste Ruderer der Welt ist. Daß er imstande ist, die sämtlichen Bewohner der Erdkugel außer einem einzigen in dem betreffenden Wettkampf zu besiegen, das bedeutet ihm nichts. Er hat es sich in den Kopf gesetzt, gerade diesen einen zu schlagen, und solange ihm das nicht gelingt, macht ihm alles andere keinen Eindruck. Er steht in seinen eigenen Augen da, als ob nichts mit ihm los wäre, und deshalb ist er auch wirklich nichts. Ein anderer schwächlicher Kerl dagegen, den jeder besiegen kann, macht sich darüber keinen Kummer; denn er hat längst jeden Versuch aufgegeben, "an jenem Strick zu ziehen", wie man zu sagen pflegt, d. h. jene Art des Selbst überhaupt zu kultivieren. Wo kein Versuch gemacht wird, da kann auch von einem Mißlingen keine Rede sein und ohne Mißlingen gibt es keine Beschämung. So hängt unsere Selbsteinschätzung in dieser Welt ganz davon ab, was wir uns zu sein und zu tun vorgenommen haben. Sie wird bestimmt durch das Verhältnis unserer Leistungen und der Fähigkeiten, die wir uns zutrauen. So ergibt sich ein Bruch, in welchem unsere Prätensionen den Nenner und unsere Erfolge den Zähler bilden und wir haben die Gleichung:

Selbsteinschätzung = Erfolg / Prätensionen

Der Wert dieses Bruches wächst ebensowohl bei der Verkleinerung des Nenners als bei der Vergrößerung des Zählers. Ansprüche aufzugeben ist ein ebenso empfehlenswertes Mittel zu unserer Erleichterung als die Befriedigung derselben; und wo eine Enttäuschung nach der anderen eintritt und der Kampf kein Ende nimmt, da greift der Mensch immer zu diesem Hilfsmittel. Die Geschichte der evangelischen Theologie mit ihrem Sündenbewußtsein, ihrer Verzweiflung an der eigenen Kraft und ihrer Preisgabe der Hoffnung, durch eigenes Verdienst gerecht zu werden, stellt eines der packendsten Beispiele dar, aber wir finden andere in jedem Lebenslauf. Es wird einem merkwürdig leicht ums Herz, wenn man seine Leistungsunfähigkeit in einer bestimmten Richtung sich erst einmal mit voller Überzeugung eingestanden hat. Der unglückliche Liebhaber empfindet nicht mehr bloß die Bitterkeit seiner Lage, wenn er mit einem definitiven unabänderlichen "Nein" entlassen wird. Viele Bostoner, crede experto! [vertraue dem Erfahrenen - wp] (und wie ich befürchte, auch die Bewohner manch anderer Stadt) würden heute glücklichere Frauen und Männer sein, wenn sie ein für allemal die Idee aufgeben würden, ein musikalisches Selbst zu kultivieren und wenn sie sich nicht mehr schämten, anderen Leuten einzugestehen, daß eine Symphonie für sie ein lästiges Geräusch bedeutet. Wie angenehm ist uns zumute an dem Tag, wo wir das Bestreben aufgeben, jung zu sein - oder schlank! Gott sei Dank! sagen wir, diese Jllusionen sind vorbei. Jede Erweiterung unseres Selbst bedeutet ebensowohl eine Last wie eine Quelle angenehmer Gefühle. Ein Mann, der in unserem Bürgerkrieg sein ganzes Vermögen bis auf den letzten Pfennig verloren hatte, sah sich richtig auf die Straße geworfen und sagte dabei, daß er sich seit seiner Geburt nicht mehr so frei und glücklich gefühlt hat.

In doppelter Hinsicht sind wir also imstande, unser Selbstgefühl zu beeinflussen. Wie CARLYLE sagt:
    "Gib jeden Lohnanspruch auf, so liegt dir die ganze Welt zu Füßen. Der größte Weise unserer Zeit hat mit Recht geschrieben, daß man den Beginn des Lebens recht eigentlich erst von dem Punkt an rechnen darf, wo man gelernt hat, zu verzichten."
Weder Drohungen noch Überredungsversuche können einen Menschen bestimmen, wenn sie nicht eines seiner möglichen oder wirklichen Selbste berühren. Nur so gelingt uns ganz allgemein ein Eingriff in den Willen eines andern. Die erste Sorge aller Diplomaten und Monarchen und aller, die nach Herrschaft oder Einfluß streben, muß es daher sein, denjenigen Punkt ausfindig zu machen, in dem das egoistische Interesse ihrer Opfer am stärksten entwickelt ist, damit sie hier den Hebel ansetzen können. Aber wenn ein Mensch diejenigen Dinge preisgegeben hat, die dem Einfluß einer fremden Gewalt ausgesetzt sind, dann sind wir nahezu machtlos ihm gegenüber. Die stoische Anweisung zum zufriedenen Leben bestand in der Aufforderung, man solle sich von vornherein all dessen entäußern, was außerhalb des eigenen Machtbereichs liegt - dann könnten die Schläge des Schicksals ungefühlt niederprasseln. EPIKTET gemahnt uns, unser Selbst dadurch unverwundbar zu machen, daß wir es in dieser Weise einengen und gleichzeitig festigen:
    "Ich muß sterben; gut, aber muß ich auch seufzend sterben? Ich will sagen, was mir recht dünkt und wenn der Tyrann mir mit dem Tode droht, dann will ich ihm erwidern: «Habe ich jemals behauptet, daß ich unsterblich bin? Du wirst das Deine tun und ich das Meine; bei dir steht es, zu morden, bei mir, unerschrocken zu sterben, bei dir, zu verbannen, bei mir, seelenruhig in die Verbannung zu gehen.» Wie benehmen wir uns auf einer Reise? Wir wählen den Steuermann, die Matrosen und die Zeit der Abreise. Dann kommt ein Sturm. Was habe ich mich darum zu kümmern? Meine Aufgabe ist erfüllt. Dies geht den Steuermann an. Aber nun geht das Schiff unter; was habe ich nun zu tun? Das, was ich allein zu tun vermag, mich furchtlos in den Tod zu begeben ohne Geschrei und Anklage gegen Gott, sondern wie einer, der weiß, daß alles, was geboren ist, auch sterben muß."
Diese Art der Stoiker, die allerdings zur rechten Zeit und am rechten Ort wirksam und heroisch genug ist, kann doch, wie man zugestehen muß, als dauernde seelische Grundrichtung nur bei engherzigen und teilnahmslosen Charakteren vorkommen. Sie beruth ganz und gar auf Absperrung. Wenn ich ein Stoiker bin, so hören die Güter, die ich mir nicht aneignen kann, vollständig auf, Güter für mich zu sein und ich bin stark versucht, zu behaupten, daß sie überhaupt keine Güter sind. Wir finden diese Art des Selbstschutzes durch Absperrung und Verzichtleistung sehr gewöhnlich bei Leuten, die in anderer Hinsicht gar keine Stoiker sind. Alle engherzigen Leute verschanzen ihr Selbst, sie ziehen es zurück - aus dem Gebiet, auf dem sie sich nicht sicher fühlen. Leute, die ihnen nicht ähnlich sind oder ihnen mit einer gewissen Gleichgültigkeit begegnen, Leute, über welche sie keinen Einfluß gewinnen, sind für sie solche, deren Existenz, so wertvoll dieselbe auch ansich sein mag, kühler Ablehnung, wenn nicht positivem Haß begegnet. Wer nicht zu mir gehört, so scheinen sie zu denken, den will ich ganz und gar aus dem Reich des Existierenden ausschließen; d. h. soweit ich dazu imstande bin, solche Menschen sollen sein als ob sie nicht da wären. So kann man sich durch eine gewisse Unabhängigkeit und scharfe Umgrenzung des Mich für die Armseligkeit seines Inhalts entschädigen lassen.

Teilnahmsvolle Menschen dagegen gelangen zum Ziel durch den gerade entgegengesetzten Weg der Erweiterung ihres Selbst und der Aufnahme neuer Bestandteile. Die Umgrenzung ihres Selbst wird oft unbestimmt genug, aber dafür leistet der inhaltliche Reichtum desselben mehr als vollen Ersatz. Nil humani a me alienum. [Nichts Menschliches ist mir fremd. - wp] Mögen die andern diese meine unbedeutende Person, so denken sie, verachten, mögen sie mich wie einen Hund behandeln, ich werde sie nicht verwerfen, solange ich eine Seele in meinem Leib habe. Sie sind Realitäten, so gut wie ich. Was an positivem Guten in ihnen ist, ist auch für mich da usw. Die Großherzigkeit dieser expansiven Naturen ist oft tatsächlich rührend. Solche Personen können eine Art feiner Begeisterung verspüren bei dem Gedanken, daß sie, mögen sie auch krank, schlecht behandelt, arm und von allen verlassen sein, doch integrierende Bestandteile des Ganzen dieser guten Welt bedeuten, daß sie teilhaben an der Kraft eines Burschen, stark wie ein Brauereipferd, am Glück junger Leute, an der Weisheit der Weisen und daß sie nicht einmal ganz ausgeschlossen sind vom Mitgenuß des Reichtums der VANDERBILTs und der Hohenzollern. So kann das Ich versuchen, entweder durch Weltverneinung oder durch weltumspannendes Verhalten sich in der Realität eine Stelle zu sichern. Wer mit MARC AUREL überzeugt ausrufen kann: "O Universum, ich wünsche alles was du haben willst", der hat ein Selbst, befreit von jeder Spur eines verneinenden und beschränkten Wesens - kein Wind kann wehen ohne seine Segel zu füllen.

Die Hierarchie der Michs. - Ziemliche Einstimmigkeit herrscht in der Art, wie man die verschiedenen Selbste, mit denen ein Mensch behaftet sein kann und dem entsprechend auch die verschiedenen Formen seiner Selbsteinschätzung in eine Wertskala ordnet, wobei das körperliche Mich an der Basis, das geistige an der Spitze seinen Platz findet, während die außerleiblichen materiellen und die verschiedenen sozialen Selbste in die Mitte kommen. Unser rein natürliches Auf-uns-selbst-bedachtsein würde uns zu einer Erweiterung all dieser Selbste führen; wir geben freiwillig nur diejenigen unter ihnen auf, von denen wir merken, daß wir sie nicht zu behaupten vermögen. Unsere Selbstlosigkeit wird leicht zu einer "Tugend aus Not", und es ist nicht ganz begründet, wenn Zyniker unsere Fortschritte in dieser Hinsicht mit der Fabel vom Fuchs und den Weintrauben in Verbindung bringen. Aber darin besteht eben die sittliche Erziehung der Menschheit; und wenn wir in dem Resultat übereinstimmen, daß diejenigen Arten des Selbst, die wir zu behaupten vermögen, die wahrhaft besten sind, dann dürfen wir uns nicht darüber beklagen, daß wir auf einem so dornenvollen Weg zu der Erkenntnis ihres überragenden Wertes geführt worden sind.

Natürlich ist dies nicht der einzige Weg, auf dem wir lernen, die tieferstehenden Arten unseres Selbst den höherstehenden unterzuordnen. Ein direktes ethisches Urteil spielt dabei zweifellos auch eine Rolle und last but not least, wir übertragen auf unsere eigene Person Urteile, die ursprünglich durch die Handlungen anderer hervorgerufen worden sind. Es ist eines der merkwürdigsten Gesetze unserer Natur, daß viele Dinge, mit denen wir an uns selbst ganz zufrieden sind, uns mißfallen, sobald wir sie an anderen sehen. An eines anderen Menschen körperlicher Schmutzigkeit findet kaum irgendjemand das geringste Gefallen; beinahe ebensowenig an seiner Begehrlichkeit, seiner sozialen Eitelkeit und Prätension, seiner Eifersucht, seiner Tyrannei und seinem Hochmut. Wenn ich ganz mir selbst überlassen bliebe, dann würde ich vielleicht all diese natürlichen Triebe ungestört in mir wuchern lassen und es würde lange dauern, bis ich einen bestimmten Begriff von der Art ihrer Rangordnung gewinnen würde. Aber da ich beständig über meine Nebenmenschen zu urteilen habe, komme ich bald dazu, wie Horwicz sagt, meine eigenen Neigungen im Spiel der Neigungen anderer zu sehen und über dieselben zu denken in einer ganz anderen Art als die ist, in welcher sie meinem bloßem Gefühl sich darstellen. Natürlich beschleunigen die moralischen Gemeinplätze, die mir von Kindheit an eingetrichtert worden sind, das Auftreten dieses reflektierenden Urteils über mich selbst ganz bedeutend.

So geschieht es, daß, wie gesagt, die Menschen die verschiedenen Arten des Selbst, nach denen sie streben, ihrem Wert entsprechend in eine Art Hierarchie bringen. Ein gewisses Maß körperlicher Selbstsucht ist die notwendige Grundlage für alle anderen Arten des Selbst. Aber zu viel Sinnlichkeit wird verachtet oder höchstens um anderer persönlicher Eigenschaften willen verziehen. Die entfernteren materiellen Selbste werden höher eingeschätzt als das unmittelbare leibliche Selbst. Derjenige wird für ein armseliges Geschöpf gehalten, der nicht imstande ist, auf ein bißchen Speise und Trank und Wärme und Schlaf zu verzichten, um in der Welt vorwärts zu kommen. Das soziale Selbst als Ganzes steht wieder auf einer höheren Stufe als das ganze materielle Selbst. Wir müssen mehr Sorge tragen für unsere Ehre, unsere Freunde, unsere menschlichen Pflichten als für eine glatte Haut oder für unseren Wohlstand. Und das geistige Selbst ist so über alle Maßen wertvoll, daß man willens sein soll, seine Freunde, seinen guten Ruf, sein Eigentum und selbst sein Leben zu opfern, um nur jenes nicht zu verlieren.

Innerhalb jeder Art des Mich, innerhalb des materiellen, des sozialen und des geistigen unterscheidet man wieder zwischen dem unmittelbaren und aktuellen einerseits, dem fernerliegenden und potentiellen andererseits, zwischen einem engeren und einem weiteren Standpunkt, zum Nachteil des ersteren und zum Vorteil des letzteren. Man muß auf eine gegenwärtige körperliche Annehmlichkeit verzichten, wenn dies nötig ist, um die allgemeine Gesundheit zu erhalten; man muß den Dollar in der Hand drangeben um 100 Dollars in der Zukunft zu gewinnen; man muß sich einen Menschen, mit dem man gerade verhandelt, unter Umständen zum Feind machen, wenn man dadurch bessere Leute zu Freunden gewinnen kann; man muß alle Gelehrsamkeit, alle Schönheit und allen Geist fahren lassen, um das Heil seiner Seele zu retten.

Von all diesen weiteren, mehr potentiellen Arten des Selbst ist das potentielle soziale Selbst das interessanteste wegen gewisser scheinbarer Paradoxien des Benehmens, zu denen es eine Veranlassung gibt und wegen seiner Verknüpfung mit unserem moralischen und religiösen Leben. Wenn ich aus Gründen der Ehre und des Gewissens dem Verwerfungsurteil meiner Familie, meines Klubs und meiner Gesellschaftsklasse trotze, wenn ich als Protestant Katholik, als Katholik Freidenker, als regelrechter Arzt Homöopath werde oder sonst etwas Ähnliches tue, dann fühle ich mich immer innerlich gestärkt auf meinem Weg und gestählt gegenüber dem Verlust meines aktuellen sozialen Selbst durch den Gedanken an andere und bessere mögliche soziale Richter als diejenigen, die mich jetzt verurteilen. Das ideale soziale Selbst, nach dem ich in dieser Weise strebe, indem ihr ihre Entscheidung anrufe, kann sehr weit entfernt sein; es kann als bloß möglich vorgestellt werden. Ich hoffe vielleicht gar nicht, es zu meinen Lebzeiten realisieren zu können; ich erwarte vielleicht gar, daß die kommenden Generationen, deren Anerkennng mir zuteil würde, wenn sie etwas von mir wüßten, gar nichts über mich erfahren, wenn ich tot und vergessen bin. Und doch ist das Verlangen, das mich vorwärts treibt, zweifellos dasjenige nach einem idealen sozialen Selbst, nach einem Selbst, das zumindest würdig ist, anerkennende Beachtung zu finden seitens des höchsten denkbaren mich beurteilenden Gefährten, dessen Vorhanden sein vorausgesetzt. Dieses Selbst ist das wahre, das innerste, das höchste, das dauernde Selbst, welches ich suche. Dieser Richter ist Gott, der absolute Geist, der "große Alliierte". Wir hören in dieser Zeit wissenschaftlicher Aufklärung viel über die Wirksamkeit des Gebetes diskutieren; und man zählt uns viele Gründe auf, warum wir nicht beten sollten, viele andere auch, warum wir es tun sollten. Aber bei all dem ist wenig die Rede von dem Grund, warum wir nicht anders können. Es dürfte wahrscheinlich sein, daß die Menschen trotz allem, was die Wissenschaft dagegen einzuwenden hat, bis ans Ende der Zeiten fortfahren werden, zu beten, wofern nicht ihre geistige Natur eine Wandlung durchmacht, für die gegenwärtig, soweit unser Wissen reicht, keinerlei Anzeichen zu finden ist. Die Neigung zum Beten ist eine notwendige Folge der Tatsache, daß der Kern des empirischen Selbst beim Menschen ein soziales Selbst ist und daß er doch seinen einzigen alle Ansprüche befriedigenden Sozius nur in einer idealen Welt finden kann.

Alle Entwicklung des sozialen Selbst vollzieht sich in der Weise, daß an immer höhere Instanzen appelliert wird. Dieser ideale Gerichtshof ist die höchste Instanz; und die meisten Menschen verspüren dauernd oder doch gelegentlich Regungen in sich, die sich dahin verweisen. Der elendeste Auswurf dieser Erde kann ein Bewußtsein der Daseinsberechtigung gewinnen, wenn er sich von dieser höheren Stelle anerkannt weiß. Und andererseits wäre für die meisten von uns eine Welt, in der wir keinen derartigen Zufluchtsort wüßten, an den wir uns wenden können, wenn das äußere soziale Selbst gefährdet ist und verloren geht, ein Abgrund der Schrecken.

Ich sage "für die meisten von uns", weil es wahrscheinlich ist, daß die verschiedenen Individuen beträchtliche Unterschiede aufweisen in Bezug auf die Rolle, welche das Bewußtsein eines idealen Zuschauers in ihrem Leben spielt. Dieses Bewußtsein eines idealen Zuschauers in ihrem Leben spielt. Dieses Bewußtsein bedeutet einen wesentlicheren Bestandteil im Seelenleben des einen als in dem der andern. Diejenigen, die am meisten davon haben, sind die religiösesten Menschen. Aber ich bin sicher, daß auch diejenigen, die ganz davon frei zu sein behaupten, sich selbst täuschen und es tatsächlich doch bis zu einem gewissen Grad besitzen. Nur ein ungesellig lebendes Geschöpf könnte dieses Bewußtsein ganz entbehren. Wahrscheinlich kann niemand Opfer bringen für eine gute Sache, ohne bis zu einem gewissen Grad das Prinzip des Guten, dem das Opfer gebracht wird, zu personifizieren und Dank von ihm zu erwarten. Oder anders ausgedrückt: Vollkommene soziale Selbstlosigkeit kann es kaum geben; an vollkommene soziale Selbstvernichtung denkt wahrscheinlich kein Mensch. Gerade solche Aussprüche, wie der HIOBs: "Wenn Er mich auch verfolgt, will ich Ihm doch vertrauen", oder wie der MARC AURELs: "Wenn die Götter mich und meine Kinder hassen, dann haben sie Grund dazu" können am wenigsten herangezogen werden zum Beweis des Gegenteils. Denn zweifellos wiegt sich HIOB in dem Gedanken, Jehova werde seine Frömmigkeit anerkennen, wenn die Zeit der Prüfung vorbei ist; und der römische Kaiser hatte die feste Überzeugung, die absolute Vernunft würde seine Demut gegenüber dem Zorn der Götter nicht gleichgültig hinnehmen. Die alte Frage, an der die Frömmigkeit geprüft wurde: "Bist du bereit, dich zur Ehre Gottes verdammen zu lassen?", wurde wahrscheinlich nur von denen mit Ja beantwortet, die im innersten Herzen die Überzeugung hatten, Gott würde ihnen ihre Bereitwilligkeit "gutschreiben" und sie deshalb höher einschätzen, als wenn er in seinem unergründlichen Ratschluß sie überhaupt nicht verdammt hätte.

Teleologische Bedeutung des Selbstinteresses. - Aus biologischen Prinzipien ist leicht ersichtlich, warum wir mit Selbsterhaltungstrieben und mit Gefühlen der Selbstzufriedenheit und des Gegenteils ausgestattet sind. Wäre unser Bewußtsein ein rein erkennendes, würde es nicht in verschiedener Weise Stellung nehmen zu den Objekten, die nacheinander in seinen Gesichtskreis kommen, so könnte es sein Dasein nicht lange aufrecht erhalten; denn durch eine unerforschliche Notwendigkeit ist die Erscheinung jedes Geistes auf dieser Erde abhängig von der Integrität des Leibes, zu dem er gehört, von der Behandlung, die dieser Leib seitens der andern erfährt und von den geistigen Dispositionen, die ihn als ihr Werkzeug benützen und entweder zu langem Leben oder zum Untergang führen. Daher müssen der eigene Leib in erster Linie, dann die Freunde und schließlich die geistigen Dispositionen diejenigen Dinge sein, die jeden menschlichen Geist am meisten interessieren. Jeder Geist muß zunächst ein gewisses Minimum von Selbstsucht in Form der körperlichen Selbsterhaltungsinstinkte besitzen, um überhaupt existieren zu können. Dieses Minimum muß die Basis bilden für alle weiteren Bewußtseinsakte, sei es der Selbstverleugnung oder einer noch weiter getriebenenn Selbstsucht. Alle Geister müssen dazu gelangt sein, sei es auf dem Weg der natürlichen Auslese oder in direkterer Weise, ein intensives Interesse an den Leibern zu haben, an die sie gebunden sind, ganz abgesehen von irgendeinem Interesse an einem reinen Ich, das sie auch besitzen.

Und ähnlich verhält es sich mit dem Bild ihrer Persönlichkeit im Bewußtsein der anderen. Ich würde jetzt nicht hier sein, wenn ich nicht eine gewisse Empfindlichkeit erworben hätte für den Ausdruck der Billigung oder Mißbilligung auf den Gesichtern, unter denen ich zu leben habe. Verächtliche Blicke, die auf andere Personen geworfen werden, brauchen mich nicht in so besonderer Weise zu affizieren. Meine geistigen Kräfte hinwiederum müssen mich mehr interessieren als diejenigen anderer Leute und zwar aus dem gleichen Grund. Ich würde überhaupt nicht hier sein, wenn ich sie nicht gepflegt und vor dem Verfall bewahrt hätte. Und das gleiche Gesetz, das mich dereinst fürsie sorgen ließ, bedingt es auch, daß ich heute noch die Pflege derselben fortsetze.

Diese drei Dinge zusammen bilden das natürliche Mich. Aber all diese Dinge sind im strengsten Sinne des Wortes Objekte für das Bewußtsein, das wohl jederzeit mit der Denktätigkeit zusammenfällt; und wenn der biologische und evolutionistische Standpunkt der richtige ist, dann liegt gar kein Grund vor, warum ein Objekt Leidenschaft und Interesse nicht ebenso ursprünglich und instinktiv sollte hervorrufen können wie ein anderes. Die Erscheinung der Leidenschaft ist ihrem Ursprung und ihrem Wesen nach die nämliche, worauf sie sich auch richten mag, und was für ein auslösendes Moment jeweils in Betracht kommt, das ist lediglich eine Tatsachenfrage. Der Gedanke enthält keine Schwierigkeit, daß ich ebenso stark und ebenso ursprünglich durch die Sorge für den Leib meines Nachbarn in Anspruch genommen werden kann wie durch die Sorge für meinen eigenen Leib. Ich bin tatsächlich in der gleichen Weise wie für den meinigen interessiert für den Leib meines Kindes. Das Einzige, was einem solchen üppigen Wuchern nicht-egoistischer Interessen Einhalt gebietet, ist die natürliche Auslese, welche diejenigen ausrottet, die dem Individuum oder der Rasse sehr schädlich sind. Viele solcher Interessen bleiben jedoch unausgerottet - z. B. das Interesse am andern Geschlecht, das im Menschen stärker zu sein scheint, als für die Nützlichkeitsbedeutung, die es hat, erforderlich wäre; und weiter Interessen wie dasjenige am Alkoholgenuß oder an musikalischen Klängen, die, soweit ersichtlich, jedes Nutzens überhaupt entbehren. Die sympathischen Instinkte und die egoistischen sind also koordiniert. Sie stehen, soweit wir etwas darüber sagen können, auf der gleichen psychologischen Stufe. Der einzige Unterschied zwischen ihnen ist der, daß die sogenannten egoistischen Instinkte weitaus die Mehrzahl bilden.

Zusammenfassung. - Die folgende Tabelle mag einen Überblick über das bisher Gesagte geben. Das empirische Leben des Selbst zerfällt, wie man hier sieht, in
    Selbstversorgung
    a) Materielle: Körperliche Begierden und Instinkte, Putzsucht, Bedürfnis nach Eleganz, Erwerbstrieb, Bautrieb, Liebe zum eigenen Heim usw.

    b) Soziale: Bestreben zu gefallen, bemerkt, bewundet zu werden. Geselligkeitsbedürfnis, Wetteifer, Neid, Liebe, Ehrliebe, Ehrgeiz usw.

    c) Geistige: Intellektuelle, moralische und religiöse Bestrebungen, Gewissenhaftigkeit.

    Selbsteinschätzung
    a) Materielle: Eitelkeit, Bescheidenheit usw., Stolz auf den Besitz, Furcht vor der Armut

    b) Soziale: Kasten- und Familienstolz, Ruhmsucht, Protzerei, Demut, Scham usw.

    c) Geistige: Bewußtsein moralischer oder geistiger Überlegenheit, Reinheit usw. Minderwertigkeits- oder Schuldbewußtsein.

LITERATUR - William James, Psychologie, Leipzig 1920
    Anmerkungen
    1) James unterscheidet das Ich als Subjekt und das Ich als Objekt unseres denkenden Erfassens. Das letztere bezeichnet er durch den Akkusativ "me". Dieser eigenartige Sprachgebrauch ist trotz des Befremdlichen, das er für manchen deutschen Leser haben mag, in der Übersetzung festgehalten. [Anmerkung des Übersetzers]
    2) James läßt sich hier von seinem Vergnügen an geistreicher Behandlung eines von Psychologen und Philosophen sonst mit subtilster Dialektik diskutierten Problems zu den gewagtesten Behauptungen hinreißen. Wenn er noch sagen würde: Ein Mensch hat soviel mal ein soziales Selbst, als er weiß, daß verschiedene Bilder von seiner Persönlichkeit in anderen herumgetragen werden! Aber man muß diese in ihrer Art ganz einzige belletristische und doch auf gesunden Grundsätzen aufgebaute Darstellung der Psychologie eben nehmen, wie sie ist.
    3) Im Deutschen vielleicht verständlicher: Für jeden, der nicht in der Haut des betreffenden Individuums steckt!