tb-2M. PlanckP. Kampits   
 
OTTO NEURATH
Die Einheitswissenschaft
- I I -

Ethik, Rechtslehre, Marxismus
Soziologische Prognosen
Es hat keinen Sinn, von verschiedenen  Wesenheiten  zu sprechen, die  hinter  den Vorgängen ruhen.

III. Soziologie keine Geisteswissenschaft
Die Einheitswissenschaft macht ebenso Voraussagen über das Verhalten von Maschinen, wie über das von Tieren; über das von Steinen, wie über das von Pflanzen. Manchmal macht sie komplexe Aussagen, die wir heute schon zerlegen könnten, manchmal solche, deren Zerlegung uns noch nicht gelingt. Es gibt "Gesetze" des Verhaltens von Tieren, von Maschinen. Die "Gesetze" der Maschinen kann man auf physikalische Gesetze zurückführen. Aber auch auf diesem Gebiet genügt oft ein Gesetz über Klumpen und Stäbe, ohne daß man auf ein Gesetz über Atome oder andere Elemente zurückgehen müßte, wie ja auch die Gesetze des tierischen Körpers vielfach formuliert werden, ohne daß man auf die Gesetze der Mikrostruktur zurückgreifen müßte. Oft freilich, wo man sich von der Erforschung der Makrogesetze viel erhoffte, genügen sie nicht: gewisse Unregelmäßigkeiten bleiben unberechenbar.

Es werden immer Korrelationen zwischen Größen gesucht, die in der physikalistischen Beschreibung von Vorgängen auftreten. Es macht grundsätzlich keinen Unterschied aus, ob es sich dabei um statistische oder nichtstatistische Beschreibungen handelt. Ob man nun das statistische Verhalten von Atomen oder von Pflanzen oder von Tieren untersucht, die Methoden der Korrelationsfeststellung sind immer dieselben. Wie wir oben sahen, müssen ja alle Gesetze der Einheitswissenschaft miteinander verknüpfbar sein, sollen sie der Aufgabe genügen, möglichst oft einzelne Vorgänge oder bestimmte Gruppen von Vorgängen voraussagen zu können.

Damit fällt von vornherein jede grundsätzliche Zerlegung der Einheitswissenschaft weg, etwa in "Naturwissenschaften" und "Geisteswissenschaften", die man wohl auch "Kulturwissenschaften" oder anders benennt. Die Thesen, durch die man die Teilung begründen will, sind verschieden, immer aber metaphysischer Art, das heißt sinnleer. Es hat keinen Sinn, von verschiedenen "Wesenheiten" zu sprechen, die "hinter" den Vorgängen ruhen. Was sich nicht in den Beziehungen der Elemente ausdrücken läßt, läßt sich überhaupt nicht ausdrücken. Daher ist es sinnleer, über die Korrelationen hinaus vom "Wesen der Dinge" zu sprechen. Man wird nicht mehr von "verschiedener Kausalität" reden, wenn man sich darüber klar ist, was Einheitssprache der Wissenschaft eigentlich bedeutet. Man kann nur die Ordnung des einen Gebietes mit seinen Gesetzen mit der Ordnung des anderen vergleichen und etwa feststellen, daß die Gesetze eines Gebietes komplizierter sind als die eines anderen, daß bestimmte Anordnungen in einem Gebiet fehlen, die im anderen vorkommen, daß z. B. bestimmte mathematische Formeln in einem Fall benötigt werden, im anderen aber nicht.

Kann man "Naturwissenschaften" nicht von "Geisteswissenschaften" abgrenzen, so vermag man erst recht nicht eine "Naturphilosophie" von einer "geisteswissenschafllichen Philosophie" abzugrenzen. Auch wenn man ganz davon absieht, daß der Terminus "Naturphilosophie" aus dem eingangs angeführten Gründen unzweckmäßig ist, weil er von "Philosophie" spricht, kann man unter Naturphilosophie doch nur eine Art Einführung in die gesamte Arbeit der Einheitswissenschaft verstehen, denn wie sollte man eine "Natur" von einer "Nichtnatur" abgrenzen?

Man kann nicht einmal praktische Bedürfnisse des Alltags oder des Wissenschaftsbetriebs zur Rechtfertigung dieser Trennung anführen. Sollte die Lehre vom menschlichen Verhalten ernsthaft der vom Verhalten aller anderen Gebilde gegenübergestellt werden? Sollte man wirklich die Lehre von den menschlichen Gesellschaften in die eine Disziplin, die Lehre von den tierischen Gesellschaften in die andere schieben wollen? Sollte die "Viehzucht", die "Sklaverei", der "Krieg" der Ameisen in den Naturwissenschaften abgehandelt werden, die "Viehzucht", die "Sklaverei", der "Krieg" der Menschen in den Geisteswissenschaften? Oder die Trennung ist nicht stärker als die zwischen "naturwissenschaftlichen Gebieten" im alten Sinn.

Oder hat vielleicht der Sprachgebrauch etwas für sich, daß man eben schlechthin von "Geisteswissenschaften" jedesmal spricht, wenn man "Sozialwissenschaften" meint? Dann müßte aber wieder folgerichtig die Lehre von den tierischen Gesellschaften mit der Lehre von den menschlichen Gesellschaften zu den Sozialwissenschaften, also zu den "Geisteswissenschaften" gezählt werden, eine Konsequenz, vor der wohl die meisten zurückschrecken werden. Begreiflich, denn wo bliebe der Schnitt, der hinter all dem steckt, der Schnitt, der auf der Aufrechterhaltung der immerhin einige Jahrhunderte alten theologischen Gewohnheit beruht, alles, was es gibt, in mehreren, mindestens in zwei Gebieten, z. B. einem "edlen" und einem "nichtedlen", unterzubringen. Der Dualismus "Naturwissenschaften" - "Geisteswissenschaften", der Dualismus "Naturphilosophie" - "Kulturphilosophie" ist letzten Endes Restbestand der Theologie.

Die älteren Sprachen sind im ganzen physikalistischer als die neueren. Zwar sind sie voll magischer Elemente, aber sie behandeln zunächst "Leib" und "Seele" wie zwei Körperarten: die Seele ist ein Schattenleiblein, das dem Sterbenden aus dem Munde fliegt. Erst die Theologie stellt einander nicht mehr gegenüber: "Körper:Seele" und "Körper:Leib", sondern "Nichtkörper:Seele" und "Körper:Leib", sowie "Nichtkörper:Gott" und "Körper:Welt" ... mit allerlei Unter-und Obergruppen des Irdischen und Überirdischen. Der Gegensatz von "Irdisch" und "überirdisch" kann nur durch sinnleere Wendungen bestimmt werden. Diese Wendungen treten, weil sinnleer, mit den Aussagen der Einheitswissenschaft nicht in Widerspruch; sie stimmen mit ihnen auch nicht überein; wohl aber richten sie viel Verwirrung an. Die Behauptung, daß diese Wendungen ebenso sinnvoll seien wie die der Wissenschaft, setzt den offenen Konflikt.

Wie sehr die Gewohnheit des theologischen Dualismus bei der Schaffung solcher Trennungen mitspielt, kann man vielleicht daraus entnehmen, daß, wenn man die eine dualistische Trennung eben aufgegeben hat, eine andere sich leicht durchsetzt. Die Gegenüberstellung von "Sein" und "Sollen", die wir besonders bei Rechtsphilosophen antreffen, zählt hierher. Sie geht zum Teil wohl auf die alte theologische Gegenüberstellung von "Ideal" und "Wirklichkeit" zurück. Die Möglichkeit zur Substantivbildung in unserer Sprache erleichtert all diese sinnleeren Unternehmungen. Man kann, ohne mit der Syntax in Widerspruch zu kommen, ruhig sagen "das Sollen", wie man "das Schwert" sagen kann. Und nun macht man von diesem "Sollen" Aussagen, wie sonst von einem "Schwert" oder mindestens vom "Sein".

Die "Geisteswissenschaften", die Welt des "Seelischen", die Welt des "kategorischen Imperativs", das Gebiet der "Einfühlung", das Gebiet des "Verstehens", das sind mehr oder minder ineinander übergehende Gebiete von Redewendungen, die häufig einander vertreten können. Manche Autoren ziehen die eine, manche die andere Gruppe sinnleerer Wendungen vor, manche mischen und häufen die sinnleeren Wendungen. Während sie bei vielen nur als Randdekoration der Wissenschaft auftreten, beeinflussen sie bei anderen das gesamte Aussagengebiet. Auch wenn man die Thesen, auf denen die "geisteswissenschaftliche" Auffassung beruht, in ihrer praktischen Auswirkung nicht überschätzt, die durch sie bedingte Verwirrung der empirischen Forschung nicht übermäßig veranschlagt, so muß, wenn man Klarheit erstrebt, bei einer systematischen Begründung des Physikalismus und der Soziologie doch in dieser Hinsicht reiner Tisch gemacht werden. Zu solchen Abgrenzungen entschlossen Stellung zu nehmen, ist eine Aufgabe der Einheitswissenschafter; man kann das nicht der Willkür der Einzelwissenschafter überlassen.

Wenn in diesen Fragen selbst grundsätzlich antimetaphysisch eingestellte Denker unsicher sind, so hängt das zum Teil damit zusammen, daß über Gegenstand und Fragestellung der "Psychologie" keine ausreichende Klarheit herrscht. Die Abtrennung der "geisteswissenschaftlichen" Disziplinen von anderen begegnet sich in vielem mit der des Seelischen" von anderen Gegenständen. Diese Abtrennung wird erst durch den Behaviorismus grundsätzlich überwunden, wobei wir dies Wort hier stets im weitesten Sinne vertreten. Er nimmt nur physikalistische Aussagen über menschliches Verhalten in sein System auf. Wenn der Soziologe über Menschengruppen Voraussagen macht, wie der Behaviorist über Einzelmenschen oder Einzeltiere, dann treibt er, um einen angemessenen Terminus zu verwenden: Sozialbehaviorismus.

Das heißt: Soziologie ist nicht eine "Geisteswissenschaft" oder "Geistwissenschaft", die in irgendeinem grundsätzlichen Gegensatz zu irgendwelchen anderen Wissenschaften, den Naturwissenschaften, steht, sondern sie ist als Sozialbehaviorismus ein Teil der Einheitswissenschaft.

IV. Soziologie als Sozialbehaviorismus
Man kann über das Malen der Menschen, über ihr Häuserbauen, ihre Kulte, ihren Ackerbau, ihre Dichtungen in gleicher Weise sprechen. Und doch wird immer wieder behauptet, es sei etwas grundsätzlich anderes, ob man den anderen Menschen "verstehe" oder "nur" von außen her beobachte und Gesetzmäßigkeiten feststelle. Die Sphäre des "Verstehens", des "Einfühlens" in fremde Persönlichkeiten, berührt sich mit der traditionellen Sphäre des Geisteswissenschaftlichen. Wir finden hier ein Wiederaufleben der schon auf früherer Stufe überwundenen grundsätzlichen Trennung in "innere" und "äußere" Wahrnehmung (Erfahrung, Sinn usw.), die von gleichem empirischem Charakter sind.

Die philosophische, insbesondere die geschichtsphilosophische Literatur betont oft, ohne "Einfühlung", "Verstehen" könne man nicht Geschichte betreiben, sei es unmöglich, irgendwie zusammenfassend menschliche Handlungen zu gruppieren und zu beschreiben.

Wie kann man im Groben diese Schwierigkeiten vom Standpunkt des Physikalismus aus zu beseitigen suchen? Man muß von vornherein annehmen, daß die beharrlichen Beteuerungen vieler Soziologen und Geschichtsphilosophen, es sei unumgänglich, an das "Verstehen" zu appellieren, auch sehr beachtenswerte wissenschaftliche Erfahrungen zu schützen suchen. Es dürfte, wie so oft, ein nicht leicht entwirrbares Gemenge dualistischer Gewohnheiten theologischen Ursprungs und realwissenschaftlicher Praxis vorliegen. Für den, der mit dem Monismus der Einheitswissenschaft vertraut ist, wird sich zeigen, daß dabei auch gewisse durchaus physikalistisch formulierbare Aussagen irrtümlich unphysikalistisch vorgebracht wurden.

Sätze wie: "ich sehe in diesem Zimmer einen blauen Tisch" und "ich fühle Zorn" liegen nicht weit auseinander. Das "ich" ersetzt man zweckmäßig durch den Personennamen, da alle Aussagen gleichwertig sind, eine "Ich"aussage daher auch von einem andern muß gemacht werden können. Dann stehen nebeneinander: "In diesem Zimmer ist ein blauer Tisch" und "In diesem Menschen ist Zorn". Die Erörterungen über "primäre" und "sekundäre" Qualitäten endet damit, daß letzten Endes alle Qualitätsaussagen einer Art sind, von denen man nur die Tautologien abheben kann. Alle Qualitätsaussagen werden zu physikalistischen Aussagen. Neben diese treten eben die Tautologien, als Aussageverknüpfung bestimmter Form. Die Sätze der Geometrie lassen sich als Tautologien, aber auch als physikalische Aussagen deuten. Damit entfallen viele Schwierigkeiten.

Was ist dem Satz: "In diesem Menschen ist Zorn" unter anderem eigentümlich? Daß man ihn schlecht zerlegen kann. Es ist so, als ob jemand uns zwar mitteilen könnte: "Hier ist ein schweres Gewitter", aber nicht imstande wäre anzugeben, wie es sich aus Blitzen, Donner, Regen usw. zusammensetzt, nicht angeben könnte, ob er mit Hilfe des Auges, der Ohren, der Nase zu seinen Feststellungen gekommen ist.

Wenn man vom Zorn erzählt, verwendet man die "Organempfindungen". Die Veränderungen des Darmtraktes, der inneren Sekretion, des Blutdrucks, der Muskelkontraktion sind grundsätzlich den Veränderungen des Auges, des Ohres, der Nase gleichzusetzen. Wenn wir den Behaviorismus systematisch ausbauen, geht die Aussage eines Menschen: "Ich bin zornig", nicht nur als Reaktion des so Redenden in den Physikalismus ein, sondern auch als Formulierung der "Organempfindungen". So wie man aus den Formulierungen der "Farbenempfindungen" physikalistische Aussagen über Netzhautveränderungen und "andere" Vorgänge machen kann, kann man aus den Formulierungen über den Zorn, das heißt über "Organempfindungen", physikalistische Aussagen über "Darmveränderungen", Blutdruckveränderungen" usw. ableiten, die oft nur auf dem Wege über solche Aussagen dem andern Menschen bekannt werden. Dies sei als Ergänzung den Ausführungen CARNAPs über diesen Gegenstand hinzugefügt, wo diese Auswertung der Aussagen über "Organempfindungen" (der älteren Sprechweise) nicht berücksichtigt wurde.

Wenn jemand sagt, daß er diese Erfahrungen über "Organempfindungen" benötige, um sich in einen anderen Menschen einzufühlen, so ist dagegen nichts einzuwenden. Das heißt, daß man physikalistische Aussagen über den eigenen Leib verwendet, um physikalistische über einen fremden zu machen, liegt durchaus in der Linie unserer wissenschaftlichen Arbeit, die durchweg derart "extrapoliert". Der Entschluß zur Induktion führt uns immer wieder zu solchen Ausweitungen. Wenn man über die Rückseite des Mondes auf Grund der Erfahrungen Aussagen macht, die man an der Vorderseite gemacht hat, liegt die Sache nicht anders. Das heißt: von "Einfühlung" könnten wir in der physikalistischen Sprache sprechen, wenn wir nichts anderes damit meinen, als daß wir Rückschlüsse auf physikalische Vorgänge in anderen Menschen mit Hilfe der Konstruktionen ziehen, die wir über unsere Organveränderungen gemacht haben. Es handelt sich eben um eine physikalistische Induktion, wie in so vielen anderen Fällen, aber wie sonst um Feststellung bestimmter Korrelationen, wobei freilich die sprachliche Klarheit bezüglich vieler Vorgänge noch sehr viel zu wünschen übrigläßt. Wenn jemand sagen würde, daß die Geisteswissenschaften vor allem solche Wissenschaften sind, in denen Korrelationen zwischen Vorgängen aufgestellt werden, die sehr unzulänglich beschrieben sind, für die man nur Komplexnamen habe, so käme man dem tatsächlichen Sachverhalt recht nahe.

Wenn wir den Begriff des "Verstehens", der "Einfühlung" genauer analysieren, erweist sich alles daran, was physikalistisch verwendbar ist, als eine Aussage über Ordnung, durchaus wie in allen Wissenschaften. Der angebliche Unterschied zwischen "Naturwissenschaften" und "Geisteswissenschaften" daß es sich einmal "nur" um Ordnung, das andere Mal auch um Verstehen handle, ist nicht vorhanden.

Wenn wir alles, was wir an nichtmetaphysischen Formulierungen antreffen, systematisch formulieren, gelangen wir durchweg zu physikalistischen Aussagen. Es gibt keinen Sonderbereich des "Seelischen" mehr. Gleichgültig ist für den hier vertretenen Standpunkt, ob bestimmte Einzelthesen WATSONs, PAWLOWs oder anderer aufrechterhalten werden oder nicht. Wesentlich ist, daß nur physikalistisch formulierte Korrelationen zur Beschreibung lebendiger Wesen in Frage kommen, gleichgültig, was nun an diesen Wesen beobachtet wird.

Irreführend wäre es, dies so auszudrücken, daß nun nicht mehr der Unterschied "Seelisch" und "Körperlich" bestünde, daß ein "Neutrales" an ihre Stelle getreten sei. Es ist überhaupt nicht von einem "Etwas" die Rede, sondern von Korrelationen physikalistischer Art. Und nur ungenügende Analyse kann dazu führen, etwa zu sagen, man könne heute noch nicht übersehen, ob wirklich das ganze Gebiet des "Seelischen" physikalistisch ausgedrückt werden könne, es wäre immerhin möglich, daß hier oder dort eine andere Art der Formulierung in Frage komme, d.h. Begriffe, die nicht physikalistisch definierbar seien. Es ist das der letzte Rest vom Glauben an eine "Seele" als eine besondere Wesenheit. Wenn die Menschen eine gehende Uhr beobachtet haben und nun sehen, wie sie stehenbleibt, können sie in der substantivierenden Sprache ohne Schwierigkeit das Problem aufwerfen, wo denn nun der "Gang" geblieben sei. Und wenn man ihnen erklärt, daß durch Analyse der Zusammenhänge zwischen den Teilen der Uhr und der Umgebung alles ausfindig zu machen ist, was man wissen kann, wird vielleicht doch ein Ungläubiger meinen, er sehe zwar ein, daß das mit dem "Gang" Metaphysik sei; ob aber wirklich mit dem Physikalismus bei gewissen komplizierteren Problemen der Uhrbewegung das Auslangen gefunden werden könne, sei ihm noch zweifelhaft.

Ohne nun sagen zu wollen, jeder Soziologe müsse behavioristisch geschult sein, kann man doch immerhin die Forderung aufstellen, daß jeder Soziologe, wenn er sich von Fehlern frei halten will, darauf achten soll, menschliches Verhalten immer ganz schlicht physikalistisch zu beschreiben. Er möge also nicht vom "Geist eines Zeitalters- sprechen, wenn nicht ganz klar ist, daß er damit bestimmte Wortverbindungen, Kulte, Bauformen, Töne, Bilderarten usw. meint. Daß er das Verhalten der Menschen anderer Zeitalter durch Variation des ihm bekannten eigenen Verhaltens vorauszusagen unternimmt, ist durchaus legitim, wenn auch vielleicht zuweilen irreführend. Der "Einfühlung" darf aber nicht irgendeine sonderbare Zauberkraft über die gewöhnliche Induktion hinaus zugemutet werden.

Bei Induktionen auf diesem oder auf einem anderen Gebiet handelt es sich immer um einen Entschluß. Dieser mag für bestimmte Menschengruppen oder ganze Zeitalter kennzeichnend sein, ist aber nicht selbst logisch ableitbar. Die Induktion führt jedoch innerhalb des physikalistischen Gebietes immer zu sinnvollen Aussagen. Sie darf deshalb nicht verwechselt werden mit der Zwischenschaltung metaphysischer Konstruktionen. Manche geben zu, daß sie metaphysische Konstruktionen durchführen, also sinnleere Wortverbindungen einfügen, wollen aber die Schädlichkeit solchen Beginnens nicht recht einsehen. Man muß die Ausschaltung solcher Konstruktionen auf dem Gebiete der Soziologie und Psychologie, ebenso wie auf anderen Gebieten, nicht nur deshalb betreiben, um Überflüssiges loszuwerden, um sinnleere Wortverbindungen, die manchen Menschen vielleicht wohltun, zu vermeiden.

Wissenschaftlich fruchtbar wird die Ausschaltung des Metaphysischen dadurch, daß der Anlaß zu gewissen falschen Korrelationen im empirischen Bereich vermieden wird. Wir werden am Beispiel der Soziologie sehen, daß man meist die Bedeutung gewisser physikalistisch formulierbarer Elemente im geschichtlichen Verlauf überschätzt, wenn man sie mit gewissen metaphysischen Wesenheiten verbunden glaubt. Man erwartet ja auch vom Priester des transzendenten Gottes vielfach gewisse empirisch kontrollierbare Mehrleistungen, die aus den empirischen Erfahrungen nicht ableitbar wären.

Manche führen zugunsten der metaphysischen Konstruktionen an, daß mit ihrer Hilfe bessere Voraussagen gemacht werden können. Man geht von physikalistisch formulierten Beobachtungsaussagen aus, begibt sich dann ins Gebiet metaphysischer Wortfolgen, um schließlich auf Grund bestimmter Regeln, die im metaphysischen Bereich auf sinnleere Wortfolgen angewendet werden, zu Voraussagen zu kommen, die mit einem System von Protokollaussagen übereinstimmen. Wenn man auf diese Weise tatsächlich zu Ergebnissen kommt, so ist die Metaphysik in diesem Fall nicht wesentlich für Voraussagen, vielleicht ein stimulierender Reiz, wie irgendein Narkotikum. Denn wenn man auf diesem Umweg die Voraussagen machen kann, "dann kann man sie auch unmittelbar aus den erwähnten Daten ableiten. Das ist rein logisch klar: folgt Y aus X und Z aus Y, dann folgt unmittelbar Z aus X". Wenn KEPLER zur Ableitung der Planetenbahnen sich der theologischen Vorstellungswelt bediente, so geht diese theologische Vorstellungswelt dennoch nicht in die wissenschaftlichen Aussagen ein. Ähnlich verhält es sich wohl auch mit gewissen metaphysischen Bestandteilen der so fruchtbaren Psychoanalyse und Individualpsychologie, deren behavioristische Umformung sicherlich keine leichte Aufgabe sein wird.

Wenn man so die metaphysischen Abweichungen von der Hauptlinie des Behaviorismus gekennzeichnet hat, hat man freie Bahn für die metaphysikfreie Soziologie geschaffen. Wie man das Verhalten der Tiere neben dem Verhalten der Maschinen, der Sterne, der Steine behandeln kann, kann man auch das Verhalten der tierischen Gruppen behandeln. Man kann dabei grundsätzlich sowohl Veränderungen der Einzelwesen durch "äußere" Reize in Rechnung stellen, als auch Veränderungen, die auf "autonome innere Veränderungen" der Lebewesen (z.B. rhythmischer Ablauf eines Prozesses) zurückgehen, so wie man etwa den durch nichts beeinflußbaren Zerfall des Radiums neben der Zersetzung einer chemischen Verbindung durch Sauerstoffzufuhr untersuchen kann. Ob Analogien zum Radiumzerfall innerhalb des menschlichen Körpers eine Rolle spielen, bleibe ganz dahingestellt.

Die Soziologie untersucht nicht rein statistische Veränderungen tierischer, vor allem menschlicher Gruppen; sie kümmert sich um die Reizverknüpfungen, die zwischen den einzelnen Individuen stattfinden. Sie kann manchmal, ohne diese Verknüpfungen im einzelnen zu analysieren, das Gesamtverhalten reizverbundener Gruppen unter bestimmten Bedingungen feststellen und mit Hilfe der so gewonnenen Gesetze Voraussagen machen. Wie treibt man "Sozialbehaviorismus" frei von Metaphysik? So wie jede andere Realwissenschaft. Natürlich ergeben sich bestimmte Korrelationen, die wir bei Individuen, bei Sternen oder Maschinen nicht antreffen. Der Sozialbehaviorismus gelangt zu Gesetzen einer bestimmten ihm eigentümlichen Art.

Physikalistische Soziologie betreiben, heißt nicht etwa Gesetze der Physik auf Lebewesen und ihre Gruppen übertragen, wie es manche für möglich gehalten haben. Es können umfassende soziologische Gesetze, ebenso Gesetze für bestimmte engere soziale Gebiete aufgefunden werden, ohne daß man imstande sein müßte, auf die Mikrostruktur zurückzugreifen und so diese soziologischen Gesetze aus physikalischen aufzubauen. Was an soziologischen Gesetzen ohne Zuhilfenahme physikalischer Gesetze im engeren Sinne aufgefunden wird, erfährt durch die Hinzufügung einer später aufgefundenen physikalischen Substruktur nicht notwendig eine Änderung. Der Soziologe ist durchaus ungehemmt im Suchen nach Gesetzen, er muß nur immer in seinen Voraussagen von Gebilden sprechen, die räumlich-zeitlich gegeben sind.

V. Soziologische Korrelationen
Man kann in der Soziologie, ebensowenig wie in anderen Realwissenschaften, von vornherein auf Grund theoretischer Erwägungen angeben, welche Korrelationen man mit Aussicht auf Erfolg verwenden kann. Wohl aber läßt sich zeigen, daß gewisse traditionelle Bemühungen regelmäßig erfolglos bleiben, während andere erfolgreiche Methoden, Korrelationen aufzufinden, nicht ausreichend gepflegt werden.

Welcher Art sind nun soziologische Korrelationen? Wie gelangt man mit einiger Sicherheit zu soziologischen Voraussagen? Um das Verhalten einer Gruppe in bestimmter Hinsicht voraussagen zu können, muß man oft das gesamte Leben der Gruppe kennen. Die einzelnen aus der Gesamtheit der Vorgänge abhebbaren Verhaltungsweisen, der Bau von Maschinen, die Errichtung von Tempeln, die Formen der Ehe sind in ihrer Veränderung nicht "autonom" berechenbar, man muß sie als Teile des jeweiligen Komplexes betrachten, den man gerade untersucht. Um zu wissen, wie sich der Tempelbau ändern wird, muß man die Produktionsweise, die Gesellschaftsordnung, die religiösen Verhaltungsweisen des Ausgangszeitpunktes kennen, man muß wissen, welchen Wandlungen all dies zusammen unterworfen ist.

Bei solchen Voraussagen erweisen sich nicht alle Vorgänge als gleich spröde. Man kann aus der Produktionsweise eines Zeitalters, wenn man gewisse Bedingungen kennt, die nächsten Perioden der Produktionsweise und Gesellschaftsordnung oft im Groben ableiten, um dann mit Hilfe solcher Voraussagen auch fernere Voraussagen über religiöses Verhalten und ähnliches mehr mit einigem Erfolg versuchen zu können. Das Umgekehrte gelingt dagegen, wie die Erfahrung zeigt, nicht, nämlich zunächst die Voraussage der religiösen Verhaltungsweise allein, und daraus Ableitung der Voraussage über die Produktionsweise.

Aber, ob wir nun die Produktionsweise, ob wir das religiöse Verhalten, ob wir die Baugestaltung, die Musik ins Auge fassen, immer handelt es sich um Vorgänge, die innerhalb des Physikalismus beschrieben werden können.

Viele gesellschaftliche Einrichtungen eines Zeitalters lassen sich nur dann gut ableiten, wenn man ihre Vergangenheit weit zurück kennt, während andere, beseitigt gedacht, sozusagen jederzeit erfunden würden. Kanonen lösen durch ihr Vorhandensein als Reiz in gewissem Sinne die Reaktion Panzertürme aus, während die Fräcke unserer Zeit nicht Reaktionen auf das Tanzen sind und schwerlich neu erfunden würden. Hingegen ist's uns verständlich, daß ehedem ein langschoßig bekleideter Mann durch Hinaufklappen der Schöße beim Reiten zum Erfinder des Urfracks wurde. Die Kohärenz der Einrichtungen ist in diesen beiden Fällen eine verschiedene.

Ebenso wie man über die Art der Kohärenz unterrichtet sein muß, um Voraussagen machen zu können, muß man auch wissen, ob eine bestimmte Einrichtung leicht oder schwer aus einem sozialen Gebilde herausgelöst werden kann, ob sie im Falle des Verlustes wieder ersetzt wird. Der Staat z.B. ist ein recht stabiles Gebilde, halten von dem Wechsel der Personen in erheblichem Maße unabhängig ist; sterben selbst viele Richter und Soldaten, treten neue an ihre Stelle. Dagegen ersetzt eine Maschine im allgemeinen nicht Räder, die man ihr wegnimmt.

Es ist eine durchaus physikalistische Frage, wie sehr das Vorhandensein besonders gearteter Einzelpersonen, die vom Durchschnitt abweichen, den Bestand einer Staatsstruktur sichern. Dabei ist noch die Frage gesondert zu behandeln, wie weit solche bedeutsame Einzelpersonen immer wieder ersetzbar sind. Die Bienenkönigin nimmt eine Sonderstellung im Korb ein; aber wenn eine Königin verlorengeht, ist die Möglichkeit gegeben, eine neue Königin entstehen zu lassen. Es gibt sozusagen immer latente Königinnen. Wie ist dies beim Menschen?

Es ist eine ganz konkrete soziologische Frage, in welchem Umfang man Voraussagen über soziale Gebilde machen kann, ohne sich um das Schicksal gewisser besonders hervorgehobener Einzelpersonen zu kümmern. Man wird z. B. mit guten Gründen behaupten können, daß die Schaffung des bürgerlichen Europa, sobald einmal die moderne kapitalistische Wandlung durch das Maschinensystem seine besondere Färbung erhalten hatte, Ende des 18. Jahrhunderts prophezeibar war, während man z.B. den Zug NAPOLEONs nach Rußland und den Brand Moskaus kaum voraussagen konnte. Aber es hätte vielleicht einen guten Sinn, zu sagen: wenn NAPOLEON gegen Rußland gesiegt hätte, wäre die Umgestaltung der Gesellschaftsordnung in ähnlicher Weise erfolgt, wie es auch so geschah. Ein siegreicher NAPOLEON hätte so, wie er die katholische Kirche wiedereinsetzte, in gewissem Umfang wohl selbst wieder alten Feudalismus in Mitteleuropa eine Zeitlang begünstigen müssen.

Ob man in diesem oder jenem Umfang voraussagen kann, mit oder ohne Voraussagen über Individuen, berührt das Wesen des Sozialbehaviorismus in keiner Weise. Die Wege eines Blattes im Winde kann man auch nicht voraussagen, und doch sind die Kinematik, die Klimatologie, die Meteorologie ganz gut ausgebaute Realwissenschaften. Es gehört nicht zum Wesen einer ausgebildeten Realwissenschaft, beliebige Einzelvorgänge voraussagen zu können. Daß uns oft das Schicksal eines einzelnen Blattes, etwa eines verwehten Tausendmarkscheins, besonders interessiert, geht die wissenschaftliche Forschung wenig an. Ob man durch Chronik der "zufälligen" Blattbahnen im Winde allmählich zu einer Lehre von den Blattbahnen gelangen könne, bleibe dahingestellt. Ein großer Teil all der Betrachtungen, die an RICKERT und verwandte Denker anknüpfen, liefern auch dort, wo sie physikalistisch gedeutet werden können, keine wissenschaftlichen Gesetze.

Die Soziologie, wie jede Realwissenschaft, spürt Korrelationen auf, die für Voraussagen verwendbar sind. Sie sucht ihre Grundgebilde möglichst eindeutig und klar festzulegen. So könnte man z.B. den Versuch machen, Gruppen durch "commercium" und "conubium" zu definieren. Man stellt fest, wer miteinander verkehrt, wer wen heiratet. Es dürften sich deutlich abhebbare Häufungsstellen ergeben mit schwachbesetzten Rändern. Und nun könnte man untersuchen, unter welchen Umständen solche Häufungen sich verändern, wohl gar verschwinden. Die Korrelation solcher Häufungsstellen mit dem jeweiligen Produktionsprozeß ausfindig zu machen, ist offenbar eine legitime soziologische Aufgabe, die für die Lehre von den "Klassen" Bedeutung haben könnte.

Man kann z.B. untersuchen, unter welchen Bedingungen Mutterrecht, Ahnenverehrung, Ackerbau und anderes auftreten, wann es zur Gründung von Städten kommt, welche Korrelationen zwischen systematischer Theologie und dem sonstigen Leben der Menschen besteht. Man kann auch danach fragen, wie die Rechtsprechung durch soziale Bedingungen bestimmt wird, wobei es fraglich ist, ob solche Abgrenzung ausreichende Gesetzmäßigkeiten ergibt. Es könnte z.B. sein, daß gewisse außerhalb des Rechts erfolgenden Vorgänge zu denen der Rechtsprechung hinzugefügt werden müssen, wenn gesetzmäßige Zusammenhänge gefunden werden sollen.

Was eine Gruppe als Recht anerkennt, mag eine andere als außerhalb der Rechtsordnung stehend ansehen. Man kann daher nur Korrelationen zwischen den Aussagen der Menschen über das "Recht" herstellen oder zwischen ihrem Verhalten und ihren Aussagen. Aber es ist nicht ohne besondere Vorbereitung möglich, "Rechtsvorgänge" als solche anderen gegenüberzustellen.

Es fragt sich, ob man einfache soziologische Korrelationen zwischen dem erlaubten Zinsnehmen einerseits, dem Lebensstandard einer Zeit andererseits feststellen kann, ob nicht einfachere Relationen zustande kommen, wenn man das "erlaubte Zinsnehmen" und den "verbotenen Wucher" zusammenfaßt. So könnte man Verhaltungsweisen, über die im "Recht" über die in der "Ethik" abgeurteilt wird, soziologisch eingliedern, und auch die Urteile mit einbeziehen. Das sind durchaus soziologische Teildisziplinen, aber das ist eben nicht die "Ethik", die "Rechtslehre", die man gemeinhin betreibt. Diese Disziplinen bringen wohl keine oder wenig soziologische Korrelationen. Sie enthalten vorwiegend Metaphysik, oder sind, wenn metaphysikfrei, in ihrer Fragestellung und Aussagengruppierung nur als theologische Restbestände erklärbar. Zum Teil bringen sie rein logische Deduktionen, die Ableitung bestimmter Befehle aus anderen oder bestimmter Konsequenzen aus bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen. Das aber liegt außerhalb des Gebietes geordneter Korrelationen.
LITERATUR - Otto Neurath, Soziologie im Physikalismus; in Rudolf Carnap / Hans Reichenbach (Hrsg), Erkenntnis, Band 2/1931, Amsterdam 1967