tb-2Der Wiener Kreis   
 
OTTO NEURATH
Ethik, Rechtslehre und Marxismus
in der Einheitswissenschaft


Soziologische Prognosen
Die Einheitswissenschaft

Wenn der Marxismus die eine Gruppe von Gebilden als  Unterbau  einer anderen Gruppe von Gebilden, als  Überbau  gegenüberstellt, dann bewegt er sich dauernd im Rahmen des Sozialbehaviorismus.

VI. Ethik und Rechtslehre als metaphysischer Realismus
Wie kann man bestimmte Befehle oder Verhaltungsweisen abgrenzen, um eine "neue Ethik im Rahmen des Physikalismus" zu ermöglichen? Es scheint unmöglich zu sein. Menschen können gemeinsam Beschlüsse fassen, sich irgendwie verhalten, und man kann die Folgen solchen Tuns untersuchen. Aber welche Verhaltungsweisen, welche Weisungen sol!te man als "ethische" abheben, um dann Korrelationen aufzustellen?

Die Beibehaltung eines alten Namens beruht auf der Meinung, daß etwas Beharrendes aufzufinden ist, das der alten theologischen oder metaphysischen und der neuen empiristischen Disziplin gemeinsam ist. Wenn man alle metaphysischen Elemente aus der Ethik beseitigt hat, sowie alle theologischen Physikalismen, dann bleiben eben nur entweder Aussagen über bestimmte Verhaltungsweisen der Menschen oder ihre Befehle an andere Menschen übrig.

Man könnte aber auch an eine Disziplin denken, die innerhalb der Einheitswissenschaft in durchaus behavioristischer Weise untersucht, welche Reaktionen durch eine bestimmte Lebensordnung als Reiz ausgelöst werden, ob die Menschen durch bestimmte Lebensordnungen glücklicher oder weniger glücklich werden. Es läßt sich eine durchaus empirische "Felicitologie" (Glückologie) auf behavioristischer Grundlage ausdenken, die an die Stelle überlieferter Ethik treten könnte.

Aber meist sucht man in einer metaphysikfreien Ethik irgendwie die "Motivationen" der Menschen zu analysieren, als ob das geeignete Unterlagen für gesetzmäßige Zusammenhänge wären. Was die Menschen über die "Gründe" ihres Handelns aussagen, hängt aber wesentlich mehr von Zufälligkeiten ab, als ihr durchschnittliches sonstiges Verhalten. Wenn man weiß, welche sozialen Gesamtbedingungen zu einer Zeit bestehen, kann man das Verhalten ganzer Gruppen weit eher voraussagen, als die Argumente, welche die einzelnen nun für ihr Tun vorbringen werden. Die gleichen Handlungsweisen werden auf sehr verschiedene Weise gestützt werden, und überdies werden die wenigsten die Korrelation zwischen der sozialen Situation und dem Durchschnittshandeln bemerken.

Diese meist metaphysisch formulierten "Motivationsgefechte" vermeidet eine empirische Soziologie, die auf fruchtbare Arbeit aus ist, wie die heute erfolgreichste Soziologie: der Marxismus. Er bemüht sich, Korrelationen zwischen sozialer Lage und dem Verhalten ganzer Klassen festzustellen, um dann die oft wechselnden Wortfolgen abzuleiten, welche verwendet werden, um das so bedingte gesetzmäßig ableitbare Tun zu "motivieren". Da der Marxismus das, was die Menschen über sich aussagen, ihre "Bewußtseinsvorgänge", ihre "Ideologie", zur Beschreibung gesetzmäßiger Zusammenhänge möglichst wenig verwendet, ist er den Arten von "Psychologie" verwandt, die das "Unbewußte" in irgendeiner Form wichtig nehmen. So kommt es, daß Psychoanalyse und Individualpsychologie dadurch, daß sie die heute schon recht überalterte Motivationspsychologie des Bewußtseins auflockern und auflösen, der modernen empirischen Soziologie vorarbeiten, die darauf aus ist, im Sinne der Einheitswissenschaft Korrelationen zwischen Tun und Bedingungen des Tuns ausfindig zu machen.

Und wenn auch in der jetzt gegebenen Form der Psychoanalyse und der Individualpsychologie sehr viel metaphysische Wendungen enthalten sind, so sind sie dennoch durch die Betonung des Zusammenhangs zwischen Verhalten und unbewußter Vorbedingung Vorläufer behavioristischer Denkweise und soziologischer Fragestellung.

Es hat also einen guten Sinn, zu fragen, ob eine bestimmte Lebensordnung mehr oder minder Glück verbreitet, als eine andere, da ja "Glück" durchaus behavioristisch beschreibbar ist; es hat einen guten Sinn, zu fragen, wovon die Forderungen abhängen, die Menschenmassen einander zurufen, welche neuen Forderungen aufgestellt werden, welche Verhaltungsweisen dabei auftreten werden - wobei Forderungen und Verhaltungsweisen oft wesentlich differieren. Das sind alles legitime soziologische Fragestellungen. Ob es sich empfiehlt, sie als "ethische" zu bezeichnen, bleibe dahingestellt.

Ähnlich steht es mit der "Rechtslehre", wenn sie etwas anderes sein will als Soziologie bestimmter gesellschaftlicher Erscheinungen. Setzt sie sich aber die Aufgabe, festzustellen, ob ein System von Forderungen logisch harmoniert, ob bestimmte Konsequenzen der Gesetzbücher mit bestimmten Beobachtungsaussagen des Rechtslebens in Einklang gebracht werden können, so haben wir es mit rein logischen Untersuchungen zu tun. Wenn man feststellt, ob Anweisungen eines Chemikers logisch verträglich sind, so treiben wir noch nicht Chemie. Um aber Chemie treiben zu können, müssen wir Korrelationen zwischen bestimmten chemischen Vorgängen und bestimmten Temperaturen feststellen und ähnliches mehr.

Daß trotz wesentlich metaphysischer Ausgangsformulierungen Vertreter rechtsphilosophischer Richtungen logisch und realwissenschaftlich Bedeutsames bringen können, kann uns nicht davon abhalten, metaphysische Formulierungen abzuwehren, z.B.:
"So wie das Denken mathematischer oder logischer Gesetze ein psychischer Akt, darum aber der Gegenstand der Mathematik oder Logik - das Gedachte - kein Psychisches, keine mathematische oder logische Seele, sondern ein spezifischer geistiger Sachgehalt ist, weil die Mathematik und Logik von dem psychologischen Faktum des Denkens solchen Inhaltes abstrahiert: So ist der Staat, als Gegenstand einer spezifischen, von der Psychologie verschiedenen Betrachtung, ein spezifischer geistiger Gehalt, nicht aber das Faktum des Denkens und Wollens solchen Inhaltes, ist er eine ideelle Ordnung, ein spezifisches Normensystem, nicht aber das Denken und Wollen dieser Normen. Nicht im Reiche der Natur - der physisch-psychischen Beziehungen -, sondern im Reiche des Geistes steht der Staat. Der Staat als verpflichtende Autorität ist ein Wert oder - sofern der satzgemäße Ausdruck des Wertes eingesetzt wird - eine Norm, bzw. ein System von Normen, und als solches wesensverschieden von der wertindifferenten, spezifisch realen Tatsache des Vorstellens oder Wollens der Norm." - KELSEN, Allgemeine Staatslehre.
Diese Art von Formulierungen verbindet sich mit ähnlichen über "Ethik" und verwandte Disziplinen, ohne daß der Versuch gemacht würde, zu untersuchen, wie der Terminus "objektive Ziele" in einer Einheitswissenschaft seinen Platz finden soll, ohne daß angegeben würde, durch welche Beobachtungsaussagen etwa "objektive Ziele" als solche zu bestimmen wären:
"Fragt die Allgemeine Staatslehre, was der Staat und wie er ist, d.h. welches seine möglichen Grundformen und Hauptinhalte sind, so fragt die Politik, ob der Staat überhaupt sein soll, und wenn: welches die beste unter seinen Möglichkeiten sei. Durch diese Fragestellung erweist sie sich als ein Bestandteil der Ethik, als Erkenntnis der Moral, die dem menschlichen Verhalten objektive Ziele, d. h. irgendwelche Inhalte als gesollte setzt. Insofern Politik aber unter dem Gesichtspunkt der Realisierung der irgendwie gesetzten und sohin vorausgesetzten objektiven Ziele die hierzu geeigneten Mittel sucht, das heißt: diejenigen Inhalte feststellt, die erfahrungsgemäß als Ursachen jene Wirkungen herbeiführen, die inhaltlich den vorausgesetzten Zielen entsprechen, ist sie nicht Ethik, nicht auf normative Gesetzlichkeit gerichtet, sondern Technik, wenn man es so nennen will: soziale Technik und als solche auf die Kausalgesetzlichkeit des Zusammenhangs von Mittel und Zweck gerichtet." (KELSEN)
Im Rahmen einer empirischen Soziologie, das heißt im Rahmen eines Sozialbehaviorismus, kann man die meisten dieser Ausführungen nicht einmal nach tiefgreifenden Umformungen verwenden. Welche Korrelation soll denn ausgesagt sein? Und wenn es sich wieder darum handelt, zu zeigen, daß gewisse Weisungen, Gesetzesbestimmungen, miteinander kombiniert, anderen Bestimmungen logisch äquivalent sind, was man nicht auf den ersten Blick bemerken muß, so bedarf man zu solchen für das praktische Leben sicherlich wichtigen Feststellungen keiner besonderen metaphysischen Erörterungen.

Daß diese Tautologien der Rechtsordnung weniger im Vordergrund stehen werden, wenn eine einheitswissenschaftliche Grundstimmung herrscht, ist klar. Es interessiert dann mehr, welche Wirkungen bestimmte Maßnahmen haben, und weniger, ob die in Gesetzbüchern formulierten Anordnungen unter sich logisch konsequent zusammenhängen. Es ist doch auch keine besondere Disziplin nötig, welche die logische Vereinbarkeit der Weisungen einer Spitalleitung überprüft. Man will wissen, wie das Zusammenwirken bestimmter Maßnahmen auf den Gesundheitszustand einwirkt, um danach das Tun einzurichten.

VII. Empirische Soziologie des Marxismus
Die Einheitssprache des Physikalismus sichert von vornherein den wissenschaftlichen Betrieb. Aussage fügt sich an Aussage, Gesetz an Gesetz. Wie innerhalb solcher Einheitswissenschaft die Soziologie, nicht anders wie die Biologie, wie die Chemie, wie die Technologie, wie die Astronomie unterkommt, wurde gezeigt. Die fundamentale Abtrennung besonderer "Geisteswissenschaften" von den "Naturwissenschaften" erwies sich als theoretisch sinnleer, aber auch eine bloß praktische Absonderung, die stärker wäre als eine der vielen anderen, als unzweckmäßig und durch nichts geboten.

Anschließend daran wurde im Groben der Begriff der soziologischen Korrelation angedeutet, wie er im Rahmen eines ausgebildeten Sozialbehavorismus Verwendung finden kann. Wir sahen, daß durch diese Fassung Disziplinen, wie "Ethik", "Rechtslehre" ihren traditionellen Boden verlieren. Ohne Metaphysik, ohne Abgrenzungen, die nur aus metaphysischen Gewohnheiten erklärbar sind, können diese Disziplinen sich nicht selbständig halten. Was an ihnen Realwissenschaft ist, geht in das Gebäude der Soziologie ein.

In diesem Bereich sammelt sich allmählich alles an, was Nationalökonomie, Ethnologie, Geschichte und andere Disziplinen an Protokollaussagen und Gesetzen Brauchbares liefern. Bald spielt die Tatsache, daß die Menschen ihre Reaktionsweise ändern, in den soziologischen Betrachtungen eine große Rolle, bald wieder geht man davon aus, daß die Menschen in ihrem Reaktionsverhalten sich nicht ändern, wohl aber in geänderte Beziehungen zueinander kommen. Die Nationalökonomie z. B. rechnet im allgemeinen mit konstanten Menschen und untersucht nun, was die gegebene Wirtschaftsordnung, der Marktmechanismus z.B. für Folgen hat. Sie bemüht sich festzustellen, wie Krisen, Arbeitslosigkeit entstehen, wie Reingewinne zustande kommen usw.

Wenn man aber beachtet, daß die gegebene Wirtschaftsordnung von den Menschen geändert wird, dann braucht man soziologische Gesetze, die diese Änderung beschreiben. Die Wirtschaftsordnung und ihr Verhalten zu untersuchen, genügt dann nicht, man muß die Gesetze, welche die Änderung der Wirtschaftsordnung selbst bestimmen, auch untersuchen. Wie bestimmte Änderungen der Produktionsweise die Reize so ändern, daß die Menschen, oft durch Revolutionen, die überkommenen Gewohnheiten abändern, das erforschen Soziologen verschiedenster Richtung. Von den vorhandenen soziologischen Lehren, ist es die des Marxismus, welche am meisten empirische Soziologie enthält. Die wichtigsten Thesen dieser Richtung, die für Voraussagen verwendet werden, sind entweder schon ziemlich physikalistisch formuliert, soweit das mit der überkommenen Sprache möglich war, oder sie können ohne wesentliche Verluste physikalistisch formuliert werden.

Wir können am Beispiel des Marxismus sehen, wie man soziologische Korrelationen untersucht und gesetzmäßige Beziehungen feststellt. Wenn man festzustellen trachtet, welche Korrelation zwischen der Produktionsweise aufeinanderfolgender Zeiten und den gleichzeitigen Kulten, Büchern, Reden usw. bestehen, dann untersucht man die Korrelation zwischen physikalistischen Gebilden. Der Marxismus stellt über die These des Physikalismus (Materialismus) hinaus noch besondere Thesen auf. Wenn er die eine Gruppe von Gebilden als "Unterbau" einer anderen Gruppe von Gebilden, als "Überbau" gegenüberstellt ("historischer Materialismus" als physikalistische Speziallehre), dann bewegt er sich dauernd im Rahmen des Sozialbehaviorismus. Es handelt sich nicht um Gegenüberstellung von "Materiellem" und "Geistigem", d.h. von "Wesenheiten" mit "verschiedener Kausalität".

Mit der Auffindung solcher Korrelationen dürften sich die nächsten Jahrzehnte in steigendem Maße beschäftigen. Wie sehr durch metaphysische Formulierungen konkrete Forschung erschwert wird, zeigt deutlich MAX WEBERs gewaltiger Versuch, die Entstehung des Kapitalismus aus dem Calvinismus nachzuweisen. Für einen Vertreter des Sozialbehaviorismus erscheint es von vornherein naheliegend, daß bestimmte Wortfolgen, daß die Formulierung bestimmter göttlicher Befehle als abhängig von bestimmten Produktionsweisen, Machtsituationen erkannt werden. Daß aber Wortfolgen einzelner Theologen, daß die immer recht unbestimmt gehaltenen Befehle der Gottheit, welche von Theologen übermittelt werden, die Lebenshaltung breiter Massen bestimmen sollten, welche mit Handel, Gewerbe und anderem beschäftigt sind, klingt nicht sehr plausibel. Dennoch vertrat MAX WEBER diese Anschauung. Er suchte zu zeigen, daß aus dem "Geist des Calvinismus" der "Geist des Kapitalismus" und damit die kapitalistische Ordnung geboren wurde.

Ein katholischer Theologe, KRAUS, wies darauf hin, daß eine solche Überschätzung des Einflusses theologischer Formulierungen bei WEBER wohl nur dadurch zu erklären sei, daß er dem Geist eine Art "magischer" Wirkung zuschrieb. Bei WEBER und anderen wird der "Geist" mit Worten und Formulierungen sehr eng verbunden gedacht, und so begreifen wir, wie WEBER zugespitzte theologische Formulierungen einzelner Calvinisten mühsam aufsuchte, um daraus zugespitzte Formulierungen kapitalistischer Art abzuleiten.

Aus dem "Rationalismus" des einen Gebietes soll der des anderen herrühren. Es würde auch im Rahmen des Physikalismus formal möglich sein, solche gewaltige Macht theologischer Reden und Schriften anzunehmen; aber die Erfahrung zeigt uns anderes. Der erwähnte katholische Theologe weist wie die Marxisten darauf hin, daß das Verhalten der Menschen wenig durch theologische Spitzfindigkeiten bedingt sei, die doch dem durchschnittlichen Kaufmann oder Gewerbetreibenden kaum bekannt seien. Es sei doch viel plausibler, anzunehmen, daß z.B. in England Kaufleute, welche die königlichen Monopole bekämpften, daß Wucherer, die Zins gegen den Befehl der anglikanischen Kirche nehmen wollten, eine Lehre und ihre Vertreter gerne unterstützten, die sich gegen die Kirche und die mit der Kirche verbundene Krone wandten. Erst waren diese Menschen in erheblichem Ausmaß in ihrem Verhalten kapitalistisch eingestellt, dann wurden sie Calvinisten.

Man muß nach allen Erfahrungen, die man mit theologischen Lehren sonst gemacht hat, erwarten, daß die Lehren nunmehr umgeändert und der Produktions- und Geschäftsweise angepaßt wurden. Und nun zeigt KRAUS im Gegensatz zu WEBER, daß die theologischen Formulierungen, welche mit dem Kapitalismus "kohärent" sind, erst später auftreten, während der ursprüngliche Calvinismus mehr den Lehren des antikapitalistischen Mittelalters verwandt war. WEBERs metaphysischer Ausgangspunkt hemmte seine wissenschaftliche Arbeit, bestimmte ungünstig die Auswahl der Beobachtungsaussagen. Ohne geeignete Auswahl gibt es aber keine fruchtbare wissenschaftliche Arbeit.

Analysieren wir einmal ein konkretes Beispiel etwas genauer. Womit hängt der Untergang der Sklaverei im Altertum zusammen?

Viele neigten der Anschauung zu, daß die christliche Lehre, daß die christliche Lebensordnung das Aufhören der Sklaverei bewirkt hätten, nachdem schon durch die stoischen Philosophen der Auffassung von der Sklaverei als ewiger Einrichtung Abbruch getan worden sei.

Wenn man solche Behauptung als Korrelation ausdrückt, liegt es nahe, zunächst nachzusehen, ob Christentum und Sklaverei zusammen auftreten oder nicht. Da sieht man denn, daß die schwersten Formen der Sklaverei zu Beginn der Neuzeit auftreten, zu einer Zeit, da überall christliche Staaten ihre Macht entfalten, die christlichen Kirchen vor allem in den Kolonien stark sind. Katholische Theologen haben aus Menschenfreundlichkeit durchzusetzen vermocht, daß zur Schonung der zugrunde gehenden indianischen Sklaven die haltbareren Negersklaven schiffsladungenweise nach Amerika gebracht wurden.

Man müßte eigentlich zuvor genauer definieren, was man unter "christlich" verstehen will, was unter "Sklaverei". Wenn man die Korrelation zwischen ihnen schärfer zu formulieren versucht, Muß man angeben: die Aussagen von Menschen bestimmter Art, ihr kultisches Verhalten usw. treten niemals zugleich mit massenweisem Halten von Sklaven auf. Dabei müßte eine bestimmte Art der Verwendung definiert werden, weil ja "juristisch" jemand eine "Sklave", "soziologisch" aber ein "Herr" sein kann. Es müssen aber soziologische Begriffe mit soziologischen verbunden werden.

"Christliche Lehre" ist ein ungemein unbestimmter Begriff. Viele Theologen glaubten aus der Bibel nachweisen zu können, daß Gott die Neger zu Sklaven erklärt habe. Als nämlich CHAM den betrunkenen Vater NOAH unehrerbietig behandelte, fluchte ihm NOAH und erklärte, er mit seinen Nachkommen solle den Brüdern SEM und JAPHET und deren Nachkommen untertan sein. Andere Theologen wieder suchten in christlichen Lehren Argumente gegen die Sklaverei aufzufinden.

Der Soziologe kommt offenbar viel weiter, wenn er ein bestimmtes System von Menschen, Kulthandlungen, Lehren usw. abgrenzt und nun zusieht, ob es mit gewissen Verhaltungsweisen der Gesellschaft zusammen auftritt oder nicht. Das ist freilich ein sehr grobes Verfahren. Man muß dahin zu gelangen trachten, nicht nur solche einfache Korrelationen aufzufinden, sondern auch kompliziertere. Gesetze müssen miteinander kombiniert werden, um bestimmte Voraussagen ableiten zu können.

Manche soziologischen "Gesetze" gelten nur für bestimmte Perioden, so wie es Gesetze der Ameisen, der Löwen gibt, neben allgemeineren biologischen Gesetzen. Das heißt, wir vermögen noch nicht präzise anzugeben, wovon bestimmte Korrelationen abhängen: "Historische Periode" - Nichtanalysierter Bedingungskomplex. Viel Verwirrung wurde dadurch gestiftet, daß manche analysierenden Soziologen meinten, die soziologischen Gesetze, die sie gefunden hatten, müßten von der Art der chemischen sein, also unter allen erdenklichen irdischen Bedingungen gelten. Es handelt sich aber in der Soziologie meist um Korrelationen, die für bestimmte Zeiträume gelten. MARX wies mit Recht darauf hin, daß es sinnlos sei, von einem allgemeinen Bevölkerungsgesetz zu sprechen, wie dies MALTHUS tat. Wohl aber könne man von jedem soziologischen Zeitalter angeben, welches Bevölkerungsgesetz in ihm gelte.

Wenn man zur Klärung der Frage: Wie kommt es zum Untergang der Sklaverei? Wenn man die Kämpfe der Nord- und Südstaaten Nordamerikas um die Sklavenbefreiung analysiert, sieht man den Kampf zwischen Industrie- und Plantagenstaaten vor sich. Die Plantagenstaaten werden durch die Befreiung wesentlich geschädigt. Sollte nicht Sklavenbefreiung und Produktionsprozeß zusammenhängen? Wie macht man so etwas plausibel?

Man untersucht, unter welchen Bedingungen die Sklaverei den Sklavenbesitzern Vorteile bringt, unter welchen dagegen nicht. Wenn man die Herren, welche Sklaven freilassen, befragt, warum sie das tun, werden nur wenige sagen, sie seien Gegner der Sklaverei, weil sie nicht genug Vorteile bringe. Viele werden uns ohne Heuchelei berichten, daß die Lektüre eines Philosophen zugunsten der Sklaven sie tief beeindruckt habe, andere werden ausführlich den Kampf ihrer Motive beschreiben, werden vielleicht darlegen, wie Sklaverei eigentlich das Vorteilhaftere wäre, wie aber der Wunsch, Opfer zu bringen, auf Eigentum zu verzichten, nach langem Kampf der Motive sie zu dem schweren Schritt der Sklavenfreilassung geführt habe. Wer gewohnt ist, im Sinne des Sozialbehavorismus zu verfahren, wird den sehr komplizierten "Reiz" der Lebensordnung mit Sklavenhaltung vor allem ins Auge fassen und dann die "Reaktion" Beibehaltung oder Freilassung der Sklaven untersuchen, um darüber nachzudenken, wie weit die theologischen Lehren über Sklavenfreilassung als "Reiz", wie weit sie als "Reaktion" in Rechnung gestellt werden können.

Zeigt es sich, daß verhältnismäßig einfache Korrelationen zwischen den Wirkungen der Sklaverei auf die Lebenshaltung der Herren und dem Verhalten der Herren zur Sklavenfreilassung aufgestellt werden können, dagegen keine einfachen Korrelationen zwischen den jeweiligen Lehren und dem Verhalten der Sklavenbesitzer, dann wird man ersterer Untersuchungsweise den Vorzug geben.

Man wird also die Kohärenz zwischen Jagd und Sklaverei, Ackerbau und Sklaverei, Manufaktur und Sklaverei unter verschiedenen Bedingungen untersuchen. Man wird z.B. finden, daß bei Vorhandensein genügend vieler freier Arbeiter, welche, um nicht zu verhungern, mit aller Macht ein Unterkommen suchen, der Besitz von Sklaven im allgemeinen keinen Vorteil bietet. COLUMELLA, ein römischer Agrarschriftsteller der späteren Zeit, sagt z. B. ohne Umschweife, es sei für den, der Fiebersümpfe in der Campagna trockenlegt, von Nachteil, Sklaven zu verwenden: Krankheit des Sklaven bedeute Zinsenverlust, Tod Kapitalverlust, dagegen könne man freie Arbeiter auf dem Markte jederzeit bekommen, ihre Krankheit, ihr Tod falle dem Arbeitgeber nicht zur Last.

Wenn starke Konjunkturschwankungen auftreten, ist es für den Unternehmer erwünscht, freie Arbeiter abbauen zu können; Sklaven muß man wie Pferde weiterfüttern. Wenn man daher bei STRABO liest, daß bereits im Altertum Papyrusstauden in Ägypten umgehauen wurden, um den Monopolpreis zu halten, dann wird man begreifen, daß die allgemeine Verwendung freier Arbeiter nicht mehr ferne sein konnte.

Welche Bedingungen wieder das Auftreten der wechselnden Konjunktur (frühkapitalistischer Wirtschaftseinrichtungen) bewirken, kann ebenfalls untersucht werden. Korrelation fügt sich an Korrelation. Wir sehen, "freie Arbeit" und "Vernichtung produzierter Waren" scheinen unter gewissen Bedingungen kohärent zu sein, ebenso ..Plantagensklaverei" und "konstanter Absatz". Man kann den Sezessionskrieg als Kampf des industriellen Nordens, der an Sklaverei nicht interessiert war, gegen den Baumwolle bauenden agrarischen Süden ansehen und damit recht viel voraussagen.

Deshalb haben die religiösen und ethischen Gegner der Sklaverei nicht gelogen, wenn sie sagten, daß sie an der Befreiung der Sklaven unmittelbare Freude empfänden, nicht aber an der Erhöhung der Industriegewinne in den Nordstaaten. Daß solche Freude an Sklavenbefreiung in dieser Zeit sich entfalten und so reiche Befriedigung finden konnte, wird der empirische Soziologe aus der wirtschaftlichen Gesamtsituation in großen Umrissen abzuleiten vermögen.

Sowie man eine Landwirtschaftslehre ausarbeitet, haben manche, darunter Theologen, auch eine durchaus empirische Lehre von der "Eingeborenennutzung" ausgearbeitet, die zu allerlei Korrelationen führt. Und durch Kombination mit anderen gesetzmäßigen Zusammenhängen kann man über das Schicksal der Sklaverei in einzelnen Ländern und Gebieten allerlei voraussagen.

Wenn im späten Rom Getreide an die Freien, nicht aber an die Sklaven verteilt wurde, ist dies ein weiterer Anreiz für die Sklavenbesitzer, Sklaven freizulassen, um sie dann als Freigelassene unter geringerem Kostenaufwand wieder zu beschäftigen und als Klientel bei Wahlen zu verwenden. Auf welche Weise das untergehende Rom durch Rückbildung schon frühkapitalistischer Einrichtungen zum Kolonat, zur Hörigkeit gelangt, läßt sich ebenfalls verständlich machen.

Um mit Sklavenarbeit einen Produktionsprozeß aufzubauen, mußte man über große Geldmittel verfügen, da sowohl die Arbeitskräfte als die Werkzeuge gekauft werden mußten. Bei freier Arbeit genügte die Anschaffung der Werkzeuge. Das Kolonat erforderte gar keine Investition des Besitzers, der sich Abgaben aller Art sicherte. Die "freien" Arbeiter sind durch die Gesamtordnung zur Arbeit gezwungen - auf Faulheit steht die Todesstrafe -, während die Sklaven von jedem einzelnen Herrn diszipliniert werden mußten. Er mußte ihre Gesundheit und ihr Leben schonen, wie er ein Pferd oder ein Rind schont, selbst wenn es ungebärdig ist.

Wir sehen, wie durch solche Analysen Korrelationen zwischen allgemeinen sozialen Bedingungen und bestimmten Verhaltungsweisen menschlicher Teilgruppen hergestellt werden. Die "Aussagen" der Gruppen sind für diese Korrelationen nicht wesentlich; sie können oft mit Hilfe weiterer Korrelationen hinzugefügt werden. Diese Art, empirische Soziologie zu treiben, findet sich vor allem im Marxismus.

Ein System der empirischen Soziologie im Sinne des Sozialbehaviorismus, wie er vor allem in USA und USSR sich entwickelt, müßte vor allem die typischen "Reaktionen" ganzer Gruppen auf "Reize" untersuchen. Aber bedeutsame geschichtliche Bewegungen werden auch oft ohne solche Analyse berechnet oder abgeschätzt. Und nun könnte man zeigen, wie durch Ausbau bestimmter Einrichtungen, durch Anwachsen einer bestimmten Größe ein Umschwung vorbereitet wird, der die weitere Wandlung in ganz anderer Richtung vor sich gehen läßt.

Die primitive "Fortschrittslehre", daß irgendeine Größe dauernd anwachse, läßt sich nicht durchhalten. Man muß das gesamte System der soziologischen Größen in seiner Verflochtenheit betrachten und nun zusehen, welche Wandlungen voraussagbar sind. Man kann nicht daraus, daß bisher die Großstädte anwuchsen, schließen, daß das ungefähr so weitergehen werde. Gerade sprunghaftes Anwachsen kann Reize auslösen, die zu plötzlichem Stillstand des Wachstums führen und etwa Neubildung vieler kleiner Zentren auslösen. Die Zunahme kapitalistischer Großbetriebe, das Anwachsen proletarischer, in den Betrieben abhängiger Massen kann dazu führen, daß der ganze kapitalistische Mechanismus im Zusammenhang mit Wirtschaftskrisen dem Ende entgegengeht.

VIII. Möglichkeiten der Voraussagen
Man kann sich darüber Rechenschaft ablegen, in welchem Umfang man wohl im Rahmen des Sozialbehaviorismus erfolgreich Voraussagen machen kann. Es zeigt sich, daß die verschiedenen "Voraussagen", d.h. die wissenschafllichen Lehren soziologische Vorgänge sind und von der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung wesentlich abhängen. Daß z. B. bestimmte Voraussagen unter bestimmten Bedingungen entweder gar nicht auftreten oder nicht ausgebaut werden können, wird uns erst nachträglich klar. Selbst wenn ein einzelner die Richtung der weiteren erfolgreichen Forschung zu ahnen glaubt, kann er durch Teilnahmslosigkeit, ja, durch den Widerstand der übrigen Menschen verhindert sein, die gerade für soziologische Forschung erforderlichen Mitstrebenden zu finden.

Ansätze zu gesellschaftlichen Wandlungen sind schwer zu bemerken. Um Voraussagen über neuartige Vorgänge machen zu können, müssen meist schon neue Erfahrungen von einigem Umfang vorliegen. Die Wandlungen des geschichtlichen Ablaufs geben dem Gelehrten oft erst die nötigen Unterlagen für weitere Untersuchungen. Da aber soziologische Untersuchungen auch als Reize und Hilfsmittel der Lebensgestaltung eine gewisse Rolle spielen, ist die Ausgestaltung der Soziologie sehr eng mit den sozialen Kämpfen verbunden. Nur geschlossene soziologische Schulen, die sozialer Stütze bedürfen, können durch gemeinsame Arbeit die Materialmassen bewältigen, die zu strengerer Formulierung von Korrelationen bearbeitet werden müssen. Das setzt wieder voraus, daß die Mächte, welche solche Arbeiten finanzieren, dem Sozialbehaviorismus gewogen sind.

Das ist im allgemeinen heute nicht der Fall. Ja, gegen den Sozialbehaviorismus wie gegen den Individualbehaviorismus besteht in den herrschenden Schichten eine Abneigung, die weit über die wissenschaftlichen Bedenken hinausgeht, die aus der Unvollkommenheit dieser Lehre verständlich wären. Soziologisch erklärt sich der Widerstand der herrschenden Kreise, die in den Universitäten der kapitalistischen Länder meist eine Stütze finden, vor allem daraus, daß die empirische Soziologie durch ihre metaphysikfreie Haltung die Sinnleerheit der Redewendungen vom "kategorischen Imperativ", von "göttlichem Befehl", "Sittlicher Idee", "überpersönlichem Staat" usw. enthüllt, und damit wichtige Lehren schwächt, die zur Stütze der herrschenden Ordnung verwendet werden.

Die Vertreter der Einheitswissenschaft" vertreten nicht eine Weltanschauung neben anderen Weltanschauungen, so daß die Frage der Toleranz aufgeworfen werden könnte. Sie erklären die transzendente Theologie, die Metaphysik nicht für falsch, sondern für sinnleer. Ohne zu bestreiten, daß mit sinnleeren Lehren starke Erregungen, beglückende und bedrückende Zustände verbunden sein können, können die Vertreter der "Einheitswissenschaft" praktisch "Sieben eine heilige Zahl sein lassen", indem sie die Vertreter dieser Lehre nicht belästigen, aber sie können nicht erklären, daß diese Behauptung irgendeinen, wenn auch noch so "geheimen" Sinn haben, d. h. wissenschaftliche Aussagen bestätigen oder widerlegen könne. Wenn man mit solcher Begründung des reinen Wissenschaftlers auch Metaphysik und Theologie ungestört läßt, erschüttert man doch zweifellos die Ehrfurcht vor ihnen, die von vielen gefordert wird.

An die Stelle aller metaphysischen Wesenheiten, deren Befehle man zu befolgen suchte, deren "heilige" Kraft man verehrte, tritt im Rahmen rein wissenschaftlicher Formulierungen als empirischer Ersatz das tatsächliche Verhalten der Gruppen, deren Befehle als empirische Gebilde auf den einzelnen Menschen einwirken. Daß Menschengruppen einzelne Menschen in bestimmter Handlungsweise bestärken oder in einer anderen hemmen, ist eine Aussage, die im Rahmen des Sozialbehaviorismus durchaus sinnvoll ist.

Der Sozialbehaviorist gibt auch Befehle, bittet, tadelt, aber er meint nicht, daß diese Äußerungen, mit Aussagen verbunden, ein System geben können. Man kann Worte wie Pfiffe, wie Streicheln, Peitschenhiebe verwenden; bei dieser Verwendung können sie aber weder in Widerspruch zu Aussagen treten, noch mit ihnen in Übereinstimmung gebracht werden. Aus einem System von Aussagen kann nie ein Befehl abgeleitet werden! Das bedeutet keine "Beschränkung" unseres wissenschaftlichen Betriebs, sondern ist nichts anderes als ein Ergebnis logischer Analyse. Daß man Befehle und Voraussagen so häufig mengt, hängt wohl damit zusammen, daß beide es mit der "Zukunft" zu tun haben. Ein Befehl ist ein Vorgang, von dem man annimmt, daß er bestimmte Veränderungen in der Zukunft hervorruft; die Voraussage ist eine Aussage, von der man annimmt, daß sie mit einer zukünftigen Aussage in Übereinstimmung stehen werde.

Die Vertreter der "Einheitswissenschaft" bemühen sich, in der "Einheitssprache des Physikalismus" mit Hilfe der Gesetze Voraussagen zu machen. Auf dem Gebiete der empirischen Soziologie geschieht dies durch Ausbau des "Sozialbehaviorismus". Um zu brauchbareren Voraussagen zu kommen, kann man zunächst mit den Mitteln der Logik die sinnleeren Wortfolgen beseitigen. Aber das genügt nicht. Es folgt die Beseitigung aller falschen Formulierungen. Die Vertreter moderner Wissenschaft müssen sich auch nach Beseitigung der metaphysischen Formulierungen noch mit falschen Lehren, z.B. auch mit astrologischen, magischen und ähnlichen auseinandersetzen. Um jemanden von solchen Lehren zu befreien, genügt nicht, wie bei der Elimination des Sinnleeren, die gemeinsame Anerkennung der Logik, man muß, wenn man die eigene Lehre durchsetzen will, durch erzieherische Mittel eine Basis schaffen, von der aus die Unzulänglichkeit dieser "auch-physikalistischen", aber unkritischen Lehren erkannt wird.

Die Fruchtbarkeit des Sozialbehaviorismus wird durch Feststellung neuer Korrelationen bewiesen, durch die mit ihrer Hilfe gemachten guten Voraussagen. Eine im Sinne des Physikalismus und seiner Einheitssprache erzogene Jugend wird viele Hemmungen der Forschung sich ersparen, denen wir jetzt noch ausgesetzt sind. Die erfolgreiche Sprache kann nicht ein einzelner schaffen und verwenden, sie ist das Werk einer Generation. So wird auch Soziologie als Sozialbehaviorismus nur dann in großem Umfang richtige Voraussagen machen können, wenn eine Generation des Physikalismus auf allen Gebieten sich betätigt. Trotzdem wir heute ein Anwachsen der Metaphysik beobachten können, spricht vieles dafür, daß auch die metaphysikfreien Lehren sich ausbreiten und immer mehr Raum gewinnen als neuer "Überbau" des sich wandelnden wirtschaftlichen "Unterbaus" unserer Zeit.
LITERATUR - Otto Neurath, Soziologie im Physikalismus; in Rudolf Carnap / Hans Reichenbach (Hrsg), Erkenntnis, Band 2/1931, Amsterdam 1967