tb-2PaulsenDiltheyFichteHerbartWindelband    
 
FRIEDRICH PAULSEN
Einleitung in die Philosophie
[ 2 / 3 ]

"Ist die Behauptung des Phänomenalismus begründet, daß sich unsere Erkenntnis an keinem Punkt mit der Wirklichkeit deckt, daß wir eine adäquate Erkenntnis, so wenig von unserem eigenen Innern, als auch von der Welt außerhalb haben?"

"Die Seelenvermögen sind nicht besondere Wirklichkeitselemente, aus denen als Ursachen erklären werden kann, sondern das Wirkliche sind Vorstellungen, Begehrungen, Gefühle und die Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, die gesetzmäßigen Beziehungen dieser Vorgänge darzustellen."

"Als dem König von Siam von einem holländischen Gesandten erzählt wurde: in seiner Heimat werde das Wasser zu Zeiten hart und fest, so daß man darauf gehen kann, kam dem König die Sache völlig undenkbar und unmöglich vor. Hätte er in seiner Jugend scholastische Philosophie studiert, so würde er sich vermutlich nicht versagt haben, die Unmöglichkeit auch zu beweisen: flüssig sein gehöre zum Wesen des Wassers, also ist es unmöglich, daß es starr wird."


2. Wiederherstellung der realistischen
Auffassung für die Innenwelt

Einer Prüfung der phänomenalistischen Gedankenreihe schicke ich zunächst eine Bemerkung über den letzten Punkt voraus. Manche breite Ausführung in der erkenntnistheoretischen Literatur der Gegenwart könnte die Sache so erscheinen lassen, als ob wir wirklich in Gefahr wären denken zu müssen: die Summe meiner Wahrnehmungen und Vorstellungen ist die Welt, und außerdem gibt es überhaupt nichts Wirkliches. - Ich denke, diese Gefahr ist wirklich nicht groß; es hat niemals einen gesunden und vielleicht auch keinen kranken Kopf gegeben, dem es auch nur einen Augenblick zweifelhaft gewesen wäre, ob es eine Welt unabhängig vvon seinen eigenen Vorstellungen gibt. Auch FICHTE ist nie eingefallen zu meinen, daß er, JOHANN GOTTLIEB, und seine Gedanken die ganze Wirklichkeit sind. Es wird demnach auch die Widerlegung des sogenannten Solipsismus einstweilen für eine überflüssige Mühe gehalten werden dürfen. Die Frage ist nicht: gibt es Dinge außerhalb meiner Vorstellungswelt? sonndern: was bedeutet die Behauptung und wie kommt der Glaube an eine unabhängig von meinen Vorstellungen existierende Wirklichkeit, der ich selbst mit meinen Vorstellungen als ein verschwindend kleiner Teil eingefügt bin, zustande? Wenn das Ich von der Welt doch nur durch seine eigenen Vorstellungen weiß, wie kommt es dazu, darüber hinaus zu gehen zu einer absolut seienden Wirklichkeit?

Ich halte es aber für zweckmäßig, zuvor auf die andere Frage einzugehen: ist die Behauptung des Phänomenalismus begründet, daß sich unsere Erkenntnis an keinem Punkt mit der Wirklichkeit deckt, daß wir eine adäquate Erkenntnis, so wenig von unserem eigenen Innern, als auch von der Welt außerhalb haben?

Zuerst ein Wort über Sinn und Bedeutung der Frage. Man hat gesagt, der Phänomenalismus, wie ihn KANT lehrt, ist eigentlich ein trostloser Skeptizismus; was bleibt für eine Erkenntnis, wenn ich nicht einmal mehr mein Selbst erkenne, wie es ansich ist? KANTs Kritik hebt eigentlich ddas Wissen überhaupt auf. Man hat sogar Fausts Kummer: ich sehe, daß wir nichts wissen können, das will mir schier das Herz verbrennen, mit KANTs Kritik in Zusammenhang bringen wollen.

Solche Klagen und Vorwürfe sind ganz grundlos. Vor allem ist zu sagen: keine Theorie der Erkenntnis ändert am Bestand und Wert unserer Erkenntnis das Mindeste. Die Wissenschaften bleiben nach wie vor, was sie sind; von einer Aufhebung oder Zerstörung des Wissens durch eine theoretische Reflexion über das Wissen kann nicht die Rede sein. Und auch die Bedeutung der Wissenschaften für uns bleibt dieselbe, weder ihr praktischer noch ihr theoretischer Wert wird durch die Kritik vermindert. Unsere Astronomie, Physik, Psychologie, Geschichte sind uns, was sie sind und leisten uns, was sie leisten, ganz ohne alle Rücksicht darauf, wie eine nachträgliche erkenntnistheoretische Überlegung ausfällt, wie sie dann auch in der geschichtlichen Entwicklung von ihr auf keine Weise als abhängig erscheinen.

Vielleicht hängt das Mißverständnis mit einem schiefen Ausdruck zusammen. Man faßt wohl KANTs Ansicht in die Formel: wir erkennen nur die Erscheinung, aber in das innere Wesen der Dinge vermögen wir nicht einzudringen. Damit scheint dann ein bestimmter Mangel unserer Erkenntnis, der angegeben und beseitigt werden könnte, wenn nur unser Verstand erweitert und erhellt würde, angedeutet zu sein. Wenn wir sagen: das Wesen des Nordlichts oder der Elektrizität ist noch unerkannt; oder: ich bin mir über das Wesen dieses Mannes nicht klar, so wird damit ein Mangel bezeichnet; wir kennen einstweilen nur die äußere Erscheinung, aber nicht die letzten Ursachen; oder: ich weiß, wie der Mann aussieht, welche Stellung er in der Gesellschaft einnimmt, aber sein Charakter, seine Grundsätze, seine Anschauungen sind mir nicht bekant, ich weiß daher nicht, wessen ich mich von ihm versehen soll. Weiß ich dies alles, kenne ich ihn aus einem langen und freundlichen Verkehr, bin ich gewiß, wie er im gegebenen Fall handeln und urteilen wird, dann sage ich: sein Wesen ist mir wohl bekannt.

Ganz etwas anderes hingegen bedeutet die Unterscheidung von Erscheinung und Ding-ansich in der Erkenntnistheorie. Die allervollkommenste Erkenntnis des Naturells, des Charakters, des Vorlebens eines Mannes, so daß ich sein Verhalten mit Sicherheit voraussagen könnte, wie eine Mondfinsternis, wäre nach der kantischen Betrachtung doch nichts als eine Erkenntnis der Erscheinungen; von der Seele selbst, ihrem Ansich, ihrem Was und Wesen käme nichts darin vor.

Wie steht es nun mit der Behauptung, daß wir die Dinge nur wie sie erscheinen, nicht wie sie ansich sind, erkennen? Ist sie begründet? Gehen wir zunächst auf die Erkenntnis des eigenen Innenlebens ein. Auch hier, so wird behauptet, muß zwischen Erscheinung und Ding-ansich unterschieden werden. Das Ich erkenne auch ich selbst nicht, wie es ansich ist, sondern nur wie es mir erscheint. Das Ansich der Seele, die in den Bewußtseinsvorgängen erscheint, bleibt der Erkenntnis so undurchdringlich, wie das Ansich der Dinge, die als bewegte Körperwelt im Bewußtsein vorkommen. Ist diese Behauptung begründet?

Ich glaube nicht, daß wir Ursache haben, dies anzuerkennen. Zweierlei wird hier behauptt: erstens, daß es außer oder hinter den Bewußtseinsvorgängen, als den Erscheinungen des Seelenlebens, nun noch die Seele selbst als Ding ansich gibt; zweitens, ddaß wir dieses Ding ansich nicht erkennen. - Das Zweite ist ohne Zweifel wahr: was wir von unserem Selbst erkennen, sind in der Tat immer jene Vorgänge des Empfindens, Vorstellens, Fühlens, Strebens; niemals aber kommt in unserem Selbstbewußtsein ein Ding Seele oder Ich vor. Aber, so ist nun gleich hinzuzufügen: die erste Behauptung ist grundlos; ein besonderes Ding "Seele" gibt es überhaupt nicht in der Wirklichkeit; der Begriff einer Seele, die als Ding-ansich, abgesehen vom Seelenleben, ich weiß nicht welche Wirklichkeit hätte, ist ein leerer Begriff. Die Seele selbst ist nichts anderes, als die Einheit des Seelenlebens; ihr Dasein geht auf in ihren "Erscheinungen", einen dunklen, dem Erkennen undurchdringlichen Realitätsrückstand gibt es überhaupt nicht.

Es ist das ein so entscheidender Punkt für die Erkenntnistheorie und Metaphysik, daß ich hierauf, nachdem schon oben diese Auffassung eingeführt worden ist, nochmals in etwas ausführlicherer Betrachtung darauf zurückkomme. Wer überhaupt zu einer gesunden Philosophie kommen will, der muß einmal diesem Gespenst einer "Seele ansich" zuleibe gehen.

Nach der Vorstellung der vulgären Meinung hat die Wirklichkeit etwa folgende Struktur. Es gibt drei Arten oder Stufen des Wirklichen:
    1) Wirkliches erster Ordnung, das sind die Dinge oder Substanzen;

    2) Wirkliches zweiter Ordnung, das sind die Eigenschaften oder Kräfte;

    3) Wirkliches dritter Ordnung, das sind die Tätigkeiten, Ereignisse, Beziehungen.
Am wenigsten Selbständigkeit hat das Wirkliche dritter Ordnung; Tätigkeiten oder Ereignisse bedürfen zum Wirklichwerden eines andern, durch das sie vorübergehend ins Dasein eingeführt werden, das sind Kräfte. Aber auch die Kräfte oder Eigenschaften können nicht für sich existieren, sie bedürfen wieder eines andern, an dem sie sind, das sind die Substanzen. Diese allein ruhen auf sich selbst und bedürfen keines anderen zum Dasein; sie sind daher das eigentlich Wirkliche. Unter den Substanzen pflegt die Vulgärmetaphysik wieder, dem CARTESIUS folgend, zwei Arten zu unterscheiden: körperlich oder ausgedehnte, und geistige oder denkende, die unausgedehnt sind. Der Verschiedenheit ihres Wesens entsprechen verschiedene Kräfte. Allgemeine Kräfte oder Eigenschaften des Körpers sind Undurchdringlichkeit, Schwere, chemische Affinitäten, kurz Attraktions- und Repulsionskräfte; als Kräfte der Seele dagegen wären Empfindungsvermögen, Gedächtnis, Einbildungskraft, Begehrungsvermögen, Gefühlsvermögen, Wille anzusehen.

Ist das eine Haltbare Vorstellung von der inneren Konstitution der Wirklichkeit? Richten wir zunächst auf das zweite Glied der Reihe die Aufmerksamkeit, auf die Eigenschaften oder Kräfte. Sind sie wirklich ein ansich, abgesehen von der Erscheinung oder Betätigung, seiendes Element der Wirklichkeit? Nehmen wir einen beliebigen Körper, ein Stück Kreide. Es hat eine Menge von Kräften oder Eigenschaften. Da ist zuerst die Eigenschaft der Undurchdringlichkeit oder die Kraft, andere Körper vom Eindringen in den Raum, den es einnimmt, abzuhalten; da ist die Eigenschaft der Weiße oder die Kraft, auffallendes Licht auf bestimmte Weise zu reflektieren; ferner die Eigenschaft der Schwere oder die Kraft, auf seine Unterlage einen Druck auszuüben, oder, wenn die Unterstützung entfernt wird, eine bestimmte Bewegung auszuführen; es hat ferner die Eigenschaft eines Schreibmaterials oder die Kraft, auf einer Tafel weiße Striche zu machen. Was bedeutet das? Sitzen alle diese Eigenschaften oder Kräfte als besondere Wirklichkeiten in der Kreide drin, kann man sie darin sehen oder sonstwie beobachten? Sitzt da die Kraft des Strichemachens, oder genauer, die Kraft, weiße Striche auf eine schwarze Tafel zu machen, als ein eigentümliches, stets gegenwärtiges, beharrliches Wirklichkeitselement in der Kreide? Und natürlich in der Tafel eine entsprechende Kraft oder Fähigkeit, bestrichen zu werden. Und sitzt ebenso in der Hand neben tausend anderen Kräften auch die Schreibkraft und zwar in vielfacher Gestalt: als Kreide-, Griffel-, Federschreibkraft? als deutsche, lateinische, griechische Buchstaben-Schreibkraft? Das meint doch niemand; sondern die Kreide hat die Kraft, Striche zu machen, das heißt nichts als: wenn sie über eine rauhe Oberfläche geführt wird, dann lösen sich Teilchen los und bleiben an der Tafel hängen, die Spur der Bewegung zeigend. Die Striche sind nicht in der Kreide und ebensowenig sitzt eine Strichkraft drin, sondern wir sehen voraus, was unter gewissen Umständen geschehen wird; diese vorausgesehenen Ereignisse, wir nennen sie mögliche, fassen wir zusammen, substantivieren sie und legen sie der Kreide als permanenten Besitz bei. Und ebenso steht es mit den übrigen Kräften; wir sehen voraus, daß die Kreide unter solchen Umständen sich so verhalten, in einem bestimmten Maß sich bewegen, drücken oder einem anderen Körper eine Beschleunigung zufügen wird. Diese vorausgenommenen Vorgänge substantivieren wir und legen sie dem Körper als Schwerkraft bei. Und nicht anders verhält es sich mit der lebendigen Kraft des bewegten Körpers; die Arbeitsleistung, die wir von ihm erwarten, legen wir als Kraft in ihn hinein. Kraft ist also kein besonderes, existierendes Wirkliches, sondern eine Denkform, durch die wir uns den Zusammenhang der Erscheinungen vorstellen. Definiert wird eine Kraft durch ihre mögliche Wirkung oder Arbeitsleistung; ihren vollkommenen Ausdruck findet die Erklärung in einem Naturgesetz, das die Größe der möglichen Beschleunigung einer bestimmten Masse aussagt. (1)

Ebenso verhält es sich mit den Kräften der geistigen Substanzen. Hier ist die Sache noch einleuchtender. Wir sprechen von moralischen Kräften, einer Kraft der Selbstbeherrschung, der Tapferkeit. Alles was wir damit sagen, ist, daß wir von einem Mann ein bestimmtes Verhalten in der Gefahr, in der Versuchung erwarten. Wir meinen nicht, daß die Selbstbeherrschung als ein eigentümliches, dingartiges Etwas in der Seele sitzt. Nicht anders steht es mit Gedächtnis, Verstand, Wille und den übrigen Seelenvermögen. Die Psychologie hat das längst gesehen; unter den Deutschen hat besonders HERBART diesen Punkt betont: die Seelenvermögen sind nicht besondere Wirklichkeitselemente, aus denen als Ursachen erklären werden kann, sondern das Wirkliche sind Vorstellungen, Begehrungen, Gefühle und die Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, die gesetzmäßigen Beziehungen dieser Vorgänge darzustellen. Sollte sich jemand nicht noch von den Kräften als besonderen, den Substanzen inhärierenden Wirklichkeitselementen trennen können, der mag sich dann an der Lösung von allerlei Vexierfragen [Sophisterei, die in Verlegenheit bringen soll - wp] versuchen: wirkt die Kraft immer? was macht sie, wenn sie nicht wirkt? sind die Kräfte durch den ganzen Raum verbreitet, den der Körper einnimmt? und wie sind in den unausgedehnten Substanzen die Kräfte untergebracht oder mit ihnen verbunden?

Fällt das Mittelglied, die Kräfte, aus, so bleiben für die Konstruktion der Wirklichkeit die Substanzen und die Ereigenisse. Wie steht es nun mit den Substanzen? Sind sie ein besonderes Wirkliches neben den Akzidenzen?

Bleiben wir zunächst bei der Seelensubstanz. Man meint: außer den Empfindungen, Vorstellungen, Gefühlen, Bestrebungen besteht nun noch als ein besonderes Wirkliches oder, mit HERBARTs Ausdruck, als das Reale, die Seele selber; die Bewußtseinsvorgänge sind nur Betätigungen der Seele, nicht aber die Seele selbst; sie möchten kommen oder gehen, sie könnten auch, zumindest zeitweilig, ganz ausfallen; die Seelensubstanz bleibt dabei in unveränderter und unverminderter Wirklichkeit bestehen.

Es scheint mir völlig unmöglich, an dieser Vorstellung festzuhalten. Die Seelensubstanzen sind ganz dasselbe, was die Seelenkräfte sind, Hypostasierungen [Vergegenständlichungen - wp] von Vorgängen, sie sind gleichsam Hypostasierungen in zweiter Potenz; die Seelensubstanz ist das Vermögen der Vermögen, das Generalvermögen zu jenen Spezialvermögen. Wie die Kraft nur definiert werden kann durch ihre Wirkungen, so kann die Substanz nur definiert werden durch die Kräfte: sie ist nichts anderes als ein Inbegriff von Kräften, also zuletzt ein Inbegriff von möglichen Ereignissen. Das Dasein der Seele besteht in ihrem Leben, in der Einheit aufeinander bezogener psychischer Vorgänge; nehmen wir diese weg, so bleibt kein Rückstand. Bewußtseinsvorgänge sind das an und für sich Wirkliche, sie bedürfen keines anderen, eines Seelensubstantiale, das ihnen erst zur Wirklichkeit verhelfen oder sie in der Wirklichkeit halten und tragen müßte; so etwas gibt es überhaupt nicht.

Dem gesunden Menschenverstand wird der Verzicht auf ein solches haltendes und tragendes Etwas zunächst als eine harte, ja als eine ganz unerfüllbare Forderung vorkommen. Eine Empfindung oder ein Gefühl kann doch nicht absolut existieren, es muß ein empfindendes oder fühlendes Wesen da sein, das sie hat; ein Vorstellen ohne einen, der vorstellt, schon die Sprache weist die Zumutung zurück. Und wie will man ohne Seele Tatsachen, wie die Einheit des Bewußtseins, die Aufmerksamkeit, die Selbstbeobachtung oder die Selbstbeherrschung konstruieren?

Nun, natürlich gibt es eine Seele, und auf keine Weise handelt es sich darum, sie zu beseitigen, sondern allein darum, sich darüber zu verständigen, was sie ist. Sie nicht, wie behauptet wird, ein unveränderliches, starres, absolut beharrliches Realitätspünktchen, das, an und für sich existierend, den Kräften und Vorgängen als Anhaltspunkt in der Wirklichkeit dient, sondern sie ist die Einheit des Seelenlebens, die Gesamtheit auf einander bezogener bewußter und unterbewußter innerer Vorgänge selbst, an oder in der jeder einzelne als ein zugehöriges Glied des Ganzen ist und gewußt wird. Jene vorausgesetzten Bröckchen allgemeinen Realitätsstoffes dagegen existieren überhaupt nicht in der Wirklichkeit, sie sind nichts als hypostasierte Schatten falscher metaphysischer Begriffe.

Daß unser Denken an der für sich seienden Seelensubstanz nicht einen so kostbaren und unentbehrlichen Schatz besitzt, wie die Vulgärmetaphysik glaubt, davon überzeugt man sich vielleicht am ehesten, wenn man sich einmal zu dem Versuch nötigt, auf Fragen, wie die folgenden, sich eine Antwort zu geben. Worin besteht das Wesen jener Seelensubstanz? Es muß doch etwas ansich Seiendes sein, abgesehen von seinen Akzidenzen, denn es soll ja die Voraussetzung derselben sein. Was ist es also? Kannst du es sagen? Oder geht es dir, wie einst LOCKE, als er den Begriff der Substanz überlegte: er findet, sie sei ein Irgendetwas, dessen Wesen nicht angegeben werden kann (2). Nun, so wirst dur doch deutlich machen können, was sie tut oder leistet? - Natürlich, sie ist der Träger, dem die Akzidenzen anhängen oder inhärieren. - Aber was bedeuten diese Ausdrücke? Ich weiß wohl, was es bedeutet, wenn du sagst: ein Pferd trägt einen Reiter; trägt die Seele ebenso ihren Gedanken? oder hängt ihr eine Leidenschaft an, wie die Farbe der Leinwand? - Du sagst, das sind unpassende Bilder. - Nun, so zeige die Anschauung, die hier durch die Wörter bezeichnet wird. Wirst du etwa sagen: dies ist hier gemeint, daß die Substanz die Akzidenzen aus ihrem Wesen hervorbringt oder sich in ihnen verwirklicht? Aber sieh zu, ob hiermit geholfen ist. Ich weiß wohl, was es bedeutet, wenn du sagst: ein Baum bringt Blüten und Früchte hervor, ein Keim verwirklicht sich in der Entwicklung von Trieben, Keimblättern usw. Aber was es heißt: ein immaterielles Irgendetwas bringt Vorstellungen und Gefühle aus sich hervor, das weiß ich wahrlich nicht. Mir scheint, es sind lauter leere Wörter, lauter Anweisungen auf einen Sinn, den die Anschauung sich weigert einzulösen.

Aber, sagst du, die Einheit des Selbstbewußtseins wird doch allein durch eine einheitliche und beharrliche Seelensubstanz erklärbar. Ich gestehe, ich vermag auch nicht zu fassen, was hierzu das Substantiale helfen soll. Es ist eine Tatsache, daß die Vorgänge des Innenlebens nicht isoliert auftreten, und daß jeder mit dem Bewußtsein der Zugehörigkeit zum einheitlichen Ganzen dieses individuellen Lebens erlebt wird. Wie so etwas geschehen kann, das weiß ich nicht zu sagen, so wenig als ich zu sagen weiß, wie Bewußtsein überhaupt möglich ist, das aber meine ich deutlich zu sehen: jener angenommene "Träger", jenes Irgendwas, das man Seelensubstanz tituliert, hilft auf keine Weise die Sache begreiflicher zu machen; es wäre selbst ein Rätsel, aber nicht die Lösung dieses Rätsels. - Und sollte etwa schon dadurch, daß die Vorgänge a, b, c demselben A "inhärieren", das Bewußtsein ihrer Einheit bewirkt werden? Aber dann müßte ja Selbstbewußtsein die Form aller Zusammenfassung von Akzidenzen in einer Substanz sein. Es muß also noch eine besondere Qualität der Seelensubstanz hinzukommen, um ihre Akzidenzen zu Gliedern einer Bewußtseinseinheit zu machen. Und so wäre demnach diese Qualität aufzuzeigen, wenn das Substanziale etwas helfen soll. Also, soviel ich sehe, verlieren wir wirklich gar nichts, wenn wir dieses "Irgendwas, ich weiß nicht was" fahren lassen.

Natürlich werden wir nun nicht sagen: also gibt es keine Seele, sondern vielmehr: Seele ist die auf nicht weiter sagbare Weise zur Einheit verbundene Vielheit innerer Erlebnisse. Und am Sprachgebrauch werden wir gar nichts ändern, wir werden nach wie vor von der Seele reden und von Vorgängen, die sich in ihr zutragen, von Gedanken, die sie hervorbringt, und von inneren Regungen, die sie hegt oder ablehnt. Ich werde mich auch nicht scheuen, das Wort Substanz von der Seele zu gebrauchen und von ihren Zuständen und Eigenschaften zu reden; selbst das verpönte Wort Seelenvermögen werde ich nicht vermeiden. Es handelt sich nur darum, ein für allemal deutlich zu machen, was ich damit meine. Und es wird sich dann herausstellen, daß alle jene herkömmlichen Bezeichnungen in der Tat einen guten Sinn haben, nur nicht den, den eine vom physikalischen Atomismus mißleitete Metaphysik ihnen beilegt. Nennen wir Substanz das, was ein selbständiges Dasein hat (mit SPINOZAs Formel: id quod in se est et per se concipitur [Die Substanz kann nur aus sich selbst heraus begriffen werden. - wp]) zu; sie sind und werden begriffen nur im ganzen Seelenleben. Es ist eine Tatsache, daß Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken, Bestrebungen niemals, soviel ich weiß, vereinzelt in der Wirklichkeit vorkommen, sondern immer nur als Glieder in einer solchen Gesamtheit innerer Vorgänge, die wir ein Seelenleben nennen. Und zwar entsteht dieses nicht, wie ein Kompositum, aus den vorher fertigen einzelnen Elementen, sondern das Ganze ist, um jenes Wort des ARISTOTELES nochmals zu wiederholen, vor den Teilen: die einzelnen Elemente werden gleichsam vom Ganzen als zu ihm gehörige, zur Darstellung seiner selbst erforderliche Momente hervorgebracht oder mit innerer Notwendigkeit gesetzt.

Ein Bild soll das Verhältnis deutlich machen. Eine Sprache besteht aus Wörtern; und zwar besteht sie nur in der Gesamtheit der Wörter und Formen; nimmt man alle Wörter weg, so ist auch die Sprache nicht mehr; sie besteht nicht als ein besonderes Wirkliches, eine Sprachsubstanz neben den Wörtern. Aber andererseits ist sie kein Kompositum aus den vorher seienden einzelnen Wörtern, wie eine Mauer aus den fertigen Steinen zusammengesetzt wird. Sondern die Sprache bringt beständig Wörter hervor oder verwandelt sie dem Bedürfnis entsprechend; jedes Wort ist ein zufälliges, vergängliches Akzidenz, das sie schafft, umbildet und schließlich wieder fallen läßt. Ebenso ist eine Dichtung kein Kompositum aus einzelnen Versen, aber auch keine außer den einzelnen Versen für sich seiende Substanz, sondern sie ist in ihnen, doch so, daß die Idee des Ganzen das Einzelne setzt oder im Einzelnen sich entfaltet. - Nun, auf dieselbe Weise ist die Seele nicht außerhalb oder untern den Bewußtseinsvorgängen, als ein hartes, starres, unveränderliches Reales, sondern sie ist allein in ihnen, aber freilich nicht so, daß sie aus den vorher fertigen und selbständigen Elementen zusammengesetzt würde, sondern so, daß sie die einzelnen Elemente hervorbringt und sich in ihnen verwirklicht. Die Idee des Ganzen setzt auch hier das Einzelne: ein Gedanke, ein Gefühl, ein Verlangen, es kann in dieser bestimmten Gestalt nur in diesem Leben vorkommen und begriffen werden, verhält sich also zu ihm wie eine Akzidens zur Substanz.

Ist so gegenüber dem einzelnen Bewußtseinselement als einem anhängenden, unselbständigen und vorübergehenden das ganze Seelenleben ein selbständiges und dauerndes Wesen, eine Substanz, so kann man nun freilich hier nicht stehen bleiben, sondern muß dieses Ganze wieder als unselbständiges und abhängiges Glied eines größeren Ganzen konstruieren; das Individualleben verhält sich zum Volksleben wieder wie eine Akzidenz zur Substanz. Das Volk oder die Volksseele ist nur in den Einzelseelen, aber wieder nicht so, daß sie aus ihnen zusammengesetzt würde, sondern so, daß sie sie aus sich hervorbringt und sich in ihnen verwirklicht. Und wieder fügt sich ein Volksleben einem größeren Leben ein, dem Menschheitsleben, und mit diesem ist es eingeschlossen in das einheitliche Gesamtleben der Erde, dessen äußere Erscheinung die physische Erdgeschichte in ihren Umrissen beschreibt. Endlich aber fließt alles Leben aus einem allumfassenden Leben, dem einheitlichen Leben Gottes. Und damit wären wir auch von dieser Seite her bei dem Gedanken angelangt: Gott ist die Substanz, das eine einzige, wahrhaft selbständige, durch sich seiende Wesen, zu dem sich alles einzelne Wirkliche als unselbständige Akzidenz verhält. -

Der eben ausgeführte Gedanke ist nicht neu; ja man kann sagen, er geht durch die ganze Geschichte der Philosophie. Ich will hier gar nicht seine Geschichte schreiben, doch deute ich ein paar Punkte an.

Durch eine erkenntnistheoretische Analyse ist DAVID HUME auf ihn geführt worden; wie er die Nebel zerstreut hat, mit denen der Begriff des Wirkens in der Schulmetaphysik umgeben ist, so hat er auch das Gespenst einer hinter dem Seelenleben verborgenen Seelensubstanz verbannt. In seinem ersten Werk, der Abhandlung über die menschliche Natur, unterwirft er in den letzten Abschnitten des ersten Buches den hergebrachten metaphysischen Begriff einer Seelensubstanz der Kritik. Er findet an ihm gar nichts Haltbares; es sei völlig unmöglich, auch nur den Sinn der Frage zu verstehen: ob Vorstellungen in einer materiellen oder immateriellen Substanz inhärieren? geschweige denn, daß er sich von der Notwendigkeit der Annahme einer immateriellen Substanz, um als Träger von Vorstellungen zu dienen, überzeugen kann. Er zieht es daher vor, bei dem stehen zu bleiben, was gegeben ist: eine durch Gedächtnis und kausale Beziehungen zur Einheit zusammengefaßte Vielheit von Bewußtseinsvorgängen.
    "Es gibt Philosophen", heißt es in einer oft angeführten Stelle, "welche meinen, wir seien in jedem Augenblick uns innigst dessen bewußt, was wir unser Selbst nennen, wir fühlten sein Dasein und seine Fortdauer im Dasein und seien mit mehr als demonstrativer Gewißheit seiner vollkommenen Identität und Einfachheit gewiß."
Er habe nicht das Glück, solche Beobachtungen zu machen;
    "so oft ich in das, was ich mein Selbst nenne, eindringe, stoße ich immer auf die eine oder andere besondere Perzeption, Wärme oder Kälte, Licht oder Schatten, Liebe oder Haß. Niemals kann ich das Selbst ohne eine Perzeption erfassen und niemals etwas anderes als diese Perzeption bemerken."
Von metaphysischer Spekulation ausgehend war SPINOZA, dessen Theorie HUME übrigens in seine eben erwähnte Erörterung verflochten hat, zur Umbildung des Substanzbegriffs, oder zu seiner Aufhebung in einem gemeinen Sinn gekommen. Die Einzeldinge sind nicht Substanzen, sondern Akzidenzen (modi); das gilt von den Körpern wie von den Seelen: Substanz, selbständig, ist nur Gott, der Inbegriff der Wirklichkeit; jedes einzelne Wirkliche ist in dem All-Einen als ein Abhängiges und Beschränktes mit logisch-mathematischer Notwendigkeit gesetzt. Selbstverständlich ist Gottes Substantialität nicht nach dem Schema eines ausgedehnten Körperatoms oder eines unausgedehnten Seelenatoms zu denken. Seine Einheit besteht nicht in einer Kontiguität oder Punktualität, sondern ist die Einheit einer Idee, die sich in einer Vielheit von Momenten verwirklicht. - Auch LEIBNIZ, der das Wesen der Substanz in Kräfte setzt, und zuletzt die vielen endlichen Substanzen in die Einheit der einen Substanz zusammenfaßt, bleibt im Grunde innerhalb dieser Anschauung.

Von HUME ausgehend, sieht sich KANT auf die Betrachtung geführt, daß Substantialität und Inhärenz als Denkform, nicht als Existenzform anzusehen sind. Damit ist die Vorstellung, als sei die Substanz ein an und für sich seiendes Wirkliches, natürlich aufgegeben. Substanz ist das Perdurable [Dauerhafte - wp] der Erscheinung. Dann wird freilich durch das Ding-ansich, das hinter den Erscheinungen stecken soll, die Sache wieder einigermaßen verdunkelt; es hat hin und wieder den Anschein, als sei das Ding-ansich die verborgene Substanz, das "Irgendwas, ich weiß nicht was" LOCKEs. - Hier setzt nun FICHTE ein, und das ist die eigentliche Bedeutung seiner vielberufenen Aufhebung des Dings-ansich: Sein ist Leben, Innenleben, das ist FICHTEs Grundanschauung; ein totes, starres, absolut beharrliches Sein, ein Seelenatom hinter dem Seelenleben gibt es nicht; eine bloß seiende Substanz ist so wenig in der geistigen Welt wie in der körperlichen, die ja überhaupt kein absolutes Dasein hat, sondern nur eine Spiegelung der Innenwelt ist. Und dieser Gedanke bleibt die Grundvoraussetzung der ganzen spekulativen Philosophie, in der man keinen Schritt tun kann, ohne ihn sich zu eigen gemacht zu haben. Von hier hat ihn LOTZE; mit Entschiedenheit verwirft er die Vorstellung von einem allgemeinen Wirklichkeitsbegriff, von dem ein Stückchen in jedem Wirklichen als sein innerster Kern verborgen sein muß; die Seele ist ihm nichts anderes als eine seiende, auf unbegreifliche Weise in der Form wirkungsfähiger Selbständigkeit gesetzte Idee, und gar nicht scheint sie iihm eines weiteren Anhaltspunktes zu bedürfen, um wirklich zu sein. Ebenso bleibt FECHNER in dieser Anschauung und neuerdings bekennt sich WUNDT zu ihr mit dem aktuellen Seelenbegriff (3). Der Ausdruck weist auf den actus purus der Scholastiker, auf die reine Entelechie [sich im Stoff verwirklichende Form - wp] des ARISTOTELES zurück: Gott ist actus purus, nicht totes Sein, sein Wesen ist das ewige Denken des absoluten Gedankens, welcher die Wirklichkeit ist. Und damit kommen wir dann auf den letzten Ursprung dieser ganzen Gedankenbildung zurück, auf PLATO, den großen Begründer der abendländischen Philosophie: die Wirklichkeit ist eine Ideenwelt, ein seiendes Gedankensystem, und diese Gedanken sind das wirklich Wirkliche selbst und bedürfen keines Anderen, an dem und durch das sie wären. Die Ideen sind ja nicht starre Bilder, die wie stumme Ölgötzen der Welt zuschauen, sondern ein lebendiger Inhalt, wie er sich sichtbar in der Seele als solcher darstellt.

Wie kommt es doch, daß die gemeine Vorstellung gegen die Zumutung, diesen Gedanken zu denken, sich so lebhaft sträubt? Denn die erste Empfindung, wenn man ihm zum ersten Mal begegnet, ist ja ohne Zweifel die: das ist undenkbar, ein Gedanke muß an einer Seelensubstanz sein, sonst versinkt er ins Leere. Und es hilft wenig, wenn man die Gebrechlichkeit dieser Stütze zeigt; die Vulgärmetaphysik, die sich übrigens nicht allein bei Köhlern und Ziegelbrennern findet, besteht doch darauf, ohne ein Irgendwas, das ihn trägt, ohne ein Wirklichkeitsklötzchen, woran er befestigt ist, ist seine Wirklichkeit undenkbar. Vielleicht ist der Ursprung dieser Undenkbarkeit in Folgendem zu suchen:

Man kann zwei Arten von Denknotwendigkeit unterscheiden: die echte oder logische und die falsche oder psychologische. Jene kommt jedem formell richtig gefolgerten Satz zu; wer die Prämissen anerkannt hat, kann sich dann der Konklusion nicht entziehen. Die unechte oder psychologische Notwendigkeit dagegen entspringt aus der Gewöhnung; was wir oft oder immer sehen, hören, denken, erscheint uns zuletzt als notwendig, sein Gegenteil als unmöglich. Als dem König von Siam von einem holländischen Gesandten erzählt wurde: in seiner Heimat werde das Wasser zu Zeiten hart und fest, so daß man darauf gehen kann, kam dem König die Sache völlig undenkbar und unmöglich vor. Hätte er in seiner Jugend scholastische Philosophie studiert, so würde er sich vermutlich nicht versagt haben, die Unmöglichkeit auch zu beweisen: flüssig sein gehöre zum Wesen des Wassers, also ist es unmöglich, daß es starr wird.

Dieser Art von Notwendigkeit begegnet man überall. Was ich nie gesehen habe, ist unmöglich, das ist das große Prinzip, von dem das Urteil des Durchschnittsverstandes beherrscht wird. Ein Mann von Bildung, der selbst keine Religion hat und auch nie Leute gesehen hat, die wirklich Religion hatten, glaubt nicht, daß so etwas überhaupt möglich ist; es kann nur Heuchelei und Betrug sein, im besten Fall Selbstbetrug. Ein Physiologe, der niemals hypnotische Erscheinungen beobachtet hatte, erklärte mit Zuversicht alle derartigen Dinge für unmöglich. Durch dieselbe Denknotwendigkeit werden die Vorstellungen von der Zukunft gebunden: was heute nicht ist, kann und wird niemals sein. Es gibt keine große Veränderung im geschichtlichen Leben, deren Unmöglichkeit nicht vorher klar bewiesen worden wäre: ohne Sklaverei ist geistige Kultur undenkbar; ohne Prügel ist Disziplin in der Armee undenkbar; ohne den lateinischen Aufsatz ist das Gymnasium undenkbar.

Dieselbe Denknotwendigkeit beherrscht auch die gemeine Physik. Ein schwerer Körper, der nicht unterstützt wird, muß fallen, es ist undenkbar, daß er frei schwebend an seinem Ort bleibt. Da die Erde ein schwerer Körper ist und nicht fällt, wie der Augenschein lehrt, so muß sie unterstützt sein; das ist der Ausgangspunkt aller primitiven Kosmologie. Man läßt sie daher etwa auf dem Wasser schwimmen, oder, wie jener schon erwähnte indische Philosoph, von einem großen Elefanten getragen werden und stützt diesen etwa wieder auf eine Schildkröte und so fort, bis der Frager müde wird zu fragen.

Nun, ganz von derselben Art ist die Notwendigkeit der Seelensubstanz. Die sinnliche Anschauung zeigt uns beständig alle Eigenschaften und Vorgänge an einem Stoff haftend: Farbe, Gewicht, Wärme, Bewegung sind immer an einem Körper, einem greifbaren Stoff. Folglich müssen auch Vorstellungen und Gedanken an einem Stoff sein. Dieser Stoff ist für die gemeine Vorstellung natürlich zunächst der Leib. Nun zeigt sich aber eine wunderliche Schwierigkeit. Die psychischen Vorgänge wollen sich an den ausgedehnten Stoff nicht anheften lasen; wie ist es vorzustellen, ein Gefühl der Liebe oder des Hasses in oder an einem Gehirn oder einer Ganglienzelle? Ist das Gefühl selbst verteilt über die ausgedehnte Masse? Nimmt der Begriff des Kreises, nehmen die Parallelensätze einen Raum im Gehirn ein? Es mag sein, daß, wenn der Gedanke gedacht wird: "die Quadratur des Zirkels ist unmöglich", eine Reihe von Bewegungen oder chemischen Umsetzungen oder was auch immer für Vorgänge durch mehr oder weniger ausgedehnte Partien der grauen Substanz verlaufen, aber das ist doch nicht der Gedanke selbst; dieser kann offenbar nicht als ein im Raum zerstreuter Vorgang vorgestellt werden. Diese Schwierigkeit ist es, die zur Bildung des Begriffs einer besonderen Seelensubstanz geführt hat; der gewöhnliche ausgedehnte Stoff ist hier nicht verwendbar, auf einen Stoff überhaupt kann man nicht verzichten; folglich muß es einen unausgedehnten oder immateriellen Stoff geben, das ist die Seelensubstanz.

Freilich, die immaterielle Substanz bleibt ein wunderliches Wesen; was sie mit der einen Hand gegeben hat, das nimmt sie mit der anderen wieder. Daher bleibt die Neigung, diesen unwirklichen Schatten eines Stoffs gegen den wirklich greifbaren Stoff wieder einzutauschen, da weiß man doch, wo und wie. Man kann überall beobachten, wie die natürliche Neigung des Denkens die spirituelle Substanz immer wieder zu materialisieren, als einen feinen, ganz ätherischen Stoff sich vorzustellen strebt. Damit ist erst dem Wort ein anschaulicher Sinn gegeben; das unausgedehnte, immaterielle Seelenatom bietet der Anschauung gar keinen Anhaltspunkt. Daher fällt der Spiritualismus, der eine Seelensubstanz nötig hat, immer wieder in den Materialismus zurück. - In der Tat, wer nicht denken kann, daß ein Gedanke als ein für sich seiendes Wirkliches ohne Anheftung an eine Substanz existiert, der bleibt notwendig in der materialistischen Anschauung, er mag sich dagegen sträuben, wie er will. Ein wirklich durchgeführter Spiritualismus ist nur möglich, wenn man auf jenen Schatten des körperlichen Stoffes verzichtet und psychische Vorgänge ebenso als frei in der Wirklichkeit schwebend betrachtet, wie wir uns gewöhnt haben, die Himmelskörper als frei im Raum schwebend vorzustellen. -

Ich kehre nun zu der Frage zurück, von der ich ausgegangen war: erkennen wir unser eigenes Inneres, wie es ansich ist? Ich antworte: sicherlich, es ist im Bewußtsein, wie es ansich ist. Gefühle, Bestrebungen, Vorstellungen, Gedanken werden gefühlt, vorgestellt, gedacht, wie sie ansich sind: ihr Sein ist ja nichts anderes, als ihr Gefühlt- und Gedachtwerden. Ist nun die Seele nichts anderes, als das Seelenleben selbst, bleibt hinter ihm kein dunkles, undurchdringliches Seelenatom als Rückstand, so werden wir also sagen: die Unterscheidung von Erscheinung und Ding-ansich hat hier überhaupt keinen Sinn. Sein und erkannt werden fallen hier in eins zusammen. In empirischer Hinsicht ist allerdings auch die Erkenntnis vom eigenen Ich eine beschränkte und mangelhafte. Vom vergangenen Leben erhalten sich im Gedächtnis nur Fragmente, die unter dem Einfluß dessen, was eben im Vordergrund des Bewußtseins steht, bald so, bald anders zu einer Gesamtansich zusammengefügt und gedeutet werden; und beständig spielen sich unter der Schwelle des Bewußtseins tausend Vorgänge ab, die nur gelegentlich ihre Schatten ins Bewußtsein werfen oder mit Störungen in das bewußte Vorstellungs- und Gefühlsleben hinüberwirken. Dazu ist die Zukunft dunkel; erst allmählich enthüllt im Fortschritt des Lebens das eigene Ich sich selber, nicht selten seine eigenen Vorstellungen und Erwartungen von sich täuschend. Es ist demnach ohne Zweifel eine sehr viel ausgedehntere und tiefere Erkenntnis meines Selbst denkbar, als ich sie besitze; bis zu einem gewissen Grad wird eine solche unter Umständen sogar durch einen anderen Menschen erreicht; der Biograph, der den Vorteil hat, das ganze Leben abgeschlossen mit seinen Voraussetzungen und seinen Wirkungen auf andere zu übersehen, urteilt oft klarer und sicherer, als der Held selbst. Aber das alles bedeutet ur eine empirische Beschränktheit der Selbsterkenntnis; von einer transzendentalen dagegen, von einer Unterscheidung zwischen Ansich und Erscheinung ist hier überall nicht die Rede. Und somit wäre hier ein erster, fester Punkt für die realistische Ansicht von der Erkenntnis wieder gewonnen: ich erkenne die Wirklichkeit, wie sie ansich ist, soweit ich sie selber bin.

Mit einem Wort berühre ich ein Bedenken, das gegen diese Behauptung aus einer früheren Betrachtung entnommen werden möchte. Die Zeit, sagten wir mit KANT, ist keine absolut seiende Ordnung der absoluten Wirklichkeit, sondern eine subjektive Anschauungsform; und ich glaube nicht, daß wir diese Ansicht zurücknehmen können; die Zeit läßt sich nur als eine Ordnung, in die wir die Bewußtseinselemente zusammenfügen, konstruieren, es bleibt denkbar, daß für eine andere Intelligenz die Ordnung des Vorher und Nachher nicht gilt oder so nicht gilt, sie mag die Wirklichkeit zeitlos, sub specie aeternitatis [im Licht der Ewigkeit - wp] mit SPINOZAs Ausdruck anschauen. Da wir nun unser Innenleben notwendig als zeitlichen Verlauf vorstellen, so scheint damit die Phänomenalität auch in unsere Selbsterkenntnis hineinzukommen.

Ich erwidere: auch hier handelt es sich doch mehr um eine empirische, als um eine transzendentale Beschränktheit. Man kann nicht sagen, daß unsere Erkenntnis des eigenen Innenlebens dadurch gleichsam verfälscht wird. Jene absolute Intelligenz, welche die Wirklichkeit als zeitlos bestehend auffaßt, würde in meinem Leben doch nicht eigentlich einen anderen Inhalt erblicken. Wäre das der Fall, dann würde ich sagen: das bin ich nicht mehr, die Phänomenalität oder Inadäquatheit ist dann nicht auf meiner, sondern auf jener Seite. Jene angenommene absolute Intelligenz sieht nicht etwas anderes dem Inhalt nach, sie sieht nur anders, sie sieht denselben Inhalt mit einem umfassenderen, mit einem allumfassenden Blick. Wer den jährlichen Sonnenumlauf der Erde mit einem Blick übersehen würde, wie unser Auge die Schwankungen eines Sekundenpendels sieht, oder wer die Entwicklung eines Planetensystems überblickt, wie wir das Aufschwellen und Verwelken einer Blüte sehen, für den wären Jahrtausende ein Augenblick der Gegenwart. Vor dem Auge des Ewigen verschwindet die Zeit überhaupt. Sein Blick sieht Vergangenes und Zukünftiges in eins; es sieht in jedem Punkt alle Ursachen und alle Wirkungen, das heißt, er sieht die Wirklichkeit als ein einheitliches Ganzes, als ein ideelles System, in dem jedes Moment durch das Ganze bedingt oder zum Ganzen notwendig ist. Ein Knabe, der zu lesen anfängt, sieht erst nur Buchstaben, allmählich Wörter, dann lernt er Sätze zusammensetzen und ihren Inhalt fassen, und zuletzt erreicht es der Mann, ein Buch als einen einzigen großen Gedanken aufzufassen, der seinen Inhalt in einer Vielheit von Momenten entfaltet. Der Zusammenhang dieser Momente ist nun für ihn kein zeitlicher, sondern ein innerlicher; eine logische oder ästhetische Notwendigkeit umspannt seine Teile und weist jedem seinen Ort an. So sieht Gott alle Dinge: das zeitliche Auseinander verliert sich vor der inneren Beziehung, der inneren Bedingungsanordnung, mit LOTZE zu reden (Mikrokosmus III, Seite 599), in der in seinem Bewußtsein das Fernste und Nächste verknüpft ist. Unser armes Bewußtsein müht sich ab, Wörter und Zeilen zu umspannen, selbst seinen eigenen Inhalt vermag es nur, durch ein sukzessives [Stück für Stück - wp] Durchlaufen in der Erinnerung zu erfassen; und von den tausend Beziehungen, in denen es steht, fällt hie und da ein Moment mit hinein, von seinen Ursachen und noch mehr von seinen Wirkungen weiß es kaum in den allgemeinsten Umrissen. Unser Leben gleicht dem Tappen in einem Irrgarten; Gottes Erkenntnis unseres Lebens gleicht der Ansicht dessen, der von oben hineinsieht und alle Verschlingungen mit einem Blick überschaut.
LITERATUR - Friedrich Paulsen, Einleitung in die Philosophie, Berlin 1893
    Anmerkungen
    1) Siehe die Erörterung des Begriffs der Kraft bei Fechner, Physikalische und philosophische Atomenlehre, Seite 177f und bei Wundt, System der Philosophie, Seite 297f. Vgl. auch Helmholtz, Populäre wissenschaftliche Vorträge, 2. Heft, Seite 190.
    2) John Locke, Untersuchungen über den menschlichen Verstand, Bd. II, Kapitel 23: "Wenn sich jemand selber prüfen will hinsichtlich seines Begriffs von einer reinen Substanz im allgemeinen, so wird er finden, er hat von ihr keine andere Vorstellung, als die Annahme eines unbestimmten Trägers der Qualitäten, die in uns einfache Vorstellungen bewirken." - Würde er gefragt, was dieser Träger ist, dem die Qualitäten adhärieren [anhaften - wp], "so wäre er nicht in viel besserer Lage, als jener Inder, der behauptete, die Welt wird von einem großen Elefanten getragen. Als man ihn weiter fragte, worauf der Elefant steht? antwortete er: auf einer großen Schildkröte. Da man aber weiter in ihn drang, wovon denn die breitrückige Schildkröte getragen wird? gab er zur Antwort: von irgendetwas, er wisse nicht was."
    3) Hermann Lotze, *Mikrokosmus II, Seite 143, III, 531. Metaphysik 109, 480. Fechner, Atomenlehre, Seite 114. Wundt, System der Philosophie, Seite 289 und 585.