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RUDOLF HAYM
Von Herbart bis Hegel

"Die Erfahrung ist nicht aufzufassen noch zu würdigen ohne ästhetischen Sinn. Ohne diesen ist sie nur das Verwirrende und Widerspruchsvolle; sie fällt auseinander, sie zerbröckelt in der Hand des Beschauers. Die Risse, welche die Welt der Erscheinung überall durchziehen und sie zerstören, indem sie aufgefaßt werden soll, gehen zusammen, nur wenn der ästhetische Blick, im Moment der Auffassung selbst, sie bindend zusammenschaut."

"Die Kritik hat die lebendigen Wurzeln ihrer Kraft in der ethischen Tiefe des Geistes. Nur der ethische Sinn ist die letzte entscheidende Instanz für das Recht der Kritik. Den Reichtum der Erscheinungswelt zu zerstören, den lebendigen Prozeß der geistigen Hergänge auf seine Elemente zurückzuführen, ist nur derjenige geschickt und befugt, der nicht zugleich das letzte schöpferische Motiv alles Geisteslebens, die sittliche Freiheit, bei jener Analyse zerstört."

"Die tote Identität, der Eigensinn des Verstandes, das mathematische A = A ist das Maß, an welchem die Erfahrung gemessen wird. Das Mathematische kann den Konflikt des Sinnlichen mit dem Sittlichen, das inkommensurable Verhältnis dieser beiden Faktoren nicht ertragen; seine Identität ist die inhaltslose mathematische Form."

"In England hat die Hinwendung auf das praktische Leben und der in egoistischen Interessen befangene Geist sich nicht zu einer uninteressierten Theorie, die sich selbst Zweck ist, zu erheben vermocht. Das Bedürfnis der Praxis unterbricht mit näher gelegenen Zwecken das in sich verbleibende, sich mit sich selbst beruhigende Denken."

"Es ist eine erstaunliche Erscheinung, zu sehen, wie die Philosophie Hegels eine Kampfeslust und einen gegen gealterte Lebensformen sich sittlich empörenden Eifer hervorzurufen vermochte, welchen zu erzeugen einer Lehre wie der kantischen oder der Fichtes unmöglich gewesen war."

Die Stellung HERBARTs in der Geschichte der Philosophie ist von ihm selbst als eine einsiedlerische aufgefaßt worden. "Ankämpfend wider Wind und Strom", bekennt er, "nur mit äußerster Anstrengung seine Richtung gekonnt behauptet zu haben." Er klagt über das "widerwärtige Zeitalter", gegen dessen Mißdeutungen er sich zur Resignation bereit erklärt; die "Absicht einer Reaktion gegen die heutige Zeit" liegt ihm fern, und wenn er seiner im Jahre 1825 vollendeten Psychologie den Anfang einer Wirkung erst nach einem oder ein paar Jahrzehnten zutraut, so bestimmt ihn zu diesem Glauben die Überzeugung, von der dermaligen Trübung der Köpfe, welche nicht gestattet, wie doch zum Verständnis seines Werkes erforderlich ist "sich zurückzuversetzen in die Periode, da Kant, Reinhold und Fichte blühten".

Dahin also wäre, wenn wir uns eine Vorstellung von HERBARTs Philosophieren verschaffen wollen, das Schiff unserer Geschichte zurückverschlagen und wir hätten, wenn nicht der Strom der geistigen Entwicklung uns mit sich gerissen hätte, eben in jener Periode dieses Mannes erwähnen können; auf die Gefahr hin freilich, des mächtiger treibenden Zusammenhangs verlustig zu gehen und dafür noch früher auf einer Verlegenheit aufzulaufen, welche härter ist als die, in welche uns der "absolute Idealismus" hineingeführt hat. Vielleicht dagegen, daß uns jetzt der schon gewonnene Überblick über die Folge der System von KANT bis HEGEL leichter und kürzer über das abseits gelegene System HERBARTs hinweghilft und daß jene mit ihren ganz entgegengesetzten Intentionen das sonst schwer verständliche aufzuhellen geschickt sind.

Zweierlei kann in KANTs "Kritik" nebeneinander, sodaß es nur heimlich und nur durch ein Hinzudenkendes, keineswegs aber Ausgesprochenes vermittelt schien: die Erfahrung, das Aposterior und das formende, zur Produktion jedoch stets auf dem Sprung stehende Gemüt, die lebendige Zutat des Apriorischen. Schien es beim Eintritt in die Vernunftkritik, daß Beides sich die Waage halten wird, so neigte sich doch bald das Zünglein der Waage auf die Seite des Letzteren hin. FICHTE war es, welcher diese produktive Kraft des Gemütes auffaßte und das Aposteriorische fast völlig durch das Apriorische verzehrt werden ließ. HERBART entfaltete die andere Seite des kantischen Sinnes. Die Erscheinung schwebte bei KANT in der Mitte zwischen dem Subjekt und dem Ding ansich. Sie wurzelt nach der einen Seite im Gemüt, nach der anderen in einem unzugänglichen noumenischen Boden. FICHTE pflanzte sie ganz in den Boden die Ich hinüber. HERBART suchte den Boden des Ansich bloß zu legen und die Wurzeln aufzudecken, mit denen die Erscheinung in diesen verzweigt ist.

In KANT ferner und mehr noch in FICHTE breitete sich der transzendentalen Tendenz eine dogmatisch-konstruktive unter. Aus dem kritischen Grund dieser Systeme erhob sich unbemerkt und unabsichtlich ein an allen Punkten umschlossenes Weltbild. Die subjektiven Anschauungs- und Verstandesformen, die in einem geheimnisvollen Dunkel liegende Welt der Noumena mit ihren immer offen liegenden Bezügen zu den Phänomena hatten diese Letzteren nur wie auf einen verjüngten Maßstab zurückgebracht, aus welchem die ganze Weite der Welt immer wieder hergestellt werden konnte. Jene sinnigen Züge, in welche die Energie der philosophischen Kritik die Totalität der Erscheinung zusammengezogen hatte, blieben mit der Elastizität behaftet, zu dieser Totalität sich selbst wieder auszuweiten. Das schöpferische Ich der Wissenschaftslehre vollends war, eben seiner Punktualität wegen, in welche aller Reichtum des sinnlichen und geistigen Daseins komprimiert war, nur umso mehr geeignet, diesen Reichtum in verklärter Form von Neuem aus sich hervorbrechen zu lassen. Nur die adstringente Kraft des Charakters vermochte das Universum eine Zeit lang in dieser punktuellen Enge der Innerlichkeit festzuhalten. Es lag da wie ein feuchter Same einer neuen Universalanschauung der Dinge. So faßt die Linse des Auges die weite Außenwelt in den kleinsten Raum zusammen, um sie sogleich wieder in den unendlichen Raum hinauszuwerfen. Das Auge des Künstlers faßt die Welt nur auf, um sie umzubilden und verschönernd sie noch einmal zu schaffen. Wir haben eben dieses Einschlagen des ästhetischen Interesses in das ethische bei SCHELLING und HEGEL beobachtet. Sie waren es, welche noch einmal das Universum im Spiegel der intellektuellen Anschauung aufzufangen, nach allen Richtungen zu umfahren und als ein Panorama des Begriffs vor den erstaunten Blicken der Zeitgenossen zu entrollen unternahmen. Man ließ sich blenden, wie HERBART sagt, von dem gigantischen Projekt, aus dem Ich die Welt zu deduzieren. Man verließ zwar das Ich, aber man behielt "die weltumspannende Tendenz". Und hierhin folgte HERBART nicht. Der verständige Mann hielt fest an der kritisch-protestantischen Richtung von KANT und FICHTE. Der Instinkt des Verstandes ersetzte bei ihm den Ausfall des lebendigen praktischen Prinzips, welches jene aus der Erscheinungswelt in die schöpferischen Tiefen des Geistes zurückgetrieben hatte. Es war ein äußerlicher, rein verständiger Grund, welcher ihn dem Protestantismus der modernen statt der Mythologie der antiken Philosophie zuwies. "Kennen wir denn", ruft er aus, "unseren Standpunkt auf dieser Erde noch so wenig, um uns kosmologischen Träumen hinzugehen? Ist etwa der Himmel noch jetzt für uns eine Kugel, in deren Mitte wir auf einer unermeßlichen Ebene feststehen? Weltansichten gehören dem Glauben; aber die wahre Philosophie sagt nicht mehr, als sie weiß."

Einesteils also bei HERBART ein realistischer Zug zur Erfahrung, andererseits das Festhalten an der kritischen Tendenz der kantischen Philosophie. Beides verbindet sich in seinem System auf das Innigste und bildet den eigentlichen Charakter desselben. Gerade diejenigen Momente jedoch, durch welche das Eine wie das Andere belebt und zu einem schöpferischen Prinzip erhoben wird, fehlen in diesem System völlig. Die Erfahrung ist nicht aufzufassen noch zu würdigen ohne ästhetischen Sinn. Ohne diesen ist sie nur das Verwirrende und Widerspruchsvolle; sie fällt auseinander, sie zerbröckelt in der Hand des Beschauers. Die Risse, welche die Welt der Erscheinung überall durchziehen und sie zerstören, indem sie aufgefaßt werden soll, gehen zusammen, nur wenn der ästhetische Blick, im Moment der Auffassung selbst, sie bindend zusammenschaut. Die Schrift der Erfahrung vermag nur der zu verstehen, welcher, indem er rein und treu sie abzulesen scheint, zugleich zwischen ihren Zeilen zu lesen und den entwerfenden Geist aus dem eigenen Geist zuvorkommend zu fassen weiß. Diese ästhetische Sympathie für die Erfahrung ist HERBART durchaus fremd. Die Kritik ferner hat die lebendigen Wurzeln ihrer Kraft in der ethischen Tiefe des Geistes. Nur der ethische Sinn ist die letzte entscheidende Instanz für das Recht der Kritik. Den Reichtum der Erscheinungswelt zu zerstören, den lebendigen Prozeß der geistigen Hergänge auf seine Elemente zurückzuführen, ist nur derjenige geschickt und befugt, der nicht zugleich das letzte schöpferische Motiv alles Geisteslebens, die sittliche Freiheit, bei jener Analyse zerstört. Denn sie allein ist der unerschöpfliche Grund, aus welchem alles Aufgelöste sich wieder herzustellen und alles durch die Analyse Ertötete sich wieder zu beleben und zu begeistigen vermag. Sie allein mit ihrem unterschütterlichen Beruhen auf sich macht auch jede Kritik erst möglich; sie allein erhält sich aufrecht in einem entschlossenen Wegwerfen des unmittelbaren Geistesgenusses; sie allein ist ihrer Natur nach die aus dem Schein in das Wesen zurückstrebende Tendenz. Dieses Beruhen der Kritik auf dem Ethischen ist bei HERBART nur sehr verwischt, nur in sehr stumpfer und verkümmerter Form nachzuweisen. Sein Ausgehen von der Erfahrung ist illusorisch, da ihm das ästhetische Organ für die reine Auffassung der Erscheinung fehlt und seine Kritik der Erfahrung ist unfruchtbar, da sie nur die negative Seite jenes Ästhetischen und ohne die begeistende Kraft des sittlichen Triebes ist. Im Ausgehen von KANT wird das empirische Moment ebenso äußerlich wie das kritische aufgenommen. Statt daß beide in gegenseitiger Durchdringung sich läutern sollten, werden beide isoliert und von der Wurzel des Ästhetischen und des Ethischen abgeschnitten, von wo sie doch allein ihre Berechtigung und ihre Lebensfähigkeit entnehmen. So wird mit dem Vorbeigehen an SCHELLING und HEGEL nicht bloß der Mißbrauch und die Unlauterkeit des ästhetischen Moments in diesen Systemen, sondern auch dessen berechtigte Geltung fallen gelassen, und so wird im Verlassen des Standpunkts, den FICHTE eingenommen hat, nicht bloß die weltumspannende Tendenz, sondern auch der ethische Idealismus des Prinzips preisgegeben. Die Erscheinung, von dem Hauch entblößt, welchen ihr der künstlerische Blick verleiht, wird zu einem Chaos von Widersprüchen, und die nur dadurch hervorgetriebene, nicht durch das ethische Motiv beseelte Kritik langt nur bei den erstarrten Überresten derselben Erscheinung an. Der Geist dieser Philosophie hat einen Anhalt in nichts als in den geistlosen und leeren Formen der Mathematik. Die Kritik, abgeschnitten vom Lebensnerv der Freiheit, vertrocknet auf ihrem Weg zu einem ebenso ästhetisch-anschauungs-, wie sittlich-begeisterungslosen Prinzip. Auch die Stätte des Begriffs erscheint in diesem System ausgebrannt; nur das Regungslose und Einsame, nur der mathematische Punkt, bleibt übrig nach der mit unendlichem Scharfsinn und mit der unermüdlichen Geduld des Rechnens unternommenen Zerstörung des Lebendigen, und es wird an HERBARTs Beispiel klar, daß die Projektion der Philosophie in das Mathematische, die Loslösung derselben vom lebendigen Trieb ästhetischer Anschauung und sittlicher Innerlichkeit ihre Auflösung und ihr Versiegen bedingt. Man kann in HERBART endlich eine wunderliche Verbindung antiken und modernen Wesens sich zur Anschauung bringen, in der das eine wie das andere Element, abgetrennt von ihren Lebensbedingungen, sich gegenseitig, statt sich zu durchdringen und zu befruchten, vielmehr nur zu völliger Unfruchtbarkeit beschränken und in wechselseitiger Hemmung neutralisieren. Der Realismus HERBARTs erinnert durchaus an das die antike Philosophie beherrschende Prinzip; zugleich jedoch ist es keineswegs ein antiker Realisms, keineswegs der rationale Niederschlag einer unbefangen künstlerischen Anschauung des Alls, wie die realistischen Systeme der Alten; man wird an die Pythagoräer und an die Atomisten erinnert - aber nur um durch die vorherrschende Relation auf das Subjektive bei HERBART sogleich wieder von diesem Vergleich zurückzukommen. Jene bauen aus den Zahlen und den Atomen die Welt, sie gehen aus vom Standpunkt dessen, der die Welt zu machen die Aufgabe hätte und indem sie dieses Machen philosophierend vollziehen, so ist ihr System wesentlich poesis. Aber HERBART kommt auf die Realen, auf welchen nach ihm alles Existierende basiert, durch den Versuch, das Existierende zu denken. Indem er die gemachte Welt sich subjektiv aneignen, sie denken, sie begreifen will, so treibt ihn dieses nicht sowohl poetische als auch kritische Verhalten gegen die Welt auf eine Vereinfachung derselben, deren wahre Bedeutung lediglich die Not des Subjekts ist, welche mit der reichen Erscheinung nicht fertig werden kann. So löst sich der antike Realismus wieder in einem modernen Idealismus auf. Die Realen HERBARTs sind nur der Notbau der kritischen Vernunft, sie sind nur die Stützen, auf denen das Subjekt, nicht die Säulen, auf welchen das Objekt ruht. Aus der antiken Anschauungsweise werden wir bei HERBART in die moderne, aus dieser wieder in jene hinübergeworfen; keine kommt zu ihrem Recht, und der Charakter wie auch die Anschauung verkümmert in diesem System zur Geistlosigkeit des Mathematischen.

Folgendes sind im Kurzen die Grundzüge der Philosophie des HERBART.

Dieselbe geht vom Erkennen, von einem kritischen Idealismus aus und gelangt in der Ausübung desselbe zu Realprinzipien, zu einem subjektiv begründeten Realismus. Der Idealismus bringt sich bei HERBART selbst zum Stocken, er geht soweit vorwärts, bis er an letzten unauflöslichen Realprinzipien stehen bleibt. Die Grundlage der Philosophie ist die Erfahrung und das gemeine Bewußtsein. Sie selbst ist eine Bearbeitung der durch die Erfahrung uns aufgedrungenen Begriffe. Hervorgetrieben wird diese Bearbeitung der Erfahrungsbegriffe durch die Skepsis, welche teils das Erscheinende, teils das Seiende in Frage stellt. Es zeigt sich dabei, daß die Erfahrungsbegriffe von Widersprüche durchflochten sind und sich, da das Denken vom Gesetz der Identität beherrscht ist, nicht denken lassen. Die mit der Erfahrung entzweite Skepsis wird so zur Philosophie hingewiesen. Die Metaphysik ist die Wissenschaft von der Begrifflichkeit der Erfahrung, ihr Geschäft die Umarbeitung der Erfahrungsbegriffe, welche sie so lange zu manipulieren hat, bis die Widersprüche aus ihnen ausgetrieben sind. Die Hauptprobleme, welche in dieser Weise entstehen und in der Metaphysik ihre Lösung fordern, sind die Begriffe des Dings mit mehreren Merkmalen, der Veränderung der Materie, des Ich. Mit starrem Scharfsinn werden diese Widersprüche, ein Seitenstück zu den kantischen Antinomien, nachgewiesen. Die tote Identität, der Eigensinn des Verstandes, das mathematische A = A ist das Maß, an welchem die Erfahrung gemessen wird. Über das A = A bei FICHTE griff die lebendige in sich selbst zurückkehrende Bewegung des Ich über; das starre Denkgesetz, die regungslose Notwendigkeit stand mit frischen Wurzeln fest in der sittlichen Freiheit des lebendigen Subjekts. Bei HEGEL war die Identität und der Unterschied methodisch durcheinander gerührt; der Unterschied fachte das in der Identität erlöschende Absolute immer wieder zu neuer Bewegung an; es war - nur freilich unbewußt und ungerechtfertigt - ein ästhetisches Verhalten des Denkens, wenn dasselbe aus dem Material der Anschauung immer neue Gegensätze zu immer neuer Vermittlung in die sich entwickelnde absolute Idee hineinzog. Zwischen beiden geht Herbart auf der schmalen Grenze des Mathematischen hindurch; das Mathematische kann den Konflikt des Sinnlichen mit dem Sittlichen, das inkommensurable Verhältnis dieser beiden Faktoren nicht ertragen; seine Identität ist die inhaltslose mathematische Form. Sie erzeugt und rechtfertigt sich nicht selbst durch die Tathandlung des Ich, noch auch durch die ästhetische Geniehandlung des Ich, noch endlich durch die zugrunde liegende religiöse Funktion; ja das Maß HERBARTs tritt selbst hinter die Energie der Sprache zurück, welche in der Kopula des Satzes Subjekt und Prädikat, das Ding und seine Merkmale zur Identität zusammenschließt. Aus dem Gleichheitszeichen seiner Formel A = A ist absolut aller Inhalt herausgefallen und die angemessenste Form dieses Philosophierens ist nicht die Sprache, sondern die Formel, nicht die wirkliche, sondern etwa die von LEIBNIZ geträumte Begriffssprache. Es frägt sich, wie hier ein Ausweg zu gewinnen ist. Als KANT auf seine Antinomien gekommen war, so war er so spekulativ, dieselben als in der Natur des menschlichen Geistes begründet zu ertragen. Er begnügte sich, die Unvermeidlichkeit des dialektischen Scheins aufzudecken; er ließ diese Dialektik in der zweiten Abteilung der transzendentalen Logik Quarantäne halten, um sie unschädlich zu machen, aber er hütete sich wohl, den im lebendigen Menschen existierenden Widerspruch durch die schonungslosen und herzlosen Forderungen der Logik zu verrtilgen. HERBART, mit der Ausrüstung seines mathematischen Sinnes, scheut sich gar nicht vor diesem Experiment. Von der Erfahrung ausgegangen, ist er genötigt, die Existenz überhaupt zu retten. Aber die Erfahrung geht durch das Erkennen der Widersprüche in sich; nur das Widerspruchslos an ihr kann Realität haben; sie muß, um gerettet zu werden, bis auf das knappe Maß des Identitätsgesetzes, bis auf ein ganz dürftiges Mathematisches beschnitten werden. Es muß allerdings, wenn nicht auch der Schein, die Empfindung, das Vorstellen, das Denken aufgehoben werden soll, ein widerspruchsloses Sein geben. "Soviel Schein soviel Hindeutung auf das Sein." Dieses Seine HERBARTs ist das inhaltslose Residuum des wirklichen, d. h. des sittlichen wie des sinnlichen Seins; es ist das metaphysizierte Gesetz der logischen Identität, ein Reales, also sinnliches, und doch, weil durch die mathematische Anschauung schlechthin ausgesogenes, aller wirklichen Sinnlichkeit beraubtes Sein. Es ist "absolute Position", also ein Ethisches, aber in welchem die ethische Natur zugleich getilgt, zum bloß Mathematischen umgeschrieben ist. Die absolute Position bringt nach HERBART für die Beschaffenheit des Realen die drei Bestimmungen mit sich: es ist schlechthin positiv oder affirmativ, alle Verneinung und Beschränkung von sich ausschließend, es ist schlechthin einfach, auf keine Weise durch eine innere Vielheit oder einen inneren Gegensatz zu denken, es ist endlich durch Größenbegriffe durchaus unbestimmbar, daher nicht als teilbar, noch als bewegt, ausgedehnt, stetig zu denken. Das Wieviel des Realen aber bleibt unbestimmt; der Begriff des Seins enthält nichts darüber (HERBARTs allgemeine Metaphysik II, § 206f, Seite 95f) Das Weitere ist die Methode. Zwischen dem in der Erfahrung Gegebenen und dem widerspruchslos Realen muß eine Beziehung stattfinden. Auch in der Empfindung ist ja schon die absolute Position vorhanden. Das Denken hat nur die Aufgabe, sie rein aus der Erfahrung herauszuschälen (Metaphysik § 204). Es müssen die Beziehungen aufgesucht werden zwischen dem Erfahrungsbegriff und dem ihm zugrunde liegenden Realen. "Gibt es eine allgemeine Regel, diese Beziehungen zu suchen, so können wir diese die Methode der Beziehungen nennen." Nach dieser Methode soll auf folgende Weise verfahren werden: Der gegebene Erfahrungsbegriff ist aus Widersprüchen zusammengesetzt. Die Form, in welcher er vorliegt, ist die der Zusammensetzung aus widersprechenden Gliedern, es ist A = M + N + ..., wobei A den gegebenen Begriff, M, N usw. die nach dem Gesetz der Identität nicht zu vereinenden, sich widersprechenden Bestandteile von A bedeuten. Der Widerspruch derselben treibt zu einer weiteren Analyse. M kann nicht mit N verbunden sein; M wird also zu vervielfältigen sein. Nicht das einzelne M, sondern das Resultat aus mehreren kann eins sein mit N. Das Zusammen oder vielmehr der stillschweigend gedachte Prozeß der vielen M, in Wahrheit also ein unter einer mathematischen Form versteckter Hergang, an welchem sich mit Leichtigkeit dieselben Widersprüche aufzeigen ließen, an deren Vorhandensein sich HERBART bei den Erfahrungsbegriffen gestoßen hat - das ist für ihn das Mittel, des Widerspruchs Herr zu werden (vgl. über die Methode "Metaphysik II", Seite 45f, Hauptpunkte Seite 8f. Einleitung, Seite 235f; Psychologie als Wissenschaft I, Seite 128).

Nach dieser Methode werden nun die verschiedenen metaphysischen Probleme behandelt. Das Ding mit mehreren Merkmalen, der Begriff der Inhärenz [des Innewohnens - wp] ist widerspruchsvoll. Die Erfahrung sagt, das Ding ist identisch mit seinen einzelnen Merkmalen, das Gesetz der Identität leugnet dies. Ein Beweis, daß das eine Ding durch die Methode der Beziehungen aufzulösen ist in mehrere Reale; das dem Ding mit seinen Merkmalen zugrunde liegende Reale ist ein Zusammen von einem mehrfachen Realen, ein Komplex von zwei oder mehreren Monaden. Ebenso muuß der Begriff der Veränderung erst umgearbeitet werden, um vor dem Gesetz der Identität Stich zu halten. Den veränderlichen Qualitäten liegt abermals ein Reales zugrunde; dies wird abermals vervielfältigt und das Zusammen der Realen ist hier nur ein wechselndes, ein Zusammen und wieder Nichtzusammen der Substanzvorstellungen, welche durch die Hilfsbegriffe des "intellektuellen Raums" und der "zufälligen Ansichten" gestützt, d. h. deren Widersprüche durch die Zurückführung auf das Mathematische verdünnt und verhehlt werden. Am interessantesten ist die Anwendung dieser metaphysischen Prinzipien auf die Psychologie. Auch die Vorstellung des Ich wird als eine widerspruchsvolle nachgewiesen. Es wiederholen sich nicht nur dieselben Widersprüche, wie bei der des Dings mit seinen Merkmalen, sondern sofern das Ich als Identität von Subjekt und Objekt erscheint, so liegen hierin noch neue Ungereimtheiten. Es fehlt dem Ich sowohl am Objekt als auch am Subjekt, folglich an seiner ganzen Materie, und die vorgegebene Identität des Objekts und Subjekts widerstreitet dem unvermeidlichen Gegensatz zwischen beiden, folglich ist der Begriff der Form nach ungereimt (Psychologie als Wissenschaft I, Seite 94). Höchst scharfsinnig, im Wesentlichen auf analoge Weise wie Thesis und Antithesis in der kantischen Dialektik, durch einseitiges Sichstellen auf die jeweils eine Seite der gemachten Gegensätze werden diese hervorgetrieben und festgehalten. Die Methode tritt abermals ein zur Vertreibung der Widersprüche, und das Problem wird ganz nach dem Schema des Problems der Inhärenz behandelt. Das Ich erscheint als ein Komplex von Merkmalen, welche Merkmale hier die verschiedenen inneren Zustände, Vorstellungen, Gedanken sind. Das vorstellende Subjekt aber ist gleichfalls "eine einfache Substanz, und führt mit Recht den Namen Seele." Sie ist keine Kraft, so wenig wie die einzelnen Vorstellungen Kräfte sind. Jene wie diese sind einfache Monaden. Sie begegnen, fördern, hemmen und verdunkeln sich einander und treten als die verschiedenen Weisen der Selbsterhaltung der Seele auf. Diese Beziehungen der Vorstellungen aufeinander werden dann von HERBART auf mathematische Formeln gebracht und nach den Gesetzen der Statik berechnet.

Nie vielleicht ist ein ungeheurer Aufwand als in dieser Philosophie, welche wir in ihrer Psychologie zugleich in die geistlosen Auffassungen des Lebendigen sich verlieren und doch zugleich mit dem ganzen Staat des Scharfsinns und geistiger Beweglichkeit sich umgeben sehen. Die Einen scheiterten am kühnen Beginnen, das ganze Universum in ein reines Gedankenbild umzusetzen: die peinliche Besonnenheit des Andern zieht das Universum in die unfruchtbare Einsamkeit stagnierender Monaden und in die Leere mathematischer Formeln zurück. Die philosophierende Vernunft scheint mit der höchsten Energie beide Seiten des Dilemmas: entweder mit dem Stoff der Anschauung sich zu erfüllen, oder entsagsam denselben von sich zu streifen, beide Seiten scheint sie noch einmal versucht zu haben, nur um die Erfahrung zu machen, daß ihre Bemühungen um ein höheres Wissen vergeblich und erfolglos sind. Die Existenz der Philosophie scheint beide Mal gleich sehr in Frage, wenn doch hier das absolute Wissen nur ein von jeder tieferen Überzeugung verlassenes realitäts- und wirkungsloses Reich von Kategorien dort der enthaltsame Scharfsinn ein dem sittlichen wie dem ästhetischen Interesse nur mittelbar zugängliches Resultat gewinnt. Die Philosophie scheint in jener Richtung der Theologie und ihrer Poesie, der Mythologie, in dieser Richtung der Mathematik in die Arme zu eilen. Ihr eigenes, selbständiges Recht und ihre Hegemonie unter den Wissenschaften ist angezweifelt; hat sie überhaupt noch einen Platz und soll für Metaphysik noch ferner ein Stuhl dastehen neben denen, welche die historischen und empirischen Wissenschaften auf der einen, die Mathematik auf der anderen inne hat?

Wir lassen diese Frage einen Augenblick sich setzen; wir entfernen uns einen Augenblick von dem Terrain, auf welchem sie notwendig sich entscheiden muß; unser Auge, am Anblick so vieler und so gewaltiger Geburten des Begriffs ermüdet, mag über den vaterländischen Boden hinaus den umgebenden Horizont durcheilen. Wie im Altertum die ganze weltgeschichtliche Aufgabe nach der Reihe immer nur einem Volk auf den Schultern lastete, so ist seit LEIBNIZ die Geschichte der Philosophie ausschließlich in den Händen der Deutschen gewesen. Die neuere Philosophie, nachdem sie in Italien sich zuerst mit Blut und Leben erfüllt, nachdem sie in England sich Besonnenheit und skeptischen Geist, in Frankreich aber von Neuem einen idealistischen Aufschwung geholt, nachdem sie in SPINOZA ein Gefäßt gefunden hatte, welches, ihrer eigenen Natur entsprechend, von nationaler Bestimmtheit so wenig wie möglich an sich trug, so wurde sie schließlich in einer Nation heimisch, welche in der Hingabe an das Allgemeine ihre Individualität zu bilden, in der Aufnahme und Verarbeitung des Fremden ihre Eigenheit zu erweitern und in der zentrifugalen Tendenz des Kosmopolitismus die zentripetale Richtung auf das Vaterländische, zu entsagsam vielleicht, zu verhüllen versteht. Es sind die Tugenden nicht weniger als die Unarten des deutschen Charakters, welche gerade dieses Land zur Freistätte und zur Pflegerin der Metaphysik machten. Seinem heimischen Boden gehört der Deutsche nur immer mit schwebendem Fuß an. Von der reichsten und fügsamsten Sprache emporgetragen, weicht die Naturbestimmtheit und das historische Element, worin er steht, unter ihm zurück, und auf dem elastischen Boden jener Sprache steigt er in den Raum des Gedankens auf, in welchem die nationalen Unterschiede aufhören sich einzuzeichnen. Er trägt freilich auch in diese Höhe das nationale Element mit sich, aber es bedarf empfindlicher Mahnungen der Geschichte, um ihn aus seinen Träumen zu wecken und die Innigkeit und Treue vaterländischen Gefühls dann um so glühender in ihm wieder anzufachen. Die Anlage zur Abstraktion demnach, eine unerläßliche Bedingung des Philosophierens, mag in demselben Charakterzug begründet sein, welcher uns oft so widerstandslos gegen Fremdes, so duldsam gegen schmähliche Gewalttat, so unbeholfen in praktischen Lebensverhältnissen erscheinen läßt. Die Geduld metaphysischer Vertiefung mag nur die Kehrseite unserer historischen Apathie, die Gewandtheit im Zusammenschlagen von Gedankensystemen nur die Entschädigung für die Mangelhaftigkeit unserer staatlichen und sozialen Formen sein und nach dem Absoluten und dem Idealen mögen wir wohl darum so hoch gegriffen haben, weil wir am Wirklichen über das Mögliche uns zu besinnen, das Denkbare durch das Ausführbare zu unterbrechen nur allzu sehr und von Alters her versäumten. Unsere Philosophie ist jedoch darum nicht weniger eine Macht, und eine Bürgschaft wie ein Werkzeug nationaler Größe. Hat sich unsere Schwäche einst in sie geflüchtet, so hat zugleich unser besseres Selbst in ihre Formen sich eingesponnen; wir haben unsere Kraft in ihr nicht vergeudet, sondern gerettet, und die Aktklugheit unserer Systeme ist der Schutzgeist unserer praktischen Unschuld gewesen; denn mit dem Mark unseres Lebens sind diese Systeme genährt. Die Tiefe des Gemüts und die Größe des Charakters scheinen hindurch durch die durchsichtige Hülle des Gedankens. Wir haben den Leichtsinn des Lebens im Ernst der Spekulation mit einer beispiellosen Resignation hinweggearbeitet: unseren Gedankenschöpfungen ist der Geist der Sittlichkeit und der Charaktertüchtigkeit, der Geist der Treue und der Freiheit mit unverlöschlichen Zügen aufgeprägt. Die sittliche Freiheit ist das treibende Moment in der Entwicklung unserer Philosophie gewesen; die peinliche Kritik des Alten vom Königsberg ruht auf der Sittlichkeit wie auf einem unterschütterlichen Fundament und die Erhabenheit der Gesinnung hat sich nie ein glänzenderes Denkmal gesetzt als in der kühnen Lehre desjenigen Mannes, den die Abstraktion so wenig um ein Herz für sein Volk zu bringen imstande war, daß er für dessen Angelegenheiten noch die begeistertsten Reden aus der Tiefe deutscher Gesinnung schöpfte. Wir haben ein Recht, uns unserer Philosophie zu rühmen, wir dürfen, von ihr aus, wie von einem Erbe hellenischen Geistes, die Nachbarvölker als Barbaren betrachten, die nur lallend und versuchend die Sprache reden, welche bestimmt ist, ihnen Gesetze vorzuschreiben. Nur eine kurze Rücksicht brauchen wir ihren philosophischen Bestrebungen zu widmen, seitdem Deutschland zur Trägerin der Geschichte der Metaphysik geworden ist und auf Vollständigkeit erheben die folgenden Bemerkungen umso weniger Anspruch, als das statistische Detail ohne Zweifel anderen Artikeln zugewiesen werden darf.

Wir haben die Franzosen da verlassen, wo sich durch La ROMIGUÉRE und MAINE de BIRAN der Bruch mit dem Condillacismus vorbereitete. Der Empirismus, durch die Hervorhebung der Aktivität des Ich, in sich geschwächt und aus seiner Konsequenz herausgetrieben, fand sofort in einem neuen, abermals von jenseits des Kanals herübergenommenen Element einen neuen Gegner. ROGER COLLARD war es, welcher sich zuerst die Common-Sense-Philosophie des Schotten REID assimilierte. Die schottische Philosophie ist seitdem der Boden geblieben, auf welchem die weiteren Bestrebungen sich aufgetragen haben. Im Mittelpunkt derselben steht VICTOR COUSIN (1) mit einem Eklektizismus, welchen als eine originelle Tat der Philosophie und als einen Fortschritt auch über die deutschen Systeme hinaus darzustellen er sich alle Mühe gibt. Es sei sein Ehrgeiz, sagt er (fragments phil. 1828 Préf.), den deutschen Idealismus und den englischen Empirismus vor das Tribunal du bon sens francais [den guten französischen Gemeingeist - wp] vorgefordert und dort verurteilt und zu gegenseitiger Freisprechung, sowie zum Abschluß einer langsamen, aber fruchtbaren Allianz gezwungen zu sehen. Diese Allianz jedoch ist in Wahrheit nur eine trübe Vermischung der heterogensten Elemente. Auf den schottischen Dogmatismus wird ein durch die Bekanntschaft mit KANT erworbenes kritisches Moment aufgepropft, ohne daß irgendwie der Ernst des kantischen Kritizismus durchschlagen und die Tiefe des Unternehmens einer Vernunftkritik begriffen würde. An den Fäden persönlicher Bekanntschaft und brieflichen Verkehrs läßt sich schließlich der Einfluß der SCHELLING-HEGELschen Identitätsphilosophie verfolgen, welche sich sofort mit den stehengebliebenen Resten empirischer Psychologie und Verstandesmetaphysik vertragen soll. Sei es nun aber die Gewandtheit, mit welcher diese Philosophie zurecht gemacht, sei es die Beredtsamkeit, mit welcher sie zu Gemüte geführt wird, sei es endlich der Reiz, welchen auch die Bruchstücke der großartigen Gedankensysteme noch auszuüben imstande sind: COUSIN hat es verstanden zu imponieren, und er hat Schule gemacht. In unzähligen Wiederholungen werden das Lob der empirischen Methode, der notwendige Ausgang von psychologischer Beobachtung und die Resultate einer räsonnierenden Metaphysik von COUSINs Schülern ausgerufen. JOUFFROY, GARNIER, DAMIRON, TISSOT gehören zu den Bedeutenderen unter diesen, während die QUINET, die LERMINIER und vor allem LEROUX eine Opposition gegen COUSIN zu bilden versuchen. Fruchtbarer jedoch als die philosophische Produktion ist ohne Zweifel das gleichfalls von COUSIN mit Kenntnis und Beeiferung geförderte Studium der Geschichte der Philosophie. Schon de VILLERS hatte seinen Landsleuten die kantische Philosophie in ihren Prinzipien zugänglich gemacht. Bekannt ist DEGERANDOs vergleichende Geschichte der Systeme; COUSIN besorgte eine Übersetzung des TENNEMANNschen "Handbuchs", übersetzte den PLATO, veranlaßte Übersetzungen deutscher Philosophen und editierte PROKLUS, CARTESIUS und bisher ungedruckte Werke von ABÄLARD. Der Eklektizismus ist nur das nächste Zurechtfinden im Material der Geschichte der Philosophie; eine ausdauernde Beschäftigung mit demselben wird ohne Zweifel reifere Früchte tragen.

In England hat die Hinwendung auf das praktische Leben und der in egoistischen Interessen befangene Geist sich nicht zu einer uninteressierten Theorie, die sich selbst Zweck ist, zu erheben vermocht. Das Bedürfnis der Praxis unterbricht mit näher gelegenen Zwecken das in sich verbleibende, sich mit sich selbst beruhigende Denken. Nicht minder endlich ist es der lastende Einfluß der Staatskirche, welcher sich auf das Empfindlichste und nicht bloß theoretisch, sondern durch ganz praktische Mittel der Freiheit des Denkens in den Weg stellt. Auch dasjenige, was wirklich auf dem Gebiet der Philosophie in neuerer Zeit in England geschehen ist, trägt den Charakter der empirisch-praktischen Sinnesart und steht weit ab von der transzendenten Richtung der deutschen Metaphysik. Was durch den Einschlag der genialen Individualität eines BACON einst ein epochemachendes Prinzip in der Geschichte der Philosophie werden konnte, das hält jetzt den philosophischen Geist vor weiteren Aufstrebungen gebunden. Die rein theoretischen Wissenschaften, sagt ARISTOTELES, wurden erfunden, nachdem dasjenige hergestellt war, was zur Notdurft des Lebens gehört, und in den Gegenden, wo die Menschen, von dem Bedürfnis losgelassen, Muße hatten. Zur Notdurft des Lebens aber gehört auf einem höheren Standpunkt die politische Freiheit. Sie ist das Erste, was den Engländer nicht losläßt, Muße zum Philosophieren zu haben. Aber auch tieferliegende Bedürfnisse vergällen ihm die Süßigkeit der Theorie. Kann man philosophieren, wo Irland ist und Repealruf [Forderung der Annullierung - wp]? Und so wird dann die Logik hier zur Präliminar [Voraussetzungs- | wp]-Wissenschaft für das Studium der Naturwissenschaften, oder wie es charakteristisch heißt: of natural philosophy. Auch in Deutschland ist die HERSCHELsche Schrift bekannt geworden: "A preliminary discourse on the study of natural philosophy". Einen verwandten Geist atmet WHEWELLs: "Philosophy of the inductive sciences", in welcher die Induktionsmethode BACONs die Unterlage bildet, auf welcher die Lehre von der Einbildung gewisser fundamentaler Ideen vermöge einer eigentümlichen Kraft unseres Geistes aufgetragen wird. Es sind an KANT und namentlich an seine Kategorienlehre erinnernde Nachklänge der LOCKEschen Theorie. Mehr historisch zusammenfassen ist das "System of Logic racionative and inductive" von MILL. Scharfsinnig, akkurat und im Detail vortrefflich sind BENTHAMs Leistungen für die Moral- und Rechtsphilosophie; aber sie erheben sich nicht über das Prinzip äußerlicher Berechnung; wie dem Engländer die Naturwissenschaft als solche, so wird ihm auch die Jurisprudenz als solche durch das Moment des verständigen Räsonnements [Arguments - wp] zur philosophischen Disziplin. Am meisten gedeihen, im Anschluß an LOCKE und die schottische Philosophie, die empirisch psychologischen Untersuchungen. Die Psychologie ist für die praktische Nation die einzige Form, unter welcher die Metaphysik einen Sinn und eine Handhabe gewinnt. Die Arbeiten auf diesem Feld sind daher die zahlreichsten und glücklichsten. THOMAS BROWN, JOHN YOUNG, DOUGLAS u. a. haben sich mit Scharfsinn auf demselben versucht; der Punkt jedoch, wo die Psychologie zur transzendentalen Kritik und weiter zur Metaphysik umschlägt, der Punkt, an welchem KANT die englische Philosophie aufnimmt, ist die unüberschrittene Grenze zwischen beiden Nationen geblieben. So verdienstlich übrigens MACKINTOSHs Arbeiten über neuere Geschichte der Philosophie sein mögen: den Geist unserer deutschen Spekulation seit KANT zu begreifen ist ihm nicht möglich.

Wenden wir uns zu den Italienern, so finden wir einen dem französischen ähnlichen Eklektizismus. Man sucht sich Fremdes mit Beeiferung zu assimilieren. Man studiert CONDILLAC, die Schotten, KANT und deutsche Populärphilosophen. Das Studium der Geschichte der Philosophie wird ziemlich lebhaft betrieben. Das Werk von DEGERANDO hat vielfach anregend gewirkt und GALUPPIs: "Lettere sulle vicende della Filosofia Cartesio a Kant" sind zum Teil nur eine Übersetzung desselben. AGATOPISTO CROMAZIANO ist der Verfasser einer Geschichte der neueren Philosophie und BALDASSARE POLI hat eine Bearbeitung und Ergänzung von TENNEMANNs "Handbuch" geliefert. Übrigens ist auch hier die empirische Psychologie die Barriere, über welche das philosophische Bedürfnis und Verständnis nicht hinausgekommen ist. Sowohl GALUPPIs "Elemente der Philosphie", wie GIOJAs "Ideologie", ROMAGNOSIs "Ökonomie des menschlichen Wissens" und ROSMINI-SERBATIs "Untersuchungen über den Ursprung der Idee" machen die innere Beobachtung zum Fundament der Philosophie. Die Einen, wie ROSMINI-SERBALI, lassen dabei die äußeren Eindrücke der Wahrnehmung mit einem angeborenen Begriff des Seins zur Erzeugung der Ideen zusammenwirken, während Andere, wie ROMAGNOSI, entschiedenere Gegner des Apriorischen sind, jede freie ideenbildende Kraft des Geistes in Abrede stellen und auch das angeblich Apriorische durch die nach Innen gewandte induktive Methode auflösen und reell analysieren zu können hoffen. Der gegenwärtige nationale Aufschwung Italiens scheint nicht geeignet, für die nächste Zukunft eine philosophische Ära über das Land zu bringen. Der energisch erwachte nationale Geist und die praktischen Lebensangelegenheiten sind zunächst notwendig feindlich gestimmt gegen die kosmopolitische, universelle Vernunft der Philosophen. Eine andere Frage aber ist die, ob die gegenwärtig so hastig angestrebten politischen und materiellen Fortschritte eine dauernde Wurzel fassen können auf einem sittlich wie intellektuell so vernachlässigten Boden, ob diesen Fortschritten nicht allererst in durchgreifender wissenschaftlicher Bildung und Sittigung eine solide Unterlage gegeben werden muß und ob die jetzt ziel- und zusammenhangslose Bildung nicht auch der Philosophie bedürfen wird, um einen beherrschenden und ordnenden Mittelpunkt zu erhalten. Wir rücken dem Vaterland wieder nnnnnnäheeer, wenn wir zuletzt noch der philosophischen Bestrebungen in Polen und im skandinavischen Norden gedenken. Das gewaltsam unterbundene historische Leben und die gebrochene Nationalität kann in der Philosophie einen Ersatz finden, die in ihrer unmittelbaren und natürlichen Lebensäußerung gehemmten Kräfte werfen sich mit einer gewissen Heftigkeit auf das intellektuelle Gebiet. Zugleich aber kann die nationale Originalität nur akzidentell [zufällig - wp] zur Geltung kommen. Man verläßt sogar den Boden der eigenen Sprache und die Anerkennung des philosophischen Genius der deutschen Sprache ist nur das unwillkürliche Geständnis der Abhängigkeit auch vom Geist und Inhalt unserer Spekulation, wobei die aus dem polnischen Charakter entspringende phantastische Trübung des klaren, logischen, wenn auch abstrakten Denkens der Deutschen zur Weiterförderung der Philosophie wenig geeignet ist. So hat CIÉSCOWSKY im nächsten Anschluß an HEGEL und etwas selbständiger, dafür aber auch phantastischer und wilder TRENTOWSKY philosophiert, und neuerdings hat bei dem historisch desolaten Zustand der Nation un bei der Neigung zu radikalen Extremen die FEUERBACHsche Denkweise mit ihrem unhistorischen Charakter und ihrer sinnlichen Frische einen leichten Eingang gefunden. Besonnener und uns unmittelbarer verwandt ist der skandinavische Charakter. Die bei uns von SCHELLING und HEGEL angeschlagenen Saiten klingen dort ruhiger und reiner weiter. Namentlich hat die Philosophie SCHELLINGs in Skandinavien die lebendigste Teilnahme gefunden, und es ist bekannt, wie STEFFENS einer ihrer begeistertsten Apostel wurde. Man wendet gegenwärtig dem "absoluten Idealismus" eine gleiche Aufmerksamkeit zu. Eine Reihe von Schriften sind bestimmt, den Inhalt und Geist desselben auf den stammverwandten Boden hinüber zu verpflanzen und der Kampf zwischen ihm und der Naturphilosophie wird gegenwärtig dort viel lebhafter als bei uns geführt.

Im Heimatland der modernen Philosophie, in welches wir sofort jetzt zurückkehren, knüpfte sich die Weiterbildung der Philosophie, wie begreiflich, an das System HEGELs. Wenn vor der Abgeschlossenheit desselben zunächst die Kritik und der historische Trieb des Fortschritts stutzte, so war doch andererseits das Moment der Skepsis und der Bewegung dem System selbst eingesenkt. Aus seiner latenten, illusorischen Existenz konnte es frei gemacht, die Ordnung der dialektischen Faktoren konnte auf den Kopf gestellt; wie im System selbst die Ruhe das letzte Wort gegen die Bewegung hatte, so konnte jetzt dieser das letzte Wort gegen jene gegeben werden; aus dem Zauberkreis der Dialektik konnte durch ein unglückliches Ungefähr der kritische Geist entschlüpfen und der archimedische Punkt war gegeben, von welchem aus der ganze Bau untergraben und eingestürzt werden mußte. Dieser Einsturz ist es, an welchem mit ziemlich raschem Erfolg die letzten Jahrzehnte gearbeitet haben. Wer die Genesis von HEGELs Philosophie kennt, der weiß, daß diese auf dem unerwiesenen Glaubensartikel der absoluten Erkenntnis ruht. Aus dem rationalen Geist des Systems muß daher selbst die Opposition gegen dasselbe aufsteigen. Es muß eine Beute des sinkenden Glabens, des durch die Geschichte und die Kritik des Verstandes zur Besinnung kommenden Pathos werden. In der Schule HEGELs selbst vollzieht sich dieser Prozeß der Auflösung, dieses Morschwerden einer von Obenher dem philosophierenden Sinn angehauchten, keineswegs aus seinen sittlichen Tiefen emporgewachsenen Überzeugung. Es ist lehrreich ohne Zweifel, diesen Verlauf an den Arbeit der Schule im Einzelnen nachzuweisen; die Geschichte der Philosophie gewönne an einem solchen Nachweis die detaillierte Explikation der am System selbst schon nachgewiesenen Schwächen und Widersprüche. Unserem Zweck genügt es, die Schadhaftigkeit der Wurzel aufgedeckt zu haben und insofern sinken die unzähligen Modifikationen, welche die Schule dem System gab, die Anwendungen, die sie im verschiedensten Sinn vom Prinzip macht, zu einer unsagbar geringen Bedeutung herab. Man verfährt ohne Zweifel ganz in dem systematisch-formalistischen Geist dieser Philosophie, wenn man auch die Nuancen der Schule wieder als durch den Begriff der Sache gesetzte Notwendigkeiten in ein dialektisches Schema spannt. Man kann mit MICHELET die HEGELsche Schule als "eine in sich selbst zur Totalität sich abrundende Zirkelbewegung" darstellen und die durch STRAUSS in Kurs gesetzte Einteilung in eine rechte Seite, ein Zentrum und eine linke Seite durch die Zwischenglieder einer äußersten Rechten, einer reinen Rechten, eines rechten, eines linken Zentrums usw. ergänzen, und dieses Spiel mit Parteinamen, diese Einteilung philosophierender Individuen in hölzerne Kästen auf das Geistloseste fortsetzen: aber der nicht selbst im System Befangene wird all diesen Einteilungen und Rubrizierungen nur einen relativen Wert beimessen, er wird sie nur rückwärts zu einer Charakteristik des der HEGELschen Philosophie innewohnenden Geistes verwenden und seinerseits aus dem tieferen Kern desselben das Kriterium für die Notwendigkeit und Berechtigung des nachhegelschen Philosophierens entnehmen. Die STRAUSSische Einteilung in Rechte, Linke und Zentrum beruth ursprünglich auf einer einzeln herausgegriffenen Beziehung des HEGELschen Bekenntnisses zur evangelischen Geschichte. Je nach der Weise, wie die Idee der HEGELschen Religionsphilosohie von der Einheit der göttlichen und menschlichen Natur mit der evangelischen Geschichte als solcher entweder ganz oder nur zum Teil, oder gar nicht gegeben betrachtet wurde, sollten sich nach STRAUSS jene drei Parteien unterscheiden lassen, und wie charakteristisch und von wie weitgreifender Konsequenz auch immer die Stellung zu jener Streitfrage war: sie reicht offenbar nicht aus, das Prinzip der HEGELschen Philosophie im Konflikt mit sich selbst zur Beurteilung zu stellen, sie hat ein wesentlich theologisches Interesse, sie beruth endlich auf in HEGELs Sinn gefaßten Gedanken von der Einheit göttlicher und menschlicher Natur als auf ihrer unerschütterlichen Voraussetzung. Desto wichtiger dagegen ist dies, daß durch diese Einteilung und durch das Interesse, welches man an ihr genommen hat, sich die Verwandtschaft dieser Philosophie überhaupt mit theologischen Interessen herausstellte. Das im System latitierende [verborgen haltende - wp] Moment der Subjektivität, über welches dort der schützende Mantel der Substanz ausgespreizt ist, kam allererst nicht im Systems selbst, sondern in den Marken des theologischen Besitzes zum Ausbruch. Das System fristete zunächst sein Leben dadurch, daß es der in ihm enthaltenen kritischen und negativen Seite nach Außen zu, in einem zur Kritik am meisten provozierenden Gebiet, freien Lauf ließ, während die substantielle Sicherheit dieser Kritik immer von Neuem aus der anderen, der unkritischen, Natur des Systems selbst geschöpft wurde. STRAUSS kritisierte die Orthodoxie der Theologen aufgrund seiner philosophischen Orthodoxie; er richtete eine zuversichtliche und schneidende Kritik gegen die Wunder der evangelischen Geschichte, weil er in den zeitlosen Wundern der HEGELschen Logik einen noch durch keine Skepsis zerfressenen Hinterhalt hatte; er löste ein Historisches in ein Mythisches auf, weil er selbst in den Mythen der Spekulation befangen war, und er richtete in den Vorstellungen der christlichen Dogmatik eine schonungslose Verwüstung an, weil er an den Ideen der HEGELschen Religionsphilosophie eine vorstellungsfreie Dogmatik, ein Objekt des Wissens, zu haben überzeugt war. Die Orthodoxie des Systems legitimierte den Zweifel als aufgehobenes Moment, die Kritik der evangelischen Geschichte trat im Manda der absoluten Idee auf; ebendiese jedoch ar die Autorität, von welcher die Kritik sich in sich selbst zum festgeschlossenen Kreis des Systems zusammenkrümmte. Es ist ein unschätzbares Verdienst der HEGELschen Philosophie, dem rationalen Geist der Kritik überhaupt eine Stätte bereitet, ein Haus erbaut zu haben, und STRAUSSens Arbeiten sind eine Frucht dieser Beherbergung des Rationalismus. Jene Philosophie ersetzte diesem Mann dasjenige, was LESSING der eigene Genius verliehen hat. LESSINGs Kritik hatte ihr Fundament, ihren - jeder Kritik schlechthin unentbehrlichen - dogmatischen Rückhalt an des Mannes eigener, nicht genug zu bewundernder, Individualität; die von STRAUSS an einem in einer begabten Individualität, die sich in der Geschichte durchsetzt, ist von unerschöpflicher Tiefe, das philosophische System fällt dem fortschreitenden individuellen Leben zur Auflösung anheim; die Persönlichkeit LESSINGs mit ihrem aus dem Charakter geschöpften Enthusiasmus läßt sich nicht auflösen, sondern nur anerkennen, die Philosophie HEGELs läßt sich durch den Begriff zerstören, wie sie aus dem Begriff erwachsen ist. LESSINGs Kritik reicht unendlich weiter und ist unendlich erhabener über die wechselnden Phasen des philosphischen Glaubens als die seines Nachfolgers. Diese Letztere hat ihre ganz bestimmt nachweisbaren, ihre begrifflich meßbaren Grenzen. Ihren Horizont, weil er sich nicht in den Tiefen genialer Persönlichkeit, sondern in den Sätzen eines philosophischen Dogmatismus hinzieht, können wir ganz genau übersehen und mit der Auflösung jenes Systems überschreiten. STRAUSS kehrt allemal da um, und es ist mit seiner Kritik schlechthin und wie abgeschnitten am Ende, sobald er an den Voraussetzungen des HEGELschen Systems anstößt. In der Kritik der evangelischen Geschichte dringt der scharfsinnige Mann bis zu der mythenbildenden Tätigkeit des Urchristentums, bis zu der im jüdischen Volk lebendigen Idee des Gottmenschen vor. Hier muß er stehen bleiben. Es ist die Voraussetzung der HEGELschen Philosophie, daß die Idee zeugungsfähig ist; der Begriff entwirft nach ihr aus sich selbst eine ganze, konkrete Welt und Wirklichkeit. Es macht daher dem Kritiker nur eine sehr geringe Sorge, wie sich aus der Idee der Mythos gebildet hat, die historischen Individualitäten, die historischen Zutaten und Grundlagen des Mythos treten ihm unverhältnismäßig in den Hintergrund; wenn er auch wie, auf dem Feld historischer Kritik nicht durchaus vermeidbar ist, dies Alles zu berücksichtigen hie und da einen Ansatz nimmt: den Hauptakzent legt er entschieden auf die "mythenbildende Idee." Diese aber ist nur das geschichtliche Seitenstück zu der sich zur Natur entlassenden Absoluten Idee der Philosophie HEGELs; sie ist nur der historische, in Wahrheit aber sehr unhistorische Ausdruck für die Identität von Sein und Denken, von Begriff und Wirklichkeit, von der logischen Doktrin des absoluten Idealismus. Der Glaube an diese Doktrin ist es in letzter Instanz, welcher dem Kritiker dieses unhistorische und überspannte Fiduzit [Antwort des Studenten auf den Trinkspruch "schmollis" - wp] zu der mythenbildenden Idee einflößt. Es ist der Mangel des empirischen Moments in jenem System, welches den Anhänger dieses Systems auch auf historischem Gebiet nicht losläßt. Die Kritik der evangelischen Geschichte ist nach dem Schema der Logik und nach ihren Voraussetzungen gearbeitet. STRAUSS unterscheidet sich nur graduell, nur dadurch von denjenigen seiner Gegner mit HEGELschem Bekenntnis, welche er auf die rechte Seite postiert, daß diese mit der Identität des Ideellen und Konkreten, der Idee und der Geschichte, unmittelbar, er selbst aber nur mittelbar Ernst macht. Jene glauben an die Allmacht der Idee bis zu dem Grad, daß sie die Geschichte mit Haut und Haar, mit all ihren Mirakeln und Absurditäten zu verschlingen bereit sind, während sie als Antidotum [Gegengift - wp] nur zugleich deren ideelle Konstruktion zu sich nehmen; STRAUSS seinerseits glaubt nur insoweit an diese Allmacht, daß er ihr die Bildung nicht der wirklichen, sondern der ideellen Geschichte, die Erzeugung von Mythen zutraut; nur auf die Geschichtsschreibung, nicht auf die Geschichte selbst macht er eine energische Anwendung von der philosophischen Voraussetzung; die Geschichte selbst läßt er in ihrer ganzen empirischen Breite frei gewähren, und wird nur auf ideelle Weise, nur von der Idee her, ihrer als der Verwirklichung der Idee Herr. Die einmal freigelassene Kritik geht also in ihren Stoff, nur nach der eigentümlichen Natur dieses Stoffes ein, und der feste, in der philosophischen Grundlage ruhende Punkt, an welchen die Kritik gefesselt ist, macht sich nur dann erst bemerkbar, wenn die Geschichte bereits zum Mythos geworden, wenn die Genesis einer bereits idealisierten Geschichte, die Erzeugung des Mythos erklärt werden soll. Viel deutlicher noch ist die Schranke dieser kritischen Kraft in der Dogmatik. Das historische Gebiet, auf welchem sie sich in der evangelischen Geschichte bewegte, war von eigentümlicher und gegen das ideelle Gebiet von zu heterogener Natur, als daß sie hier nicht bis an die Grenze der Mythenbildung heran sich vollkommen frei und relativ "voraussetzungslos" hätte bewegen können. Bei der Kritik der Dogmen dagegen hat sie es mit einem dem philosophischen Inhalt ganz verwandten Stoff zu tun. Das Heterogene, was zwischen die Kirchenlehre und die Religionsphilosophie in die Mitte fällt, ist nur der Schmuck, welchen Phantasie und Vorstellung jener umgehangen haben. Es ist eingeständlich bloß eine, wenn auch als wesentlich erkannte Form, wodurch sich das kirchliche vom philosophischen Dogma unterscheidet. Die Kritik wird deshalb hier um ein gut Teil matter und illusorischer, als in dem derben und widerhaltigeren Stoff der evangelischen Geschichte. Sie wird fast ebenso illusorisch, wie sie innerhalb im Prozeß der absoluten Idee ist. Sehr nachdrücklich zwar, aber doch nur durch die Hilfe des logischen, dialektischen Satzes von der Identität von Form und Inhalt wird die Differenz zwischen dem Dogma als Vorstellung und dem Dogma als Begriff zu einer wesentlichen, den Inhalt tangierenden, hinaufgeschraubt, um die kritische Bewegung zu einer ernsthaften und mehr als bloß illusorischen zu steigern. Sie ist dessen ungeachtet nur wenig mehr. STRAUSS unterscheidet sich abermals hier nur graduell von den Hegelianern der Rechten. Während diese ohne Weiteres und geständlich Vorstellung und Idee als bloß verschiedene Formen des religiösen Inhalts identifizieren, so erzwingt jener einen Unterschied nur durch einen ungebührlichen Akzent, den er auf die Verschiedenheit der Form legt; an den Inhalt dagegen, sofern er nur die Form des Begriffs hat, setzt er keineswegs die Kritik an, das begriffene Dogma steht ihm unantastbar fest auf der Grundlage des Systems und vor der spekulativen Fassung der Menschwerdung Gottes, der Dreieinigkeit usw. steht der kritische Sinn mit vollkommen dogmatischer Beruhigung still.

Die Bedeutung dieser doppelten Kritik war nichtsdestoweniger unberechenbar groß. Den anti-doktrinären rationalistischen Geist, der im System wie in einem Kerker festlag, den führte diese Kritik zuerst ins Freie und ließ ihn gleichsam Atem schöpfen. Auf die Gefilde des theologischen Aberglaubens führte sie ihn auf die Weide und ließ ihn hier sich entschädigen für die knappe und illusorische Existenz, die ihm innerhalb des Systems allein gestattet war. Die Vorstellungswelt und der krude Geschichtsglaube der Theologie waren der Übungsplatz, auf welchem sich dieser kritische Geist stärkte und schulte, ehe er sich nach Innen, gegen sein Gehaltensein in der Trägheit der Substanz, gegen das System selbst wenden konnte. Erst im Krieg gegen einen Nachbarn mußte er seine Kräfte versuchen, ehe er dem Kampf gegen den Despotismus im Innern, der Revolution gegen das System gewachsen war. In die Theologie hinein grub STRAUSS den sittlich-verständigen Motiven, die in der Dialektik eingebettet lagen, einen Abzugskanal. Er hinderte, so daß sie nicht früher diese Dialektik selbst gewaltsam sprengten, aber er zog zugleich allen möglichen Gewinn von der Zuversicht, die die Kritik durch ihre systematische Basis empfing und, was mehr ist, indem er die Freiheit in auswärtigen Kämpfen antizipierte, stärkte er deren Bewußtsein und die zurückkehrenden Streitkräfte waren alsbald nicht mehr dieselben geduldigen, die sich auch jetzt noch willig unter das Joch des Systems der Restauration, auch jetzt noch willig als selbstlose Glieder in den behaglichen Dreischlag dieser stumpfen, sophistischen Methode eingefügt hätten. Ja, es kam in der Kritik der Dogmatik sogar bis zu dem Punkt, daß die kritische Freiheit sich ihres sittlichen Ursprungs erinnerte. Selten zwar, aber zuweilen doch fand sich das entlassene kritische Moment gar nicht wieder hinein in den systematischen Doktrinarismus, aus welchem es herstammte. Im Zusammenstoß und der Reibung, in die es mit theologischer Unfreiheit und Selbstlosigkeit geraten war, hatte es sich unter der Hand in ein sittliches Moment verwandelt; als solches fand es sich ausgesperrt aus dem spekulativen Resultat, in welches im Ganzen die Kritik nach Vollendung ihres Geschäfts wieder einmündete. Die Tore dieses hohlen Pantheismus, wie im Wesentlichen dieses Resultat bezeichnet werden muß, gingen zusammen, noch ehe alle kritischen Kräfte wieder in ihn eingegangen waren, sie blieben vor dem Tor stehen, sie hatten sich bereits in ethische Kräfte umgesetzt, den Kern dieses Pantheismus umgaben als einzelne versprengte Posten die Fragmente einer Doktrin, welche an den kantischen Moralismus, an die "oberflächliche" Lehre des Rationalismus erinnerten. Dies war der positive Gewinn des kritisch nutzbar und lebendig gemachten, des in einer langen kritischen Bewegung sich von sich selbst erholenden, über seinen eigenen Quietismus hinausgehenden absoluten Idealismus. Ihm zur Seite ging ein zunächst nur negativer Gewinn. Dieser Idealismus nämlich war, nachdem man von ihm ausgehend, die kritische Freiheit gekostet hatte, schal geworden. Diese Kritik war, man fühlte es allgemein, man gestand es mit der Zeit allgemein, in ihrem letzten Ergebnis, in ihrem Ziel eine negative. Ihre Bedeutung lag in ihrer Bewegung und nicht in ihrem Ergebnis. Das doktrinäre Resultat, bei welchem sie nach Vollziehung ihres destruktiven Geschäfts zuletzt wieder anlangte, war ein überaus hohles; es war der Schatten eines Pantheismus, zu welchem die Vorstellungsfülle der zerstörten theologischen Dogmatik der lebendige Leib zu sein schien. Es mußte, um ihn nur einigermaßen genießbar zu machen, ein sittliches Motiv äußerlich an ihn herangeholt werden. Es war nur durch die Belebung der Idee der Menschheit im Individuum, wodurch diese Doktrin wieder zur Religion, der kalte Intellektualismus, in welchen sich das lebensvolle Gewebe der religiösen Vorstellung aufgelöst hatte, wieder auf äußerliche unvermittelte Weise erwärmt werden konnte. Der absolute Idealismus, mit einem Wort, war in sich umso ärmer, umso kritikloser geworden, er war dem Quietismus der Substanz umso entschiedener wieder in die Arme gesunken, je mehr er den kritischen Trieb außer sich hatte arbeiten lassen und vor der innerlichen Regungslosigkeit sich in eine äußerliche intensive Tätigkeit geworfen hatte.

Diesem Ausbruch des kritischen Moments aus seiner Gebundenheit an das substantielle ästhetische, mit dem es im System still und beruhigt zusammenlag, diesem Ausbruch im Feld der Theologie ging zur Seite ein anderer noch kühnerer und kräftigerer im Feld des wirklichen Lebens und der geschichtlichen und politischen Praxis. Neben der streng wissenschaftlichen Kritik der Theologie ging eine mehr populäre, eine journalistische Kritik der praktischen Lebenssphären einher. Wie jene, so hatte auch diese zu ihrem Ausgang und ihrer Voraussetzung den Glauben an die Wahrheit des absoluten Idealismus und seiner Dialektik. Dieser Glaube war der positive Stachel des Pathos, mit welchem die Regeneration der wirklichen Welt ausgerufen und angegriffen wurde. Nicht ohne Liebe kann man an eine Persönlichkeit denken wie die von ARNOLD RUGE, der Koryphäe dieser kritisch-begeisterten, dieser jugendlich stürmischen Generation, wenn man erwägt, welchen Zuschlag individueller Frische es bedurfte, um aus einem so geschlossenen, selbstgenügsamen, mit der historischen Wirklichkeit als begriffener, sich behaglich auseinandersetzenden System den belebenden Funken reformatorischer Kritik und sittlichem Enthusiasmus zu erwecken. Es ist eine erstaunliche Erscheinung, zu sehen, wie die Philosophie HEGELs eine Kampfeslust und einen gegen gealterte Lebensformen sich sittlich empörenden Eifer hervorzurufen vermochte, welchen zu erzeugen einer Lehre wie der kantischen oder der FICHTEs unmöglich gewesen war. Erklärbar ist diese Erscheinung nur, wenn man in diesem ausbrechenden Eifer der Kritik die Auferstehung des kantischen und fichteschen Geistes, die unbewußte Reaktion desselben gegen seine Versenkung in die Fundamente des HEGELschen Systems erblick. Ein Blick auf die Entstehung des letzteren hat uns gelehrt, wie es die Kontinuität mit dem Idealismus FICHTEs keineswegs abbrach, sondern nur die Absorption der romantischen Vertiefung in die Substanz, durch die Hinzunahme des ästhetischen Elements bei SCHELLING das ethische abgestumpfte und auf rohe Weise mit sich verknüpfte. Wie die dunkle Erde die Saat in sich birgt und in Verschluß nimmt, so war das sittliche Motiv des früheren Idealismus in die Ruhe des absoluten vorübergehend eingegangen, unter dem Schutz des absoluten Wissens, unter der schirmenden Decke der Substanz, unter dem glänzenden Schein eines alle Wirklichkeit bewältigenden Realismus war es durch die traurige Restaurationsepoche wie durch einen Winterschlaf hindurch gerettet worden. Die HEGELsche Philosophie, so sehr sie nach ihrer ganzen Einrichtung und Ökonomie das Konterfei der praktischen Kummerlosigkeit unserer Nation war, so sehr ist sie andererseits die geistige Brücke zu einer Neubelebung unserer Willenskräfte gewesen, die stille Bewahrerin des Geheimnisses deutscher Sinnesart, und der Traum gleichsam, den der Geist träumte, während der Leib schlief. Im System des absoluten Idealismus war die ethische Kraft der Natur zwar nicht gewachsen, wohl aber war sie gereift und war vor einem Untergang geborgen. Die "Halle'schen und deutschen Jahrbücher" begannen von der intellektuellen Begeisterung über die Absolutheit der Erkenntnis, über die Fülle des Wissens, welches mit diesem System gegeben war, zu berichten; aber sie schritten fort zu einer ethischen Begeisterung, welche das Leben reformieren, unbrauchbar gewordene Form zu zerschlagen und neue an deren Stelle zu setzen begehrt.
LITERATUR - Rudolf Haym, Artikel "Philosophie" in Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste, hg. von Ersch/Gruber, Dritte Sektion O-Z, 23. Teil, Leipzig 1847