ra-2H. H. GossenLiefmannO. ConradR. Stolzmann    
 
ROBERT LIEFMANN
Über Objekt, Wesen und Aufgabe
der Wirtschaftswissenschaft

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"Heutzutage aber ist es geradezu üblich geworden, mit dem Schlagwort  sozial  in den verschiedensten Zusammensetzungen die wirtschaftlichen Erscheinungen näher zu bestimmen und abzugrenzen. Je mehr man anfängt, zu erkennen, daß Wirtschaften nach der materialistischen Auffassung nichts anderes als Technik ist, umso mehr sucht man für die Abgrenzung des Inhalts der Wirtschaftswissenschaft sein Heil beim Wort  sozial. Mit dem Sozialen sucht man das Sozialökonomische aus dem Wirtschaftlichen schlechthin, mit dem Wirtschaftlichen dasselbe aus dem Sozialen abzugrenzen. Da aber beide Begriffe ganz unklar bzw. der des Wirtschaftlichen immer ganz falsch aufgefaßt ist, kann natürlich nichts dabei herauskommen."


Zweiter Teil
Wesen und Aufgabe
der Wirtschaftswissenschaft


Kapitel III
Das Wesen der ökonomischen Wissenschaft

1. Die Volkswirtschaftslehre
als Staatswissenschaft

Nachdem wir festgestellt haben, daß das Objekt der einheitlichen Wirtschaftswissenschaft nicht ein durch außerwirtschaftliche, künstlich hineingetragene Momente bestimmter "sozialer Gesamtkörper", kein "soziales Zweckgebilde", sondern ganz einfach die Erscheinungen des  Tauschverkehrs,  die  Beziehungen  zwischen tauschwirtschaftlichen Subjekten und die dafür geschaffenen Einrichtungen und Verandstaltungen sind, können wir uns auch der Frage nach dem  Wesen der ökonomischen Wissenschaft  zuwenden. Das ist nun eine Frage, die eigentlich nur die Philosophie interessiert. Denn es handelt sich dabei immer um die Abgrenzung dieser Wissenschaft von anderen, also um eine Frage der allgemeinen Wissenschaftslehre. Da aber so viele unter den philosophierenden Nationalökonomen heute den Fehler begehen, den Inhalt und das Objekt der Volkswirtschaftslehre von der Philosophie her statt aus dem gegebenen Erfahrungskomplex bestimmen zu wollen, sei auch hier der Vollständigkeit halber auf diese Argumentation eingegangen.

Man hat die Wirtschaftswissenschaft in dreifacher Art in einen größeren Kreis von Wissenschaften einzureihen versucht, indem man sie als  Staatswissenschaft,  als  Sozialwissenschaft  und als  Kulturwissenschaft  bezeichnete. Alle drei Gesamtbegriffe haben Versuchen dienen müssen, das Wesen der Volkswirtschaftslehre näher zu bestimmen. Am wenigsten ist das merkwürdigerweise mit dem Begriff der  Staatswissenschaften  der Fall gewesen. Das ist merkwürdig, weil die Beziehungen der Wirtschaft zum Staat zweifellos viel enger sind als zu jeder anderen sozialen Erscheinung. Deshalb soll hier auch der Charakter der Wirtschaftswissenschaft als Staatswissenschaft untersucht werden.

Es ist in der Tat sonderbar, daß keine der vielen Forderungen einer "sozialen Betrachtungsweise" sie mit der engen Beziehung der wirtschaftlichen Erscheinungen, insbesondere des Tauschverkehrs, zum  Staat  und seiner  Politik  begründet. Am nächsten kommt diesem Gedanken, außer dem oben erwähnten PESCH, noch der Jurist STAMMLER und ihm folgend KARL DIEHL. Aber auch sie erblicken doch nicht allgemein in der Beziehung der Wirtschaft zum Staat und insbesondere nicht in der Beziehung zur Staats politik,  sondern viel spezieller im Einfluß der  Rechtsordnung  das Moment, welches die Sozialökonomik bestimmen soll. Die übrigen Richtungen rücken den Staat und seine Politik noch viel weniger in den Vordergrund zur Bestimmung des "Sozialökonomischen", sondern STOLZMANN, AMONN u. a. umschreiben es in der bekannten oben geschilderten Weise, wonach auch hauptsächlich die Rechtsordnung entscheidend sein soll. Wohl hat der Sozialismus (RODBERTUS) (20) und ihm folgend namentlich ADOLF WAGNER die enge Beziehung der Wirtschaft zum Staat in den Vordergrund gestellt und in vieler Hinsicht stark übertrieben betont. Aber als ökonomische Theoretiker stehen doch die Vertreter dieser Richtung, wie die Klassiker, im wesentlichen auf dem Standpunkt der Einheit der Wirtschaftswissenschaft; ADOLF WAGNER denkt jedenfalls nicht daran, eine besondere Sozialökonomik mit einem eigenen Identitätsprinzip durch die Beziehung der Wirtschaft zum Staat enger abzugrenzen.

Bei den beliebten Ausdrücken: vom  volkswirtschaftlichen  Standpunkt oder Gesichtspunkt aus,  volkswirtschaftliche  Betrachtungsweise und ähnlichen wie  National-  oder  Sozialkapital  hat man jedenfalls nicht die Zusammenfassung der in einem  Staat  zusammengeschlossenen Wirtschaften im Auge, sondern man geht von der unklaren Vorstellung aus, den Tauschverkehr als solchen als eine wirtschaftliche Einheit auffassen zu können, wie es sich am deutlichsten in den früher zitierten Ausführungen von WIESERs oder in dem Satz von SCHULZE-GÄVERNITZ: "nur die Volkswirtschaft ist Wirtschaft im engeren Sinne" (siehe unten § 3) ausspricht.

Daß bei dem verbreiteten Streben nach einen sozialen Objekt der Wirtschaftswissenschaft niemals der Versuch gemacht wurde, sie durch die Beziehung zum  Staat  abzugrenzen, ist umso merkwürdiger, als doch die ganze ökonomische Wissenschaft aus der Betrachtung des Staates und seiner Politik entstanden ist. Daran erinnern heute die üblichen deutschen und ausländischen Ausdrücke für die Wirtschaftswissenschaft:  Volkswirtschaftslehre, Nationalökonomie, politische Ökonomie  usw., kurz  alle,  die bis zu dem erst neuerdings geprägten Wort  Sozialökonomik  für unsere Wissenschaft gebräuchlich waren. Daran erinnert auch der Ausdruck  Staatswissenschaften,  der noch heute (z. B. in den rechts- und  staats wissenschaftlichen Fakultäten) eine erhebliche Rolle spielt und nach allgemeiner Anschauung neben anderen auch die ökonomische Wissenschaft umfaßt. In der Tat läßt sich die Frage aufwerfen, ob denn die Volkswirtschaftslehre weniger Staatswissenschaft als z. B. Sozialwissenschaft ist; und wenn die Beziehungen wirtschaftlicher Erscheinungen zum Staat die engsten sind, was zweifellos der Fall ist, zumal wenn man auch die ganze rechtliche Regelung heranzieht, wie es STAMMLER und seine Anhänger tun, warum stellt man dann die Wirtschaftswissenschaft oder die Sozialökonomik nicht lieber in die engere Gruppe Staatswissenschaft, statt sie mit dem ganz unklaren Begriff Sozialwissenschaft zu bezeichnen?

Darüber ist kein Zweifel, daß die Beziehung der Wirtschaft zum Staat die engste ist, und vor allem, daß  von ihr sehr viel weniger bei der Erklärung der tauschwirtschaftlichen Vorgängen abstrahiert werden kann  als von den gesellschaftlichen Bedingtheiten wirtschaftlicher Erscheinungen, Sitten, Klassen und dgl. Am offensichtlichsten ist die Beziehung zum Staat natürlich bei der  Wirtschaftspolitik.  Als Wirtschaftspolitik bezeichnen wir dabei das direkte Zweckstreben des Staates, in die wirtschaftlichen Verhältnisse regelnd und ordnend einzugreifen. Wir verstehen darunter also  nicht  den größten Teil des Privatrechts und einen erheblichen Teil des öffentlichen und Strafrechts. Es ist richtig, daß die Abgrenzung von Rechtsordnung und Wirtschaftspolitik keine scharfe sein kann. Manche staatlichen Maßregeln, die, als sie eingeführt wurden, zugleich den Charakter der  Wirtschaftspolitik  hatten, weil sie die wirtschaftlichen Erscheinungen fördernd oder hemmend bessern und regeln sollten, sind allmählich feste Bestandteile der Rechtsordnung geworden, ich erinnere an Wuchergesetze im Strafrecht, Schadensersatzbestimmungen im Privatrecht und ähnliches. Auf eine Abgrenzung von Rechtsordnung und Wirtschaftspolitik kommt es hier aber gar nicht an, da wir gerade zeigen wollen, daß auch, von beiden  abgesehen,  der Staat die wirtschaftlichen Vorgänge weitgehend beeinflußt.

Das wird am einfachsten dadurch bewiesen, daß wir auf das Vorhandensein  wirtschaftlicher Begriffe  aufmerksam machen, die  ohne Beziehung auf den Staat überhaupt nicht gedacht werden können.  Es ergibt sich daraus, daß die Beziehung mancher wirtschaftlicher Erscheinungen zum  Staat  viel weniger ohne Berücksichtigung bleiben kann, als die Beziehungen zur  Rechtsordnung.  Zu solchen wirtschaftlichen Erscheinungen gehört nun  nicht  das Geld, an das man vielleicht zuerst denken würde. Denn wenn auch das Geld ein "Geschöpf der Rechtsordnung" genannt werden kann, so kann es doch nur  wirtschaftlich  definiert werden.  Allgemeines Tauschmittel  drückt seine wirtschaftlichen Funktionen völlig genügend aus, um das Hauptproblem der Wirtschaftstheorie, die Preisbildung, damit zu erklären. Es kann auch rein wirtschaftstheoretisch untersucht werden, ohne jede Beziehung zum Staat, und seine ökonomische Entstehung und grundlegenden Funktionen  sind  so zu untersuchen. Man kann also beim Geld von der tatsächlichen rechtlichen Regelung abstrahieren, ebenso wie beim Privateigentum, das man für den Zweck der ökonomischen Theorie als bloßes  Innehaben  auffassen kann.

Aber merkwürdigerweise ist man nie darauf aufmerksam geworden, daß es wirtschaftliche Begriffe gibt, keineswegs nur wirtschafts politische,  sondern solche, die auch bei wichtigen  theoretischen  Betrachtungen eine Rolle spielen, die  ohne den Staat nicht gedacht werden können.  Solche Begriffe sind z. B.  Export  und  Import.  Es ist ohne weiteres klar, daß diese Begriffe, was bei den vielen schon erwähnten wirtschaftlichen Begriffen nie der Fall war, unter allen Umständen eine  Volkswirtschaft,  richtiger den  Staat  voraussetzen. Man kann diese Worte nicht gebrauchen, nichts über Export und Import aussagen, ohne wirtschaftliche Vorgänge dabei mit dem Staat zu verknüpfen, nicht mit einem bestimmten Staat, aber doch mit einem Staat schlechthin, und zwar nicht etwa mit dem Staat als Träger der Wirtschaftspolitik, überhaupt nicht mit dem Staat im wirtschaftlichen Sinn, sondern mit dem Staat in einem  nationalen  Sinn, als Herrn des Staatsgebietes und als übergeordnete Einheit aller in ihm lebenden Personen. Und doch ist anscheinend der Begriff  Export  ein  rein wirtschaftlicher  Begriff, der ansich mit  Wirtschaftspolitik  noch nichts zu tun hat, vielmehr auch bei wichtigen rein ökonomischen Theorien eine Rolle spielt, z. B. nach den Wirkungen des Exports auf die Preise, den Wirkungen des Kapitalexports auf die Kapitalbildung im Inland und zahlreichen anderen rein kausalen wirtschaftstheoretischen Problemen.

Was ergibt sich daraus? Ist hier vielleicht ein Fingerzeig für die so viel gesuchte "soziale Betrachtungsweise" gefunden? Mitnichten. Es ergibt sich zunächst nur, daß die Einwirkung des Staates auf die wirtschaftlichen Erscheinungen, auch ganz abgesehen von der Wirtschaftspolitik, so bedeutend ist, daß wichtige wirtschaftliche Begriffe und Probleme nicht ohne Beziehung auf ihn gedacht werden können. Was diese Beziehungen aber bedeuten, darüber wird man sich erst klar, wenn man sich überlegt - denn man kann sich über solche Fragen nur anhand von Beispielen klar werden - ob denn die Bezeichnungen  Export  und  Import  und manche ähnliche, wie  Devise, Valuta, Handelsbilanz  und dgl., wirklich rein ökonomische Begriffe sind. Wir haben die Antwort eigentlich schon gegeben. "Export" ist kein rein wirtschaftlicher Begriff, sondern durch seine notwendige Beziehung zum Staat, also einem nichtwirtschaftlichen Begriff, ein  nationalwirtschaftlicher,  wie man vielleicht sagen könnte - das Wort national ökonomisch  ist eben schon vergeben und nicht anwendbar - oder  politisch-wirtschaftlicher  Begriff, wie man vielleicht am besten sagt (aber nicht zu verwechseln mit wirtschaftspolitisch). Daß es kein rein wirtschaftlicher Begrif ist, d. h. allein durch  wirtschaftliche  Oberbegriffe bestimmt, ergibt sich daraus, daß man z. B. auch innerhalb des deutschen Zollvereins als einer wirtschaftlichen Einheit von Deutschland nach Luxemburg exportieren kann und daß auch zwischen England und den Kolonien, zwischen denen völliger Freihandel herrscht, Export und Import möglich sind. Diese Begriffe setzen also keine wirtschaftliche oder auch selbst eine wirtschaftlich-politische  Beziehung voraus, sondern eine  nationale, staatliche,  sie stellen unter allen Umständen die inländische sogenannte  Volkswirtschaft, d. h. die durch das Staatsgebiet räumlich bestimmten Wirtschaften  in einen Gegensatz zu anderen. Und zwar enthalten die Begriffe "Export" und "Import" immer den Gedanken, daß die Wirtschaften eines Staatsgebietes eine Einheit bilden, aber nicht etwa eine  wirtschaftliche  Einheit, wie sie die "soziale Betrachtungsweise" fingieren will, sondern eine  nationale, staatliche, politische,  also eine Einheit unter einem der Wirtschaftswissenschaft  fremden, nicht-wirtschaftlichen  Gesichtspunkte.

Daher wäre es falsch, anzunehmen - auch ich habe diese Auffassung lange gehabt - daß diese Begriffe nun immer wirtschafts politische  seien, d. h. daß sie immer nur mit dem Gedanken an  wirtschaftliche  Zwecke des Staates zu verbinden sind. Sie können auch mit sonstigen Zwecken des Staates, vor allem mit nationalen, militärischen u. a. verknüpft werden. Wohl aber erkennt man, daß diese Begriffe  immer mit einem Zweckgedanken verbunden  sind. Man kann von Export und Import überhaupt nichts Wirtschaftliches aussagen, ohne daß dabei nicht an eine Beziehung zu Zwecken des Staates oder zu Zwecken wirtschaftlicher Individuen innerhalb eines Staates gedacht wird. Das gilt aber nicht für die rein wirtschaftlichen Ausdrücke, wie  Kosten, Kapital, Preis, Einkommen.  Zwar stehen alle diese Begriffe auch in einer Beziehung zu Zwecken von Wirtschaftspersonen, da eben Wirtschaften Erwägungen bedeutet, die immer an Zwecke anknüpfen, aber bei der Untersuchung der wirtschaftlichen Erscheinungen wird von diesen Zwecken vollkommen abstrahiert. Auch Kosten, Kapital, Preis, Einkommen sind Begriffe, die mit Zwecken in Beziehung stehen; Kosten und Kapital fallen unter den Begriff  Mittel  (natürlich nicht in einem materialistischen-quantitativen Sinn genommen), ein Preis ist der Zweck der Erwerbswirtschaften, ein Mittel der Konsumwirtschaften. In der Wirtschaftstheorie wird diese Beziehung als logische Kategorie wohl festgestellt (21), aber von der Art der Zwecke und der Mittel, von der Art ihres Erfolges wird vollkommen abstrahiert. Beim  homo oeconomicus,  den die Wirtschaftstheorie braucht, wird der Erfolg immer vorausgesetzt.

Ganz ander aber bei den Begriffen "Export" und "Import". Man kann sie in keinem allgemeinen Satz anwenden, in dem nicht irgendein Werturteil, wenn auch versteckt, enthalten ist, ein bestimmtes Ziel des Staates oder der Einzelwirtschaften innerhalb des Staates. Bei dem Satz: diese Industrie bringt die Hälfte ihrer Produktion zum Export, wird zwar bloß eine Tatsache konstatiert, aber durch den Begriff "Export" wird die inländische Volkswirtschaft der ausländischen gegenübergestellt, und das involviert ein Werturteil, hier die Abhängigkeit jener Industrie vom Ausland. Oder: der Export von Kriegsmaterial von Japan nach Rußland hat im Weltkrieg großen Umfang angenommen, ist eine bloße Konstatierung einer Tatsache, die gar nicht wirtschaftlich gemeint zu sein braucht. Ist sie es aber, so betrachtet sie stillschweigend die Vorteile der japanischen Volkswirtschaft dabei oder die Benachteiligung der russischen Finanzen, oder den Umstand, daß die Vereinigten Staaten infolge dessen weniger an Rußland verkauften oder dgl. Sie setzen aber unter allen Umständen zwei Volkswirtschaften bzw. Staaten in einen Gegensatz.

Was ergibt sich daraus? Derartige Begriffe bedeuten sicherlich keine besondere  "Betrachtungsweise",  sondern sie bedeuten das Hineinziehen des nicht-wirtschaftlichen Moments  Staat  in das Erkenntnisobjekt: wirtschaftliche Beziehungen. Die betrachteten Exporteure erscheinen immer als Teil einer "Volkswirtschaft", d. h. eine  staatlich  zusammengeschlossenen Einheit, und die Beziehung zu den Zwecken des Staates, zu wirtschaftspolitischen: Förderung des Einzelnen, oder zu allgemein national-politischen: Förderung des Staates und der ihm zugehörigen Individuen ist immer das Entscheidende. Die Anwendung dieser Begriffe bedeutet also, bei durchaus kausaler Betrachtung, die Abgrenzung eines  Teilobjekts  aus dem gesamten Erkenntnisobjekt der Wirtschaftswissenschaft durch eine Heranziehung des Begriffs  Staat  und seiner Politik. Der Einfluß des Staates und seiner Politik welche die inländischen Wirtschaften, sei es einzeln, sei es in ihrer Gesamtheit, in einen Gegensatz zu ausländischen stellt, ist so groß, daß aus dem Rahmen der gesamten Wirtschaftswissenschaft sich dadurch ein Teilobjekt für wissenschaftliche Betrachtungen ausscheiden läßt. Wir können also aus der gesamten Wirtschaftstheorie eine  nationale Wirtschaftstheorie  ausscheiden, welche die Vorgänge umfaßt, die ohne Beziehung auf einen Staat und die staatliche Zusammenfassung der Wirtschaften nicht gedacht werden können. Der  reinen  ökonomischen Theorie wäre also eine  politisch-ökonomische  Theorie gegenüberzustellen (das Wort "nationalökonomisch" sollte in diesem speziellen Sinn vermieden werden). Am besten spricht man von  reiner  Wirtschaftstheorie und  nationaler  Wirtschaftstheorie.

Es brauch kaum näher ausgeführt zu werden, daß dieser Gegensatz nicht mit der individualistischen und sozialen Betrachtungsweise und auch nicht mit der Gegenüberstellung von Privatwirtschaftslehre und Volkswirtschaftslehre identisch ist. Wir gebrauchen den Ausdruck "Volkswirtschaftslehre", der sich einmal eingebürgert hat, im selben Sinn wie Wirtschaftswissenschaft. Wo es auf begriffliche Klarheit bei diesem Ausdruck ankommt, vermeiden wir aber den Ausdruck  Volkswirtschaft  und sprechen dafür von Tauschverkehr, tauschwirtschaftlichem Organismus oder Mechanismus. Dieser ist uns keine Einheit, kein "sozialer Gesamtkörper" keine "Gesamtwirtschaft", kein einheitliches Zweckgebilde im Sinne einer sozialen Betrachtungsweise, sondern eine solche Einheit ist nur der  Staat  und die Summe der einzelnen Wirtschaften nur als  Glieder  eines bestimmten Staates. Von dieser Zusammenfassung der Wirtschaften im  Staat  abstrahiert aber die Theorie der wirtschaftlichen Grundlagen, die wir daher  reine Theorie  nennen und die den weitaus größten Teil der Wirtschaftstheorie ausmacht. Doch ist die Zusammenfassung der Wirtschaften im Staat, auch ganz abgesehen von ihrer  rechtlichen Regelung  durch ihn, von so großer Bedeutung, daß mancherlei wirtschaftliche Erscheinungen nur unter diesem einschränkenden Moment, also als ein  Teilobjekt  des allgemeinen Objekts der Wirtschaftswissenschaft zu betrachten sind, und deren theoretische wie kausale Untersuchung ennen wir  national-wirtschaftliche  oder  politisch-ökonomische  Theorie. Ein Teil von dieser wiederum ist die  wirtschaftspolitische  Theorie, die das staatliche  Eingreifen  in die wirtschaftlichen Verhältnisse auch wiederum rein kausal und allgemein theoretisch zu untersuchen hat.

Alle diese Beziehungen der Wirtschaftswissenschaft zum Staat sind natürlich auch wiederum ein Teil der  Staatswissenschaften,  und daraus ergeben sich die engen Beziehungen dieser zur Wirtschaftswissenschaft. Aber selbstverständlich geht sie in den Staatswissenschaften nicht auf, und dahin gehende ältere Bezeichungen unserer Wissenschaft, welche auf der früher im Vordergrund des Interesses stehenden Wirtschafts politik  fußen, sind abzulehnen. Der größte Teil der Wirtschaftstheorie abstrahiert vom Staat. Er negiert ihn damit nicht, er betrachtet nicht etwa den Austausch zwischen staatenlosen Individuen, aber die Wirtschaften, zusammengefaßt unter dem Staat, sind nicht Objekte der reinen Wirtschaftstheorie.

Die Ausdrücke rein und politisch-wirtschaftlich oder national-wirtschaftlich beziehen sich nun nicht nur auf die  Wirtschaftstheorie.  Sie sind auch auf die gesamte Wirtschaftswissenschaft anwendbar. So gibt es eine  reine Wirtschaftsgeschichte,  welche die Entwicklung wirtschaftlicher Erscheinungen ohne Rücksicht auf ihre Beziehungen zum Staat überhaupt oder zu bestimmten Staaten umfaßt, z. B. die Geschichte der modernen Unternehmung, welche zwar die Entwicklung in verschiedenen Ländern, z. B. Italien, England, Deutschland, trennen und einzeln betrachten kann, aber nicht in den verschiedenen Einfluß des Staates, z. B. bei der rechtlichen Regelung der Gesellschaftsunternehmungen, miteinbezieht. Und es gibt die  politische Wirtschaftsgeschichte,  welche auch den Einfluß des Staates, seine Politik und seine besondere Regelung behandelt und dabei immer die Verhältnisse eines bestimmten Staates oder vergleichend die verschiedener Staaten betrachten wird. Die politische Wirtschaftsgeschichte ist nach dem Gesagten nicht gleichbedeutend mit der Geschichte der Wirtschaftspolitik, kann z. B. auch die Geschichte der Außenhandelsbeziehungen eines Landes schildern, auch wenn und soweit sie nicht Gegenstand der Wirtschaftspolitik waren.

Es sei schließlich noch mit ein paar Worten auf den Staat bzw. die öffentlichen Körperschaften als Wirtschaftssubjekte eingegangen. Die Wirtschaft der öffentlichen Körperschaften ist ebenso eine Wirtschaft wie die physischer Personen. Ihr Ziel ist die Bedarfsbefriedigung, die Erreichung ihrer eigenen Zwecke nach dem wirtschaftlichen Prinzip. Diese Zwecke sind meist immaterieller Art, vor allem Sicherheit nach innen und nach außen, Hebung der Kultur des Volkes in allen ihren Zweigen, Erziehung, Unterricht, allgemeine Wohlfahrt, dabei auch eine Förderung ihrer wirtschaftlichen Interessen. Insoweit entsprechen die öffentlichen Körperschaften durchaus den privaten Konsumwirtschaften. Aber wie die meisten Inhaber von Konsumwirtschaften auch erwerbstätig sind, sehr viele eine eigene Erwerbswirtschaft haben oder mit anderen zusammen an solchen beteiligt sind, so auch die öffentlichen Körperschaften. Die Staatseisenbahnen z. B., die Unternehmungen der Gemeinden, wie Gas- und Elektrizitätswerke bilden ihre Erwerbswirtschaften. Mit ihren Konsumwirtschaften sowohl wie mit ihren Erwerbswirtschaften fügen sich die öffentlichen Körperschaften dem tauschwirtschaftlichen Mechanismus ebenso ein wie die Privatwirtschaften. Daß gleichzeitig vom Staat eine weitreichende Regelung wirtschaftlicher Vorgänge ausgeht, darf man mit seiner eigenen wirtschaftlichen Tätigkeit nicht verwechseln. Diese Regelung ist nicht Wirtschaft, sondern  Politik.  Sie kann, soweit sie Erscheinungen regelt, die nach unserer Definition als wirtschaftliche zu bezeichnen sind,  Wirtschaftspolitik  genannt werden. Man kann in der Wirtschaftspolitik vielleicht, bei rein kausaler Betrachtung, ein System von Lehrsätzen aufstellen und damit aus ihre eine eigene Wissenschaft machen. Diese kann sowohl als ein Zweig der allgemeinen Wissenschaft vom Eingreifen des Staates in das menschliche Zusammenleben, der Politik, bezeichnet werden als auch als ein Teil der allgemeinen Wirtschaftswissenschaft. Deswegen bleibt diese als solche doch von den speziellen Wissenschaften vom Staat vollkommen getrennt.


2. Die Volkswirtschaftslehre als
Sozialwissenschaft

Wir haben gesehen, daß das einzigste Argument, mit welchem die soziale Betrachtungsweise in der Volkswirtschaftslehre begründet wird, das ist, sie sei eine  Sozialwissenschaft.  Nur dieser Begriff ist es, der STAMMLER und AMONN zu der Merkwürdigkeit veranlassen kann, daß sie das logisch Einheitliche, das Identitätsprinzip der Wirtschaftswissenschaft nicht im  Wirtschaftlichen,  sondern in der  rechtlichen  oder sozialen Regelung, einerlei, wie man sie umschreibt, erblicken. Wir haben aber auch schon bei ihnen sowie bei DIEHL und STOLZMANN die Konsequenzen dieser sozialen Betrachtungsweise kennengelernt und gesehen, daß es sich nicht um eine besondere Betrachtungsweise, sondern um ein anderes  Erkenntnisobjekt  handelt. Nach dieser Lehre ist das Erkenntnisobjekt nicht die tauschwirtschaftlichen Beziehungen zwischen Einzelnen, sondern ein "sozialer Gesamtkörper", eine "soziale Gesamtwirtschaft", in der der Einzelne nur eine Funktion hat, ein dienendes Glied ist. Wir haben schließlich aus den Arbeiten STOLZMANNs, des Einzigen, der versucht hat, auf dieser Grundlage eine ökonomische Theorie zu entwerfen, gesehen, daß diese Auffassung der wirtschaftlichen Erscheinungen gezwungen ist, im Tauschverkehr ein einheitliches Zweckgebilde zu erblicken, einen "sozialen Gesamtzweck", und haben diese Auffassung, die aller Erfahrung und Beobachtung der wirtschaftlichen Erscheinungen widerspricht, zurückgewiesen. STOLZMANN hat dann selbst die Konsequenz gezogen und gezeigt, daß mit dieser Auffassung eine  kausale Betrachtungsweise nicht mehr möglich  ist. Diese kann nur vom Individuum ausgehen. Das ist dann überzeugend von HEIMANN gegen AMONN nachgewiesen worden, dessen mühsam gewonnenes "soziales" Objekt durch die Erkenntnis wieder zum Scheitern gebracht wurde, daß die kausale Betrachtung immer auf die Einzelwirtschaft zurück- und damit ber das so schön abgegrenzte soziale Objekt hinaus führt. STOLZMANN ist daher auch für eine teleologische Betrachtungsweise eingetreten, zeigt aber mit seinem dahin gehenden Versuch auf das deutlichste, daß man damit die einmal vorliegenden tauschwirtschaftlichen Hauptprobleme nicht erklären kann.

Wie kam man nun dazu, zu glauben, daß mit der Bezeichnung der Volkswirtschaftslehre als Sozialwissenschaft etwas für die Erkenntnis ihres Wesens gewonnen wird? Dabei haben verschiedene Gründe mitgewirkt. Einer dieser Gründe ist, daß man von jeher mit der Nationalökonomie alle möglichen Einwirkungen soziologischer, ethnologischer Art usw. verband, z. B. über Klassenbildung, gesellschaftliche Schichtung, über Rassenfragen, Probleme der Volkspsychologie usw. Insbesondere durch die historische Schule ist das angebahnt worden, mit demselben Recht oder vielmehr Unrecht, mit dem man immer die wirtschaftlichen Betrachtungen mit  technischen  Erörterungen verband. Da die verschiedenen sozialen Wissenschaften noch sehr wenig entwickelt und voneinander abgegrenzt sind, und man sich andererseits auch über das Wesen der Wirtschaftswissenschaft nicht klar war, wurde in sie, stets unter dem Einfluß des Sozialismus und seiner materialistischen Geschichtsauffassung, alles hineinbezogen, was im Gesellschaftsleben in irgendeiner Beziehung zur Wirtschaft zu stehen schien.

Dazu kam noch ein weiterer Grund, der dazu beitrug, daß man die Nationalökonomie als eine Sozialwissenschaft ansah. Das Problem dieser Wissenschaft war ursprünglich nicht, die tauschwirtschaftlichen Erscheinungen zu erklären, sondern es bestand im  Volksreichtum  und seiner Vermehrung, also in praktischen Fragen der Volkswirtschafts politik.  So ging man von der "Volkswirtschaft", d. h. den wirtschaftlichen Verhältnissen eines bestimmten  Staates  aus, die man unter dem Gesichtspunkt des Staates als eine Einheit auffaßte, wenn auch nicht gerade als eine  Wirtschaft  analog der Einzelwirtschaft, so doch als einen einheitlichen geschlossenen wirtschaftlichen Organismus. Auch hier war es der Sozialismus, der viel dazu beitrug, daß man sich  Wirtschaft  nur innerhalb eines Staates vorstellen konnte. Während die Klassiker noch die wirtschaftlichen Grundprobleme ohne Rücksicht auf den Staat erörterten, macht ADOLF WAGNER schon immer auf die "historisch-rechtliche Kategorie" neben der ökonomisch-technischen aufmerksam (wobei freilich nach meiner Auffassung die eine so wenig ökonomisch ist wie die andere).

Die Neueren halten allerdings nicht mehr so am Gedanken der "Staatswissenschaft" und "Staatswirtschaftslehre" fest, sondern verflüchtigen den Gedanken der Beziehung der Wirtschaft zum Staat noch, indem sie an seine Stelle die  rechtliche Regelung  setzen. Diese geht f reilich auch vom Staat aus, und so scheint es, als ob die STAMMLER-STOLZMANN-DIEHLsche Auffassung nur eine engere Abgrenzung und präzisere Auffassung der Volkswirtschaftslehre als Staatswissenschaft ist. Das ist aber nicht der Fall, weil, wie ich oben gezeigt habe (§ 1), wichtige Einflüsse des Staates auf die wirtschaftlichen Erscheinungen ganz außerhalb des Moments der rechtlichen Regelung fallen. Daß diese als Mittel, um wirtschaftliche Erscheinungen als Gegenstand einer besonderen Sozialökonomie abzugrenzen, ganz ungeeignet ist, haben wir eben gezeigt, ebenso daß auch die Beziehungen zum Staat höchstens ein Teilobjekt aus der allgemeinen Wirtschaftswissenschaft herausheben und zum Gegenstand einer speziellen  nationalwirtschaftlichen  Theorie machen können.

Wieder andere denken bei der Bezeichnung der Volkswirtschaftslehre als Sozialwissenschaft mehr an eine Verknüpfung derselben mit der  Gesellschaftslehre.  Sie denken daran, daß die  Bedürfnisse,  die letzten Grundlagen aller Wirtschaft, gesellschaftlich bedingt, von sozialen Momenten, Sitten, Gewohnheiten und dgl. abhängig sind, und daß das auch auf die tauschwirtschaftlichen Vorgänge, Preise, Einkommen usw. zurückwirkt. Sie denken ferner daran, daß die Zusammenfassung der Menschen, keineswegs nur der  wirtschaftlich  Tätigen, zu sozialen Klassen, die Fragen der Klassenbildung und Klassengegensätze erörtert worden sind, weil ökonomische Gründe dabei eine große Rolle spielen. Insbesondere durch den Sozialismus, der fast alle Tauschvorgänge nur als Klassenkämpfe auffaßt, ist diese Vermischung der wirtschaftlichen Probleme mit denen der Gesellschaftslehre ganz allgemein geworden und hat sehr viel zur Entwicklung der heutigen Forderung nach einer sozialen Betrachtungsweise beigetragen. Dieser Einfluß des Sozialismus zeigt sich bei vielen Schriftstellern, z. B. bei SOMBART, in der ökonomischen Theorie neuestens besonders deutlich in einer kleinen Schrift von TUGAN-BARANOWSKY, "Soziale Theorie der Verteilung", Berlin 1913, die, obgleich in vielen Punkten sehr scharfsinnig, doch nicht, wie der Verfasser meint,  über  den verschiedenen Richtungen steht, sondern ganz besonders deutlich die Unmöglichkeit der auch von ihm festgehaltenen materialistischen Auffassung der Wirtschaft, der Verwechslung von Wirtschaften und Produzieren zeigt. TUGAN erkennt diese Unmöglichkeit nur für die  Einkommenslehre,  wo sie, da es sich dabei ja um Geldausdrücke handelt, auch besonders schlagend hervortritt. Er verlangt deswegen eine "soziale Theorie der Verteilung". Er meint (Seite 10):
    "Um die Gesetze der Preisbildung zu verstehen, muß man sich auf den individualistischen Ausgangspunkt einstellen. Der Preis beruth ja auf Schätzungen des Individuums, und der einzig mögliche Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Preistheorie kann nur die Analyse der psychischen Prozesse des Individuums sein, die in einem Werturteil zum Ausdruck kommen (22). Das Gegenteil gilt für die Verteilungstheorie. Ihren Ausgangspunkt können in keinem Fall individualistische Werturteile abgeben, denn die Verteilung ist ein soziales Phänomen, das das Zusammenwirken mehrerer gesellschaftlicher Gruppen zur Voraussetzung hat ... Zwar ist der Tauschakt auch ein sozialer Prozeß. Aber das hindert die Preistheorie nicht, einen individualistischen Charakter zu haben. Zwischen dem Tauschphänomen und dem Verteilungsphänomen besteht nämlich folgender Unterschied: Im Tauschakt begegnen sich zwei Individuen, die nicht notwendig verschiedenen sozialen Klassen angehören müssen. Darum gehen die beiden in der heutigen Wissenschaft konkurrierenden Werttheorien - Grenznutzen- und Arbeitstheorie von  Marx - von der Voraussetzung der sozialen Gleichheit der im Austausch sich begegnenden Individuen aus."
Das ist aber ein fundamentaler Fehler, und auf dieser Grundlage kam TUGAN zu der, der heutigen sogenannten "Preistheorie" allerdings entsprechenden Behauptung (Seite 12):
    "Jede Ware hat ihren besonderen Preis, und gerade in der Bestimmung dieser individuellen Preisunterschiede besteht die Aufgabe der Preistheorie!"
Das ist eben der kindliche Zustand der heutigen "Preistheorie", die glaubt, wenn ich mir für 3 Pfennige ein Brot beim Bäcker kaufe, den Preis aus den beiderseitigen "Wertschätzungen" für die Ware und das Preisgut erklären zu können, und den Zusammenhang  aller  Preise nicht erkennt. "Im Akt der Verteilung aber" - nach TUGAN - "begegnen sich die Vertreter verschiedener sozialer Klassen" usw.

Ich kann auf die weiteren Ausführungen von TUGAN hier nicht eingehen. Es ist klar, daß er die Preisbildung zu wenig "sozial", die Einkommensbildung, die selbstverständlich durch die Preisbildung erklärt werden muß, zu "sozial" auffaßt, indem bei ihm nur die bekannten "Klassen", die der Sozialismus kennt, Kapitalisten und Arbeiter, ein Einkommen erzielen. Nach meiner Auffassung ist der ganze Verteilungsgedanke eine Fiktion, zu der man eben aufgrund der materialistischen Wirtschaftsauffassung greifen mußte. Mit der psychischen Auffassung der Wirtschaft entfällt ihre Notwendigkeit und die des merkwürdigen Umspringens aus der individualistischen Betrachtungsweise in die Soziologie, mit ihr braucht man sich nicht mehr alle Bezieher von Einkommen als in Klassen zusammengefaßt zu denken. Damit kann man dann den Preis "sozialer" und die Einkommen individualistischer erklären, braucht sie nicht mehr als eine bloße Klassenvergütung, als eine "gesellschaftliche" Erscheinung aufzufassen, kurzum Wirtschaftslehre und Gesellschaftslehre lassen sich dann trennen.

Denn, man kann nicht leugnen: was die heute beliebte enge Verknüpfung der Wirtschaftswissenschaft mit der Gesellschaftslehre verursacht hat, ist, abgesehen von historischen Gründen der Entwicklung der Wissenschaft und vom Einfluß, den die Tendenzen des Sozialismus, bewußt oder unbewußt, auf sie gehabt haben, nicht so sehr der Umstand, daß man die Verschiedenheit ihres Objekts nicht erkannte. Die Beobachtung zeigte doch schon zur Genüge, daß die wirtschaftlichen Probleme von denen der Klassenbildung, mochte man auch mit dem Sozialismus den Einfluß ökonomischer Momente auf diese noch so sehr überschätzen, doch völlig verschieden sind. Daß man dennoch beides nicht zu trennen vermochte, hat darin seinen Grund, daß man mit der materialistischen Auffasung der Wirtschaft und der Wertlehre die  allseitige Verflechtung,  das ganz allgemeine  gegenseitige Bedingtsein  aller tauschwirtschaftlichen Vorgänge nicht zu erklären vermochte. Man hatte die Empfindung, daß die tauschwirtschaftlichen Vorgänge sehr viel intensiver miteinander verknüpft sind, als das auf der materialistischen Grundlage die Wert- und Preislehre darzustellen vermochte. Das geht aus vielen neueren Schriften, insbesondere auch aus der erwähnten TUGAN-BARANOWSKYs hervor.

Und diese Empfindung ist der Hauptgrund,  weshalb man jetzt immer stärker den Charakter der Wirtschaftswissenschaft als Sozialwissenschaft betont und in einer stärkeren Anlehnung an die Soziologie, wie sie sich z. B. im "Grundriß der Sozialökonomik" ausspricht, einen Fortschritt für jene erblickt. Die Tatsache, daß alle Preise und alle Einkommen in einem Zusammenhang miteinander stehen, der man sich erst neuerdings bewußt zu werden anfängt, die aber in der ökonomischen Theorie noch keinen Niederschlag gefunden hat und auf ihrer bisherigen Grundlage auch nicht finden konnte, führte die Nationalökonomen zur Sozialwissenschaft. Nicht an den Einfluß der Staats- und der Rechtsordnung, nicht an die Erscheinungen der Klassenbildung und anderer gesellschaftlicher Momente denkt man in erster Linie, wenn man heute den Charakter der Nationalökonomie als Sozialwissenschaft betont, sondern daran,  daß durch das Geld im Tauschverkehr alle Preise und alle Einkommen gegenseitig bedingt sind.  Man denkt daran, daß, wenn auch zu einem ganz verschwindenden Teil, jeder Kauf, jede Art von Bedarfsbefriedigung durch den Tausch, alle Preise aller Güter und damit auch alle Einkommen beeinflußt. Das ist eine Tatsache, die man bis in die neueste Zeit nicht erkannt hat, die ganze österreichische Preistheorie, die heute die herrschende ist, ebenso aber die klassische, beruhen darauf, daß man glaubte, den Preis eines einzelnen Gutes aus den "Wertschätzungen" auf beiden Seiten erklären zu können, daß man glaubte, eine Preistheorie gegeben zu haben, wenn man erörterte, wieviele Güter bei gegebenen Wertschätzungen auf beiden Seiten und eventuell noch für das Tauschmittel ihren Besitzer wechseln. Die tatsächliche gegenseitige Bedingtheit aller Preise haben auch die meisten neueren Methodologen noch nicht erkannt, und noch viel mehr gilt das vom "sozialen" Charakter aller Einkommen, die immer noch als ein  spezielles Entgelt,  das im Verhältnis steht zu einer betreffenden individuellen Leistung, also wie der Preis rein individualistisch aufgefaßt werden.

Wenn ich nun zeige, daß ich mit dem individualistischen, d. h. dem psychischen Identitätsprinzip, nach dem wir also in den tauschwirtschaftlichen Erscheinungen nur Beziehungen zwischen Individuen, allerdings sehr komplizierte, sehen, diese doch unendlich viel "sozialer" erklären, d. h. die gegenseitige Bedingtheit aller Preise und aller Einkommen in einer Weise aufzeigen können, die auch für die Befürworter eines sozialen Identitätsprinzips nicht für möglich hielten, so ist nicht einzusehen, was mit der Wirtschaftswissenschaft als Sozialwissenschaft gewonnen sein kann. Der Charakter dieser Wissenschaft oder dieses Wissenschaftskomplexes ist so unbestimmt, daß daraus jedenfalls für das Wesen der Wirtschaftswissenschaft nichts abgeleitet werden kann.

Heutzutage aber ist es geradezu üblich geworden, mit dem Schlagwort  sozial  in den verschiedensten Zusammensetzungen die wirtschaftlichen Erscheinungen näher zu bestimmen und abzugrenzen. Je mehr man anfängt, zu erkennen, daß Wirtschaften nach der materialistischen Auffassung nichts anderes als Technik ist, umso mehr sucht man für die Abgrenzung des Inhalts der Wirtschaftswissenschaft sein Heil beim Wort "sozial". Mit dem Sozialen sucht man das Sozialökonomische aus dem Wirtschaftlichen schlechthin, mit dem Wirtschaftlichen dasselbe aus dem Sozialen abzugrenzen. Da aber beide Begriffe ganz unklar bzw. der des Wirtschaftlichen immer ganz falsch aufgefaßt ist, kann natürlich nichts dabei herauskommen.

Wie man mit dem Schlagwort "sozial" alles gesagt zu haben und auf jede nähere Bestimmung verzichten zu können glaubt, das könnte an zahlreichen Beispielen dargelegt werden. Es sei nur eines angeführt, das zeigt, wie bequem es sich manche Nationalökonomen in dieser Hinsicht machen. von ZWIEDINECK erklärt in seiner Auseinandersetzung mit meiner Preistheorie (Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 38, Heft 1, Seite 11)
    "im Anschluß an  Amonn  diese Feststellung des Begriffs des Wirtschaftlichen überhaupt als überflüssig für die Zwecke der theoretischen Nationalökonomie anzusehen (!), denn diese interessiert als Objekt nicht das Wirtschaftliche an den Tatsachen (!), sondern eine ganz bestimmte (!) Form sozialer Erscheinungen, eine eigenartige, in sich einheitliche, aber von anderen unterschiedene Kategorie von Sozialphänomenen. Denn das Wirtschaftliche als solches ist nicht faßbar." (23)
Punktum! Warum aber diese Methodologen noch von Wirtschaftswissenschaft sprechen und noch von Soziologie, ist  mir  nicht faßbar. Es ist doch wohl anzunehmen, daß jene eigenartige einheitliche Kategorie, die eine ganz bestimmte Form sozialer Erscheinungen von anderen unterscheidet, die  wirtschaftliche  ist. Die Wirtschaftswissenschaft kommt also selbstverständlich nie darum herum, das Wesen des Wirtschaftlichen zu definieren; es ist eben das als Erfahrungsobjekt Gegebene und es zeigt den Tiefstand der heutigen logischen Grundlagen, wenn man glaubt, seine Feststellung als überflüssig erklären zu können. Mag man noch so sehr das Wirtschaftliche als einen Unterbegriff des Sozialen auffassen, man kommt nicht darum herum, erstens dieses zu erklären und dann die  differentia specifica  [unterscheidende Merkmal - wp], die eben das Wirtschaftliche ist. Und wenn man, um eine besonderes  sozialökonomisches  Gebiet abzustecken, noch so viele beschränkende Voraussetzungen macht und insbesondere die Rechtsordnung in irgendeiner Form hereinzuziehen versucht, wie STAMMLER, STOLZMANN und AMONN das tun, immer muß man schließlich auch das  Wirtschaftliche  definieren.

Wie das nun aber geschieht, ob man sich der psychischen Auffassung anschließt oder die technisch-materialistische beizubehalten sucht: sobald man ein engeres Gebiet an "Sozialökonomik" abzugrenzen versucht, das  nur  die Verkehrsvorgänge umfaßt, setzt man sich mit der nun einmal nicht wegzuleugnenden Tatsache in Widerspruch, daß das Erfahrungsobjekt, das man im täglichen Leben als das wirtschaftliche bezeichnet, ganz zweifellos auch Erscheinungen umfaßt, die nicht als  soziales  Phänomen - ganz einerlei, wie man diesen allgemeinen und unklaren Ausdruck begreift - bezeichnet werden können. Schon daß man von jeher auch von einer Naturalwirtschaft gesprochen hat, sollte nicht einfach ignoriert werden. Und es ist kein Zweifel, auch der naturalwirtschaftliche Bauer wirtschaftet, er wirtschaftet nicht weniger als der, der nur  gelegentlich  mit dem Geldverkehr in eine Beziehung tritt, und nicht weniger als der, dessen ganze technische Tätigkeit, die "Produktion", auf den Gelderwerb gerichtet ist.

Die Vertreter der sozialen Betrachtungsweise gestehen dann auch zu, daß es außerhalb des von ihnen mehr oder weniger künstlich durch eine Rechtsordnung und dgl. abgegrenzten sozialökonomischen Phänomens auch noch andere wirtschaftliche Phänomene gäbe, von denen sie nur behaupten können, daß sie die Sozialökonomik als einen Zweig der Sozialwissenschaft nicht interessieren. Deswegen kommen ja von ZWIEDINECK u. a. zu der grotesken Behauptung, daß das Wirtschaftliche die Wirtschaftswissenschaft gar nicht interessiert. So bleibt schließlich als einzige wirkliche Begründung der sozialen Betrachtungsweise nur der Begriff  Sozialwissenschaft.  Nur weil man die Wirtschaftswissenschaft als eine Sozialwissenschaft betrachtet, konnte man den Versuch machen, aus ihrem Gebiet all das herauszuwerfen, was zwar zweifellos wirtschaftlich, aber nach irgendeinem  ad hoc  [hierfür - wp] konstruierten Begriff nicht  sozialwirtschaftlich  ist.

Es ist nun hier wieder darauf aufmerksam zu machen, daß dieser Versuch, welcher also einen Teil der zweifellos wirtschaftlichen Erscheinungen außerhalb des Gebietes der "Sozialökonomik" fallen läßt, nur gewissermaßen erzwungen wurde aufgrund der überlieferten  materialistischen  Auffassung der Wirtschaft. Nur weil man mit der bisherigen materialistischen Theorie die wirtschaftlichen Vorgänge niemals von der Technik abgrenzen und zu einer richtigen Erklärung der Geldtauschvorgänge, der Einkommens- und der Preisbildung gelangen konnte, hat man die soziale Regelung als Identitätsprinzip herangezogen. Der Ausdruck "Sozialwissenschaft war dabei nur ein Hilfsmittel, auf das man sich zur Begründung für die Wahl jenes merkwürdigen Identitätsprinzips stützen konnte.

Es ist aber klar, wenn es gelingt, aufgrund einer anderen Auffassung des Wirtschaftlichen alle wirtschaftlichen Erscheinungen einheitlich zu erklären und sie als ein einheitliches Erkenntnisobjekt zu erfassen, daß diese einheitliche Wirtschaftswissenschaft, mag man sie nun als Sozialwissenschaft bezeichnen oder nicht, jener mit allen möglichen gekünstelten Voraussetzungen arbeitenden Sozialökonomik, deren Hauptbegriffe immer unklare soziale Schlagwörter bleiben müssen, gewaltig überlegen sein wird.

Trotzdem habe ich keinerlei Bedenken, die Wirtschaftswissenschaft als Sozialwissenschaft zu klassifizieren, da zweifellos vor allem die tauschwirtschaftlichen Probleme ihr Objekt bilden. Wir werden aber im folgenden Paragraphen sehen, daß sie eine Kulturwissenschaft selbst dann wäre, wenn alle Menschen isoliert wirtschaften würden. Aber durchaus widersprechen müssen wir, wenn man aus der Bezeichnung der Wirtschaftswissenschaft als Sozialwissenschaft Schlüsse für die Bestimmung des Wesens der Wirtschaft ziehen, ihr Identitätsprinzip damit gewinnen will. Der Begriff der Sozialwissenschaft kann immer nur ein Hilfsmittel für die Philosophie bilden, für die Erkenntnis ökonomischer Probleme ist er bedeutungslos.

Es muß energisch verlangt werden, daß alle diejenigen, die immer das Schlagwort  sozial  im Mund führen und damit wirtschaftliche Erscheinungen abgrenzen wollen - wir haben zahlreiche Beispiele dafür gegeben - jedesmal klar definieren, was sie darunter verstehen. Geschieht das nicht, so bleiben die Erörterungen solcher "Soziologen" ganz unwissenschaftlich. Wie wir uns die Abgrenzung der Sozialwissenschaften denken, darüber hier nur wenige Worte.

Der Begriff der "Sozialwissenschaft", der alle denkbaren Beziehungen zwischen Menschen umfaßt, ist so allgemein, daß mit ihm für die Erkenntnis spezieller menschlicher Beziehungen gar nichts gewonnen ist. Er umfaßt die Gesellschaftslehre, die Rechts- und Staatswissenschaften ebenso wie die Philologie, die verschiedenen Zweige der Ethnologie und Ethnographie, Pädagogik usw., eventuell auch Religion, Kunstwissenschaften u. a. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, in diesem weiten Sinn des Begriffs  Sozialwissenschaft  die Stellung der Wirtschaftswissenschaft in ihm näher zu bestimmen. Nur über die Abgrenzung der Wirtschaftswissenschaft gegenüber der Gesellschaftslehre (24) und den Rechts- und Staatswissenschaften soll folgendes gesagt sein. Auf dem großen Gebiet der Beziehungen der Menschen zueinander gibt es eine Gruppe, welche weniger die rein  geistigen Beziehungen  der Menschen als die Erscheinungen  ihres Zusammenlebens  umfaßt. Die Beziehung äußern sich auch oft, aber keineswegs immer, in äußeren Formen des Zusammenlebens, in Einrichtungen und Veranstaltungen, auch in einer gemeinsam vereinbarten oder durch Institutionen geschaffenen Regelung. Alle diese Wissenschaften, die sich mit solchen  Formen des Zusammenlebens  der Menschen im Gegensatz zu ihrem geistigen Verkehr (Sprache, auch Religion, Kunst usw.) beschäftigen, nennen wir  Sozialwissenschaften.  Es kann natürlich keine Rede davon sein, daß man die so unter gleichartigen Bedingungen zusammenlebenden Menschen nun ohne weiteres als eine  Einheit  aufzufassen hat, vielmehr ist die individualistische Betrachtung natürlich zunächst durchaus beizubehalten.

Es gibt nun zwei große Gruppen von Sozialwissenschaften, von denen die eine die  Beziehungen der Individuen zueinander,  allein oder in Gruppen, die andere  ihre Beziehung zu übergeordneten Organisationen  und eventuell deren  Beziehungen zueinander  umfaßt. Oder, wie man es auch ausdrücken kann, die eine Gruppe umfaßt die Erscheinungen, die  dadurch entstehen, daß die einzelnen Menschen selbst die Zwecke ihres Zusammenlebens verwirklichen,  die andere Gruppe umfaßt die Erscheinungen, in denen die Menschen  durch ihnen übergeordnete Organisationen,  die sie sich natürlich dafür geschaffen haben,  die Zwecke ihres Zusammenlebens verwirklichen.  Letztere Kann man als  politische Wissenschaften  bezeichnen, es gehören dahin Rechtswissenschaft, Staatslehre, politische Geschichte usw. Die erste Gruppe zerfällt wieder, je nach dem Zweck der Individuen, in zwei Wissenschaften:  Gesellschaftslehre,  welche die aus  gleichgerichteten Zwecken und Interessen hervorgehenden Bildungen umfaßt, und Wirtschaftslehre,  welche die aus  entgegengesetzten Zwecken der Individuen hervorgehenden Bildungen umfaßt.  Zur Gesellschaftslehre gehören also die Bildungen:  Klassen, Stände, Volk, Nationen  usw., zur Wirtschaftslehre die Erscheinungen des Tauschverkehrs (25). Man erkennt leicht, daß, wie es auch durchaus den Problemen der beiden Wissenschaften entspricht, die  wirtschaftlichen Vereinigungen zu gemeinsamen Zwecken,  die  Gesellschaftsunternehmungen, Genossenschaften, Fachvereine, Verbände, Kartelle  usw. beiden Wissenschaften zugehören können. Die Wirtschaftslehre betrachtet ihre wirtschaftlichen Ursachen und Wirkungen, die Gesellschaftslehre die inneren Beziehungen der Interessenten zueinander. Das schließt natürlich nicht aus, daß auch die übrigen gesellschaftlichen Erscheinungen, Klassen, Volk usw. wirtschaftliche Ursachen der gesellschaftlichen Bildungen selbstveständlich im größten Umfang vorhanden sind, aber die Selbständigkeit der beiden Erkenntnisobjekte nicht beeinträchtigen.

Wie einseitig heute oft die soziologische Betrachtung anstelle der ökonomischen vorgenommen wird, das kann man z. B. an der neueren  Kartell-Literatur  gut zeigen. Manche jüngere Nationalökonomen erkennen gar nicht mehr den Monopolcharakter als ökonomische Haupterscheinung, Zweck und Wirkung dieser Bildungen, sondern betrachten nur die innere Organisation, die verschiedenen Beziehungen zwischen den Kontrahenten, die losere oder festere  "Konzentration",  wie der echt soziologische, für die Unklarheit der Begriffe dieser Wissenschaft typische Ausdruck lautet, der von vielen heute mit Vorliebe verwendet wird. Daß in der ökonomischen Theorie die Kartelle und Trusts in erster Linie als Maßregeln im  Tauschverkehr,  also im Anschluß an eine, allerdings bisher noch fehlende wirkliche  Konkurrenz- und Monopoltheorie  zu betrachten sind, davon haben unsere Soziologen keine Ahnung, weil man eben bisher Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaft überhaupt nicht zu unterscheiden wußte.


3. Die Volkswirtschaftslehre
als Kulturwissenschaft

Es ist mit Recht von MAX WEBER, ALFRED AMONN und anderen Methodologen darauf aufmerksam gemacht worden, daß eine Wissenschaft den ihr eigentümlichen Problemkomplex durch die Erfahrung und das Denken des alltäglichen Lebens erhält, das auch schon die wichtigsten Begriffe prägt, mit denen man ein Erfahrungsobjekt, wenn auch noch unklar, abgrenzt. Die Wissenschaft hat also nur die Aufgabe, das logisch Einheitliche in ihm zu finden und dadurch ein scharf umrissenes Erkenntnisobjekt zu gestalten. Anders ausgedrückt: von der Philosophie, der allgemeinen Wissenschaftslehre her läßt sich nicht bestimmen, was Inhalt einer Wissenschaft ist oder sein sollte.

Gegen dieses Ergebnis der neueren Logik fehlen nun charakteristischerweise gerade diejenigen Nationalökonomen, die heute mit Vorliebe Philosophie treiben. Schon die Bestimmung des Inhalts der Sozialökonomik aus dem Begriff der Sozialwissenschaft ist ein Verstoß gegen jene logische Regel. Denn der Inhalt derselben, das Identitätsprinzip des Sozialen, ist so unbestimmt, daß damit für die Wirtschaftswissenschaft nichts gewonnen werden kann.

Denselben Fehler aber begehen manche unserer philosophierenden Nationalökonomen, wenn sie mit dem Begriff  Kulturwissenschaft  operieren und von ihm aus für den Inhalt und das Wesen der Wirtschaftwissenschaft Erkenntnisse ableiten wollen. Als ein Beispiel seien hier nur die Ausführungen von SCHULZE-GÄVERNITZ angeführt ("Privatwirtschaftslehre" in  Die private Unternehmung und ihre Betätigungsformen, 1914, Heft 1, Seite 75, und "Wirtschaftswissenschaft", 1915, Seite 6). Nach ihm ist Wirtschaftswissenschaft die Kulturwissenschaft, die
    "aus der unendlichen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen dienenigen herausliest, welche  wirtschaftlich  bedeutsam sind, d. h. wesentlich für die Unterwerfung der äußeren Natur durch menschliche Tätigkeit unter die Zwecke der menschlichen Bedürfnisbefriedigung:  Sachgüterbeschaffung  im weitesten Sinne (Herstellung, Verteilung, Verbrauch), als solche stets eine  Form- oder Ortsveränderung  des Stoffes. Objektive Voraussetzung für ein solches Gebiet von Erscheinungen ist eine gewisse Beschränktheit der Natur gegenüber dem sich in das Unbegrenzte entfaltende Bedürfnis" usw.
Im Gegensatz zu von ZWIEDINECK erkennt also von SCHULZE-GAEVERNITZ, daß auch die Sozialökonomik als unterscheidendes Merkmal von anderen Zweigen der Sozialwissenschaft das  Wirtschaftliche  definieren muß, und tut das natürlich in Übereinstimmung mit der bisherigen Theorie, aber in Widerspruch mit den Tatsachen des wirtschaftlichen Lebens mit dem Gesichtspunkt  Sachgüterbeschaffung.  Auf der folgenden Seite heißt es dann aber:
    "rein individual-wirtschaftliche Tatsachen als solche scheiden aus dem Bereich der wirtschaftswissenschaftlichen Betrachtung aus. Wirtschaftswissenschaft im weitesten sinne also ist die Wissenschaft von der Unterwerfung der äußeren Natur unter die  Zwecke  der Gesellschaft!"
Und wieder auf der folgenden Seite wird die Unterscheidung von Wirtschaft und Technik folgendermaßen vorgenommen:
    "Wirtschaft und Technik? Der Mensch kämpft den Kampf mit der Natur nicht nur für gesellschaftliche Zwecke (!), sondern weithin auch im Zusammenwirken mit seinesgleichen, also mit gesellschaftlichen Mitteln. Der Mensch tritt als Gruppe über die Schwelle der Geschichte: hiernach scheidet sich Technik und Wirtschaft im engeren Sinne:  Volkswirtschaft.  Unter  Technik  verstehen wir die Wege, die der Mensch im  unmittelbaren  Kampf mit der Natur beschreitet - zuerst in roher Empirie, später unter Beratung der Naturwissenschaft in einem rationalen Verfahren. Unter  Volkswirtschaft  dagegen verstehen wir denselben Kampf, soweit er mit gesellschaftlichen Mitteln geführt wird, also Beziehungen von Mensch zu Mensch herstellt."
Also kurz gesagt: Technik und  Wirtschaft  unterscheidet sich gar nicht, nur Technik und  Volkswirtschaft!  Das ist die Konsequenz dieses krassen Materialismus, der natürlich auch unter Technik nur materielle Technik versteht, also von dem viel allgemeineren Sinn dieser Begriffe als "Teilerscheinungen des allgemeinen Ratonalitätsprinzips" keine Ahnung hat!

Dann heißt es:
    "Unter Wirtschaftswissenschaft in einem engeren Sinn,  Volkswirtschaftswissenschaft (Sozial-  oder  Nationalökonomie),  verstehen wir demnach die Wissenschaft von der Unterwerfung der äußeren Natur unter die Zwecke der Gesellschaft mit gesellschaftlichen Mitteln."
Hier gilt nun alles, was wir im Kapitel über den Zweck in der Volkswirtschaft gegen STOLZMANN gesagt haben. Mit bemerkenswerter Offenheit ist hier immer vom Phantasiegebilde der "gesellschaftlichen Zwecke" die Rede! Über den Inhalt dieses Begriffs sagt SCHULZE-GAEVERNITZ kein Wort. Während als Zweck der Wirtschaft "Bedürfnisbefriedigung" angegeben wird, die allerdings in der hergebrachten Weise mit Sachgüterbeschaffung identifiziert wird (26), ist "Wirtschaftswissenschaft im engeren Sinne", Sozial- oder Nationalökonomie, die Wissenschaft von der Unterwerfung der äußeren Natur unter die Zwecke der Gesellschaft (!) mit gesellschaftlichen Mitteln! Dieses Umspringen zu den Zwecken der  Gesellschaft  braucht der Verfasser natürlich, um die Sozialökonomik von der Technik zu unterscheiden (27). Wie aber, wenn ich, mit genauso gutem Recht, auch die Technik als einen Zweck der Gesellschaft bezeichne? Dann ist "Sozialökonomik" eben Technik. Was versteht er aber überhaupt unter gesellschaftlichen Zwecken und gesellschaftlichen Mitteln? Nach SCHULZE-GAEVERNITZ wäre z. B. die Herstellung von Wasserstoff in einem Universitätslaboratorium Gegenstand der Sozialökonomik, nicht dagegen, wenn ich mir ein Konzerbillet kaufe. Solange man mit so unklaren Begriffen operiert, ohne sie auch nur im mindesten zu definieren, ist eigentlich jede Kritik überflüssig.

von SCHULZE-GAEVERNITZ bezeichnet das Moment: Sachgüterbeschaffung als ein richtiges Auswahlprinzip der Sozialökonomik als Kulturwissenschaft, "insofern als die Verwirklichung der Kulturaufgaben ohne sie unmöglich ist". Ich erlaube mir die Anfrage, ob das auch für die Alkoholbereitung, Herstellung von Geheimmitteln, Kanonenfabrikation und dgl. gilt, und ob, soweit das nicht der Fall ist, die damit in Verbindung stehenden Handlungen keine wirtschaftlichen sind? Und ob andererseits ein Konzert, eine wissenschaftliche Vorlesung, eine ärztliche Konsultation, ein juristischer Rat, eine Fahrt auf der Eisenbahn, alles gegen Bezahlung, obwohl sie zweifellos kulturfördernd sind, deswegen nicht Gegenstand der Wirtschaftswissenschaft sein können, weil es sich nicht um eine "Sachgüterbeschaffung" handelt? Und was sind sie sonst und Gegenstand welcher Wissenschaft? Es ist ein starkes Stück, das sich unsere Soziologen da leisten: auf der einen Seite die Betonung der Wirtschaftswissenschaft als Kulturwissenschaft mit dem Auswahlprinzip allgemeiner Kulturwerte, auf der anderen Seite zugleich der krasseste Materialismus und eine Verwechslung der Wirtschaft mit der materiellen Technik, Sachgüterbeschaffung als Auswahlprinzip der Wirtschaftswissenschaft!

Die Unmöglichkeit dieser Konstruktion spricht aus jeder Zeile; z. B.: "der Mensch kämpft den Kampf mit der Natur nicht nur für gesellschaftliche Zwecke!" Daß der Mensch den Kampf mit der Natur  überhaupt nicht  für gesellschaftliche Zwecke, sondern für seine eigenen Zwecke, für seine und seiner Familie Bedarfsbefriedigung aufnimmt, das scheint unseren Soziologen eine viel zu selbstverständliche Erscheinung zu sein, als daß sie Gegenstand einer Wissenschaft sein könnte. Wenn von SCHULZE-GAEVERNITZ mir jemals einen Bauer oder Arbeiter zeigen kann, der ihm gesagt hat, daß er "den Kampf mit der Natur für gesellschaftliche Zwecke" führt, will ich mich auch zur sozialen Betrachtungsweise bekennen und die Weiterführung der ökonomischen Theorie vertrauensvoll ihren Vertretern überlassen. Daß ein solcher Mensch, der nicht "gesellschaftliche Zwecke" verfolgt, auch wirtschaftet, daß der Begriff  Wirtschaft,  ganz einerlei, wie man ihn faßt, schließlich auch auf einen  Robinson  anwendbar sein müßte, und daß selbst dann die Wirtschaftswissenschaft nicht aufhören würde, eine Kulturwissenschaft zu sein, obgleich natürlich mit diesem Begriff für wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse gar nichts gewonnen ist, das ist aber nicht schwer einzusehen. Ebenso ist der Widerspruch mit Händen zu greifen, der sich in den obigen Sätzen von SCHULZE-GAEVERNITZ findet und der darin zum Ausdruck kommt, daß einmal als das Auswahlprinzip der Wirtschaftswissenschaft "die Unterwerfung der äußeren Natur unter die Zwecke menschlicher Bedürfnisbefriedigung", dann aber die "Unterwerfung der äußeren Natur unter die Zwecke der  Gesellschaft"  angegeben ist. Das auf einem Raum von 3 Seiten! Es ist also gar nicht wahr, daß nach dieser Auffassung die Wirtschaftswissenschaft durch diejenigen Erscheinungen bestimmt wird, welche "wirtschaftlich bedeutsam" sind, sondern sie wird durch die "Zwecke der Gesellschaft" bestimmt, durch "das gesellschaftliche Ganze", das man stets in die Begriffsbestimmung der Wirtschaftswissenschaft hineingezogen hat.

Es ist klar: eines von beiden muß fallen. Die Verbindung dieser beiden Auswahlprinzipe wird durch das Erfahrungsobjekt als unmöglich erwiesen. Wenn sie etwas mehr das Wirtschaftsleben beobachtet hätten, hätten unsere Kulturwissenschaftler erkennen müssen, daß gerade, wer von solchen Kulturwerten ausgehen will, das Wesen der Wirtschaft nicht nur in der Sachgüterbeschaffung sehen kann. Wirtschaftliche Mittel werden ebensowohl für wissenschaftliche und künstlerische Zwecke aufgewendet, welche zu den höchsten Kulturzwecken gehören. Mit anderen Worten, die materialistische Auffassung der Wirtschaft scheitert auch hier wieder an den  Geldausdrücken,  indem die wirtschaftlichen Mittel in Geld genauso für immaterielle Zwecke wie für die Sachgüterbeschaffung verwendet werden. Mit ein wenig Beobachtungsgabe hätte man sich das schon längst sagen können.

Diese ganze Auffassung erhält nun dadurch ihren besonderen Charakter, und es liegt eine gewisse Ironie darin, daß die Kulturwissenschaftler ihr gesellschaftliches Moment, die "gesellschaftlichen Zwecke" ja gerade deswegen einführen, um über die materialistische Auffassung hinauszukommen. Deswegen erklärt ja von SCHULZE-GAEVERNITZ ausdrücklich: das Wirtschaften des Einzelnen ist Technik, nur die Volkswirtschaft ist Wirtschaft, Wirtschaft "im engeren Sinne". Aber auch dieses soziale Auswahlprinzip.  Volkswirtschaft, Sozialwirtschaft, gesellschaftliche Zwecke  als Gegenstand der Wirtschaftswissenschaft, ist falsch, identifiziert die Wirtschaftslehre mit sonstigen Sozialwissenschaften und umfaßt andererseits zweifellos keine wirtschaftlichen Erscheinungen. Gerade die Volkswirtschaft ist  keine  Wirtschaft, sondern nur ein unzweckmäßiger Ausdruck für wirtschaftliche Beziehungen zwischen den Angehörigen eines Volkes.

Es gibt kaum ein größeres Mißverständnis, als wenn von SCHULZE-GAEVERNITZ, nachdem er zuerst betont hat: "Technik z. B. ist die Dreifelderwirtschaft - ein Verhältnis von  Mensch  zu Natur", fortfährt: "volkswirtschaftliches Verhältnis dagegen ist der Flurzwang und die Gemengelage, wobei Mensch zu Mensch in Beziehung tritt." Flurzwang ist die rechtliche Regelung technischer Tätigkeiten, und Gemengelage ist ein technischer, d. h. von ihren technischen Wirkungen hergenommener Ausdruck der rechtlichen Tatsache eines Streubesitzes an landwirtschaftlichen Parzellen. Dadurch, daß den landwirtschaftlichen Betrieb mit 3 Feldern auch ein Einzelner betreiben kann, aber zur Gemengelage mehrere Besitzer gehören, wird die letztere noch keine sozialwirtschaftliche Erscheinung. Wirtschaftliche Ursachen und wirtschaftliche Wirkungen hat aber diese landwirtschaftliche Technik ebenso wie jene Rechtsverhältnisse und ist daher ebenso wie sie auch für die Wirtschaftswissenschaft bedeutsam. Das kann man freilich nur mit der psychischen Auffassung der Wirtschaft erkennen, daß nicht die Tätigkeit der Bestellung von 3 Feldern selbst, sondern die Erwägungen, die dahinter stehen, Wirtschaft sind.

Vor allem aber, wenn man den Inhalt der Wirtschaftswissenschaft so faßt, sind die grundlegenden Erscheinungen des Tauschverkehrs, ist der ganze tauschwirtschaftliche Mechanismus nicht zu erklären. Was nützt es mir für die wichtigsten Aufgaben der Wirtschaftswissenschaft, wenn ich noch so schön den modernen "Kapitalismus" als gesellschaftliche Erscheinung erörtere und aus dem "kapitalistischen Geist" entwickeln kann, wenn ich keine Ahnung habe, wie der Kapitalzins zu erklären ist. Solange über das Wesen des Kapitals selbst noch die größten Unklarheiten bestehen, muß die Erkenntnis des Kapitalismus als einer bestimmten wirtschaftlichen Epoche sehr mangelhaft sein. Und von allen diesen Soziologen hatte bisher keiner eine Ahnung, wie der Kapitalzins zu erklären ist, sonst hätten sie schon längst die BÖHM-BAWERKsche Theorie kritisiert. Aber keiner scheut sich, sie in seinen Vorlesungen vorzutragen.

Und ich möchte einmal sehen, wenn ich vor der Veröffentlichung meiner Schriften unseren Kulturwissenschaftler z. B. die Frage nach dem Verhältnis von Preis und Kosten, ob der Preis die Kosten oder die Kosten den Preis bestimmen, vorgelegt hätte, was für Antworten ich dann bekommen hätte! Es ist klar, daß sie der Lösung dieses Grundproblems, ohne die von einem Verständnis des tauschwirtschaftlichen Mechanismus nicht die Rede sein kann, mit ihrer Theorie keinen Schritt näher kommen. Und so ist kein Zweifel, daß alle die Prbleme, die die ökonomische Wissenschaft seit mehr als 100 Jahren beschäftigten, und die darauf hinauslaufen, den Mechanismus des Tauschverkehrs aus seinen Elementen, den wirtschaftlichen Handlungen der einzelnen Menschen heraus zu erklären, von den Kulturwissenschaftlern und Soziologen niemals gelöst werden können. Niemand aber wird bestreiten können, daß das wissenschaftliche Probleme sind. Man fördert aber die wissenschaftliche Erkenntnis nicht dadurch, daß man sie beiseite schiebt und an ihre Stelle so unklare und mit zahllosen Voraussetzungen belastete Begriffe wie  soziale Verkehrsbeziehungen, Sozialwirtschaft, soziale Gestaltungen, gesellschaftliche Zwecke,  und wie alle diese schönen Phrasen heißen, setzt. -

Wenn wir nun auch auf die Frage der Wirtschaftswissenschaft als Kulturwissenschaft zu sprechen kommen, so geschieht es natürlich nicht, weil wir damit das eigentliche Wesen der Wirtschaft erfassen zu können hoffen, sondern nur um zu zeigen, daß, auch von dieser Seite her betrachtet, die "soziale Betrachtungsweise" unlogisch ist und den wirtschaftlichen Problemen nicht gerecht werden kann. Allerdings erscheint uns die Auffassung der Kulturwissenschaftler so, wie sie von SCHULZE-GAEVERNITZ vertritt, als die Lehre von den Erscheinungen, die allgemeine Kulturwerte verwirklichen, unhaltbar und auch den Anschauungen der Begründer dieses Terminus nicht zu entsprechen. Mit diesen "Kulturwerten" kann man ja das vorher in eine Wissenschaft hineintragen, was man nachher als ihr Objekt in ihr wiederfinden will. Man bezeichnet irgendeinen Gegenstand als einen Kulturwert, nachher ist die Beschäftigung mit ihm eine Kulturwissenschaft. "Gesellschaft in diesem Sinne - sagt von SCHULZE-GÄVERNITZ (Seite 7) im Anschluß an MAX WEBER - ist ein teleologischer Begriff: dasjenige Zusammensein von Menschen, welches bedeutsam ist für die Entstehung und den Fortschritt der Kultur", und Sachgüterbeschaffung sei auch bedeutsam für die Kultur, "insofern als die Verwirklichung der menschlichen Kulturaufgaben ohne sie unmöglich ist". Hier tauch wieder die schon von AMONN aufgeworfene Frage auf: Was hat denn die Sachgüterbeschaffung mit dem Zusammensein von Menschen zu tun? Zweifellos ist auch unabhängig vom "Zusammensein der Menschen" die Verwirklichung der menschlichen Kultur ohne Sachgüterbeschaffung nicht möglich. Die Betrachtung der Naturalwirtschaft wäre also ebenso gut "Kulturwissenschaft". Weshalb also noch die Beziehung auf höchst unklare Zwecke der Gesellschaft?

Man erkennt aber, daß es mit diesem Begriff der Kulturwissenschaft nicht zu stimmen scheint. Ich will nicht näher ausführen, ohne was alles die Verwirklichung der menschlichen Kulturaufgaben unmöglich wäre! Wenn das alles Objekte der Kulturwissenschaften wären! Aber das sei gesagt: wenn die Lehre von der "Sachgüterbeschaffung" Kulturwissenschaft ist, und "die Verwirklichung der menschlichen Kulturaufgaben ohne sie unmöglich ist", so sind alle Naturwissenschaften, z. B. Physik und Chemie, Maschinenbaukunde usw. viel eher Kulturwissenschaften als etwa die Philologie und die römische Rechtsgeschichte.

Unterscheidet man mit von SCHULZE-GAEVERNITZ Natur- oder Seinswissenschaft und Wissenschaft der Zwecke, Kulturwissenschaft, so ist - darauf sei noch besonders aufmerksam gemacht -, gerade wenn man am Gedanken der  "Sozial ökonomik" festhält und ihr Objekt auf die Erklärung der  Tauschvorgänge  beschränkt, sie eine  Seins-  oder  Naturwissenschaft,  keine Wissenschaft der Zwecke, keine Kulturwissenschaft, wenn man nur auf die künstliche und überflüssige Konstruktion des "sozialen Zweckgebildes" verzichtet. Denn wohl verfolgen die einzelnen Menschen mit ihrer Privatwirtschaft Zwecke, diese Zwecke sind aber  niemals das Objekt  der Wirtschaftswissenschaft, auch nicht bei individualistischer Betrachtungsweise. Sondern ihr Objekt sind die daraus hervorgehenden  wirtschaftlichen Beziehungen und Vorgänge.  Diese sind aber kein Ergebnis gemeinsamer "gesellschaftlicher" Zwecke, sie sind nicht Gebilde des Sollens, sondern Seinsgebilde, sind nicht durch einen übereinstimmenden "gesellschaftlichen" Willen geschaffen, sondern sind von selbst entstanden aus den individuellen Zwecken der Einzelnen, und zwar aus individuellen Zwecken, die nicht  gleich  gerichtet, sondern  verschieden gerichtet  waren. Der Tauschverkehr entsteht nicht aufgrund eines bewußten Kollektivwillens, sondern einzig und allein aufgrund individueller Zwecke. Anfangs tauschten nur wenige Leute gelegentlich, allmählich wurden alle für den Tausch tätig, aber der Tauschverkehr, die Preis- und Einkommensbildung, sind niemals ein Ergebnis gesellschaftlicher Zwecke, sind niemals durch einen gemeinsamen Willen "eingerichtet", sondern sie entstehen gewissermaßen  naturgesetzlich,  weil die einzelnen Menschen ihrem individuellen Zweck, dem Streben nach höchstem Ertrag, folgen.

Es sei dies hier wiederum an dem gerade für unsere Auffassung ungünstigen Beispiel erläutert, am Geld. Zwar ist das Geld, das den heutigen Tauschverkehr vermittelt, ein "Geschöpf der Rechtsordnung"; das heutige Geldsystem eines bestimmten Staates beruth aber nicht auf einem gemeinsamen Zweck, der, wie STOLZMANN meint, mit den Zwecken der Einzelwirtschaften identisch ist. Sondern eines bestimmten  Staates,  der den Einzelwirtschaften  übergeordnet  ist. Die Erklärung der allgemeinen Tauschvorgänge abstrahiert aber von der besonderen Art der Regelung, weil sie in erster Linie das allem Tauschverkehr mit Geld Gemeinsame, die Bildung von Geldpreisen und Geldeinkommen zu erklären hat, für welche die besondere  Regelung  des Geldwesens gleichgültig ist.  Entstanden  ist das Geld als ökonomische Erscheinung niemals durch einen gemeinsamen Willen, sondern durch die individuelle Bevorzugung gewisser Güter, die man leicht aufbewahren und wieder absetzen konnte, wodurch sie zum Tauschmittel wurden. Und auch die heutigen Geldsysteme sind keineswegs ganz Geschöpfe der Rechtsordnung, sondern das Verhältnis der Währungseinheiten zu den Edelmetallen geht letzten Endes auf die ältesten individuellen Schätzungen für diese zurück. Jedenfalls kommt bei der allgemeinen Erklärung der Preis- und Einkommensbildung das Geld nicht als eine "soziale", durch die Rechtsordnung geschaffene Tatsache, sondern als eine sozusagen naturwissenschaftliche Tatsache in Betracht. Die Preis- und Einkommenslehre legt "das Geld" als eine vorhandene Tatsache zugrunde, ihre Sätze gelten ganz allgemein für jeden Tauschverkehr mit Geld ohne Rücksicht auf das Geldsystem, einerlei, ob hundert oder Millionen Menschen  eines  "Volkes" oder der verschiedensten Volkswirtschaften daran teilnehmen. Und wenn andererseits in der Geldlehre das Zustandekommen eines allgemeinen Tauschmittels zu erklären ist, ist es nicht dadurch erklärt, daß man sagt, der Staat hat das Geld ebenso geschaffen, sondern wirtschaftlich ist die Entstehung des Geldes erst erklärt, wenn man es mit den Bestrebungen der einzelnen Wirtschaftssubjekte in Beziehung bringt.

Es ist richtig: die Wirtschaftswissenschaft hat es mit Zwecken und Mitteln "zu tun", insofern als ihr Erfahrungsobjekt, die tauschwirtschaftlichen Erscheinungen, auf Vorgänge zurückgehen, die sich logisch als Zwecke und Mittel klassifizieren lassen. Aber nicht diese Zwecke und Mittel sind ihr Erkenntnisobjekt, und deswegen ist sie keine Wissenschaft von den Zwecken, sondern an die Zweck knüpft die  Kausalitätsbetrachtung  an: die  Wirkungen  als gegeben angesehener Zwecke, eben die  Tauschverkehrsvorgänge  oder auch die  Struktur einer in den Tauschverkehr verflochtenen Einzelwirtschaft, die sind das Objekt der Wirtschaftswissenschaft.  Zweck und Mittel ist nur die logische Kategorie des Objekts, an das die Kausalbetrachtung der Wirtschaftswissenschaft anknüpft. Deswegen sagte ich in einem früheren Aufsatz, daß das wirtschaftliche Prinzip: eine möglichst vollkommene Zweckerreichung mit möglichst geringem Aufwand an Mitteln in der Wirtschaftswissenschaft nicht seinem Inhalt nach: Art der Zwecke, Art der Mittel, sondern  als rein formales Prinzip  in Betracht kommt. Die  Auswirkungen  dieses Prinzips im Handeln der Menschen, insbesondere im Verhältnis mehrerer Personen, sind wirtschaften und das Objekt der Wirtschaftswissenschaft, aber nicht der Inhalt der Mittel und Zwecke, nicht das Wesen der Mittel, das Objekt der Zwecke bestimmt die Wirtschaft.

Diese Handlungen der einzelnen Menschen, diese Tauschvorgänge und Veranstaltungen, die sich aufgrund des wirtschaftlichen Prinzips ergeben, sind, trotzdem sie vielfach, längst nicht alle, unter den von der Rechtsordnung gegebenen Regeln erfolgen, gewissermaßen naturgesetzliche, naturwissenschaftliche Vorgänge. Unter den gleichen wirtschaftlichen Bedingungen - von den nichtwirtschaftlichen abstrahier die Wirtschaftstheorie, wenigstens bei der Erörterung der allgemeinen Grundlagen - tritt  immer  die gleiche Wirkung ein. Wenn  B  das Gut des  A, A  das des  B  höher schätzt, tritt für die Wirtschaftstheorie, die eben  homines oeconomici  zugrunde legt, unter allen Umständen ein Tausch ein, der Preis wird unter allen Umständen durch Grenzkosten plus oder Grenznutzen minus tauschwirtschaftlichen Grenzertrag bestimmt; sind die Kosten mehrerer Anbieter verschieden, so entstehen  immer  Differentialgewinne; aufgrund des Ertragsstrebens hat der billigste Anbieter  immer  die Tendenz, den ganz Bedarf zu decken; in der Wirtschaftstheorie werden Geldsummen  immer  nur gegen Zins ausgeliehen, weil die Schenkungen und zinsloses Leihen für die allgemeine Erklärung des tauschwirtschaftlichen Mechanismus keine Rolle spielen usw.

Wäre danach die Wirtschaftswissenschaft also eine Natur- oder Seinswissenschaft? Man kann sie zweifellos so auffassen. Wir überlassen aber die Entscheidung dieser Frage den Philosophen, weil wir nichts weiter sein wollen als theoretische Nationalökonomen und für uns ist daher die Entscheidung jener Frage ganz gleichgültig.

Immerhin aber wollen wir auf das merkwürdige Resultat aufmerksam machen, daß gerade, wenn man die Wirtschaftswissenschaft als Sozialwissenschaft auffaßt, d. h. nur die tauschwirtschaftlichen Beziehungen als ihr Objekt ansieht, sie  keine  Kulturwissenschaft, sondern eine Seinswissenschaft ist: denn dann ist sie keine Wissenschaft von Zwecken, sondern von Erscheinungen, die sich aufgrund gewisser, aber nicht näher untersuchter Zwecke naturgesetzlich ergeben.

Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus? Unbeschadet des Umstandes, daß ich den Gegensatz von Natur- und Kulturwissenschaft nicht als absolut ansehen kann, und daß je schließlich die Einreihung der Wirtschaftswissenschaft unter diese oder jene Kategorie für sie ganz gleichgültig ist, glaube ich doch, daß man die Kulturwissenschaft im Sinne von RICKERT und WEBER nicht einfach als das "Reich der Zwecke" bezeichnen darf. Kulturwissenschaft ist keine Untersuchung von Zwecken, denn die Beurteilung von Zwecken, des Seinsollens ist ja eine teleologische Betrachtung, die überhaupt nicht Wissenschaft sein kann. Sondern soweit sich die Kulturwissenschaft überhaupt mit Zwecken befassen, sind sie eine Betrachtung der  Wirkung  von Zwecken. Sie betrachtet Erscheinungen unter einem  Wert gesichtspunkt, wozu auch der Begriff  Zweck  gehört.  Darin  liegt der Gegensatz zu den Gesetzes- oder Naturwissenschaften.
    "Die empirische Wirklichkeit" - sagt  Max Weber (28) - ist für uns Kultur, weil und sofern wir sie mit Wertideen in Verbindung setzen, sie umfaßt diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, welche durch jene Beziehung für uns bedeutsam werden und nur diese."
Und zwar müssen die zu erklärenden Tatsachen  allgemeine Kulturbedeutung  haben:
    "Nur bestimmte Seiten der stets unendlich mannigfaltigen Einzelerscheinungen: diejenigen, welchen wir eine allgemeine Kulturbedeutung beimessen, sind daher wissenswert, sie allein sind Gegenstand der kausalen Erklärung."
Die Wirtschaftswissenschaft kann also keine Wissenschaft von Zwecken sein, sondern höchstens von  Folgen  von Zwecken. Damit entfällt die teleologisch-sozialorganische Betrachtungsweise von STAMMLER, STOLZMANN und DIEHL, die aus dem Tauschverkehr ein soziales Zweckgebilde macht, als Gegenstand der Wirtschaftswissenschaft. Sie könnte nur den Zweck dieses Zweckgebildes untersuchen, das ja sonst ganz in der Luft schweben würde und das ist keine wissenschaftliche Aufgabe.

Was ist dann aber das, was beim Wirtschaften eine allgemeine Kulturbedeutung hat? Die bisherige Auffassung sieht es in der  Sachgüterbeschaffung,  die allgemein als das logische Auswahlprinzip der Wirtschaftswissenschaft gilt. Obgleich für unsere Wissenschaft, die ja ihr Objekt aus der Erfahrung gewinnt, mit der eben das Auswahlprinzip Sachgüterbeschaffung gar nicht übereinstimmt, nichts darauf ankommt, läßt sich doch auch, wie ich glaube, von einem methodologischen Standpunkt zeigen, daß in der Sachgüterbeschaffung nicht das Prinzip von allgemeiner Kulturbedeutung stecken kann, welches der Wissenschaft als logisches Auswahlprinzip zugrunde liegen muß. Denn die Sachgüterbeschaffung ist immer der Zweck der wirtschaftenden Menschen und  ihrem Inhalt nach bei jedem Menschen verschieden.  Nur die  Wirkungen  der Sachgüterbeschaffung könnten also Objekt einer kausal erklärenden Kulturwissenschaft sein. Die bisherige Wirtschaftstheorie faßt aber die wirtschaftlichen Erscheinungen nicht als  Wirkung  der Sachgüterbeschaffung auf, sondern in der Sachgüterbeschaffung, also im Zweck bestehen, nach der bisherigen Auffassung, die  wirtschaftlichen Erscheinungen selbst.  Das Produzieren ist Wirtschaft, sei es nach der sozialen Betrachtungsweise nur, wenn es durch ein "gemeinsames Zusammenwirken" geschieht, sei es nach der individualistischen Auffassung auch in der Naturalwirtschaft. Die Sachgüterbeschaffung könnte aber  nur als Folge,  als  Wirkung  eines Zweckes das Auswahlprinzip einer Kulturwissenschaft sein. Und damit kommen wir auf die  Bedürfnisse  als den Zweck der Wirtschaft. Diese Feststellung des Zweckes ist ja nun keineswegs neu, aber sie wird in der bisherigen materialistisch-quantitativen Theorie regelmäßig nicht festgehalten. Aber auch diesem Zweck gegenüber ergibt sich wieder, daß die Sachgüterbeschaffung als dessen Wirkung zu eng ist, da die Menschen auch Bedürfnisse nach zahlreichen persönlichen Leistungen haben. Jedenfalls kommt man mit all dem schon auf eine  psychische  Definition des Wirtschaftlichen. Der Zweck, der nach der bisherigen Auffassung das Auswahlprinzip der Wirtschaftswissenschaft bildet, kann nicht materiell, sondern muß psychisch gefaßt werden. Es wäre demgegenüber leicht, zu zeigen, daß dann auch die  Mittel  nicht quantitativ, sondern psychisch aufgefaßt werden müssen. Aber wir wollen ja hier die Wirtschaftswissenschaft nicht aufgrund des Erfahrungsobjekts, sondern vom Standpunkt des Begriffs  Kulturwissenschaft  aus betrachten.

Ohne daß etwas für uns davon abhängt, da wir ja so schon auch von dieser Seite auf die Notwendigkeit einer psychischen Auffassung des Wirtschaftlichen gekommen sind, möchte ich doch die Meinung aussprechen, daß das Bedürfnis ebensowenig wie die Sachgüterbeschaffung Auswahlprinzip einer Kulturwissenschaft ist, weil es eben keine  allgemeine  Wertidee, keine Wertidee von  allgemeiner Kulturbedeutung  ist. Es ist ja klar, daß es ohne die Bedarfsbefriedigung ebensowenig wie ohne Sachgüterbeschaffung eine Kultur gäbe. Aber dennoch scheint mir die Bedarfsbefriedigung ebensowenig wie die Sachgüterbeschaffung eine Tatsache von  allgemeiner Kulturbedeutung,  eine "Kulturwertidee" zu sein, weil ja jeder die Bedarfsbefriedigung verschieden empfindet. Man darf sich da durch die Einheitsbegriffe  Bedürfnis  und  Sachgüter  nicht täuschen lassen. Schließlich sind doch nicht die Begriffe, sondern ihr  Inhalt  die Wertvorstellung. Nicht die Sachgüter beschaffung,  sondern ihre Objekte, nicht die Bedürfnisse, sondern ihr Substrat, die Befriedigungsmittel, könnten von allgemeiner Bedeutung sein. Mag sein, daß sie das für eine andere Wissenschaft sind (Sachgüter, Produkte, z. B. für die materielle Technik) (29), für die Wirtschaftswissenschaft ist, wie wir sahen, die Beziehung auf den Zweck "Bedürfnisbefriedigung" nicht zu entbehren, und dieser bedeutet, ganz einerlei, ob man nur an materielle Bedürfnisse denkt oder nicht, immer nur eine Tatsache von  individueller,  nicht von allgemeiner Bedeutung, weil die Bedürfnisse jedes Menschen eben etwas Verschiedenes sind.

Also nicht der Zweck selbst, der immer etwas Individuelles ist, muß Kulturbedeutung haben, sondern seine  Wirkungen,  die Handlungen, zu denen er führt. Das ist nicht bei jedem Zweck der Fall. Aber nur dann hat die Betrachtung von Zwecken ein wissenschaftliches Interesse, nur dann ist eine kausale Betrachtung möglich, die allein Wissenschaft ist. Das läßt sich deutlich an der  Rechtswissenschaft  zeigen. Auch das Recht ist meines Erachtens letzten Endes und im weitesten Sinne aus individualistischen Zwecken zu erklären, obwohl die Rechtswissenschaft, wie oben gesagt, als politische Wissenschaft aufzufassen ist. Das Recht geht hervor aus dem Zweck fast aller Individuen, sich über die Begrenzung ihrer individuellen Machtsphäre durch Vereinbarungen zu verständigen. Daß die Begrenzung dann einem gemeinsamen Organ, dem Staat, übertragen wird, ändert am individuellen Zweck des Rechts nichts. Das Recht setzt also, im Gegensatz zur Wirtschaft, schon seinem Begriff nach Beziehungen der Menschen voraus. Aber nicht die Zwecke der Individuen, sondern erst ihre Wirkungen, die Rechtssätze, die allgemeine Regelung, sind von allgemeiner Kulturbedeutung. Wenn ich mich als Kind mit meinem Bruder zankte und schließlich die Verabredung traf, daß er vormittags, ich nachmittags mit den Bleisoldaten spielen sollte, so war das auch eine Ordnung, eine Regelung, aber nicht von Kulturbedeutung, weil es keine allgemeine "Regel" war. Ebenso wäre es bei der Wirtschaft, wenn man überhaupt das Wesen der Wirtschaft im Zweck und nicht in einem formalen Prinzip, nach dem die Zweck- und Mittelvergleichung erfolgt, sehen wollte.

Doch lassen wir das dahingestellt. Sicher ist - es ergibt sich das unzweifelhaft aus dem Erfahrungsobjekt und den Problemen, die die Wirtschaftstheorie von jeher beschäftigt haben - daß die Wirtschaftswissenschaft die  Art der Zwecke,  die der wirtschaftende Mensch verfolgt, nicht interessiert. Womit der Mensch seinen Bedarf befriedigt, ist für sie gleichgültig. Ist die Wirtschaftswissenschaft deshalb keine Kulturwissenschaft? Man kann sie doch als eine solche bezeichnen, ohne daß wir, wie gesagt, einen Wert darauf legen. Kulturwissenschaft ist eben nicht nur das "Reich der Zwecke", auch die Philologie, klassische Kunstgeschichte und dgl. sind Kulturwissenschaften, obgleich sie keine Zwecke zum Objekt haben, eben weil ihre Objekte eine allgemeine Kulturbedeutung haben.

Was ist es nun aber, das in den wirtschaftlichen Erscheinungen eine Kulturbedeutung hat. Es ist nicht der Zweck der wirtschaftenden Menschen, einerlei wie man ihn auffaßt. Denn dieser ist immer etwas Individuelles. Es ist noch viel weniger ein imaginärer "sozialer Gesamtzweck", den es wohl im Staat, aber nicht im Tauschverkehr gibt. Am nächsten läge es, zu sagen: es ist der  Tauschverkehr selbst,  der eine Kulturbedeutung hat, die Organisation, die er herbeiführt, und die zwar kein einheitliches Zweckgebilde, sondern ansich eine reine Seinserscheinung, aber die Folge individueller Zwecke ist. Daß der Tauschverkehr eine allgemeine Kulturbedeutung hat, ist zweifellos, weil durch ihn die Bedarfsversorgung allgemein enorm vermehrt und erleichtert wird.

Das scheint also für die Anschauung derer zu sprechen, die wie MAX WEBER, nur den Tauschverkehrt zum Objekt der "Sozialökonomik" machen wollen. Aber mit Unrecht, denn der Gedanke der Kulturbedeutung des Tauschverkehrs ist nicht zu Ende gedacht. Das erkennt man am besten, wenn man sich überlegt, ob man deshalb der antiken Oikenwirtschaft, selbst wenn man sie sich extrem durchgeführ und jeden Tauschverkehr ausschließend denkt, oder insbesondere, ob man einer  sozialistischen Wirtschaftsordnung  die Kulturbedeutung absprechen darf. Ich glaube, die Sozialisten würden sich, und mit Recht, dagegen wehren, wenn man ihrem Ideal, einer Wirtschaftsordnung, bei welcher die ganze Bedarfsversorgung einheitlich durch den Staat organisiert wird, weniger Kulturbedeutung zuerkennen wollte als der heutigen Wirtschaftsordnung, und ebenso ist einem Wirtschaftssystem mit sich selbst genügenden Großwirtschaften, die in sich weitestgehende Arbeitsteilung durchgeführt haben und komplizierte Organismen darstellen, die Kulturbedeutung nicht abzusprechen.

Aber was bei all dem und auch im Tauschverkehr eine allgemeine Kulturbedeutung hat, scheint mir das  Prinzip  zu sein,  nach dem sowohl der Tauschverkehr als auch eine sozialistische Wirtschaftsorganisation als auch isoliert nebeneinander stehende große Familien- oder Sklavenwirtschaften organisiert sind.  Dieses Prinzip ist in allen Fällen  das gleiche,  es ist das Prinzip,  die Bedarfsversorgung unter allen Umständen mit dem kleinsten Kraftmaß zu organisieren,  es ist, kurz gesagt, das  wirtschaftliche Prinzip.  Das wirtschaftliche Prinzip kann, wie wir in den beiden früheren Aufsätzen zeigten, in verschiedener Weise formuliert werden und geht in der allgemeinsten Formulierung als allgemeines  Rationalprinzip  weit über das Gebiet des Wirtschaftlichen hinaus. Wir können davon absehen, zu erörtern, ob es auch als solches, als Maxime für das menschliche Handeln überhaupt, einen allgemeinen Kulturwert darstellt. Jedenfalls kann man behaupten, daß seine  Wirkungen  als allgemeine Richtschnur für das  wirtschaftliche  Handeln eine allgemeine Kulturbedeutung haben, weil es zu Organisationen, nicht nur denen des Tauschverkehrs, führt, welche die Bedarfsbefriedigung Aller ganz bedeutend erleichtern und vervollkommnen, und denen daher eine allgemeine Kulturbedeutung zukommt. Unzähligen Menschen gibt es die Richtschnur für ihre Bedarfsversorgung und führt zu einem Streben, sowohl innerhalb der Einzelwirtschaft als auch in der Organisation der wirtschaftlichen Beziehungen sie immer rationeller zu gestalten, d. h. mit möglichst geringem Aufwand ein möglichst großes Maß an Bedarfsbefriedigung zu erzielen. So ist es also das wirtschaftliche Prinzip, das Kulturbedeutung hat, weil es zu Organisationen führt, die allgemeine Kulturwerte darstellen, und deshalb läßt sich die Wirtschaftswissenschaft, die sie untersucht, als Kulturwissenschaft bezeichnen.

Die Wirkungen des wirtschaftlichen Prinzips sind wandelbar, die einzelnen Wirtschafter und der Staat mit seiner Wirtschaftspolitik erstreben in seiner Durchführung Fortschritte, und daher können seine Wirkungen auch Gegenstand einer  historischen  Betrachtung und Vergleichung werden. So werden wir unten noch zeigen, daß unsere Theorie überhaupt nur eine bestimmte Epoche des Tauschverkehrs erklären will, obgleich das Identitätsprinzip der Wissenschaft, der Begriff des Wirtschaftlichen ansich nichts mit einem Tauschverkehr und "menschlichem Zusammenleben" zu tun hat. Wir beschränken uns aber auf die heutige Epoche des Tauschverkehrs, die "kapitalistische Wirtschaftsordnung"; um das Schlagwort einmal zu gebrauchen, richtiger gesagt, auf die Untersuchung einer Wirtschaftsordnung, bei welcher das private Gewinnstreben den ganzen Tauschverkehr organisiert. Wir tun das einfach deswegen, weil die Hauptprobleme, die an dieses Identitätsprinzip anknüpfen, Konkurrenzpreisbildung und dgl. vor allem in der heutigen Epoche des Tauschverkehrs auftreten.

Damit können wir diese Frage der Wirtschaftswissenschaft als Kulturwissenschaft verlassen. Es sei nochmals betont, daß wir ihr als nationalökonomische Theoretiker geringe Bedeutung beilegen und daß wir nicht durch methodologische Erörterungen, sondern durch eine  Beobachtung des Erfahrungsobjekts  zu unserer psychischen Auffassung des Wirtschaftlichen gekommen sind. Wir glauben aber, mit dieser dem Erfahrungsobjekt allein adäquaten Auffassung auch in den methodologischen Fragen, die unsere Wirtschaft betreffen, zu größerer Klarheit gelangen zu können, als sie aufgrund einer falschen Auffassung der Wirtschaft bisher zu verzeichnen war.

Es bleibt jetzt noch übrig, die  Aufgabe  der Wirtschaftswissenschaft zu erörtern.
LITERATUR Robert Liefmann, Über Objekt, Wesen und Aufgabe der Wirtschaftswissenschaft, Jahrbuch für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 106 [dritte Folge Bd. 51], Jena 1916
    Anmerkungen
    20) KARL RODBERTUS ist daher der Begründer des typischen deutschen  "Staatssozialismus". 
    21) bzw.  sollte  festgestellt werden, doch hat man sie häufig nicht richtig erkannt.
    22) In der Sache zutreffend, aber in der Begründung falsch wegen des alten Irrtums, im Preis ein "zum Ausdruck gekommenes Werturteil" zu sehen.
    23) Ich erfasse es aber und zwar durchaus übereinstimmend mit dem Sprachgebrauch des wirtschaftlichen Lebens und erkläre damit die wirtschaftlichen Erscheinungen sehr viel zutreffender und auch viel "sozialer" als die bisherigen Theorien.
    24) Die wir nicht in einem weiten Sinn fassen wie etwa SPANN in seinem neuen "System der Gesellschaftslehre", 1914, gleichbedeutend mit  Sozialwissenschaft,  sondern im engsten Sinn, in dem man von gesellschaftlichen Erscheinungen spricht, also vor allem in Bezug auf die Probleme der Klassenbildung, einheitliche Sitten und dgl.
    25) Der  Staat  ist also ein Objekt der  Gesellschaftslehre  als aus gleichgerichteten Zwecken der Individuen entstandener Organismus, ebenso wie die anderen gesellschaftlichen Bildungen. Er ist ein Objekt der verschiedenen politischen Wissenschaften z. B. der Staatslehre, der Rechtswissenschaften usw., als eigener Willensträger und den Einzelnen übergeordneter Organismus.
    26) Man sollte es kaum für möglich halten, daß ein Mann wie SCHULZE-GAEVERNITZ so unter dem Bann des überlieferten Dogmas stehen kann, das durch die einfachste Beobachtung des wirtschaftlichen Lebens hinfällig wird.
    27) Es ist dies immerhin schon ein großer Erfolg meiner vor 9 Jahren erschienenen Schrift "Ertrag und Einkommen", die zum erstenmal jene Verwechslung von Wirtschaft und Technik betonte. Früher kümmerte sich niemand darum, jetzt fühlt sich jeder verpflichtet, eine Unterscheidung zu suchen. Doch ist sie, wenn man die materialistische Auffassung beibehält, nur dadurch möglich, daß man ihr das Moment des Sozialen noch hinzufügt, eine reine Ausflucht, die niemals ermöglicht, die Geldtauschvorgänge richtig zu verstehen.
    28) MAX WEBER, a. a. O., Seite 50f
    29) Die dann zweifellos und auch mit demselben Recht "Kulturwissenschaft" wäre.