ra-2Marx oder Kant?A. SchäffleWirtschaftsgeschichte    
 
GERHART von SCHULZE-GAEVERNITZ
Wirtschaftswissenschaft?

"Wer Nationalökonomie treibt, tut es, weil ihm die wirtschaftliche Sicherung des gesellschaftlichen Ganzen - der Menschheit, der Nation - bedeutsam erscheint. Die Verpflichtung zur Nationalökonomie beruth letztlich darauf, daß der Kulturmensch sich für die soziale Gemeinschaft als den Kulturträger interessieren  soll.  Wer den sozialen Wert leugnet, wird sinnvollerweise nicht der Nationalökonomie als  Wissenschaft  dienen, sondern für seine Privatwirtschaft sorgen. Um den eigenen Beutel zu füllen, braucht es vielleicht eine Kunstlehre, eine Nationalökonomie als  Lehre von der Kunst, reich zu werden,  keine  Wissenschaft,  deren Betrieb stets auf überpersönliche Beweggründe zurückgeht. Rein individualwirtschaftliche Tatsachen als solche scheiden aus dem Bereich der wirtschaftswissenschaftlichen Betrachtung aus."

Alle Nationalökonomie als Lehre wie als Schriftstellerei ist Wirtschafts wissenschaft  oder Wirtschafts- politik.  Mit Recht fordert man eine scharfe und bewußte Trennung beider Gebiete. Eine Vermengung mit Politik verfälscht die Wissenschaft: wissenschaftliche Interessenvertretung? Der Schein unpersönlicher Wissenschaftlichkeit entmannt den stets persönlichen Willen zur Politik: Politik zwischen den Zeilen? Wir hoffen nicht mehr mit ROSCHER, durch volkswirtschaftliche Erkenntnis die politischen Parteizwiste zu versöhnen und wir lehnen mit PRINCE SMITH zwar "unwissenschaftliche Sonderinteressen" ab, wissen aber sehr wohl, daß die Wahrnehmung des Allgemeininteresses nicht wissenschaftlicher wäre. Die Wirtschafts wissenschaft  kennt keine andere Göttin als die Wahrheit. Sie hat weder das Privatinteresse der Unternehmer, noch das der Arbeiter, noch das "Gemeinwohl" zu fördern; sie hat nicht zu klagen, nicht zu loben, sondern lediglich das, was  ist festzustellen und kausal zu erklären. Die Wirtschaftspolitik dagegen mißt das Sein an offen auszusprechenden Werten und sucht es, soweit an ihr liegt, zu "bessern".


I. Begriff der Wirtschaftswissenschaft

a)  Die Wirtschaftswissenschaft ist Kulturwissenschaft  in dem heute üblich gewordenen WINDELBAND-RICKERTschen Sprachgebrauch. Er wurzelt in der kantischen Unterscheidung der  Natur  als dem Reich allgemeingültier, letzthin mathematisch formulierbarer Gesetze der  Menschheit  (Gattung) als dem einmaligen Reich der Zwecke. Dort wertneutraler Naturmechanismus - hier wertverwirklichender Fortschritt der Geschichte; dort NEWTON - hier FICHTE. Als Kulturwissenschaft hat die Wirtschaftswissenschaft einen  teleologischen Ausgangspunkt,  insofern sie nach einem Wertgesichtspunkt ihr Gebiet absteckt, was sehr wohl vereinbar ist mit einer rein kausalen, völlig wertfreien Behandlung ihrer Gegenstände. Man scheide scharf zwischen Zweck als Auswahlprinzip des erkennenden Subjekts und Zweck als psychologischer Tatsache im handelnden Objekt - beides wohl vereinbar mit rein kausaler Wissenschaft, die lediglich den Zweck als metaphysische, hinter den Dingen wirkende "Zweckursache" ablehnt.

Auch die  Biologie  arbeitet mit bestimmten teleologischen Grundbegriffen, wie Leben, Krankheit, Tod, Anpassung usw. Der Organismus - eine Aufhäufung ewig wechselnder chemischer Stoffe, aber doch "ein Ganzes", zusammengehalten durch die Beurteilung, daß die Teile auf äußere Reize für den Zweck der Erhaltung des Ganzen reagieren. Trotzdem erstrebt die Biologie die kausale, letzthin mechanistische Erklärung der Lebensvorgänge, "die Zurückführung der Kausalität im organischen Leben auf die der anorganischen Körper". Ein DARWIN arbeitet mit dem teleologischen Begriff des Lebens, er spricht von "Mitteln", die den Organismus "befähigen" zu existieren - aber er sucht unter Ausschaltung aller zwecktätigen Kräfte die Entstehung der Arten rein kausal zu erklären. So schon KANT: der Begriff des Organismus ist teleologisch auf das zweckmäßige Wechselverhältnis zwischen dem Ganzen und den Teilen gestellt; aber "ich soll über die Organismen nach dem Prinzip des bloßen Mechanismus reflektieren, weil, ohne ihn der Naturforschung zugrunde zu legen, es gar keine eigentliche Naturerkenntnis geben kann."

Die Wertgesichtspunkte, durch welche die Kulturwissenschaften ihr Gebiet begrenzen, umfassen jene Werte, die wir in ihrer Gesamtheit als  "Kultur"  (das zu Pflegende) bezeichnen. Teils sind es die letzten (absoluten) Werte der Kultur in Recht und Staat, in Wissenschaft, Kunst und Religion, teils die mittelbaren (relativen) Werte der Kultur in Sprache und Wirtschaft. Nach dem System dieser Werte gliedert sich das Gebiet der Kulturwissenschaften.

Es liegt einem solchen Gedankengang nahe, wenn STAMMLER den Naturwissenschaften die  Zweck wissenschaften gegenüberstellt, indem er als Zweck nur den "berechtigten" Zweck gelten läßt, "der einem allgemeingültigen Gesetz des  telos  entspricht"; aber er faßt diesen Zweck zu eng, indem er lediglich an das politische Ideal: eine Gemeinschaft frei wollender Menschen denkt.

Die Wirtschaftswissenschaft ist durch die Besonderheit ihres Auswahlprinzips von den anderen Kulturwissenschaften unterschieden. Aus der unendlichen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen liest sie diejenigen heraus, welche  wirtschaftlich  bedeutsam sind, d. h. wesentlich für die Unterwerfung der äußeren Natur durch menschliche Tätigkeit unter die Zwecke der menschlichen Bedürfnisbefriedigung:  "Sachgüterbeschaffung"  im weitesten Sinn (Herstellung, Verteilung, Verbrauch), als solche stets eine "Form- oder Ortsveränderung" des Stoffes. Objektive Voraussetzung für ein solches Gebiet von Erscheinungen ist eine gewisse Beschränktheit der Natur gegenüber dem sich in das Unbegrenzte entfaltenden Bedürfnis: Es handelt sich um einen Kampf mit der Natur, um Aufwendung von Mühe und Opfern. Lebten wir "von Luft und Liebe", so gäbe es kein Wirtschaftsleben, also auch keine Wirtschaftswissenschaft, ebensowenig wie es eine solche auf jener glücklichen Südsee-Insel gibt, auf der, wie COOK erzählt, der Mann, der einmal in seinem Leben  zehn  Brotfruchtbäume pflanzte, ebenso die Pflicht gegen seine Nachkommen erfüllt hat, wie der Mann, der in unserem Klima das ganze Leben hindurch pflügt, sät und erntet. Gegenstand allen Wirtschaftens ist die Beschaffung der "Güter" als sachlicher Bedürfnisbefriedigungsmittel (PHILIPPOVICH). "Arbeit" ist das Mittel ihrer Beschaffung - ein Mittel zum Mittel. "Rechte" sind das Mittel, wodurch die Staatsgewalt die Verfügungsmacht über die Güter dem Wirtschafter sichert - also ebenfalls Mittel zum Mittel. (BÖHM-BAWERK)

Die "Sachgüterbeschaffung" ist insofern ein geeignetes wissenschaftliches Auswahlprinzip, weil sie ein  allgemeingültiges  Interesse besitzt. Wirtschaftliche Güter haben zwar keinen Anspruch auf allgemeingültigen  Eigen wert, aber sie haben "Bedingungswert" - Wert für die Allgemeinheit - insofern, als die Verwirklichung der menschlichen Kulturaufgaben ohne sie unmöglich ist. Zwar mag es sein, daß das Wirtschaftsleben nicht die "Würde" des Wissenschafts- oder Kunstlebens besitzt (DILTHEY), aber die Enge des Universitätsbudgets mahnt den deutschen Wissenschaftler nur zu oft an die wirtschaftliche Grundlage auch der idealsten Kulturaufgaben und verbindet insbesondere die Naturwissenschaft mit der Staatsfinanz. Wenn die Künstler nicht verkaufen, verhungert die Kunst. Breiter bürgerlicher Besitz war allezeit der beste Nährboden der bildenden Kunst, den staatliche Protektion nicht ersetzen kann. Das "Kapital" eines KARL MARX wäre nicht geschrieben worden ohne das Kapital, das der stets hilfsbereite Freund ENGELS besaß. Überall meldet sich der "nervus rerum" [der Nerv der Dinge - wp].

b)  Die Wirtschaftswissenschaft ist Sozialwissenschaft.  Nicht der Einzelne, auch nicht das Genie, sondern allein der menschliche Makrokosmos, die "Menschheit" in ihrem zeitlichen und räumlichen Nach- und Nebeneinander, verwirklicht schrittweise die Kultur. Die Kultur ist ein sozialer Prozeß. Hierdurch unterscheidet sich die  menschliche  "Gesellschaft" von der naturwissenschaftlich gewiß hochinteressanten Ameisen- und Bienengesellschaft.  "Gesellschaft  in diesem Sinne ist ein teleologischer Begriff: dasjenige Zusammensein von Menschen, welches bedeutsam ist für die Entstehung und den Fortschritt der Kultur. Man darf also nicht fragen: Wie entsteht die Gesellschaft? sondern: Wann setzt die kulturwissenschaftliche Betrachtung ein? Wann ist es z. B. möglich, die Horde - zunächst Gegenstand der Anthropologie - unter Kulturwerten zu betrachten als eine wenn auch noch so primitive Stufe für die Kulturentwicklung der Menschheit?

Es soll damit ein naturwissenschaftlich-psychologistischer Gesellschaftsbegriff keineswegs abgelehnt werden; es kann etwa nach SPENCER eine"dauernde psychische Wechselwirkung", nach TARDE "Wechselwirkung durch Nachahmung", nach GIDDINGS "Gattungsempfindung" zum Merkmal des Gesellschaftsbegriffs gemacht werden. Man kann die Frage aufrollen, ob überhaupt eine scharfe Grenze zwischen Einzelorganismus ("Zellenstaat") und Gesellschaft möglich ist. Von hier ausgehend, kommt man vielleicht zu einer naturwissenschaftlichen Soziologie, welche die einfachsten Formen der Vergesellschaftung behandelt, z. B. Unterordnung, Wettbewerb, Nachahmung, Opposition usw., sodann das Gemeinsame der Tier- und Menschengesellschaft aufsucht und als Naturwissenschaft Allgemeinbegriffen und Gesetzen zustrebt.

Anders die  Wirtschafts wissenschaft, welche gesellschaftliche Zusammenhänge von  "Menschen"  aus der Masse des Naturgeschehens heraushebt, wobei das Wort  Mensch  einen Wertakzent trägt. Die Wirtschaftswissenschaft als Sozialwissenschaft beruth auf der Anerkennung des sozialen Wertes: Stets hat man - oft recht unklar - das  gesellschaftliche Ganze  in die Begriffsbestimmung der Wirtschaftswissenschaft hineingezogen, dessen "Glieder" die einzelnen Wirtschaften seien. In der Tat: Wer Nationalökonomie treibt, tut es, weil ihm die wirtschaftliche Sicherung des gesellschaftlichen Ganzen - der Menschheit, der Nation - bedeutsam erscheint. Die Verpflichtung zur Nationalökonomie beruth letztlich darauf, daß der Kulturmensch sich für die soziale Gemeinschaft als den Kulturträger interessieren  soll.  Wer den sozialen Wert leugnet, wird sinnvollerweise nicht der Nationalökonomie als  Wissenschaft  dienen, sondern für seine Privatwirtschaft sorgen. Um den eigenen Beutel zu füllen, braucht es vielleicht eine Kunstlehre, eine Nationalökonomie als "Lehre von der Kunst, reich zu werden", wie sie die Kameralisten [staatliche Buchhalter - wp] (nicht ohne einen staatlich- kulturellen Einschlag) verstanden haben - keine  Wissenschaft,  deren Betrieb stets auf überpersönliche Beweggründe zurückgeht. Rein individualwirtschaftliche Tatsachen als solche scheiden aus dem Bereich der wirtschaftswissenschaftlichen Betrachtung aus.

Wirtschaftswissenschaft  im weitesten Sinne ist also die Wissenschaft von der Unterwerfung der äußeren Natur unter die Zwecke der Gesellschaft.'

Hat innerhalb dieser Wissenschaft der Gedanke des  "Fortschritts"  einen Sinn? Zweifellos ja, da dem Begriff unserer Wissenschaft ein Zweckgedanke zugrunde liegt. Wirtschaftlicher Fortschritt bedeutet bessere, d. h. dem Kulturzweck entsprechendere Sachgüterversorgung der Gesellschaft. Der Gedanke des Fortschritts - ein christliches Erbstück der westeuropäischen Welt: Reich-Gottes-Idee - wurde von der modernen Naturwissenschaft (von ihrem Standpunkt aus mit Recht) zertrümmert: BRUNOs unzählige, sich wiederholende Welten! Von KANT neu begründet, wurde er von FICHTE und HEGEL zur geschichtsphilosophischen Weltanschauung des deutschen Idealismus gesteigert. Von den neueren Kantianern des metaphysischen Rankenwerks entkleidet, durchzieht er alle Kulturwissenschaft. Ist das a priori der Naturwissenschaft die überempirische Naturgesetzlichkeit, die auch dort gilt, wo wir sie nicht beobachtet haben, so ist das a priori aller Kulturwissenschaft ein überempirischer Wert, in dem alle empirischen Kulturwerte verankert sind: "Das Ziel, nach dem die Leute ausspähen von ferne" (HIOB). Wo aber kein Ziel, da besteht die Möglichkeit des Fortschritts - und des Rückschritts, des "Fortschritts zum Teufel" nach carlyle.htmlCARLYLE.

Wirtschaft und Technik? Der Mensch kämpf den Kampf mit der Natur nicht nur für gesellschaftliche Zwecke, sondern weithin auch im Zusammenwirken mit seinesgleichen, also mit gesellschaftlichen Mitteln. Der Mensch tritt als Gruppe über die Schwelle der Geschichte. Danach scheidet sich Technik und Wirtschaft im engeren Sinne:  Volks wirtschaft. Unter  Technik  verstehen wir die Wege, die der Mensch im  unmittelbaren  Kampf mit der Natur beschreitet - zuerst in roher Empirie, später unter Beratung der Naturwissenschaft im rationellen Verfahren. Unter  Volkswirtschaft  dagegen verstehen wir denselben Kampf, soweit er mit gesellschaftlichen Mitteln geführt wird, also Beziehungen von Mensch zu Mensch herstellt. Mit Recht sagt KARL MENGER: Wirtschaft ist "die auf Deckung des Güterbedarfs gerichtete vorsorgliche Tätigkeit",  Volks wirtschaft "die  gesellschaftliche  Form derselben". Bei der häufigen Vermengung von Technik und Volkswirtschaft ist diese Unterscheidung von erheblicher Bedeutung. Seit wie lange ist die physiokratische Jllusion verschwunden, daß die Grundrente aus der Erde wächst, nicht aus der Gesellschaft? MARX hat demgegenüber erklärt: Die  Waren form des Arbeitsproduktes hat mit der technischen Herstellung nichts zu tun, sondern entspringt dem  gesellschaftlichen  Verhältnis der Menschen. Technik z. B. ist die Dreifelderwirtschaft - ein Verhältnis von Mensch zu Natur; ein volkswirtschaftliches Verhältnis dagegen ist der Flurzwang und die Gemengelage, wobei der Mensch zu Mensch in Beziehung tritt. Sache der Technik ist die Speicherung, Sache der Wirtschaft die Verpfändung der lagernden Güter. Mit Recht sagt STAMMLER: Nicht die Dampfmaschine bewirkte die Umgestaltung der sozialen Verhältnisse, sondern ihre Verwendung im Lohnvertrag.

Unter Wirtschaftswissenschaft im engeren Sinn,  "Volkswirtschaftswissenschaft" (Sozial- oder Nationalökonomie)  verstehen wir demnach die  Wissenschaft von der Unterwerfung der äußeren Natur unter die Zwecke der Gesellschaft mit gesellschaftlichen Mitteln. 

Das sogenannte  Prinzip der Wirtschaftlichkeit -  größter Erfolg mit kleinstem Mittel - hat demgegenüber mit der Bestimmung des Begriffs unserer Wissenschaft nicht das mindeste zu tun. Es ist nach DIETZEL das "Vernunftprinzip jeder zweckmäßigen Handlung" und gilt als solches weit über das Wirtschaftsgebiet hinaus - etwa vom Betrieb jeder Wissenschaft. Es gilt beispielsweise auch vom Betrieb unserer deutschen Nationalökonomie: Während wir  Lehrer  von heute mühselige Autodidakten sind, führen wir unsere Schüler durch Seminare, Proseminare, Examinatorien und Spezialvorlesungen aller Art unter erheblicher Kraftersparnis "spielend" zu dem, was wir auf Irr- und Umwegen erreichten - wir führen sid damit zu der Einsicht, Daß unsere Wissenschaft noch in den Kinderschuhen steck und zu einem Entschluß umso kräftigeren Vorstoßes ins Reich des Unbekannten weit über uns Lehrer hinaus. Andererseits deckt das Prinzip der Wirtschaftlichkeit nicht im entferntesten das gesamte wirtschaftliche Dasein der Menschheit; sonst wäre die primitive und mittelalterlich Wirtschaft unserer Wissenschaft entzogen, da nicht der homo oeconomicus, sondern ein "Vorwirtschaftsmensch" diese breitesten Gefilde allen Wirtschaftslebens beherrscht. Ebensowenig hat das Prinzip der Wirtschaftlichkeit mit dem Begriff der Technik etwas zu tun: Jahrtausende hindurch hat der Mensch die "Technik" der Dreifelderwirtschaft betrieben, nicht um den größten Erfolg mit den geringsten Mitteln zu erzielen, sondern weil er "die Gewohnheit seine Amme" nannte!


II. Die Methoden der Wirtschaftswissenschaft

Die menschliche Wirtschaft ist eine einmalige, durch ihren Kulturzweck zur Einheit zusammengebunden Tatsache - wie die Gesellschaft selbst eine historische Erscheinung erster Ordnung, die ihresgleichen auf diesem Globus nicht gehabt hat und nicht haben wird. Wir erfassen sie zunächst und unmittelbar auf em Weg der  Geschichtsforschung Was immer wir von der "Wirtschaftstheorie" halten:  die breite Masse allen wirtschaftlichen Seins ist nur historisch zu erfassen.  Die Wirtschaftsgeschichte beginnt dort, wo der Kampf mit der Natur den Zwecken der Gesellschaft dient und ein - wenn auch noch so primitives - Kulturgebäude trägt. Der Ackerbau des Wilden wird dmiat zur Agri kultur  (RICKERT). Vorher gibt es nur Natur, keine Geschichte - Ethnograpie als Naturwissenschaft, keine Wirtschaftswissenschaft als Kulturwissenschaft.

Letztes Ziel der Wirtschaftsgeschichte ist es, die  Wirtschaftsentwicklung der gesamten Menschheit als Ganzes  zu umfassen und darzustellen. Hierfür gilt es zuerst die Teile dieses Ganzen der Sonderforschung zu unterwerfen. Jede dieser Teilentwicklungen ist verschieden; jedes Volk hat eine verschiedenartige Bedeutung für die allgemeine Wirtschaftsgeschichte und ist in dieser seiner Eigenart zu erfassen. Ehe man z. B. die Entstehung des europäischen Kapitalismus im Großen schildert, gehe man den kapitalistischen Anfängen in Italien und Deutschland, Frankreich und England nach, von denen keineswegs ohne weiteres feststeht, daß sie gleichartig gewesen sein müssen.

Aber auch derjenige, welcher - sei es monographisch, sei es zusammenfassend - die Wirtschaftsverhältnisse der  Gegenwart  schildert, arbeitet mit den Mitteln der Geschichtsforschung. Auch sogenannte "Theoretiker" wandeln historische Wege dort, wo sie vorkapitalistische Gefilde durchschreiten oder im kapitalistischen Feld sich der konkreten Einzelerscheinung näher. Ziel einer derartigen Teildarstellung aber sollte es immer sein, einen Baustein zu liefern zur Erkenntnis der Volkswirtschaften, der allumspannenden Weltwirtschaft der Gegenwart als einmaligen Hervorbringungen der Wirtschaftsgeschichte. Jede Monographie hat sinnvollerweise über sich selbst hinaus auf ein größeres Ganzes hinzustreben. Die Monographie kann letztlich bis zur  Einzelwirtschaft  hinabsteigen, soweit diese, als einmaliges Konkretum, wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung gehabt hat, z. B. die Wirtschaft der FUGGER, der ROTHSCHILD, der KRUPP u. a.

In allen diesen Fällen - ob kapitalistisches Zeitalter, ob italienischer Frühkapitalismus, ob das Haus MEDICI - immer handelt es sich um einmalige, in ihrer Eigenart für den Wirtschaftsverlauf wesentliche Erscheinungen: das  "absolut Historische". 

Durch die historische Methode hat die  deutsche Nationalökonomie  - nicht anders als die deutsche Sprach-, Rechts- und Religionswissenschaft - die Welt erobert: Eine wissenschaftliche Tat ersten Ranges, die einem jüngeren, mehr "theoretisch" gerichteten Geschlecht unverloren sein soll! An ihrem Stamm erblühten BRENTANOs Arbeitergilden der Gegenwart, KNAPPs Bauernbefreiung, die Jugendarbeiten SCHMOLLERs. Ihre Meister schufen anschauliche Bilder, geschaut mit dem Auge wissenschaftlicher Phantasie und umrissen mit dem Stift des Künstlers. Ihre Musterleistungen waren weder Aktenexzerpte, noch Materialhäufugnen - "nicht dem Stoff mühsam abgerungen." Ernsteste archivarische Bemühung war eingeschmolzen in den Guß einheitlicher Darstellung.

Aber es gilt auch von diesem Erbstück, es immer wieder neu zu erwerben, um es zu besitzen. Wie weit wir noch vom Ziel der Erkenntnis entfernt sind, zeigen SOMBARTs tastende Versuche einer Gesamtdarstellung des modernen Kapitalismus, welche gewagt werden mußten, um zu einer gründlicheren Untermauerung im einzelnen anzuregen. Aber wir kennen ihn auch, jenen "Stoffhuber", welcher im einzelnen stecken bleibt. Wahllos druckt er alles Material ab, was im Archiv über sein Thema nur irgendwie auffindbar ist; insbesondere druckt er "obrigkeitliche" Verordnungen ehrfurchtsvoll ab, ohne zu fragen, ob und wie sie gewirkt haben. BRENTANO macht einmal mit Recht darauf aufmerksam, daß gerade die häufige Wiederholung von Verordnungen gleichen Inhalts darauf hinweist, wie wenig sie befolgt worden sind. "Geistloses Antiquariertum", mag es sich "reine Lektüre der Quellen" oder "deskriptive Volkswirtschaftslehre" nennen, hat die deutsche Wissenschaft in Verruf gebracht und "Befreiung vom Aktenstaub" wurde zur Losung des Tages. Aber hüten wir uns, das Kind mit dem Bade auszuschütten! Eine einzige Tatsache, richtig festgestellt, kann für den "Sinnhuber", der sie später einmal entdeckt, wertvoll werden, etwa in den Schriften des Vereins für Sozialpolitik, diesem gewaltigen Steinbruch volkswirtschaftlichen Rohstoffes. Ehrfurcht vor der Tatsache!

Die wirtschaftsgeschichtliche Methode ist die Methode der Geschichtswissenschaft überhaupt, aber sie weist daneben auch Eigentümlichkeiten auf, die sie etwa von der politischen oder Kunstgeschichte tiefgreifend unterscheiden.

Das  Gemeinsame  der wirtschaftsgeschichtlichen mit aller historischen Methode fällt aus dem Rahmen vorliegender Untersuchung heraus, wobei auf die grundlegenden Arbeiten RICKERTs verwiesen sei. Alle Historie verwendet, um das Einmalige anschaulich zu machen, Allgemeinbegriffe, die sie dem vorwissenschaftlichen Denken entnimmt. Auch die Wirtschaftsgeschichte benutzt zahlreiche "Grundworte", deren gemeinsprachliche Bedeutung festzulegen nicht unnütz ist. Alle Historie gipfelt in der  Aufweisung historischer Kausalzusammenhänge. 

Es ist ein Irrtum, wenn die "Anhänger der Willensfreiheit" kausale Feststellungen in der Sozialwissenschaft für unmöglich erklären, weil freie menschliche Handlungen ihr Gegenstand sind. Der Gegensatz von Kausalität und Freiheit gehört nicht in die Wissenschaft, sondern in die Lebenspraxis - auch die des Wissenschaftlers. Die kausale Gebundenheit allen Seins ist nach KANT keine "Entschuldigung" für eine Gemeinheit, auch nicht für eine wissenschaftliche Liederlichkeit. Die Freiheit des Willens ist ein Postulat, ohne dessen praktische Bejahung keine Kulturarbeit, auch keine wissenschaftliche Arbeit möglich ist. Denn die Willensfreiheit ist die Voraussetzung für die pflichtmäßige Anwendung der Denkgesetze, insbesondere der rein kausalen Denkform in der Wissenschaft. Die Abweisung des Wunders - des deus ex machina [Gott aus der Maschine - wp] - als einer Durchbrechung der Kausalität ist eine wissenschaftliche Pflicht, die zu verletzen wir frei sind.

Hinsichtlich der  "historischen  Kausalität" arbeitet die Wirtschaftsgeschichte nicht anders, als sonstige historische Disziplinen. Sie verwendet allgemeine Kausalbegriffe - teil populäre Vorstellungen über wiederkehrende Ursachenverknüpfung, teils naturwissenschaftliche Gesetze, z. B. das Gesetz des abnehmenden Bodenertrags. Auch die sogenannten Gesetze der theoretischen Nationalökonomie können Verwendung finden, z. B. die Quantitätstheorie zur Erklärung der neuzeitlichen Preissteigerung. Es ist ein Irrtum zu meinen, daß nur psychologische Ursachen im Wirtschaftsleben eine Rolle spielen; nicht minder tun das auch geographische, metereologische, physiologische Ursachen. Man folgert z. B. die bestimmte Art der Wirtschaftsentwicklung eines Volkes aus den Natur des von ihm bewohnten Landes. Zwar dehnen sich die Kausalketten endlos nach allen Seiten aus, aber die Geschichtsforschung begrenzt und gliedert sie nach dem Gegenstand ihres Interesses. Trotz SCHOPENHAUER ist ihr die Kausalität ein Fiaker, den sie verläßt, sobald die Fahrt nicht mehr interessiert: sie begnügt sich damit, den Vorgang, der ihr nach ihrem Auswahlprinzip wesentlich ist, in seiner kausalen Notwendigkeit nacherleben zu lassen. Sie wendet sich damit an die Phantasie des Lesers und streift an die Tätigkeit des dramatischen Dichters.

Insbesondere muß die Wirtschaftsgeschichte zur kausalen Erklärung wirtschaftlicher Tatsachen die Vorgänge der  politischen  und geistesgeschichtlichen Vor- und Umwelt in reichstem Maße heranziehen. Der geschichtliche Mensch ist "der volle und ganze Mensch", nie bloßer Wirtschaftsmensch und AUGUSTE COMTE hat noch heute Recht: "Es gibt keine Wissenschaft vom Magen". Beispiele: Zwecks  politischen  Aufschwungs des Papsttums dekretierte Papst HONORIUS zunächst an die ungarischen Bischöfe 1217: "Ut vicesimam redigant in pecuniam" [Über die 5% Abgabe - wp]. Dieser Befehl - politische Ursache - war in seinen Folgen wirtschaftsgeschichtlich höchst bedeutsam, weil er die Monetarisierung größerer Vermögensbeträge einleitete und die "usurarii curiae Romanae" [Über die Benutzung des römischen Senats - wp] - Siena und Florenz - emporhob. - Unter den Ursachen der wirtschaftlich wichtigsten Tatsache des XIX. Jahrhunderts, der britischen Wirtschaftssuprematie, unter den Ursachen unseres neudeutschen Wirtschaftsaufschwungs stehen  politische  Tatsachen voran: Trafalgar, Sedan! Die Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa weist auf die Geistesgeschichte: auf die Zertrümmerung des Traditionalismus gegen Ausgang des Mittelalter, welche DANTE vorahnend in die Worte faßte: "Sei  du fortan dein Bischof und dein Fürst,"  nicht minder aber auf die geistige Neubindung durch den britischen Puritanismus und den deutschen Idealismus. Befreiung und Selbstgesetzgebung brachten jene "starken" Menschen hervor, die das Rückgrat der germanischen Wirtschaftswelt bilden und ihren Kapitalismus - ein vorwiegende Erscheinung  dieser  Welt - tragen.

In letzter Linie hat die wirtschaftsgeschichtliche Kausalforschung nicht selten bis zu  einzelnen Menschen  vorzudringen: Aberwitz ist es, neudeutsche Wirtschaftsgeschichte zu schreiben, ohne den Namen BISMARCK zu nennen. Oder - vom großen zum kleinen: Bei Gelegenheit einer Monographie über ein Dorf badischer "Reformbauern" stießen wir auf den Einfluß eines namenlosen, vor Jahren verstorbenen Mannes, auf dessen geistigen Schultern das Dorf ruhte; als Lokalgeologe hatte er durch einen Aufsatz in einer wissenschaftlichen Zeitschrift die Aufmerksamkeit des großen DARWIN auf sich gelenkt, dessen Schreiben als Reliquie der Dörfler aufbewahrt wurde. Nicht anders ging es bei den Anfängen vieler Industrien, denen zumeist  ein  Mann Pate gestanden hat. Aber gerade hier stoßen wir auf die Grenze der historischen Kausalität. Der einzelne Mensch wird dadurch geschichtlich, daß er weite Kreise mit "einem Abglanz seines inneren Lichtes übergießt" (LAGARDE). Dieses "innere Licht" ist ein irrationaler Rest, den keine Geschichtsforschung auflösen, sondern nur als solchen feststellen kann. Deswegen ist jeder Versuch abzulehnen, die Wirtschaftswissenschaft restlos zu rationalisieren, so z. B. der historische Materialismus.

Der Versuch des  historischen Materialismus,  das Ökonomische als die "primäre" Ursache allen geschichtlichen Geschehens auszurufen, ist uns heute eine unrealistische Geschichtsmetaphysik, nicht anders, als wenn man den religiösen oder den politischen Faktor zum Alleinherrscher machen wollte! Mit Recht macht STAMMLER z. B. darauf aufmerksam, daß die technisch-ökonomischen Wandlungen in eine bestimmte Rechtsordnung einschlagen - die Wirkungen wären ganz andere gewesen bei Vorhandensein einer anderen Rechtsordnung, z. B. einer sozialistischen. Ich denke dabei an meine Studien über die gutsherrliche Fabrik Rußlands: Die moderne Technik schlägt in eine Welt der Leibeigenschaft ein. Welch andere Wirkungen als in England! Der echte Historiker packt die Kausalitäten am Schopf, wo er sie findet. Ihm ist der historische Materialismus ein nützliches heuristisches Prinzip, um wirtschaftliche Kausalreihen auch dort zu suchen, wo sie versteckt sind und bisher nicht beachtet wurden, z. B. in der Kunst- und Religionsgeschichte. Wirtschaftsgeschichtliche Untergründe können ähnliche Stimmungen hervorbringen, welche in ähnlichen Kunstformen ihren Ausdruck suchen: zum Barock des fürstlichen Merkantilismus neigt z. b. der nicht minder absolutistische Industrie- und Bankkapitalismus unserer Tage.
LITERATUR Gerhart von Schulze-Gaevernitz, Wirtschaftswissenschaft? in Festschrift für Lujo Brentano, München und Leipzig 1916