ra-2B. SchmeidlerWindelbandO. HintzeE. Bernheimvon Belowvon Sybel    
 
FRITZ MÜNCH
(1906 - 1995)
Das Problem
der Geschichtsphilosophie
(1)
[1/2]

"Im Verlauf der transzendentallogischen Untersuchung enthüllt sich das Sein als ein Geltungsproblem; darin vollendet sich erst die kopernikanische Tat Kants in ihrer vollen Tragweite. Das Sein des Seienden - nicht das Seiende selber - ist also ein Spezialfall des Geltenden, des Reiches des Nichtwirklichen. Das Sein ist eine Geltungsform neben und unter anderen Geltungsformen. Im Anfang war der Sinn! Das heißt: Der Sinn ist das logische Prius jedes sinnvollen Zusammenhangs (also auch jedes Wirklichkeits -Zusammenhanges) und damit auch jedes sinnvollen Verhaltens, z. B. des logischen Urteilens oder ethischen Handelns. Wer die logische Priorität des Sinnes vor allem - auch jedem idealen oder ideellen - Sein bestreitet, behauptet damit selbstzugestandenermaßen - Unsinn".

"Der logisch übergeordnete Begriff für die quaestio iuris = Rechtsfrage aber ist die Wertfrage."

Die gesamte Philosophie der Gegenwart, soweit sie auf wissenschaftliches Gepräge Anspruch erheben kann, ist charakterisiert dadurch, daß jeder sachlichen Behandlung der Probleme irgendeines philosophischen Spezialgebietes eine erkenntnistheoretische Selbstbesinnung der auf dieses Gebiet gerichteten Unersuchungen vorauszugehen hat. Dieser Zug im philosophischen Bewußtsein unserer Zeit ist eine Konsequenz der von KANTs  methodus transzendentalis philosophandi vollzogenen kopernikanischen Wende in der Stellung des Philosophen zur Wirklichkeit überhaupt, und damit auch in der Stellung der philosophischen Probleme selbst. Diese KOPERNIKUS-Tat, der sich KANT als solcher voll bewußt ist, (2) vollzieht sich in dem bekannten, für das naive Bewußtsein so paradox klingenden Gedanken: Nicht schreibt die Natur "uns" die Gesetze vor, sondern vielmehr sind "wir" es, d. h. ist es die Natur wissenschaft,  welche die Naturgesetzlichkeit erst in die Wirklichkeit "hineinträgt; (3) die Natur als die Wirklichkeit unter der Form der Allgemeingesetzlickeit (4) ist eine Funktion der Natur wissenschaft.  (5) Um diese Fundamentalposition, die meines Erachtens ein  ktem eis aei  [von ewigem Wert - wp] jeder Philosophie, "die als Wissenschaft wird auftreten können", ist und bleiben wird, gleich hier in einer modernen einwandfreien Formulierung zu geben: Die transzendentalen Formprinzipien sind das logische Prius für die gültigen Zusammenhänge des "Gemeinten" oder "Intendierten", und zwar sowohl für den Eigenzusammenhang eines einzelnen intentionalen Gegenstandes, als auch für die Zusammenhänge der einzelnen intentionalen Gegenständlichkeiten (Sinninhaltlichkeiten, Wahrheiten) untereinander (6).

KANT selbst nun stellte, der wissenschaftlichen Lage seiner Zeit gemäß, das erkenntnistheoretische Problem in Beschränkung auf eine Theorie der exakten mathematischen  Natur wissenschaft, so wie er sie vorfand. Für uns heute, für die sich der Begriff der Wissenschaft nicht in dem der Naturwissenschaft erschöpft, sondern die wir (als Geschenk HEGELs und der Romantik) auch eine Geschichtswissenschaft besitzen, ergibt sich aus dieser veränderten Lage der Wissenschaft im Ganzen die sowohl kulturhistorische wie pragmatische Notwendigkeit, die transzendentale Problemstellung auch auf die historische Wissenschaft auszudehnen. (7) Natürlich aber ist mit dieser formalen Gleichheit oder Parallelität der Problemstellung nicht auch schon ohne weiteres irgendeine inhaltliche Gleichheit der Lösung gesetzt, sondern diese ist, wie jede sachliche Lösung, aus der zu untersuchenden Sache selbst zu entnehmen. Mag also vielleicht - ich sage: vielleicht - die transzendentale Reflexion auf das Problem "Natur" zu dem Resultat kommen, daß die "Naturphilosophie" in einer transzendentalen Theorie der Natur wissenschaft  restlos aufgehe, daß also "die Natur" überhaupt nichts anderes und nicht mehr sei, als der transzendental-logisch konstituierte "Gegenstand" (vgl. Anm. 6) der Natur wissenschaft,  so ist damit durchaus nicht etwa auch schon ausgemacht, daß pari passu [im gleichen Zug - wp] das Problem "Geschichte" in seinem Gehalt restlos konstituiert werde durch die Geschichts wissenschaft  und deren Theorie. Aber soviel ist allerdings gesetzt, daß das Problem "Geschichte" von einer wissenschaftlichen Philosophie bloß angefaßt werden kann durch das Problem "Geschichtswissenschaft" hindurch.

Wer also die von KANTs transzendentaler Methode vollzogene kopernikanische Wende in der philosophischen Problemsellung als zu Recht bestehend (8) anerkennt, für den ist von vornherein klar, daß sich eine transzendentale Philosophie der Geschichte, als Ausgangspunkte wenigstens, an die wirklich vorhandene Geschichtswissenschaft zu halten hat, um überhaupt in ihr Problem hineinzukommen. Damit haben wir aber schon eine wichtige, wenn auch nur negative Einsicht für unser Problem "Geschichtsphilosophie" gewonnen, nämlich die prinzipielle Ablehnung aller Versuche, von irgendeinem der Geschichtswissenschaft selbst fremden, von außen an sie herangebrachten Standpunkte aus die Aufgabe und Struktur der Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie zu bestimmen. Konkret gesprochen: Abgelehnt sind alle Versuche einer naturalistischen Geschichtsphilosophie, vom utopistischen Ideal  einer  allein-selig-machenden wissenschaftlichen Methode ausgehend, auch die Geschichtswissenschaft und, als deren Extrakt, die Geschichtsphilosophie in eine Gesetzeswissenschaft ausmünden zu lassen. Abgelehnt ist mit anderen Worten jeder Versuch, der Geschichtsphilosophie die  soziologische  Aufgabe zu stellen, Gesetze der sozialen Statik und Dynamik zu suchen.

Um nicht mißverstanden zu werden, will ich ausdrücklich betonen, daß auch dies vielleicht eine wissenschaftliche Aufgabe sein kann; nur ist sie nicht die einzige Aufgabe einer Geschichtsphilosophie, die vor dem "Faktum" der einzelwissenschaftlichen Leistung, die in der wirklich vorhandenen empirisch-positiven Geschichtswissenschaft vorliegt, so viel Respekt zu haben verpflichtet ist, daß sie von diesem Faktum, so wie es ist, als intangibler Basis ihrer Reflexionen ausgeht, statt mit mehr oder weniger Willkür der Einzelwissenschaft ins Handwerk pfuschen und ihr sagen zu wollen, was sie und wie sie es zu behandeln habe. Die empirische Geschichtswissenschaft lehnt ein solches dogmatisch-spekulatives Ansinnen mit demselben Recht ab, mit dem sich die exakte Naturwissenschaft gegen die dekretorischen Festsetzungen der spekulativen Naturphilosophie, etwa SCHELLINGs, gewehrt und dabei auf der ganzen Linie gesiegt hat. Seit AUGUSTE COMTE sind aber derartige konstruktive Versuche immer wieder aufgetaucht, und sie spielen auch noch in der Gegenwart eine Rolle; darum schien es mir nicht unwichtig und überflüssig, hier gleich in der Einleitung dazu Stellung zu nehmen von einer ganz bestimmten, prinzipiellen Auffassung der Aufgabe und Methode der Philosophie und ihrer Stellung zu den Einzelwissenschaften aus.

Geschichtsphilosophie verstehe ich also eine transzendentalphilosophische Disziplin, und deren Probleme will ich nun zu skizzieren suchen. Damit aber diese Aufgaben - denn es wird sich zeigen, daß es sich nicht um ein, sondern um eine große Anzahl von Problemgruppen handelt - nicht als ein bloßes, "empirisch aufgerafftes" Aggregat erscheinen, muß der Versuch gemacht werden, sie alle aus einem einheitlichen Prinzip zu "deduzieren", sie alle auf einen Kardinalbegriff hinzuordnen, sodaß ihr gegenseitiges Verhältnis und das "geistige Band", das sie eint, zu klarem Bewußtsein kommt. Dieses Deduktionsprinzip kann selbstredend nur aus dem Begriff der Transzendentalphilosophie überhaupt gewonnen werden, da deren "Wesen" sich in all ihren Ausgestaltungen und Spezialdisziplinen wiederfinden muß. Glücklicherweise brauche ich aber im vorliegenden Gedankenzusammenhang die Wesensstruktur der Transzendentalphilosophie nicht in all ihren Einzelzügen zu entwickeln, sondern es wird für unseren Zweck hier genügen, wenn ich 2 Merkmale, allerdings 2 konstituierende Grundmerkmale, des transzendentalen  modus philosophandi  herausstelle, die unter sich zudem aufs engste zusammenhängen:
    1. Transzendentalphilosophie ist selbstbewußte, d. h.  sich selbst wissende Wissenschaft. 

    2. Transzendentalphilosophie ist  Geltungsphilosophie;  d. h. sie hat es - im Unterschied sowohl zur Metaphysik alten Stils als auch zu den positiven Einzelwissenschaften - nicht mit Fragen des Seienden, sondern mit solchen des Geltens zu tun, mit dem "Apriorischen" in der kantisierenden Terminologie, mit den Gültigkeiten und deren Prinzipien, wie wir heute lieber, unter Vermeidung des so mißverständlichen und so mißverstandenen Wortes "a priori" [von vornherein - wp] sagen. (9)
Das erste Moment ist unschwer klar zu machen. Die Einzelwissenschaften untersuchen und prüfen nicht selbst die letzten, obersten Prinzipien, von denen sie bei ihrer Arbeit ausgehen, bzw. gemäß denen sie in ihrer Arbeit verfahren. Aus dieser Sachlage entspringt ja gerade das Bedürfnis nach einer eigenen Disziplin, die das tut: die Notwendigkeit einer Erkenntnistheorie als eigener Wissenschaft mit eigenem Gegenstand. Anders in der Philosophie: da es über sie hinaus keine Wissenschaft mehr gibt, die ihre Prinzipien untersuchen könnte, muß sie das prinzipiell selbst tun, gerade wenn und weil sie die letzte und oberste Wissenschaft zu sein beansprucht. Das heißt: sie hat jeden einzelnen Schritt, den sie tut, mit vollem Bewußtsein seiner Gründe und seiner Tragweite, seines Sinnes und seiner Geltung (10) zu unternehmen. Wenn aber so in die Transzendentalphilosophie selbstbewußte, d. h. sich selbst wissende Wissenschaft sein muß, so folgt daraus, daß jede Einzeldisziplin derselben nicht nur Philosophie ihres Gegenstandes, also etwa der Natur oder der Geschichte, zu sein hat, sondern immer auch und zuerst - nicht nur Philosophie der Wissenschaft von diesem Gegenstand, sondern - auch Philosophie der Philosophie dieses Gegenstandes. Auf die eminent schwierigen logischen Probleme, die sich hier erheben, (11) kann ich an dieser Stelle nicht eingehen; ich will aber  en passant  [im Vorbeigehen - wp] ein in anderer Richtung liegende Konsequenz dieses Charakters der Philosophie ausdrücklich ins Bewußtsein heben: (12) sie bezieht sich, wenn ich es so nennen darf, auf die "Ethik des Philosophierens".

Wenn nämlich die Philosophie allüberall sich selbst wissendes Wissen, bzw. sein soll, so ergibt sich als "kategorischen Imperativ" für die Denkarbeit des Philosophen, will sie Wissenschaft schaffen, daß er niemals (um den Ausdruck SCHILLERs zu verwenden) als "schöne Seele" philosophieren darf, sondern - als "Moralist des Denkens" (13) - immer zu vollem kritischem Bewußtsein seiner Grundsätze verpflichtet ist bei jedem einzelnen Denkakt, sofern er für denselben und dessen Ergebnis Allgemeingültigkeit beansprucht. Für ihn als Philosophen und sofern er philosophiert, gilt in der Tat, was KANTs "Maximenmoral" für das  gesamte  menschliche Handeln, sofern es sittlich sein will, verlangen zu müssen glaubte - gegen welche lebentötende Überspannung des Rationalismus man sich mit Recht aufgebäumt hat. Vom Philosophen als solchem muß die Wissenschaft schlechterdings überall und wenn auch nicht immer den Rationalismus, wohl aber die durchgängige bewußte Herrschaft der  ratio,  d. h. des methodisch-wissenschaftlichen Begründungszusammenhangs' verlangen. Konkreter gesprochen: Alles sogenannte "genialische" Philosophieren ist so lange vor-wissenschaftlich, und zwar im Sinne von unter-, nicht von überwissenschaftlich, solange es nicht seine "Schauungen" und sein "Geschautes" aus dem "Aggregatzustand" der intuitio, in dem es konzipiert sein mag, in den der ratio, d. h. der in diskursiver Form sich entwickelnden Vernunft als wissenschaftliches System übergeführt hat. Die Philosophie als Wissenschaft hat die  hypotheseis  verknüpfende  methodos  in ihrer rationalen Konstitution ins Bewußtsein zu heben.

Transzendentalphilosophie ist selbstbewußte, d. h. sich selbst wissende Wissenschaft. Daraus rechtfertigt sich, daß man, bevor man die einzelnen sachlichen Probleme der Geschichtsphilosophie zu behandeln unternimmt, zuerst das Problem der "Geschichtsphilosophie" selbst stellen muß, d. h. das Problem das die Geschichtsphilosophie als transzendentalphilosophische Disziplin der auf sich selbst reflektierenden Philosophie stellt; Kantisch ausgedrückt: die Frage nach der "Möglichkeit der Geschichtsphilosophie", d. h. nach ihrem Sinn, ihrem Begriff, ihrem Wesen als philosophischer Wissenschaft, und dem daraus sich ergebenden Zusammenhang ihrer Probleme (wozu eben dieser Aufsatz eine Studie sein will).

Was nun das zweite Merkmal anlangt: Transzendentalphilosophie ist  Geltungs philosophie, so muß man hier, will man verständlich sein, entweder ganz weit ausholen oder sich ganz kurz fassen; ich wähle zeit- bzw. raumgedrungen das letztere. Es empfiehlt sich vielleicht als das Einfachste, von einer allbekannten Behauptung KANTs selbst auszugehen: In der Transzendentalphilosophie handle es sich nicht um  quaestiones facti,  sondern um  quaestiones iuris.  (14) Die Untersuchung der ersteren, wie sie die Einzelwissenschaften vornehmen, kann zwar zur Kenntnis des kritisch zu Beurteilenden beitragen; niemals aber kann sie aus sich selbst heraus, gerade weil sie sich prinzipiell nur mit  Urteilen  über das Seiende und dessen Genes befaßt,  Kriterien  für dessen  Beurteilung  liefern. Auch diese aber sind ein würdiger Gegenstand menschlichen Wissens; auf sie hat sich im Unterschied von den die Seinsprobleme behandelnden positiven Wissenschaften die Philosophie zu richten. Der logisch übergeordnete Begriff für die  quaestio iuris  = Rechtsfrage aber ist die Wertfrage, und darum hat WINDELBAND (15) die Transzendentalphilosophie nach Gegenstand und Methode als  "kritische Wertwissenschaft definiert. Die neueren logischen Untersuchungen haben hier weiter gebohrt und gezeigt, daß auch der Wertbegriff hier noch nicht der logisch letzte sei, sondern daß der rein-logische Gehalt des Wertbegriffs sich im LOTZEschen Begriff des  Geltens  erschöpfe. (16) So wird der Begriff des Geltens zum Kardinalbegriff der modernen Transzendentalphilosophie als Wissenschaft.

Aus ihm resultiert erst der Begriff des Wertes durch inhaltliche Eigentümlichkeiten des dem Gelten (in der erkenntnistheoretischen Abstraktion) gegenüberstehenden Seienden als dem "bloßen Materiale" (FICHTE!) für das Gelten, nämlich daraus, daß es darin  Subjekte  gibt: der Begriff des Geltens wird zu dem des Wertes erst durch die  Subjektbezogenheit,  d. h. dadurch daß das Gelten nicht in seiner logischen Reinheit als Gelten schlechthin ins Auge gefaßt, sondern auf ein Subjekt, bzw. ein Subjekt auf es bezogen wird,  für das  es gilt:  Wert = subjektbezogenes Gelten. 

Wo es sich also in der Philosophie um ein Gebiet handelt, bei dem von dieser Subjektbezogenheit des Geltens abstrahiert werden kann oder muß, wie z. B. in der transzendentalen Theorie der exakten mathematischen Naturwissenschaft, da tritt der Wertbegriff zurück und alles dreht sich um den Begriff der Gültigkeit und deren Zusammenhangsprinzipien. Und zwar sind diese Gültigkeiten durchaus keine mysteriösen Gebilde, sondern die uns allen bekannten "Naturdinge" als "Gegenstände der Naturwissenschaft", bzw. die naturwissenschaftlichen  Begriffe  oder  Gesetze,  die nur zum Zweck einer logischen Theorie als eines Teiles der Transzendentalphilosophieüberhaupt die Bezeichnung "Gültigkeit" bekommen, weil sich in ihrem schlechthinnigen theoretischen Gelten ihr "Wesen" als Gegenstände der Naturwissenschaft restlos erschöpft.

Diese Betrachtung unter dem Gesichtspunkt des  reinen  Geltens verschiebt sich aber sofort mit dem Moment, wo ein Mensch nicht als bloßes  Objekt  der Naturtheorie, sondern als wollendes und handelndes  Subjekt  in den Gesichtskreis der transzendentalen Reflexion tritt. Anstelle der Probleme des reinen Geltens erhebt sich nun das Problem des Geltens  inbezug  auf ein handelndes Subjekt, d. h. das Problem des Wertes. Der Begriff des Wertes überhaupt aber zerlegt sich dann weiter durch seine Beziehung auf das  Subjekt des Handelns  einerseits, das  Handeln des Subjekts  andererseits wieder in zwei Begriffe:
    1. als das  Gelten für  noch zu geschehende Handlungen ergibt sich der Begriff der  Norm, 

    2. als das  Gelten von  schon geschehenen Handlungen ergibt sich der Begriff des  Sinnes. 
Ist jene der formale Begriff der Ethik, so ist dieser derjenige der Geschichtsphilosophie. Die gesuchte Deduktion der Aufgabe der Geschichtsphilosophie innerhalb der Gesamtaufgabe der Transzendentalphilosophie als sich selbst wissender Geltungsphilosophie ergibt das Resultat: sie handelt nicht von  Gesetzen des Geschehens,  sondern ist das wissenschaftliche Selbst-Bewußtsein vom  Sinn der Geschichte. 

Da aber "der Sinn sich nur deuten läßt aufgrund von Werten, die gelten" (17), gründet die  Geschichtssinnwissenschaft in der Geschichtswertwissenschaft.  Von diesem Begriff und den in ihm gesetzten Problemen müssen wir ausgehen, um die Gesamtheit geschichtsphilosophischer Probleme in ihrem systematischen Zusammenhang zu überblicken.

Wie das Wort "Episode" nicht nur den eingelegten Gesang, die  epeisode,  bezeichnet, sondern auch, ja in erster Linie das darin Besungene, das eingeschobene wirkliche Ereignis, so hat auch das Wort "Geschichte" die Doppelbedeutung, sowohl den realen historischen Prozeß zu bedeuten, als auch die Wissenschaft von demselben. Dieser Zweiteilung entsprechend ist darum auch die Geschichtsphilosophie sowohl  Wissenschaft vom Wert (oder Sinn) der Geschichtswissenschaft,  als auch  Wissenschaft vom Wert (oder Sinn) der Geschichte  selbst. Gemäß früheren Ausführungen kann sie als transzendentale Disziplin nur durch das Problem der Geschichtswissenschaft hindurch an das Problem der Geschichte selbs in wissenschaftlich-philosophischer Weise herankommen.

Wir erhalten also zunächst zwei große Gruppen geschichtsphilosophischer Probleme:  Geschichtswissenschaftswertwissenschaft  und  Geschichtswirklichkeitswertwissenschaft.  Jeder dieser Problemkomplexe zerlegt sich aber seinerseits wieder in zwei Problemgruppen gemäß folgender Überlegung:
    1. Wenn ich vom Wert der Geschichtswissenschaft handle, so kann ich einmal diese als Gesamtheit hinnehmen und nach ihrem Wert für  außerhalb  ihrer selbst liegende Werte fragen, also vor allem nach dem Wert der Geschichtswissenschaft für das  Leben  einerseits, für  Philosophie und Weltanschauung  andererseits. Diese Probleme wollen wir als  Geschichtswissenschaftswertwissenschaft  im engeren Sinn zusammenfassen.

    Ich kann aber auch die Geschichtswissenschaft für sich als einen  Eigenwert,  eben den Wert "Geschichtswissenschaft" (um der Geschichtswissenschaft willen) ins Auge fassen und hier nun innerhalb dieses Wertes nach den Prinzipien fragen, die ihn als Wert konstituieren, d. h. a.so nach der Struktur der Geschichte als Wissenschaft, nach deren Voraussetzungen und Methode. Diese Problemgruppe wollen wir bezeichnen als  kritische  Geschichtswissenschaftwissenschaft.

    Das wäre als die Philosophie der Geschichtswissenschaft. Die Aufgaben der Philosophie der Geschichte selbst aber erwachsen hieraus aufgrund folgenden Weiterdenkens:

    2. "Nicht alles, was geschieht, ist Geschichte" (WINDELBAND). Die Geschichtswissenschaft bedarf also Prinzipien, nach denen sie aus der Mannigfaltigkeit der Geschehnisse ihre Auswahl trifft und gemäß denen sie ihre historischen "Begriffsbildungen" herausstellt. Diese "Prinzipien der Synthesis" sind aber eben als solche Wertprinzipien, aus denen erst der betreffenden "Ordnung" von Tatsachen der Charakter als Geltungszusammenhang zufließt. Der emprische Historiker braucht sich dieser seiner transzendentalen Bedingtheit natürlich ebensowenig bewußt zu sein bei der Einzelarbeit  innerhalb  seiner Wissenschaft, als der Naturwissenschaftlicher auf seinem Arbeitsgebiet. Der Geschichtsphilosophie aber erwächst die Pflicht, nachdem sie diese transzendentalen Bedingungen in der Geschichtswissenschaftswissenschaft bloß auf ihre Funktion als  Wissenschaftskonstituen  untersucht hat, sie nun weiter, ihre transzendentale Analyse vertiefend, auch als Gegenständlichkeitsprinzipien der  Geschichte als realem Prozeß  ins Auge zu fassen. Das heißt: sie hat den transzendentalen Gehalt der Geschichte selbst zu untersuchen und herauszustellen.
Diese Aufgabe aber zerlegt sich in eine  materiale  und eine  formale:  es sind zunächst die inhaltlichen historischen Werte, die die empirische Geschichtswissenschaft herausarbeitet, auf ihren (nicht historischen Seins-, sondern überhistorischen) Wertzusammenhang untereinander zu untersuchen, und es muß dann zweitens der letzte Grund und Sinn all dieser Werte und ihres Zusammenhangs, also das unterste Fundament der Geltung von Werten überhaupt, geprüft werden. So ergeben sich innerhalb der Geschichtswirklichkeitswissenschaft auch wieder zwei Problemgruppen: kritische Wissenschaft von den historischen Werten und kritische Wissenschaft vom Geltungsgrund dieser Werte; mit analoger Wortbildung wie bei 1:  kritische Geschichtswertewissenschaft  und  kritische Geschichtswertewertwissenschaft. 

Diese Wortbildungen klingen, wie ich selbst sehr wohl weiß, alle nicht sehr schön. Aber sie haben den Vorzug, das gemeinsame Band, das all diese in sich sehr verschiedenen Probleme untereinander zusammenhängen läßt, schon äußerlich hervortreten zu lassen. Ich werde selbst nachher für die Grundprobleme andere Bezeichnungen einführen, will aber als Zusammenfassung meiner bisherigen Ausführungen die 4 Disziplinen, in die sich uns "das Problem der Geschichtsphilosophie" nunmehr zerlegt hat, nochmals hintereinander aufzählen:

Die Geschichtsphilosophie als transzendentale, d. h. wertkritische Geschichtswissenschaft zerfällt in:
    I. die Geschichtswissenschaftswertwissenschaft und
    II. die Geschichtswirklichkeitswertwissenschaft.

      Erstere wieder zerfällt in:
      1. die Geschichtswissenschaftswert-wissenschaft im eigentlichen Sinn und
      2. die kritische Geschichtswissenschafts-wissenschaft

      Letztere zerfällt in:
      3. die kritische Geschichtswerte-wissenschaft und
      4. die Geschichtswertewert-wissenschaft.
Der allgemeine Teil ist damit zuende. Ich will in einem 2. Teil versuchen, die so in abstrakto unterschiedenen Problemgruppen einzeln etwas näher zu beleuchten; zu größerer Veranschaulichung und Verlebendigung werde ich dabei einige gegenwartsphilosophiegeschichtlichen Hinweise zu geben suchen, indem ich einige markante Strömungen, Hauptprobleme, Denker, Bücher in meine Problemgruppierung einreihe.
LITERATUR Fritz Münch, Das Problem der Geschichtsphilosophie [Eine Einführung in den systematischen Zusammenhang ihrer Probleme] Kant-Studien Bd. 17, Berlin 1912
    Anmerkungen
    1) Nach einem am 8. November 1911 in der "Philosophischen Gesellschaft" zu Jena gehaltenen Vortrag. Für den Druck sind hinzugekommen: die Anmerkungen und eine Anzahl von Verbesserungen der Formulierung im Text, zu denen ich durch Mißverständnisse, die in der an den Vortrag sich anschließenden Diskussion zutage traten, veranlaßt wurde. Als allgemeine Literatur zu den Gesamtausführungen ist zu vergleichen: HEINRICH RICKERT "Geschichtsphilosophie" (in WINDELBANDs Festschrift für Kuno Fischer "Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts"); 2. RUDOLF EUCKEN "Die Philosophie der Geschichte" (in HINNEBERGs "Kultur der Gegenwart", Teil 1, Abt. 6); 3. GEORG SIMMEL "Die Probleme der Geschichtsphilosophie", 3. Auflage, Leipzig 1907
    2) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe B, Vorrede Seite XVI
    3) Vgl. Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe A, Seite 125 und 126
    4) Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe A, Seite 263 und 479
    5) Es sollte nicht notwendig sein, ist aber leider notwendig, ausdrücklich zu betonen, daß das Wort "Funktion" in diesen transzendental-logischen Zusammenhängen immer den aus der Mathematik, nie den aus der Physiologie stammenden Sinn hat.
    6) Ich will hier den Ausdruck "transzendental", wie ich ihn im folgenden verwenden werde, ein für allemal terminologisch festlegen:  Transzendental  nenne ich jede  wissenschaftliche  Untersuchung, die nicht sowohl auf eine Erkenntnis irgendwelcher Gegenstände selbst abzielt, als vielmehr auf eine Einsicht in das Wesen der "Gegenständlichkeit" von Gegenständen überhaupt. (Vgl. Kr. d. r. V. B 25). Es ist also eine Untersuchung, die nicht eine inhaltliche Gegenstandserkenntnis anstrebt, sondern bloß auf das Problem der Form (Kr. d. r. V. A 127) eines "Gegenstandes überhaupt" gerichtet ist, d. h. auf die logische "Möglichkeit" des Gegenstandes, d. h. auf den Begriff "Gegenstand, d. h. auf den Sinn des Wortes "Gegenständlichkeit". Vgl. KANTs Problemformulierung in einem Brief an MARCUS HERZ von 21. Februar 1772). - - - Dabei ist jedoch nicht bloß an theoretische Gegenständlichkeit = Wahrheit, sondern auch an ästhetische, ethische, religiöse Gegenständlichkeit zu denken, mit einem Wort: an der "Gegenstand der Kultur überhaupt", d. h. dasjenige, das allen Sinnzusammenhängen die  Geltungssanktion  verleiht; an dem sich alle Phänomene zu legitimieren haben, die Kultur in einem prägnanten Sinn sein wollen. - - - Zusammengefaßt: Transzendental ist jede Untersuchung, die (unter methodischer Zugrundelegung der kopernikanischen Wende - das geht gegen jede ontologistische Metaphysik!) sich mit dem Problem der schlechthinnigen Geltung von Prinzipien irgendwelcher Sinn-, d. h. Vernunft-, d. h. Kulturzusammenhänge (wobei jede psychologisierende "Introjektion" fernzuhalten ist - das geht gegen jeden relativistischen Psychologismus!) befaßt, die also auf Herausstellung von Prinzipien der Gültigkeit schlechthin abzielt. Die Transzendentalphilosophie hat es mit dem "Logos" zu tun, d. h. mit dem Gehalt der Kulturwirklichkeit an absoluten Werten und dem Zusammenhang dieser Werte.
    7) Trotz dieser engen Beziehung der Problemstellung einer "Kritik der historischen Vernunft" (DILTHEY) zu der in KANTs Kr. d. r. V. vollzogenen "Kritik der mathematisch-naturwissenschaftlichen Vernunft" kann ich es nicht für glücklich halten, die äußere Form der Entwicklung der hier vorliegenden Probleme dem Darstellungsschema der Kr. d. r. V. anzupassen, wie es eine Abhandlung von MEDICUS ("Kant und Ranke" in den Kant-Studien, Bd. VIII) versucht, indem sie auch beim historischen Bewußtsein eine "Analytik" und eine "Dialektik" unterscheidet. - - - Vielmehr hätte gerade diese (natürlich nicht psychologische, sondern transzendentale) "Kritik der historischen Vernunft" anstelle der - heute keinen bekämpfenswerten Gegner mehr vorfindenden - Dialektik der Kr. d. r. V. den Übergang von der rein theoretischen Vernunft zur reinen praktischen Vernunft zu leisten. Allerdings ist eine solche Ergänzung der positiven Ergebnisse, die KANT durch eine kritische Analyse aus dem philosophischen und kulturellen Bewußtsein seiner Zeit herausschälte, eben erst durch die in der Dialektik der Kr. d. r. V. geleistete "Zermalmung" der dogmatischen Metaphysik möglich geworden: die Ausführung dieser destruktiven Arbeit durch KANT hat erst die Bahn freigemacht für eine wissenschaftliche Weiterführung der Weltanschauungsfragen unter transzendentalem Aspekt.
    8) In der Diskussion wurde betont, daß die Notwendigkeit und das Recht dieser Wendung zuerst begründet werden müßte. Das ist ohne weiteres zuzugeben. Die Begründung hätte zu erfolgen durch eine kritische Analyse der beiden Grundbegriffspaare, in denen sich der Gedankenzusammenhang der Transzendentalphilosophie entwickelt: Form und Inhalt, Subjekt und Objekt - 2 Begriffspaare, die sich durchaus nicht decken, hat doch der eine Gegensatz seinen "Ursprung" in der "reinen" Logik, der andere in der transzendentalen Ethik im weitesten Sinne des Wortes. (Bei dem Wort "Ursprung" ist natürlich jeder Gedanke an etwas Psychologisches, überhaupt an irgendein zeitliches Geschehen durchaus fernzuhalten: es ist bloß eine Ortsbezeichnung in Bezug auf das Gedankengebäude der Transzendentalphilosophie, eine Angabe, wo der betreffene Gegensatz Heimatsrecht und Unterstützungswohnsitz hat.) Aber diese Untersuchung und Begründung ist eine Sache für sich; sie kann nicht an dieser Stelle und in diesem Zusammenhang in extenso gegeben, sondern muß im Wesentlichen vorausgesetzt werden. Wer hieran Anstoß nimmt, füge der Überschrift bei: "vom Standpunkt der Transzendentalphilosophie".
    9) Vgl. Anm. 6. Es sei hier gleich eine weitere Ausführung von grundlegender Bedeutung für die richtige Einstellung auf das Problem der Transzendentalphilosophie gestattet: Im Verlauf der transzendentallogischen Untersuchung enthüllt sich auch  das Sein  als ein Geltungsproblem; darin vollendet sich erst die kopernikanische Tat in ihrer vollen Tragweite. "Das  Sein  des Seienden - nicht  das Seiende selber  - ist also ein Spezialfall des Geltenden, des Reiches des Nichtwirklichen". (HERMANN LESER, Einführung in die Probleme der Erkenntnistheorie, Leipzig 1911, Seite 250. Vgl. EMIL LASK, Logik der Philosophie, Seite 45)  Das Sein  ist eine Geltungsform neben und unter anderen Geltungsformen. - - -  En arche nu o logos:  Im Anfang war der  Sinn!  Das heißt: Der Sinn ist das  logische  Prius jedes sinnvollen Zusammenhangs (also auch jedes "Wirklichkeits"-Zusammenhanges) und damit auch jedes sinnvollen Verhaltens, z. B. des logischen Urteilens oder ethischen Handelns. Wer die logische Priorität des Sinnes vor allem - auch jedem idealen oder ideellen - Sein bestreitet, behauptet damit selbstzugestandenermaßen - "Un-sinn". (Vgl. namentlich HEINRICHT RICKERT, Zwei Wege der Erkenntnistheorie, Kant-Studien, Bd. XIV), speziell Abschnitt V! Gerade darin, daß die Transzendentalphilosophie sich nicht von vornherein auf das Seiende einstellt, sondern das Sein des Seienden selbst zum Problem macht, beruth ihr kritischer, antidogmatischer Charakter. Und hat man erst einmal das Problem gesehen - darin begründet sich die Unsterblichkeit KANTs! -, ist der Weg nicht mehr so weit zu der Einsicht, daß das Sein des Seienden nicht selbst wieder ein Sein haben kann (sondern eben nur noch einen Sinn). - - - Es gibt auch unter den sogenannten Philosophen eine Menge Leute, die ein der Seekrankheit ähnliches Gefühl haben, wenn sie hören, das Sein sei eine "Kategorie": sie glauben, den Boden unter den Füßen zu verlieren und in die Luft zu fliegen; sie haben die Vorstellung, als ob damit die Klammern, die das Weltgefüge zusammenhalten, sich in ein "ätherisches" Gebilde verflüchtigen. Wer aber die Frage nach dem  Sein  des Seienden, der Wirklichkeit des Wirklichen, der Gegebenheit des Gegebenen usw. nicht von den Fragen nach dem Seienden, Wirklichen, Gegebenen usw. selbst zu trennen vermag, ist eben in logischer Hinsicht formenblind: er hat kein Recht, die transzendentale Problemstellung weder anzunehmen noch abzulehnen, da er sie noch gar nicht sieht; der philosophische Star ist ihm noch nicht gestochen, ihm fehlt das transzendentale Sehen. - - - Man hat vor der Infinitesimalrechnung gesagt, sie sei die Wissenschaft, "welche das Gras wachsen hört" (vgl. LIEBMANN, Gedanken und Tatsachen II, Seite 103, Anm.): ein ausgezeichnetes Bild! Eines von den wenigen Bildern, die geeignet sind, auch einem im rein logischen Denken weniger geschulten Kopf ein rein begriffliches Verhältnis anschaulich näher zu bringen. Aber es gilt viel Allgemeiner: von der gesamten Transzendentalphilosophie (COHEN). Die transzendentale Problemstellung sieht letzten Endes auch in jeder Tat-"sache", in jeder "Wahr"-nehmung ihr Konstituiertsein aus transzendentalen Formprinzipien, aus denen allein sie ihre "Geltung" entnimmt, ihr transzendentales "Erzeugt"-sein aus ihren logischen "Möglichkeitsbedingungen". - - - Aber wohlgemerkt: Jeder Gedanke an eine "erzeugende Tätigkeit", einen Akt des  Subjekts  ist in der "reinen Logik" durchaus fern zu halten. (Vgl. das "Ursprung" in Anm. 8) Die Notwendigkeit der kopernikanischen Wende entspringt in der transzendentalen  Logik  und betrifft zunächst bloß den Gegensatz von  Form  und  Inhalt,  nicht den von  Subjekt  und  Objekt.  (Vgl. darüber EMIL LASK, Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre", Tübingen 1911) Erst in der transzendentalen Ethik wird das Subjekt von zentraler Bedeutung. "Im Anfang war der Sinn": von diesem zeitlos gültigen Sinn handelt die transzendentale Logik. Erst wenn es sich dann um die "Verwirklichung" einer Gültigkeit handelt, ihre Herabholung aus der sich selbst genügenden Sphäre des reinen Geltens in die der physisch-psychischen Wirklichkeit, ihre Überführung in physisch-psychisch Wirkliches, wird aus jenem ersten "Grund- satz"  die zweite "Grund- setzung":  "Im Anfang war die Tat." Handelt die transzendentale Logik vom zeitlos gültigen theoretischen Sinn, so handelt die transzendentale Ethik von der zeitlos gültigen praktischen Tat (Handlung, "Tathandlung").
    10) Auch seiner "Geltung": darin kommt, wie oben gleich betont, der enge Zusammenhang dieses ersten Merkmals der Transzendentalphilosophie, ihrer Selbstbewußtheit, mit dem nachher zu behandelnden zweiten, ihrem Charakter als Geltungsphilosophie, zum Vorschein. Diese enge Beziehung ist nicht weiter verwunderlich, wenn man eingesehen hat, daß der eigentliche Kern  jedes  "Selbstbewußtseins" das "Geltungsbewußtsein" ist. "Selbstbewußtsein" ist das Bewußtsein des einheitlichen Geltungszusammenhangs aller Eigenerlebnisse im Subjekts-grundwert "Ich". Was dieses Selbstbewußtsein eines Subjekts, die Einheitsform "Ich", den empirisch-individuell-gültigen Erlebnissen leistet, das will die Transzendentalphilosophie der Gesamtheit der überempirisch-überindividuellen Gültigkeiten schlechthin leisten. Und umgekehrt ist gerade das Selbstbewußtsein dasjenige Moment am individuellen Subjekt, durch welches dieses in die transzendentale, d. h. reine Geltungssphäre hinaufragt.
    11) Ich verweise hierfür auf das in Anm. 9 zitierte Buch von LASK, in dem zuerst in prinzipiell durchgeführter Weise über der Logik der Seinswissenschaften (Natur- und Geschichtswissenschaft) eine Logik der Geltungswissenschaft, d. i. der Philosophie verlangt wird.
    12) (in der ich eine Anregung meines Freundes OTTO BAENSCH weiterführe.)
    13) OTTO LIEBMANN, Zur Analysis der Wirklichkeit, Seite 546
    14) Vgl. den philosophisch zentralen Abschnitt der "Kritik der reinen Vernunft", B, Seite 116f ("Von der Deduktion" usw.).
    15) Vgl. den grundlegenden Aufsatz seiner  Präludien:  "Was ist Philosophie?"; ferner ebendaselbst "Kritische oder genetische Methode"; endlich im "Logos", Bd. 1, Seite 188f: "Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus".
    16) HERMANN LOTZE, "Logik", Buch III, Kap. 2: "Die Ideenwelt". Vgl. namentlich Seite 500/501 (zitiert nach der 1. Auflage): "Was dieses Gelten heiße, muß man nicht wieder mit der Voraussetzung fragen, als ließe sich das, was damit verständlich gemeint ist, noch von etwas anderem ableiten". "Man muß auch diesen Begriff als einen  durchaus  nur auf sich beruhenden Grundbegriff' ansehen, von dem jeder wissen kann, was er mit ihm meint, den wir aber nicht durch eine Konstruktion aus Bestandteilen erzeugen können, welche ihn selbst nicht bereits enthielten."
    17) HEINRICH RICKERT, Lebenswerte und Kulturwerte, Logos Bd. 2, Seite 166