ra-2SchmeidlerWindelbandE. BernheimRudolf EuckenGeorg von Belowvon Sybel    
 
FRITZ MÜNCH
(1906 - 1995)
Das Problem
der Geschichtsphilosophie

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"Die Geschichtswissenschaft konstituiert sich zu in sich zusammenhängenden Geltungseinheiten durch eine Beziehung der Phänomene auf als geltend hingenommene  Werte.  Diese Werte für den empirischen Historiker sind zunächst bloß als  faktisch  anerkannt vorausgesetzte Werte, wie etwa der Wert  Staat  oder  Kunst  oder  Wirtschaft.  Dieses Beziehen auf historische  Werte  gewährt aber  Objektivität  nur, wenn es in einer Bezogenheit auf  in sich selbst geltende Werte  gründet."

"Die Geschichtswissenschaft ist  logisch,  wenn die Geschichte  Logos  hat. Erst dadurch wird aus dem Wert als psychischem Und historischem Faktum ein Wert als Wert, ein Wert in sich, eine schlechthinnig-unbedingte = absolute Gültigkeit."

"Die reine Form des kategorischen Imperativs - der ja nichts anderes ist als der  Gedanke  des Wertes ansich in seiner Einbettung in das Bewußtsein eines endlichen und sinnlich-mitbedingten Subjekts - erfüllt sich inhaltlich so:  Handle geschichtlich!  Das heißt: Handle so, daß Dein Handeln als positiver Wert in die Geschichtswissenschaft aufgenommen zu werden verdient, weil es einen Wert in der Geschichte selbst gesetzt hat, weil Du an Deiner Stelle und gemäß Deinem Sein die Ewigkeit in die Zeit verpflanzt hast."

"Die Transzendentalphilosophie muß immer bemüht sein, Geltungs- und Seinsfragen,  quaestiones iuris  und  quaestiones facti,  scharf auseinanderzuhalten und es erhebt sich hier gerade die Frage nach dem Verhältnis beider, nach dem Band, das sie in der  einen  Welt zusammenbindet: die letzte quaestio iuris transzendentalis mündet aus in eine letzte quaestio facti transzendentalis. Und es kann nicht anders sein."

Bei der ersten Problemgruppe kann ich mich kurz fassen. Die Fragen, um die es sich hier handelt, sind keine geschichtsphilosophischen im eigentlichen Sinne, sondern mußten hier nur mit angeführt werden, weil sie zu diesen in einer engen Beziehung stehen, häufig auch als "Geschichtsphilosophie" bezeichnet weden, und in der Tat nur aus dieser heraus eine begründete Antwort finden können.

Das Problem: "Geschichtswissenschaft und Leben" ist ein  pädagogisches  Problem, Pädagogik im umfassenden Sinn einer Bildungswissenschaft überhaupt genommen: es handelt sich um die Frage nach dem "Wert der historischen Bildung". Gegen NIETZSCHEs "unzeitgemäße (!) Betrachtung":"Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" möchte ich die schönen Worte eines Mannes anführen, der von schulphilosophischer Beschränktheit mindestens so frei war, wie NIETZSCHE, und doch auch was von der Sache verstand, WILHELM HUMBOLDTs (18): "Die Geschichte dient nicht sowohl durch einzelne Beispiele des zu Befolgenden oder Verhütenden, die oft irreführen und selten belehren. Ihr wahrer und unermeßlicher Nutzen ist es, mehr durch die Form, die an den Begebenheiten hängt, als durch sie selbst, den Sinn für die Behandlung der Wirklichkeit zu beleben und zu läutern, zu verhinern, daß er nicht in das Gebiet bloßer Ideen überschweift, und ihn doch durch Ideen zu regieren, auf dieser schmalen Mittelbahn aber dem Gemüt gegenwärtig zu erhalten, daß es kein anderes erfolgreiches Eingreifen in den Drang der Begebenheiten gibt, als mit hellem Blick das Wahre in der jedesmal herrschenden Ideenrichtung zu erkennen, und sich mit festem Sinn daran anzuschließen."

Im Allgemeinen ist zu sagen: daß zwar einerseits ein über den Positivismus und Relativismus der empirischen Geschichtswissenschaft nicht hinauskommender  Historismus  ebenso einseitig und unzulänglich ist, wie ein die Geschichtswissenschaft einfach ablehender  Naturalismus,  daß aber andererseits gerade dieser letztere absolut ungeeignet ist, zu jener Einseitigkeit die Ergänzung zu geben, sondern daß diese nur aus einer in absoluten Werten sich gründenden Kulturphilosophie als Wissenschaft fließen kann. Denn "der Kulturmensch ist überhaupt nicht schon mit und im  natürlichen  Menschen  gegeben sondern für den  geschichtlichen  Menschen  aufgegeben  und wird durch ihn allein verwirklicht. Darum besteht ja alle Erziehung, die wir leisten, alle Bildung, die wir leiten können, wesentlich darin, aus dem natürlichen Menschen den historischen zu machen." (19) Nur von dieser allgemeinen Position aus kann dann auch die speziellere Frage entschieden werden, ob unsere Schulbildung ein humanistisches oder ein realistisches  Grund gepräge tragen soll. Für die Selbsterziehung aber fließt aus der Versenkung in die Geschichte die Erarbeitung "eines Lebensstandpunktes, der über die Einseitigkeiten der eigenen natur hinweg ist und in reiner Klarheit des Gedankens vor sich liegen sieht, was andere als dunkle Macht beherrscht." (20)

Die andere Frage in dieser ersten Problemgruppe ist die nach dem Verhältnis der Geschichtswissenschaft zu Philosophie und Weltanschauung, zunächst in rein formaler, methodologischer Hinsicht. Damit ist das meines Erachtens schwerste Problem der Transzendentalphilosophie als Wissenschaft überhaupt aufgeworfen, das grundlegende Methodenproblem, die Frage nach dem  "Organon"  (21) der Geltungsphilosophie. Ich kann hier natürlich bloß die Möglichkeiten, so wie ich sie sehe, kurz skizzieren.

Es handelt sich zunächst um die beiden - auch gerade in der Gegenwart wieder lebendige - Antipoden: FRIES und HEGEL, d. h. um die Frage, ob die Psychologie oder die Geschichte die Fundstätte der kritischen Erarbeitung der transzendentalen Gültigkeiten sei; beide Methoden, die psycho-kritische und die historio-kritische, bilden schon die antithetischen Pole in der Entwicklung KANTs selbst von der "psychologischen Erkenntnistheorie der Inauguraldissertation" bis zur rein kritischen Fragestellung der "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft".

Wir selbst haben schon soeben in der Unterscheidung des "natürlich gegebenen" animal sociale und des "historisch aufgegebenen" Vernunftmenschen Stellung genommen: nicht durch psychologische Untersuchungen, sondern "aus dem historischen Kosmos, wie ihn die Erfahrung der Kulturwissenschaften darbietet, sind die Prinzipien der Vernunft herauszuarbeiten" (WINDELBAND, a. a. O. Seite 11). Oder, wie RICKERT es formuliert: "Nur durch das Historische hindurch kann der Weg zum Überhistorischen führen. Am historischen Material hat die Philosophie die Werte als Werte sich zu Bewußtsein zu bringen." (22) (Darin begründet sich dann weiter, was hier nicht näher ausgeführt werden kann, die eigentümliche, einzigartige Stellung, in der die  "Geschichte  der Philosophie" zur systematischen Philosophie steht.)

Aber natürlich ist mit diesem allgemeinen, transzendental-methodologischen Bekenntnis zu HEGEL gegen FRIES zunächst nur negativ die Ablehnung der Psychologie als Grundlage der Transzendentalphilosophie ausgesprochen, das positive Verhältnis zur Geschichte selbst läßt zunächst verschiedene methodische Möglichkeiten offen. Ja, auch jene Ablehnung der Psychologie umfaßt nicht die Ablehnung der "Phänomenologie", wie sie HUSSERL in seinen "Logischen Untersuchungen" betreibt, (23) und nicht die der "beschreibenden und zergliedernden Psychologie" DILTHEYs, die vielmehr beide unter einem geltungslogischen Aspekt und in transzendentalen Hilfsdiensten stehen, wenn sie es auch beide nicht wahr haben wollen.

Was nun die historio-kritische Problemstellung betrifft, so ist damit keineswegs auch schon die "dialektische Methode" HEGELs in Bausch und Bogen rezipiert. Es bieten sich hier im wesentlichen drei prinzipielle Möglichkeiten, indem drei verschiedene methodische Ansatzpunkte für eine philosophische Bearbeitung von Geschichte und Kultur vorliegen, wobei der  Begriff der Kultur  mit BAUCH so zu definieren ist (24): "Ist die Natur das Dasein, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bloß mechanisch bestimmt ist, so ist die Kultur das Dasein, sofern es nach allgemeinen Gesetzen zweckvoll, d. h. kurz: nach Zwecken bestimmt ist." Um nun das "Wesen" der Kultur zu erfassen, kann man 1. so vorghen, daß man sich an den realen historischen  Prozeß in seiner Bewegung  hält, und in diesem die Kräfte zu fassen sucht, die das Herauskommen der Kultur bewirken. Dies dürfte der Weg sein, auf dem EUCKEN zu einer überhistorischen Kulturphilosophie zu gelangen sucht. Oder aber man versucht 2. die transzendentalen Prinzipien aus den sich selbst genügenden Niederschlägen des Kulturprozesses, den historisch vorliegenden  Kulturresultaten  zu gewinnen; also etwa auf dem Kulturgebiet "Wissenschaft": aus den "gedruckt vorliegenden Büchern" als Kulturdokumenten. Das ist die Philosophie der  "Marburger Schule".  Oder schließlich 3. man sucht von der  Idee der Kultur  aus ihre Wertkonstituentien zu erfassen, wobei aber diese idee nicht als konstruktives Ideal, sondern als transzendentale Möglichkeitsbedingung gemeint ist. Diese 3. Methode zu einer transzendentalen Kulturphilosophie als Wissenschaft ist diejenige WINDELBANDs und RICKERTs.

Soll ich für die 3 Richtungen philosophie-geschichtliche Anlehnungspunkte (in rein sachlicher Hinsicht" angeben, so würde ich die erstere der "Kritik der praktischen Vernunft", die zweite der "Kritik der reinen Vernunft", die dritte der "Kritik der Urteilskraft" zuordnen, oder auch die erstere mehr auf FICHTE, die zweite auf KANT, die dritte auf HEGEL hinorientieren.

Was meine eigene Stellung angeht, so würde ich gegen EUCKEN betonen, daß für diese Philosophierweise die Gefahr eines "metaphysischen Dogmatismus" sehr groß ist. Bei aller Anerkennung und Wertschätzung des ethischen Pathos, von dem die Gesamtanschauung getragen ist, muß gesagt werden: logisch nicht geschulte Köpfe können leicht dazu kommen, den logischen Geltungssinn und Geltungsgehalt dieser Ausführungen nicht richtig einzuschätzen und als bewiesene Resultate einer wissenschaftlichen Philosophie zu besitzen glauben, was nur intuitiv aufgestellte Kulturpostulate und daraus gesetzte Überzeugungen über das Wesen der Welt sind, deren Geltung (als "wahr") selbst erst eine - erkenntnistheoretisch zu fundierende - transzendentale Werttheorie voraussetzt. In der 3. Richtung scheinen mir die berechtigten Momente der Positition EUCKENs "aufgehoben" zu sein.

Der 2. Richtung aber ist die 3. dadurch überlegen, daß sie sich von vornherein einstellt auf den "Wertbegriff in der Philosophie als "teleologia raionis humanae", wie ihn KANT in der "Methodenlehre" der Kr. d. r. V. (25) aufstellt. Innerhalb dieser ist die Wissenschaft, in specie die mathematische Naturwissenschaft, nur  ein  Kulturgut neben anderen, unter anderen. Darum darf die auf sie passende und an ihr bewährte Methode nicht ohne weiteres zu  der  Methode gemacht werden. Es ist falsch, daß die Philosophie  nur  durch die Wissenschaft,  nicht  anders, sich auf das Ganze der Kultur bezieht. (26) Auf diese Weise ist weder dem ethischen, noch dem ästhetischen, noch dem religiösen Problem adäquat beizukommen (trotzdem natürlich deren philosophische Behandlung als solche Wissenschaft sein muß). Von hier aus gestaltet sich aber dann der ganze Systemzusammenhang anders als bei COHEN und NATORP. Auch die in dieser Richtung berechtigten logischen Momente scheinen mir in der "kritischen Geltungsphilosophie" "aufgehoben" zu sein. (27)

Ich verlasse die grundlegende, methodologische Vorfrage und gehe zum 2. Problem: der Geschichtswissenschaft über.

Ich knüpfe an das an, was ich oben über den Charakter der Selbstbewußtheit aller transzendental-philosophischen Untersuchungen ausgeführt habe. Die Anfangsgründe jeder einzelnen Spezialdispzilin der Transzendentalphilosophie sind danach nicht Philosophie ihres Gegenstandes, sondern Philosophie der Philosophie dieses Gegenstandes, stellen also ein Stück Philosophiephilosophie dar. Ist aber nun dieser Gegenstand selbst eine Wissenschaft, so ist der sich ergebende Tatbestand folgender: Jede Einzelwissenschaft  hat  ein Bewußtsein von ihren Gegenständen, ja, sie  ist  dieses  "Bewußtsein  von" ihren Gegenständen; denn jede Wissenschaft als ein eigengründiger Zusammenhang gültiger Sätze ist transzendental-logisch nichts anderes, als eben der geltende Zusammenhang ihrer Gegenstände, oder, von der Seite des Subjekts gesehen, nichts anderes, als das betreffende Stück oder die betreffende Seite des Wirklichen in der gerade durch den jeweils vorliegenden wissenschaftlichen Auswahl- und Anordnungsgesichtspunkt bedingten synthetischen Einheitsform. Wegen der durchgängig bestehenden transzendentalen Funktionalgleichung zwischen Gültigkeit und Gegenstand sind das ja eben bloß zwei Seiten  einer  Gleichung, also zwei verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache. Jede Einzelwissenschaft ist also die Gesamtheit ihrer Gegenstände in der Einheitsform  ihres  Bewußtseins.

Aber von diesem ihrem Bewußtsein und dessen synthetischen Strukturformen nach ihrem Sinn und ihrer Geltung hat sie als Einzelwissenschaft nicht selbst wieder ein Bewußtsein. Sondern dieses Bewußtsein von ihrem Bewußtsein, ihr (d. h. der Einzelwissenschaft) Selbstbewußtsein hat die Philosophie, ist Philosophie. Daraus ergibt sich, wiederum wegen der kategorial-logischen Konstituiertheit jedes Gegenstandes irgendeiner Wissenschaft durch die transzendentalen Prinzipien, denen sie als Wissenschaft untersteht, daß die letzten Fundamente jeder Wissenschaft als Wissenschaft nichts anderes sind als ihr transzendentaler Gehalt. Etwas prononcierter [nachdrücklicher - wp] ausgedrückt: Das eigentlich Wissenschaftskonstituierende an jeder Wissenschaft ist philosophischer Natur; die Einzelwissenschaften enthalten genausoviel eigentliche Wissenschaft, wie sie Transzendentalphilosophie enthalten.

Die Selbstüberhebung der Philosophie, die hierin zu liegen scheint, verschwindet sofort, wenn man sich klar macht, 1. Daß  die  Transzendentalphilosophie nicht identisch ist mit dem, was dieser oder jener Transzendentalphilosoph meint; ebensowenig wie sich  die  Naturwissenschaft deckt mit dem, was irgendein Naturwissenschaftler irgendeiner Zeit von ihr weiß. An ihre letzte "Idee" und deren vollendete Erfüllung ist dabei allein zu denken. 2. Muß man sich auch hier, auf diesem höheren Niveau, wie immer und überall der (schon wiederholt betonten) durchgängigen Korrelation und Funktionalbeziehung zwischen transzendentalem "Gedanken" (28) und Gegenstand bewußt bleiben. Infolge dieser restringiert sich für den Standpunkt der Einzelwissenschaft, also "von unten her" gesehen, meine obige Behauptung über das Verhältnis von Transzendentalphilosophie und Einzelwissenschaft dahin, daß in jeder Einzelwissenschaft nur soviel echte Wissenschaftlichkeit steckt, als darin Gegenständlichkeit = Wahrheit enthalten ist. Und das ist doch nichts besonders Paradoxes.

Aber eben diesem Problem "Gegenständlichkeit = Wahrheit" ist nur beizukommen vom transzendentalen Standpunkt aus. Hier enthüllt sich die Tragweite des oben von mir Ausgeführten, daß all das, was die Denkweise des gewöhnlichen Lebens wie auch die der Einzelwissenschaften "Gegenstände" nennt, in der transzendentalen Problemstellung den Generalnenner oder gemeinsamen Exponenten "Gültigkeit" bekommt.

Von diesem durchgehenden Gesichtspunkt aus ist die Transzendentalphilosophie die Wissenschaft, in der die Teilbewußtseine von der Welt, genannt Einzelwissenschaften, zum einheitlichen Selbstbewußtsein, un damit eben doch erst "zu sich selbst kommen." Darin liegt also nichts Mystisches und auch nichts spezifisch HEGEL'sches, sondern es ist nur eine ganz nüchterne, rein logische Konsequenz, wenn man einmal die transzendental Problemstellung zu Ende denkt.

Aber eines liegt allerdings darin, daß nämlich die Philosophie (als wissenschaftliche Transzendentalphilosophie) auch heute noch, wie zu Zeiten PLATOs, "die Königin der Wissenschaften" ist, zwar in einem etwas anderen Sinn als bei PLATO, dafür aber mit einer tieferen Beründung ihres Rechts auf den Thron, - und dabei in demselben Umfang: denn sie ist natürlich dieses Selbstbewutsein nicht bloß für die Wissenschaft, sondern auch für die Kunst, die Moral, die Religion, für alle Gebiete eines überempirischen Lebens. (29)

Was folgt aus all dem für unser Problem? Eine selbstverständliche, aber wie das meiste  logisch  Selbstverständlich  psychologisch  lange nicht gesehene Aufgabe, nämlich: daß die transzendentale Frage nach den logischen Möglichkeitsbedingungen wie für die Naturwissenschaft, so auch für die Geschichtswissenschaft prinzipiell und systematisch gestellt werden muß, die Frage nach ihren Voraussetzungen und ihrer Methode, durch die sie erst den Charakter der Wissenschaft erhält. Die gesamten hier liegenden Probleme sind bekanntlich erst in Fluß gekommen durch WINDELBANDs Straßburger Rektoratsrede "Geschichte und Naturwissenschaft" (1894), und das die darin aufgeworfenen Probleme weiterführende Buch von RICKERT "Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung", mit dem bezeichnendenn Untertitel: "Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften" (1896 /1902).

Die geschichtsphilosophischen Probleme, um die es sich hier handelt, kann man bezeichnen als  Geschichtslogik.  Die Zentralfrage ist die nach dem "Gegenstand der Geschichts wissenschaft";  das aber bedeutet für die transzendentale Problemstellung: die Frage nach den formalen Prinzipien, die die Geschichte als Gegenstand der Wissenschaft zu einer geltenden Einheit, zu einem einzigen in sich zusammenhängenden Ganzen machen, nach der Einheitsform des historischen Wissens. Vom Standpunkt des Subjekts aus gesehen lautet sie: Nach welchen Prinzipien verfährt das Erkennen, um aus dem scheinbar chaotischen Fluß der unmittelbar erlebten Wirklichkeit in all ihrer "extensiv und intensiv unendlichen Mannigfaltigkeit" (30) den  kosmos noetos  "Geschichte" herauszustellen? Dabei wird zunächst, wie bei der transzendentalen Theorie der Naturwissenschaft, bloß die methodologische Struktur des fertig vorliegend gedachten historischen  Wissens  als eines vom Subjekt losgelösten, in sich selbst gründenden Zusammenhangs gültiger Sätze ins Auge gefaßt, nicht also die psychologische Genese des historischen  Erkennens  als eines Vorgangs in der Seele des Geschichtsforschers.

Hier könnte ein scheinbar ganz prinzipieller Einwurf gemacht werden: Ist denn die Geschichtswissenschaft überhaupt Wissenschaft? Es ist das im letzten Grund derselbe Knüppel, den man schon KANT und der ganzen Transzendentalphilosophie zwischen die Beine zu werfen versuchte, der Vorwurf: die Wissenschaft werde ja bei der ganzen Fragestellung schon vorausgesetzt, das ganze erkenntnistheoretische Unternehmen sei also zirkelhaft. (31)

Das klingt sehr einsichtig und ist sehr kurzsichtig; man glaubt da, vorurteilsfrei zu sein, und ist in Wirklichkeit nur noch viel vorurteilsvoller und dogmatischer. Denn man mißt dabei letzten Endes den  Begriff  der Wissenschaft, der sich in der wissenschaftlichen Arbeit der Wissenschaft selbst herausbildet, an der aus den verschiedensten psychologischen Momenten unterbewußt, vorwissenschaftlich, unkritisch erwachsenen  Vorstellung  von Wissenschaft und Wahrheit, wie sie das gewöhnliche Leben und der sogenannte "gesunde Menschenverstand" (32) haben: von dieser aus will man der Wissenschaft sagen, was sie "eigentlich" zu wollen habe, während doch sonst in allen Fragen die Wissenschaft gerade die Aufgabe hat, die unklaren und verworrenen Vorstellungsweise des gewöhnlichen Lebens zu klären, zu korrigieren, zu rektifizieren [berichtigen - wp]. Die Wahrheit ist nirgends anders zu finden als in der Wissenschaft; also ist auch ihr Sinn und Begriff aus dieser herauszuarbeiten, an dieser zu Bewußtsein zu bringen; nicht aber an einem mythologischen Phantasieprodukt und Wunschgebilde die wirklichen Wissenschaften und ihre Leistungen zu messen.

Die Geschichtswissenschaft ist als Wissenschaft  kulturwirklich;  nicht mit einem von außen, fremd an sie herangebrachten Wissenschaftsbegriff ist sie zu messen, sondern aus ihr selbst ist mittels der transzendental-logischen Sonde ihr begrifflicher Sinn als Wissenschaft herauszuholen. Da aber zeigt sich: der platonisch-kantische Wissensbegriff, daß es ein Wissen nur vom Generellen gebe, ist durch den Fortschritt des Kulturgeistes selbst überholt: es gibt auch eine Wissenschaft vom Individuell-Besonderen um seiner Besonderheit willen.

Das nun ist das erste Problem der Geschichtslogik: Wie ist eine Wissenschaft vom Individuellen und Besonderen möglich, für welche die Individualität nicht bloß Exemplar und Experimentierobjekt des Allgemeinen ist? Wie kann es das geben? Welches ist der Sinn einer solchen Wissenschaft? Welches sind die Zusammenhang konstituierenden Prinzipien der Auswahl und Neusynthese des "Wesentlichen"? Welches die Kategorien der Geschichtswissenschaft zur Anordnung des Stoffes auf jene obersten Gesichtspunkte hin? Denn die konstitutiven Kategorien der Naturwissenschaft, Substanz und Kausalität, genügen in ihrem naturwissenschaftlichen Sinn nicht, um begreiflich zu machen, daß es eine einzige, einmalige Kette historischer Phänomene als einen Geltungszusammenhang  sui generis  [aus sich selbst - wp] gibt. Mittels ihrer kommt bloß eine "Natur" heraus, die ausnahmslos alles Geschehen umfaßt; aber nicht alles Geschehen ist Geschichte: welches sind die Prinzipien, die aus der allgemeinen kausalgesetzlichen Verknüpfung  aller  Geschehnisse eine bestimmte Kette von Phänomenen als historische heraushebt, welches das "geist'ge Band", das diese Stücke zu einer sinnvollen, in sich geschlossenen Einheit macht?

Des Genaueren handelt es sich um zwei Grundprobleme: 1. das Problem des Wertes und der  Wertbeziehung  als den Konstituentien der Geschichts wissenschaft  als Wissenschaft sui generis (im Unterschied von der Naturwissenschaft), 2. das Problem der "historischen Kausalität" als des Konstituen derjenigen  Wirklichkeits synthese, die Funktion der Geschichtswissenschaft  als Wissenschaft  ist (gegenüber der Frage nach der  Freiheit in der Geschichte selbst).  Ich gehe auf diese Fragen selbst hier nicht weiter ein; nur als Probleme wollte ich sie aufzeigen - Probleme, die in der Gegenwart lebhaft erörtert werden, nicht nur in den verschiedenen philosophischen Lagern, sondern auch von Männern der Spezialwissenschaft selbst (von Historikern und Nationalökonomen, unter denen ich dort EDUARD MEYER, hier MAX WEBER besonders hervorhebe - gegen LAMPRECHT (33).

Die Geschichtslogik hat es mit dem Problem des "Gegenstandes der Erkenntnis" (RICKERT) der Geschichtswissenschaft zu tun; dieses Problem aber bedarf einer Ergänzung durch eine Untersuchung des Problems der "Erkenntnis des Gegenstandes" in der Geschichtswissenschaft. Hier handelt es sich nun um die oben zurückgestellte Frage nach den Vorgängen in der Seele des Geschichtsforschers bei seiner Arbeit, also um erkenntnispsychologische, bzw. erkenntnis phänomenologische  Fragen. Hierzu sind besonders die Arbeiten DILTHEYs und seiner Schüler zu erwähnen, in denen sich über die Schwierigkeit des historischen "Verstehens" und die Mittel und Wege einer historischen Interpretation und Rekonstruktion feinsinnige Ausführungen finden. Auch SIMMELs hierhergehörigen Gedankengänge liegen mehr auf dem psychologischen als dem logischen Gebiet. Derartige geschichtspsychologische Untersuchungen können sich dann herab erstrecken bis in die  technischen  Methoden und Hilfsmittel der Materialbehandlung durch den Historiker selbst, worüber ja die Geschichtswissenschaft in BERNHEIMs "Lehrbuch der historischen Methode" ein ausgezeichnetes Werk besitzt.

Ich wende mich zur 3. Problemgruppe, den Problemen, an die man meistens zuerst denken bei dem Wort "Geschichtsphilosophie". Ich will die hier auftauchenden Fragen - im Unterschied zu der auf die Geschichtswissenschaft gerichtete Geschichtslogik - unter dem Namen  "Geschichtsethik"  zusammenfassen; die Bedeutung, den Sinn dieser Etikette werden die dazu gehörigen Ausführungen selbst klar machen.

Die Geschichtswissenschaft konstituiert sich zu in sich zusammenhängenden Geltungseinheiten durch eine Beziehung der Phänomene auf als geltend hingenommene Werte. Diese Werte für den empirischen Historiker sind zunächst bloß als  faktisch  anerkannt vorausgesetzte Werte, wie etwa der Wert "Staat" oder "Kunst" oder "Wirtschaft". Dieses Beziehen auf historische  Werte  gewährt aber nur  "Objektivität",  wenn es in einer Bezogenheit auf  in sich selbst geltende Werte  "gründet: die empirische Objektivität setzt voraus, daß Wert und Wertbeziehung im Gegenständlichen, d. h. der reinen Geltungssphäre verankert sind. Mit anderen Worten: Die empirisch-historische "Richtigkeit" setzt die überempirische-überhistorische "Wahrheit" als den schlechthinnigen Maßstab voraus, nach dem sie "sich zu richten" hat. Die Geschichtswissenschaft ist  logisch,  wenn die Geschichte  Logos  hat. Erst dadurch wird aus dem Wert als psychischem Und historischem Faktum ein Wert als Wert, ein Wert in sich, eine schlechthinnig-unbedingte = absolute Gültigkeit. (34)

Das Gelten der Werte stammt also nicht aus der Geschichte, sondern verleiht vielmehr selbst erst dieser ihren Geltungscharakter. Aber das hindert nicht, daß  wir  uns diese Werte an der Geschichte als dem  proteron pros hemas  [Früheres für uns - wp] zu Bewußtsein bringen. Die Geschichtswissenschaft selbst verfährt anhand der empirischen Kausalität. Auch als "Universalgeschichte" ist sie ein  kausales Gefüge  vom Standpunkt der positiven Wissenschaft. Aber über dem Gegenstand dieser Universalgeschichte erhebt sich die sachlich - geschichtsphilosophische Frage: welches ist in diesem  empirisch-seienden  Wertzusammenhang der  schlechthin-geltende  Sinnzusammenhang? Die Geschichtsphilosophie als wert-inhaltliche Disziplin hat den  historischen Zeit zusammenhang der Inhalte in Stücke zu schlagen, um den  überhistorischen Rang zusammenhang der Werte herausarbeiten zu können. Zu diesem Zweck hat sie eine Höhenwanderung vorzunehmen über die Gipfel der faktischen historischen Entwicklung, um in einem Längsschnitt durch die Geschichte wertkritisch festzustellen, welche inhaltliche Erfüllung der vorausgesetzte (35) Sinn der Menschheitsgeschichte überhaupt bisher gefunden hat. Während die empirische Geschichtswissenschaft restlos kausal orientiert ist, trägt diese philosophische Geschichtstheorie ein  teleologisches  Gepräge.

Hier erhebt sich das schwere Problem der "historio-kritizistischen" Methode - schwer zu bestimmen und noch schwerer zu handhaben -, wie aus dem Historischen das Überhistorische, aus dem zeitlichen Wechsel das zeitlos Bleibende herauszupräparieren ist und zwar in wissenschaftlicher, d. h. streng allgemeingültiger Weise. Denn der Philosoph hat nicht die Werte zu  "setzen"  (36):  das geschieht in den einzelnen Lebens- und Kulturgebieten durch deren Männer selbst,  wohl aber sie in ihrer Geltung und ihrem Zusammenhang zu  begründen.  Soviel allerdings dürfte feststehen, daß "die Philosophie die Welt nicht synthetisch zu konstruieren, sondern nur analytisch zusammenzubuchstabieren" hat. (Vgl. WINDELBANDs Hegelrede, Seite 14) Aber um an den historisch vorliegenden Werten überhaupt nur eine Kritik üben zu können, muß sie sich leiten lassen von der - zwar anhand der Geschichte selbst, aber letzten Endes doch nur systematisch-konstruktiv zu gewinnenden - Idee eines letzten in sich abgeschlossenen Systems überhistorischer inhaltlicher Werte (als eine "Leitfaden a priori", wie KANT sagt), auf welches die gesamte historische Entwicklung in vielfach verschlungenen Wegen als sich hinbewegend anzunehmen ist, wobei der Gesichtspunkt der Annäherung an dieses letzte System den Wertmaßstab abgäbe, an dem die einzelnen historischen Werte zu messen sind. So entspringt hier aus der Geschichtsphilosophie selbst heraus das Problem der Transzendentalphilosophie als System überhaupt: Das "reine Gelten" zerlegt sich für das in der historischen Entwicklung selbst darin stehende Subjekt in ein  System absoluter Werte.  "Die Totalität dieser Werte würde die abgeschlossene Wissenschaft von den Prinzipien des historischen Universums sein und als eine ebenbürtige Schwester neben das System die Prinzipien des naturerklärenden Universums treten. Wie die Prinzipien des naturerklärenden Universums sich erfüllen in der  "letzten Naturwissenschaft",  so würden die Prinzipien des historischen Universums sich in der  Weltgeschichte  erfüllen". (KUNTZE, a. a. O.)

Von hier begreift sich als  notwendige  Eigentümlichkeit der modernen Transzendentalphilosophie, woran ihre Gegner oft Anstoß genommen haben, nämlich 1. daß die Transzendentalphilosophie notwendig in eine sogenannte  "historische Weltanschauung"  hinausläuft, d. h. eine solche, die ihre Grundposition und ihr letztes Kreditiv nicht dem "Faktum der Vernunft" (37)  "Natur",  sondern dem dem "Faktum der Vernunft"  "Geschichte"  entnimmt, und 2. daß sie in all ihren Teilen ein  "ethisches Gepräge  trägt - wenn man ethisch in dem ganz umfassenden Sinn der Wertbezogenheit überhaupt nimmt. Der hierin sich begründende sogenannte  "Primat der praktischen Vernunft aber besagt nichts anderes als: a) Der Transzendentalphilosoph nimmt seine Grundstellung nicht im Seienden, sondern in der Geltungssphäre; b) diese aber wird für wertbewußte und wertwollende Subjekte zu einem "Reich absoluter Werte", die in schöpferischer Tat der Synthesis zu Bewußtsein und Realisation zu bringen der letzte Sinn allen Menschenlebens ist.

Nun dürfte auch klar sein, warum ich die Gesamtheit der Probleme dieser 3. Gruppe als Geschichts ethik  bezeichnet habe. Es rechtfertigt sich auch noch dadurch, daß diese Probleme schließlich auch unmittelbar in den Dienst dessen treten, was man Ethik im engeren Sinne nennt. Jener Längsschnitt durch die Geschichte nämlich ergibt, wenn er gemäß der kritischen Wertung der einzelnen Etappen und deren Inhalte umrangiert wird, einen Querschnitt als normatives Wertesystem für die Gegenwart. Dieses aber erfüllt die Funktion, der rein formalen Ethik des reinen Pflichtbewußtseins einen Rahmen inhaltlicher Wertbestimmung zu geben, an denen sich das ansich autonome Gewissen in Konflktsfällen orientieren kann. Mit anderen Worten: Aus der Idee eines anhand der Geschichte zu gewinnenden letzten Systems absoluter inhaltlicher Werte sind die  materialen Prinzipien  zu gewinnen, die das  rein formale ethische Grundprinzip  inhaltlich substruieren. Die reine Form des kategorischen Imperativs - der ja nichts anderes ist als der "Gedanke" des Wertes ansich in seiner Einbettung in das Bewußtsein eines endlichen und sinnlich-mitbedingten Subjekts - erfüllt sich inhaltlich so:  Handle geschichtlich!  Das heißt: handle so, daß Dein Handeln als positiver Wert in die Geschichtswissenschaft aufgenommen zu werden verdient, weil es einen Wert in der Geschichte selbst gesetzt hat, weil Du an Deiner Stelle und gemäß Deinem Sein die Ewigkeit in die Zeit verpflanzt hast.

Ich kenne bloß einen modernen Versuch, den in Vorstehendem skizzierten Problemkomplex eines in sich geschlossenen Wertesystems ausführlich zu behandeln: HUGO MÜNSTERBERGs "Philosophie der Werte" (Leipzig 1908). Auch wenn man nicht mit allen Einzelausführungen einverstanden ist und auch die Grundlegung wegen ihres Steckenbleibens in der  Wertung  des  Subjekts  nicht für ausreichend hält, muß man das Buch um der systematischen Kraft willen, die es bekundet, als bedeutende philosophische Leistung anerkennen. (38)

Wie bei der 2. Problemgruppe läuft auch hier neben der objektiv-transzendentalen eine subjektiv-psychologische Nebenströmung einher, die der Philosophie eine viel bescheidenere Aufgabe stellt, als ich im Obigen getan habe. Und wiederum ist es DILTHEY und seine Schüler, die hier die Parole ausgeben. Nach ihnen erschöpft sich hier die Arbeit des Geschichtsphilosophen in einer Analyse der psychologischen Zusammenhänge der historischen Ereignisse, in einer Eruierung des Verwobenseins der Persönlichkeiten und der Zeitströmungen in allen Feinheiten dieses Gewebes: das letzte Ziel ist die Herstellung der hier vorliegenden sozial und individualpsychischen "Strukturzusammenhänge" und Typen. Hier werden also die Werte nicht in ihrer Reinheit herauszustellen gesucht, sondern in ihrer Einbettung in die Gemüter der sie erlebenden und lebenden Subjekte und Zeiten. Es handelt sich also um  Wertungen,  nicht um  Werte;  es wird Werte nur die dem Subjekt, nicht die dem reinen Gelten zugekehrte Seite behandelt und auch allein gesehen. Im Einzelnen bekundet sich darin ein eminentes "Verständnis" historischen "Nacherlebens", aber dafür eine umso geringere Kraft für die systematischen Aufgaben der Philosophie. Und dieses Versagen in systematischer Hinsicht wird nur notdürftig dadurch maskiert, daß man diese Aufgaben überhaupt als nichtstellare ablehnt, weil das Leben selbst absolut unsystematisch ist. Darin aber steckt ein falsches Ideal der Wissenschaft und der Philosophie: die - allerdings unerfüllbare - Idee einer Adäquation der Wissenschaft an die Wirklichkeit in all der Mannigfaltigkeit ihres Flusses. Gerade diese aber ist durch die transzendentale Einsicht und Problemstellung überholt: der philosophische Begriff hat nichts mit einer Wiedergabe oder gar Spiegelung des Erlebbaren zu tun: er  gilt vom  Erleben und Leben und  für  das Erleben und Leben. Derartige Geltungsvoraussetzungenn macht aber auch alles  Verstehen Denn alles historische Verstehen setzt - logisch! mag es sich dessen bewußt sein oder nicht - das philosophische  Begreifen,  d. h. den Begriff voraus. Und darum ist die systematische Funktion all dieser historisch-psychologischen und phänomenologischen Untersuchungen doch letztlich nur die, in den Dienst der Transzendentalphilosophie zu treten.

Wir kommen zum 4. und letzten Problem: Welches ist das letzte Fundament der absoluten Werte? Welches ihr Verhältnis zum Wirklichen? Es ist die alte PLATO-Frage, wie das Gelten mit dem Seienden zusammenhängt, das Zeitlose mit dem Zeitlichen, (39) die sich für die Geschichtsphilosophie des genaueren in die zwei Fragen zerlegt: nach dem letzten Wert grund  einerseits, nach den Trägern und  Realisatoren  der Werte in der Wirklichkeit andererseits. Wir wollen das erste Prolem das  meta-ethische,  das letztere das  meta-historische  nennen; sachlich hängen beide auf das Engste zusammen.

Kann man die absolute Geltung der Werte selbst wieder deduzieren? Antwort: Nein! Denn alle Deduktion setzt so ein Absolutes schon voraus. Es zeigt sich also hier, auf dem Höhepunkt des transzendental-kritischen Regressus, eine eigentümliche Problemstruktur. Während bis zu diesem letzten Punkt ihrer Gedankenentwicklung die Transzendentalphilosophie immer bemüht sein muß, Geltungs- und Seinsfragen,  quaestiones iuris  und  quaestiones facti,  scharf auseinanderzuhalten erhebt sich hier gerade die Frage nach dem Verhältnis beider, nach dem Band, das sie in der  einen  Welt zusammenbindet:  die letzte quaestio iuris transzendentalis mündet aus in eine letzte quaestio facti transzendentalis.  Und es kann nicht anders sein. Denn weiter hinauf, "nach oben" über die Geltungssphäre hinaus, um von da ein Deduktionsprinzip herabzuholen, geht es nicht mehr; es wäre auch nutzlos, da dann ja dieses Prinzip seinerseits wieder deduziert werden müßte und so in infinitum. So bleibt an diesem letzten Punkt nur eine Antwort vom Standpunkt des erlebenden Subjekts; aber nicht des individuellen, sondern des allgemeingültigen Erlebnisses. Denn das Grunderlebnis des Subjekts  als Subjekt  ist gar nicht, daß es diesen oder jenen Inhalt hat, sondern das  Welt-sinn-erlebnis  überhaupt. (40) Weltsinnerlebnis und religiöses Erlebnis aber ist ein und dasselbe, und so vollendet sich das System der Transzendentalphilosophie in der kritischen Religionsphilosophie als dem Abschluß der Lebens- und Geschichtsphilosophie.

Hier schließt sich der Riss zwischen Geltendem und Seiendem, indem das Funktionalverhältnis von Wert und Wirklichkeit, von Vernunft und Material, von Form und Inhalt ein unmittelbar erlebtes und gelebtes wird: auf das Ganze der Welt als  Ganzes  bezogen wird es zu einem Funktionalverhältnis zwischen einem "Subjekt  überhaupt"  und "Objekt  überhaupt",  wodurch beiden ihren  "Gegen"-sinn  verlieren und in einer einheitlichen Durchdringung  "konkrete Vernunft", "Wertwirklichkeit", Gott  sind. Das einzelne religiöse Subjekt erlebt unmittelbar, d. h. ohne begriffliche Vermittlung, sein Eingereihtsein in den Weltsinnprozeß überhaupt. Jede begriffliche Formulierung Gottes ist immer die eines endlichen Subjekts in dem Moment, wo es die letzte endliche Schranke abzulegen sucht: aber sie liegt dabei immer noch diesseits der Schranke der Endlichkeit. Der Gott, der  "für uns" gilt, ist  nur, indem er Werte schaffend  wird:  der Gott  "ansich" ist  weder, noch  gilt  er, da beide Ausdrücke in ihrem Gegensinn sinnvoll sind nur durch die Subjektbezogenheit. (41) Damit aber verliert all das Gerede vom "Gott draußen" und "Gott drinnen" ("Vernunft in der Welt" und "Vernunft im Einzelsubjekt") seinen Sinn, wenn damit ein Gegensatz statuiert sein soll.

Bei der Frage nach der Absolutheit der Werte tritt also anstelle des logischen Denk- deduktivs  "von oben" das historische Lebens kreditiv  "von unten", aus der Geschichte selbst heraus. Man kann Gott nicht  beweisen  wollen, da man ihn ja dabei immer schon voraussetzt, sondern nur  zu Bewußtsein bringen.  Daß wir ihn aber als  "Persönlichkeit"  denken, besagt weiter gar nichts, als daß wir das Einheitsprinzip von Wert und Wirklichkeit, in dem beiden ihre gemeinsame Wurzel und gegenseitige Abstimmung aufeinander haben, eben nicht als wertfremde, sondern als  wertbezogene Weltordnung  verehren: die universale Personalität als Einheitsprinzip des Universums als eines Kosmos von Werten. Die Naturwissenschaft aber und ihre Funktion, die "Natur", ist ein Wertkonstitut, wie alles Geltende, kann also so wenig die wertgetragene, d. h. religiöse Weltanschauung entthronen, daß sie vielmehr dieser zur Begründung ihres eigenen Geltens bedarf.

Das 2. Problem, das hier unmittelbar ansetzt und sich mit dem soeben behandelten verschlingt, ist, von dem soeben erreichten Standpunkt aus formuliert, die Frage nach der Entfaltung Gottes in der Geschichte, das Problem des  "Reiches Gottes auf Erden",  oder das  Problem des Geistes.  (42) Hier handelt es sich um die Frage, ob den handelnden Subjekten der Geschichte nicht-bewußte Ideen, oder ob die wertbewußten und wertwollenden Subjekte die Träger und Realisatoren der Geschichte in ihrem letzten Wesensgehalt sind. In groben Umrissen gesehen ist es der Gegensatz: HEGEL - FICHTE. Aber wie doch eigentlich schon bei jedem dieser beiden (gleich großen) größten Kantianer im Ganzen ihrer Gesamtanschauung eine Synthese dieser beiden Momente vorliegt, so ist sie doch wohl auch das sachlich Begründete. Die freien Persönlichkeiten sind die Träger der Geschichte;  die Freiheit zum Wert und um des Wertes willen  ist der Adel des Menschen und die Geschichte das Medium seiner Entfaltung. (43) Aber die Freiheit zum Wert ist nicht möglich ohne den Wert selbst. Persönlichkeit ist das Subjekt nur als Realisator der absoluten Werte, als Diener des  aeizoos logos  [ewige Vernunft - wp].

Zur erkenntnistheoretischen Erläuterung aber sei hierzu folgendes angemerkt: Das "Postulat der  Begreiflichkeit  der Natur" (HELMHOLTZ! Vgl. KANTs "Prinzip der Zweckmäßigkeit für unser Ereknntnisvermögen" in Anbetracht des Problems "der Spezifikation der Natur". Kritik der Urteilskraft, Einleitung, Seite XXXIV / XXXVII) erweitert sich konsequent zu dem ganz allgemeinen Postulat der  Begreiflichkeit des Welt- und Menschheitsgeschehens überhaupt,  und von hier dann zu dem der  Realisierbarkeit der Vernunft  überhaupt, d. h. der absoluten Werte in der Wirklichkeit überhaupt. HEGEL streift nun, gerade aufgrund seiner Geschichtsphilosophie, diesem Prinzip den Postulatscharakter ab. Die Begreiflichkeit der Welt begreift sich aus ihrer Begrifflichkeit, d. h. aus ihrem Angelegtsein auf die absoluten Werte. Für die begrifflich erkennende Betrachtung ist dies ein "glücklicher Zufall" (KANT und LOTZE): der religiöse Mensch erlebt darin unmittelbar den Sinn der Welt und seiner selbst.

Damit hat sich uns der Kreis der Probleme geschlossen. Wenn ich zum Schluß noch die Frage nach dem Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften (und Einzelkulturgebieten überhaupt) aufwerfe, so scheint es ein Verhältnis sowohl der Abhängigkeit als auch der Unabhängigkeit zu sein. Der Weg  zum System  geht zweifelsohne -  analytisch!  - von der Peripherie zum Zentrum, von den Einzelwissenschaften zu ihren letzten Gründen und Voraussetzungen; der  Weg des Systems  aber geht doch wohl -  synthetisch!  - vom Zentrum zur Peripherie. Nachdem wir den analytischen Weg  von Problem zu Problem  zurückgelegt, käme nun die Aufgabe, von rückwärts das Ganze als in sich geschlossene Einheit, synthetisch  von einer Erkenntnis zu andern  schreitend, nochmals zu bauen. Für unseren Problemzusammenhang also: die und die Gründe geben einen absoluten Sinn der Welt und Menschheitsgeschichte, die und die Faktoren sind die Träger der historischen Entwicklung, auf das und das Wertesystem geht alles aus, in den und den Werten hat es sich bis jetzt erfüllt; sie also sind die Richtlinien der Zukunftsarbeit und die synthetischen Prinzipien der Geschichtswissenschaft, und um dieser Richtlinien willen hat die Geschichtswissenschaft den und den Wert.

Aber trotzdem die Analysis die Synthesis  logisch  voraussetzt, ist uns in der Geschichte darin stehenden Wesen, ohne vorangegangene Analyse und Bindung an deren Resultate, dieser synthetische Weg ( die via regia des "spekulativen Genies") nicht gangbar. Uns soll ebensowenig wir ZARATHUSTRA die eisige Ätherluft der Abstraktion den Atem beklemmen, uns soll vielmehr ebenso wie ihm ihre Reinheit und Schärfe, ja ihre Kälte ureigenstes Lebenselement sein. Aber nur wenn wir in mühsamem Aufstieg die Wegen kennen gelernt und auf ihre Gangbarkeit geprüft haben, sind wir unseres Ganges sicher. Sonst passiert es leicht, daß die Erdennebel dem Gipfelwanderer den Blick trüben, die bösen Nebel, die uns die letzte Wahrheit intuitiv zu schauen verwehren: er stolpert, er stürzt und versinkt im Nebelmeer.

Vor die Philosophie als Wissenschaft haben die Götter den Schweiß gesetzt.
LITERATUR Fritz Münch, Das Problem der Geschichtsphilosophie [Eine Einführung in den systematischen Zusammenhang ihrer Probleme] Kant-Studien Bd. 17, Berlin 1912
    Anmerkungen
    18) WILHELM von HUMBOLDT, Ausgewählte Schriften, Philosophische Bibliothek, Bd. 123, Seite 84
    19) WINDELBAND, Wesen und Wert der Tradition im Kulturleben, Seite 10.
    20) EDUARD SPRANGER im Nachruf für DILTHEY im "Zeitgeist"
    21) Vgl. KANTs "Kritik der reinen Vernunft", Ausgabe B, Seite 24 und 25.
    22) HEINRICH RICKERT, Vom Begriff der Philosophie", Logos, Bd. 1, Seite 18
    23) Wohl aber des allgemeinen Programms, das er daraus in dem Aufsatz "Philosophie als strenge Wissenschaft", Logos, Bd. 1, Seite 289f) entwickelt.
    24) BRUNO BAUCH, "Über den Begriff der Geisteskultur", in  Religion und Geisteskultur,  Bd. 1., Seite 153
    25) KANT, Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe B, Seite 867f
    26) PAUL NATORP, Philosophie, Göttingen 1911, Seite 26 und 27. Entsprechend legt COHEN, wie der Logik die mathematische Naturwissenschaft, der Ethik die Rechtswissenschaft zugrunde.
    27) COHEN, a. a. O. Seite 300
    28) Da in dem von RICKERT und seinen engeren Schülern (z. B. HESSEN) bevorzugten Namen "transzendentaler Empirismus" (im Gegensatz zum "transzendentalen Rationalismus" der Marburger) die Beziehung auf Geschichte und Kultur nicht zum Ausdruck kommt, möchte ich die Bezeichnung  "transzendentaler  Historiokritizismus" vorschlagen, (wenn man nicht einfach, im Gegensatz zum "transzendentalen Naturalismus" der Marburger - vgl. "Große Denker" hg. von ERNST von ASTER, Bd. II, Seite 371 -, diese auf den Logos der Geschichte sich gründende Weltanschauung "tranzendentalen Kulturalismus" nennen will).
    29)  Philosophie ist das wissenschaftliche Selbstbewußtsein der Vernunft, und damit der Kultur als deren empirischer Konkretion in der historischen Entwicklung. 
    30) Vgl. RICKERTs "Grenzen", Seite 36. In diesem Ausgangspunkt liegt eine Berührung mit BERGSON; nur daß, was bei RICKERT bloß Ausgangspunkt ist, bei BERGSON sich verabsolutiert und definitiv wird. BERGSON  glaubt,  diesen "Fluß der Erlebnisse" unmittelbar intuitiv erfassen zu können, während die Transzendentalphilosophie  weiß,  daß alle Erkennen (auch das intuitive, wenn es ein solches gibt), sofern es Geltung beansprucht, nach bestimmten begrifflichen Formen erfolgt, die und deren Geltungsgrund sich zum Bewußtsein zu bringen, eben das Geschäft der Transzendentalphilosophie ist.
    31) woraus dann von Selbst "die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie" (Vortrag von LEONARD NELSON auf dem Philosophenkongreß in Bologna, Göttingen 1911) folge - natürlich nur des "sogenannten Erkenntnisproblems" (1908) wie es sich NELSON zurechtmacht!
    32) ERNST CASSIRER, Der kritische Idealismus und die Philosophie des gesunden Menschenverstandes, 1906.
    33) Als Literatur verweise ich noch auf RICKERT, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 2. Auflage 1910 und BAENSCH, Über historische Kausalität, Kant-Studien, Bd. 13, Seite 18f; SERGIUS HESSEN, Individuelle Kausalität (Ergänzungsheft der Kant-Studien, Nr. 15 (von psychologistischer Seite) und EDUARD SPRANGER, Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Berlin 1905.
    34) Diese allein verdient den namen "historischer  Begriff"  und steht als solcher auf logisch gleicher Rangstufe wie die naturwissenschaftlichen Begriffe im strengen Sinne. (Vgl. über letztere: ERNST CASSIRER, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1911). Der historische Begriff aber unterscheidet sich vom naturwissenschaftlichen dadurch, daß die Selbstargumentierung der Geltungsfunktion hier nicht durch eine Selbstspezifizierung, d. h. von unten gesehen, durch eine "generalisierende", sondern durch eine "individualisierende Begriffsbildung" erfolgt. (Vgl. die Problemstellung bei FRIEDRICH KUNTZE, Die kritische Lehre von der Objektivität", Heidelberg 1906, Seite 303). Um ein konkretes Beispiel zu geben: Der "Vernunftstaat" ist die logische Möglichkeitsbedingung der empirischen Staaten. In der Staatengeschichte kommt zu Bewußtsein und Realisation ein Stück Logos, nämlich der Staatsbegriff, wie er in der transzendentalen Sphäre des reinen Geltens konstituiert ist (seine Konstitution = "Verfassung" hat). Jener Vernunftbegriff ist aber für diese Entwicklung nicht bloß Ideal und Bewertungsnorm, sondern ihre Möglichkeitsbedingung, wodurch er erst zur gültigen Richtlinie wird. "Der Vernunftstaat ist selbst die vernünftige Wurzel der  Existenz  aller in historischer Erfahrung aufweisbaren Staaten (MEDICUS in der Einleitung zu seiner Neuherausgabe von FICHTEs "Geschlossenem Handelsstaat", Seite V). 35) Mit welchem Recht ein solcher Sinn vorausgesetzt wird, ist in der 4. Problemgruppe abschließend zu behandeln. Die sachliche Problemfolge innerhalb des Gesamtproblems "Geschichtsphilosophie", der ich nachgehe, ist diese: 1. Wie ist Geschichtswissenschaft möglich? Antwort: Durch Werte als Konstituentien der historischen  Wissenschaft.  2. Wie ist Geschichte möglich? Antwort: Durch Werte als Konstituentien der historischen  Wirklichkeit.  3. Wie sind absolute Werte und ihr Wirklichkeitszusammenhang möglich? Davon wird im letzten Abschnitt zu handeln sein.
    36) Vgl. dagegen ALOIS RIEHL, Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart, 1. Vortrag, inbesondere Seite 22f.
    37) Vgl. KANT, Kritik der praktischen Vernunft, Seite 47
    38) Vgl. auch MÜNSTERBERG, Gründzüge der Psychologie, Bd. 1, 1900
    39) Eine kurze Geschichte dieses Problems gibt NICOLAI von BUBNOFF, Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit, Heidelberg 1911
    40) Von hier aus gesehen ist die Aufgabe der Transzendentalphilosophie keine andere als die: das  Weltsinn erlebnis zum  Weltsinn begriff zu erklären.
    41) Man kann das auch so ausdrücken:  Gott selbst hat keine Religion.  (Nebenbei bemerkt: In der Behandlung der von TROELTSCH aufgeworfenen, neuerdings viel ventilierten Frage nach dem  "religiösen Apriori"  herrscht im Allgemeinen eine erhebliche Verschwommenheit bezüglich des Begriffs "Apriori"; ohne Klarheit hierüber kann es natürlich nicht einmal zu einer richtigen Problemstellung kommen. Vgl. E. W. MAYER in der "Zeitschrift für Theologie und Kirche", Bd. 22, Seite 59f)
    42) Diesen Begriff sollte man begrifflich streng trennen von dem des Geltens, und nicht Probleme des Geisteslebens einerseits, Geltungsprobleme andererseits ineinander fließen lassen. Um Geistiges handelt es sich nur da, wo sich Wert und Wirklichkeit vereinen, wo es sich um eine werterfüllte Wirklichkeit handelt.
    43) Nicht in der  rückwärts schauenden  Geschichtswissenschaftstheorie,  sondern in der  vorwärts schauenden  Geschichtstheorie  hat die  "Freiheit des Menschen"  ihre Stelle. Sie betrifft nicht den Unterschied von Geschichtswissenschaft und Naturwissenschaft - wie MÜNSTERBERG und MEDICUS wollen - wohl aber den von Natur und Geschichte. (Zwischen beiden liegt als Bindeglied das "Problem des Lebens"; daraus begreift sich mein "vielleicht" auf Seite 351).