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GEORG JELLINEK
Der Kampf des alten
mit dem neuen Recht


"Im Kampf der Geister gibt es kein sich gegenseitiges Überzeugen. Die Literatur jener Kämpfe scheint nur für die eigenen Parteigenossen bestimmt zu sein. Die Gegner werden niemals überzeugt, nur die eigenen Anhänger in ihrem Glauben bestärkt, eine Erscheinung, die ja auch auf anderen Gebieten auftritt, in denen unversöhnliche Gegensätze walten. So glaubt jede der kämpfenden Parteien ihr gutes Recht gegenüber der anderen zu verteidigen und durchzusetzen, ohne daß ein menschlicher Richter vorhanden wäre, dessen Urteil sich beide Streitteile freiwillig unterwerfen würden. Es ist der Kampf zwischen altem und neuem Recht, der sich also abspielt, der keineswegs mit der bekannten Formel zu lösen ist, daß das spätere Gesetz das frühere aufhebt. Denn nicht Gesetz gegen Gesetz, sondern Idee gegen Idee, Prinzip gegen Prinzip stehen hier in erbittertem Streit."

"In einem offenen Krieg verdammt die Kirche auch heute noch staatliche Gesetze. So hat  Pius IX. in einer formalen Einlassung vom 22. Mai 1868, die das Konkordat durchbrechenden österreichischen Gesetze dieses Jahres für durchaus nichtig und immerdar ungültig erkärt und in der Enzyklika vom 5. Februar 1875 die preußischen Kulturkampfgesetze als der göttlichen Verfassung der Kirche widersprechend für kraftlos erkannt."

"Es ist sehr verwunderlich, wie der feudal-dynastischen Legitimität plötzlich wieder begeisterte Anhänger entstanden sind und gewährt ein wehmütig-ästhetisches Schauspiel, zu sehen, wie ernste Männer sich vergebens abmühen, mit kleinen dialektischen Künsten dem Staat der Gegenwart das Spinngewebe ihrer Argumente, die häufig nicht einmal die Diskussion lohnen als unzerreißbare Fesseln anzulegen. Es sind eben Anwälte, die um jeden Preis einen Prozeß gewinnen möchten, nicht Männer der Wissenschaft, deren Stimme uns entgegentönt."


I.

Aus dem ganzen Zustand eines Volkes wächst sein Recht, seine Sprache, seine Sitte, seine Verfassung hervor. Nicht menschliche Willkür bestimmt die Bildungen, welche diese Ergebnisse des gesamten Volkslebens zeigen. Sie entwickeln sich nach den ihnen einwohnenden Gesetzen, sie sind notwendig und frei zugleich, frei in dem Sinne, daß sie nicht von außen kommen, sondern der höheren Natur des Volkes entspringen. So hat der Meister der historischen Rechtsschule sein Wort in einer Zeit ertönen lassen, welche eine ganze Welt in Trümmer sinken sah und die ungeheuersten Umwälzungen aller politischen Verhältnisse durchlebt hatte. Das alte römische Reich deutscher Nation war vernichtet, hunderte von Territorien hatten ihre Selbständigkeit verloren, neue Staaten mit neuer Verfassung waren an ihre Stelle getreten. Das alles hatte sich vor den Augen SAVIGNYs abgespielt. Wenn er nichtsdestoweniger in diesen Tagen, da die Willkür im Völkerleben ungeahnte Triumphe errang, die Lehre vom stillen Emporwachsen von Rechts- und Staatsordnung aus der Volksseele mächtig, die Geister zwingend, verkündigen konnte, so mag neben anderen Motiven zu solcher Tat die Sehnsucht mitgewirkt haben, im allgemeinen Wanken und Zusammenbrechen ein Ruhendes und Bleibendes zu finden, das dem erschütterten Gemüt den Glauben gewährte, daß dennoch nicht die ganze Weisheit der Vergangenheit Torheit vor Gott gewesen ist, so daß die Wiedererrichtung der durch unerhörte Ereignisse zerstörten öffentlichen Ordnungen getrosten Mutes an Altbewährtes, durch Stürme Gebeugtes, aber nicht Entwurzeltes anknüpfen durfte. Hatte doch im selben bedeutungsvollen Jahr, da der Rechtshistoriker dem Zeitalter den Beruf zur Schaffung neuer Gesetzbücher absprach, auch der Dichter, von der Friedens sehnsucht  jener Tage erfüllt, sein Volk aufgefordert, ihm von der unerfreulichen Gegenwart in eine ferne Welt ursprünglichen Menschentums zu folgen:
    "Nord und West und Süd zersplittern,
    Throne bersten, Reiche zittern:
    Flüchte du, im reinen Osten
    Patriarchenluft zu kosten!"
    [Goethe - Westöstlicher Diwan]
Unter dem Eindruck dieser romantisch-weltflüchtigen Stimmung hatte sich das ereignet, was uns so oft zu unserem Erstaunen in der Geschichte der sozialen Probleme entgegentritt: die Menschen sehen nicht das Nächste, vor ihren Augen Liegende, oder wollen es vielleicht nicht sehen. Den Blick in die Ferne gerichtet, erschauen sie nicht die Gegenwart. Sie suchen oder schaffen Idealtypen, die ihnen die Aussicht in die Gestaltungen der lebendigen Welt verdecken.

Diese lebendige Gegenwart bewährte aber damals, wie kaum eine andere Epoche der Geschichte, die uralte Lehre, daß der Kampf der Staaten zugleich ein Kampf der Rechtsordnungen ist. Dem Sieger ist die Macht gegeben, die Rechtsordnung des Besiegten zu verändern, ja, er muß es tun, wenn er sich das Gebiet des Besiegten eingliedert, oder wenn er aus vorhandenen Staaten oder Staatsteilen ein neues staatliches Gemeinwesen herzustellen unternimmt. In solchen Fällen geht tatsächlich Macht vor Recht, indem ein Federzug eine bestehende Rechtsordnung schonungslos vernichten und eine andere an deren Stelle setzen kann. In geringerem Umfang kann sich so etwas auch im Frieden bei Gebietsveränderungen zeigen, doch ist es vornehmlich der Krieg, dem eine solche Funktion der Rechtszerstörung und Rechtsschöpfung zukommt. Sie tritt am schärfsten im öffentlichen Recht hervor, doch wird auch, namentlich seitdem die Staaten ein national einheitliches Recht zu schaffen bestrebt sind, das Privatrecht von ihr ergriffen. Wenn heute in Ost- und Westpreußen, in Posen und Schleswig, in Elsaß-Lothringen und Helgoland das Bürgerliche Gesetzbuch gilt, wenn hingegen Österreicht, die Schweiz und die Niederlande ihre eigenen Gesetzbücher haben, so sind es die großen geschichtlichen Ereignisse der letzten Jahrhunderte gewesen, die diese Gebiete mit Deutschland vereinigten oder von ihm trennten, die ein solches Ergebnis herbeigeführt haben. Es sind eben nicht nur die einer Kulturgemeinschaft, welche wir Volk nennen, entstammenden Lebensäußerungen, die dessen Rechtsgeschichte bestimmen. Von außen kommende historische Tatsachen können die Rechtsordnungen in gewaltigster Weise ändern und fortbilden. Von Anschmiegen und Anpassen an die Anschauungen und Überlieferungen der Rechtsgenossen ist da häufig nicht die Rede. Bevor ein allmähliches Gewöhnen an den plötzlich geänderten Zustand eintritt, empfinden die von ihm Betroffenen die neue Ordnung oft als schwere Schicksalsfügung, als bitteres Unrecht, das ihnen mit der täuschenden Maske des Rechts entgegentritt. Eine tiefe Tragik waltet im Leben derer, die es nicht fassen können, daß sich Gesetze nicht nur nach der bestehenden Ordnung ändern, sondern daß auch aus ungeahnter Ferne hereinbrechende Fluten sie hinwegspülen können, als wären sie nie gewesen.

Aber nicht nur die zwischenstaatlichen Verhältnisse zeitigen Kampf und Sieg einer Rechtsordnung über die andere. Auch im Innern geschlossener Rechtsgemeinschaften enthüllt sich dem Forscher die Erkenntnis, daß nicht lückenlose, stetige Entwicklung deren Geschichte beherrscht, sondern daß fast ununterbrochen neben friedlicher Fortbildung des Rechts ein Ringen und Streiten verschiedener Rechtsordnungen um die Herrschaft im Staatsleben stattfindet.

Es sei hier nicht die Rede von der trivialen Wahrheit, daß jeder Fortschritt im Rechtswesen mit Kämpfen mannigfacher Art verknüpft ist. In der Fachliteratur wie in der Tagespresse, in Versammlungen und Vereinen, in Ausschüssen und Untersuchungskommissionen von Behörden und nicht zum geringsten in parlamentarischen Kammern wogt fortwährender Streit bei der Schöpfung neuen Rechts. Ein solcher Streit zeigt schon deshalb nichts Besonderes, weil es sich bei ihm um ein noch nicht daseiendes, sondern erst zum Leben zu bringendes Recht handelt. Bei ihm steht nicht Recht gegen Recht im Kampf, vielmehr suchen neue Rechtsgedanken in einer jeden Zweifel ausschließenden legalen Weise das Bestehende zu ersetzen. Hat der Gesetzgeber gesprochen, so ist der Kampf entschieden. Neues Recht hebt das entgegensthende ältere Recht auf. Diese Wahrheit ist so selbstverständlich, daß ihre nähere Betrachtung ohne jedes tiefere Interesse ist.

Hingegen scheinen die großen Revolutionen, welche die neuere Zeit bewegt haben, vollauf das Problem darzubieten, das hier zu erörtern ist. Doch ist dies ein täuschender Schein. Auch in den gewaltigen Staatsumwälzungen der neueren Zeit stand nicht Recht gegen Recht, sondern rechtlose Macht gegen machtloses Recht. Erst der Sieg jener Macht verleiht ihr, ähnlich wie wir es bei den zwischenstaatlichen Kämpfen beobachten können, die Eigenschaft einer rechtschaffenden Gewalt. Gewiß, stets behaupten die, welche eine Staatsumwälzung erstreben, ein höheres Recht zu ihren Taten zu besitzen. Solches Recht ist jedoch nun einmal noch nicht anerkannt, daher noch nicht Recht im Sinne einer bestehenden Ordnung, es gilt noch nicht. Gälte es bereits, so würde eben der Kampf in geordnete Bahnen gelenkt worden sein.

Der Gegenstand unserer Betrachtung ist ganz anders geartet. Es ist möglich, daß innerhalb desselben Staates zwei Rechtsordnungen aufeinanderstoßen, deren Eigenschaft als geltendes, nicht erst zu schaffendes Recht von jeder behauptet wird. Da sie aber auf entgegengesetzten Prinzipien ruhen und sachlich dieselben Gebiete regeln wollen, so müssen sie notwendigerweise miteinander in Konflikt geraten. Obwohl jede dieser Ordnungen die andere innerhalb bestimmter Grenzen anerkennt, behaupten sie doch, daß jedes Überschreiten dieser Grenzen, jeder Einbruch in das eigene Gebiet der anderen nicht Recht, sondern Willkür ist. Da sie gleichsam verschiedene Sprachen reden, ihren eigenen Ideenkreis besitzen, der in seinen Grundlagen von einem anderen nicht anerkannt ist, so verstehen sie einander nicht und können sich nicht verstehen. Im Kampf der Geister gibt es auch kein sich gegenseitiges Überzeugen. Die Literatur jener Kämpfe scheint nur für die eigenen Parteigenossen bestimmt zu sein. Die Gegner werden niemals überzeugt, nur die eigenen Anhänger in ihrem Glauben bestärkt, eine Erscheinung, die ja auch auf anderen Gebieten auftritt, in denen unversöhnliche Gegensätze walten. So glaubt jede der kämpfenden Parteien ihr gutes Recht gegenüber der anderen zu verteidigen und durchzusetzen, ohne daß ein menschlicher Richter vorhanden wäre, dessen Urteil sich beide Streitteile freiwillig unterwerfen würden. Es ist der Kampf zwischen altem und neuem Recht, der sich also abspielt, der keineswegs mit der bekannten Formel zu lösen ist, daß das spätere Gesetz das frühere aufhebt. Denn nicht Gesetz gegen Gesetz, sondern Idee gegen Idee, Prinzip gegen Prinzip stehen hier in erbittertem Streit. Auf dem Gebiet der Ideen und Prinzipien aber entscheidet nicht die zeitliche Aufeinanderfolge, sondern am Ende der innere Wert den Sieg.

Nach umfassender grundsätzlicher Erörterung dieser Frage wird man in der Fachliteratur vergebens suchen. Und doch ist sie bereits in großartiger Weise, die uns noch heute, nach Jahrtausenden, ergreift und erschüttert, gleichsam sichtbar dargestellt worden. Wo gäbe es eine Problem menschlichen Einzel- und Gemeindaseins, das sich nicht in irgendeiner Form dem hellenischen Geist aufgedrängt hätte? In einer seiner gewaltigsten Dichtungen hat AISCHYLOS diesen Kampf zweier unvereinbarer Rechtsordnungen dem Volk der Athener und damit der Menschheit vor Augen geführt. Die  Erinnyen,  nach altem, bisher unbezweifeltem Recht zu Rächerinnen des Muttermordes berufen, heften sich an die Sohlen des flüchtigen  Orestes,  dem die neue Lichtgottheit  Phöbos Apollon  das neue Rächeramt für den ermordeten Vater auferlegt hatte. Vor dem Aeropag erscheinen die alten und die neuen Götter, um Schuld und Unschuld des Verfolgten kämpfend. Die menschlichen Richter vermögen den Streit zwischen alten und neuen Göttern um altes und neues Recht nicht zu entscheiden: die Stimmen für Verurteilung und Freispruch halten einander die Waage. Denn  Athene  war hervorgetreten und hatte ihren Stimmstein zu den freisprechenden geworfen, Stimmengleichheit erklärt den Angeklagten für schuldlos und so siegt das neue Recht durch den Willen der hohen Schirmherrin Attikas. Aber nicht als Recht-, sondern als Machtspruch empfinden die  Erinnyen  das Urteil. Furchtbar drohend schallt ihr Gesang:
    "Geschlecht neuer Götter, ha! Du tratst altes Recht
    Tollkühn mit Füßen und entwandtest es meiner Hand - - -
    Vernimm Mutter Nacht,
    Den Groll! Göttertrug, unüberwindlich, hat
    Das uralte Recht um Nichts uns geraubt."
Athene  weiß die Rachedrohenden zu besänftigen. Nicht überwunden seien sie: gleiche Stimmenzahl habe den Handel gerecht, ohne Schmach für sie entschieden. Es sei  Zeus  selbst, dessen höchster Wille im Gericht gesiegt hat. Reichen Ersatz verspricht sie den Tiefgekränkten. Sie nehmen ihn an, begütigt, aber nicht überzeugt. So wandeln sich die  Erinnyen  in segnende  Eumeniden  [die Wohlmeinenden - wp].


II.

Solche Kämpfe, wie sie der Dichter schildert, haben später auch die Staaten des Altertums erlebt, man denke nur an den so folgenreichen, den in Rom das  ius honorarium  gegen das  ius civile  geführt hat. Doch verhindert die ungebrochene Einheit des antiken staatlichen Lebens, daß dieser Kampf den Bestand der Rechtsordnung selbst in Frage stellt. Nicht zum geringsten fand deshalb die historische Schule die Bestätigung ihrer Prinzipien in der Betrachtung des römischen Rechts, das ihr eine lückenlose, ungestörte Entwicklung von den kleinen Anfängen der latinischen Landstadt bis zur unbestrittenen Herrschaft über die Gesamtheit der Mittelmeervölker darzubieten schien. Das ändert sich jedoch von Grund auf mit dem Heranwachsen und Erstarken einer außerstaatlichen Macht, die nach dem Fall der alten Welt allmählich zu ungeahnter Herrscherfülle emporsteigend, ihr Recht als Norm und Maßstab allen Rechts behauptet. Mit einer Kühnheit und Folgerichtigkeit sondergleichen entwickelt die römische Kirche ihre Ordnung, die den Staat zwar anerkennt, aber nur soweit sein Recht nicht gegen ihre Forderungen verstößt. Tut er dies, so sind seine Gesetze null und nichtig, Teufelswerk, das zu bannen ihre gottgesetzte Aufgabe ist.

Das gewaltige Ringen geistlicher und weltlicher Ordnung trägt lange Jahrhunderte hindurch einen ganz anderen Charakter als in der neueren Zeit. Selbst die glühendsten Vorkämpfer der weltlichen Macht bestreiten der Kirche nicht den Beruf, bindende Normen auf Gebieten zu erlassen, die eine spätere Epoche dem Staat zuerteilte, und viele dieser Normen ausschließlich in ihren Gerichten zu handhaben. Auch der weltliche Richter ist durch geistliches Recht gebunden: die  canones  [Interpretationsregeln - wp] treten mit dem gleichen Anspruch auf Geltung neben die  leges,  ja sie sind es, die in ihrem Gefolge die  leges  nach sich ziehen und römischen Rechtsgedanken dort Eingang verschaffen, wo man sich sonst abwehrend gegen alles aus der Fremde Kommende verhält. Eine gänzliche Verselbständigung des weltlichen Rechts gegenüber dem geistlichen ist in den langen Jahrhunderten des Mittelalters nicht einmal vom kühnsten Denker vorausgeahnt worden und hat sich niemals in den Institutionen ausgeprägt (1). Gleichberechtigung des weltlichen mit dem geistlichen Schwert ist das höchste, was die kaiserlich gesinnte Staatslehre gegenüber den Herrscheransprüchen der Kurie verlangt. Doch behauptet kein Monarch jener Tage, mag er die Kirche noch so sehr gedemütigt haben, wie PHILIPP der Schöne, als Gegenstück zu BONIFAZ VIII., daß ihm beide Schwerter von Gott geliehen sind. Daß das geistliche Schwert unter dem weltlichen steht, und dieses ganz unabhängig von jenem geführt werden darf, ist erst eine der großen Forderungen des "Modernismus", wie die römische Kirche nunmehr das gesamte selbständige geistige, sittliche und politische Leben der letzten Jahrhunderte bezeichnet.

Da hat sich dann ein Konflikt ganz anderer Art erhoben, als ihn das Mittelalter kannte. Der Staat der neuen Zeit mißt sich das ausschließliche Recht zu, die äußeren menschlichen Lebensverhältnisse zu regeln, jedem einzelnen, wie jedem Verband seine rechtliche Stellung in der Gemeinschaft anzuweisen, ohne dieses Recht mit irgendeiner Macht zu teilen. Nach langen Kämpfen und vielen Wandlungen erkennt er zwar heute der Kirche die Regelung ihrer inneren Angelegenheiten zu und überläßt es dem Gewissen ihrer Mitglieder, sich den kirchlichen Normen zu fügen, für ihn gbit es aber nur  ein  Schwert, das er allein führt und das er nur so führt, wie er es durch seine Ordnung bestimmt. Die  plenitudo potestatis  [Fülle der Gewalt - wp], die die Kirche für sich behauptet, ist heute auf den Staat übergegangen. Auf sie gestützt, hat er die Kirche enteignet und sich Gebiete erworben, zu denen früher der weltlichen Macht der Eintritt verwehrt war.

Diese moderne Einschwertertheorie hat die Kirche nie anerkannt und wird sie nie anerkennen, weil sie dies nicht tun kann, ohne ihr Lebensprinzip aufzugeben. Sie ruht auf dem Gedanken, daß ihr Recht göttlichen Ursprungs ist und daß göttliches Recht durch menschliche Satzung nicht geändert werden kann, ja daß auch sie allein berufen ist, die wandelbaren menschlichen Bestandteile ihrer Rechtsordnung abzuändern. Wenn daher, um ein naheliegendes Beispiel anzuführen, das Bürgerliche Gesetzbuch die Ehescheidung regelt und den geschiedenen Gatten die Wiederverehelichung gestattet, so kann sie diese Normen niemals als zu Recht bestehend anerkennen, weil sie dies im  Tridentinum  [Konzil von Trient - wp] in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise als gegen das göttliche Recht verstoßend lehrt. Genau so verhält es sich aber auch mit den Rechten, die die Kirche beansprucht, um ihre göttliche Mission zu erfüllen. Nach ihrer Lehre kann der Staat sie unterdrücken, aber nicht rechtsgültig abändern. Auf diesen breiten Grenzgebieten kann sie von ihrem Standpunkt aus nur feststellen, daß Macht vor Recht geht, niemals aber anerkennen, daß Macht sich in Recht gewandelt hat. So ist dann ein steter, unausgesetzter Kampf zwischen der modernen Staats- und der kirchlichen Ordnung durch das eigentümliche Wesen beider Gewalten bedingt.

Allerdings zeigt dieser Kampf zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Staaten gar mannigfaltige Formen. In einem offenen Krieg verdammt die Kirche auch heute noch staatliche Gesetze. So hat PIUS IX. in der Allokution [formale Einlassung - wp] vom 22. Mai 1868, die das Konkordat durchbrechenden österreichischen Gesetze dieses Jahres für  leges abdominales  [Unterleibsgesetz - wp] und für durchaus nichtig und immerdar ungültig erkärt und in der Enzyklika vom 5. Februar 1875 die preußischen Kulturkampfgesetze als der göttlichen Verfassung der Kirche widersprechend für kraftlos erkannt. Nicht minder protestierte am 10. August 1906 eine Enzyklika PIUS X. gegen das französische Trennungsgesetz, das ausdrücklich als verbrecherisch bezeichnet wurde.

Aber auch lange Waffenstillstände sind in diesem Krieg möglich. Mit bewunderungswürdiger Schmiegsamkeit hat die älteste und erfahrenste Diplomatie der Welt, die der Kurie, Formen gefunden, die dort, wo das Interesse der Kirche es erfordert, täuschende Zustände des Friedens anstelle des offenen Krieges setzen.  Temporum habita ratione, tolerari potest, dissimuletur  [Unter Berücksichtigung der Zeiten kann etwas geduldet bzw. ignoriert werden. wp], man soll das kleinere Übel wählen, lauten die Formeln, mit denen die Kirche es ihren treuen Anhängern ermöglicht, im Verband der modernen Staaten zu leben. Die Kirche kann für den Einzelfall dispensieren [entbinden - wp] ohne deshalb den Bestand der Regel anzutasten, sie kann in einem Staat ihren Söhnen gestatten, was sie ihnen im anderen verweigert, sie kann über die Konkordate das staatliche Recht in Form von Privilegien anerkennen, durch welche sie keineswegs ihre eigene Rechtsregel für alle Zeiten zu durchbrechen gewillt ist. (2) Es kann die Kirche dann auch dem modernen Staat ihren Beistand leihen, seine Ordnung gegen revolutionäre Angriffe von seiten der modernen Umsturzparteien energisch verteidigen. So glauben wir dann aus den kirchlichen Erlassen der neuesten Zeit manchmal die Stimmen drohender, in ihrem Recht gekränkter  Erinnyen,  aber auch hinwieder die Worte segnender  Eumeniden  zu hören.

Doch ist in allen diesen Mitteln der vatikanischen Diplomatie eine Lösung des Konflikts nicht zu finden. Die Kirche verzichtet niemals auf das, was sie vermöge ihrer göttlichen Mission zu verlangen für nötig hält, und so hat dann  ex cathedra,  wie heute die herrschende Ansicht annimmt (3), PIUS IX. in seinem  Syllabus errorum  alle Behauptungen verdammt, welche die moderne staatliche Gesetzgebung auf dem von der Kirche für sich beanspruchten Gebiet als zu Recht bestehend erklären.

Dieser Gegensatz zwischen geistlicher und weltlicher Rechtsanschauung aufzuheben, den offenen Kampf oder den begrenzten Waffenstillstand in einen dauernden Frieden zu verwandeln, ist keiner Lehre bisher möglich gewesen. Neuere katholische Theorien, wie die von der indirekten Gewalt der Kirche über den Staat oder die Koordinationslehre, die beide Gewalten für gleichberechtigt und jede in ihrer Sphäre für souverän erklären will, die übrigens niemals von der Kirche offiziell anerkannt oder gebilligt wurden (4), führen in ihren praktischen Folgerungen doch immer wieder auf die Überlegenheit des kirchlichen Rechts über das weltliche zurück, da die höchste und letzte Entscheidung über ihre Zuständigkeit der Kirche verbleiben muß, und sie sich etwa einem über beiden Parteien stehenden Schiedsrichter nicht unterwerfen kann. Die Kirche hat beansprucht, daß man sie zu den Friedenskonferenzen im Haag einlädt. Und doch wäre sie nie in der Lage, dem internationalen Schiedsgerichtshof, der die Streitigkeiten selbst zwischen den mächtigsten Staaten friedlich beizulegen bestimmt ist, ihre Konflikte mit den Staaten zur endgültigen Lösung zu unterbreiten. Aber auch die nicht auf einem konfessionellen Boden ruhenden modernen Lehren vom Wesen des Rechts bringen keine Lösung des uralten Streits. Daß das Dogma vom stillen Emporwachsen des Rechts aus dem Volksgeist hier gänzlich versagt, haben wir bereits erwähnt. Doch verhält es sich genau so mit allen anderen Theorien bis zur neuesten heruntern, die uns den Weg weisen will, im geltenden Recht das richtige Recht zu finden. Um die hier aufgeworfene Frage zu lösen, müßte sie zunächst den widerspruchslos überzeugenden Beweis liefern, welches denn die richtige Religion und die richtige Kirche sein soll.

So ist dann auch auf dem Schauplatz dieser Kriege und Waffenstillstände jede Vermittlung, die nicht bloß einen  modus vivendi, [Lebensweise - wp]sondern den ewigen Frieden bezweckt, gänzlich ausgeschlossen. Man kann sich nur auf den einen oder anderen Standpunkt stellen, wie immer die jeweilige praktische Lösung ausfallen mag. Stellt man sich aber auf den staatlichen Standpunkt und vermag man folgerichtig zu denken, dann gilt alles aus kirchlicher Quelle stammende Recht nur insoweit und insolange, als der Staat es anerkennt. Die Änderung eines bestehenden Rechtszustandes soll sicherlich nicht regelloser Willkür entspringen, sondern nur aus triftigen Gründen vorgenommen werden, aber irgendeine außer- oder gar überhalb des Staates stehende Macht, die ihm unübersteigliche Schranken für die innere Ordnung seiner Verhältnisse setzen könnte, ist für die Auffassung des Staates von seiner Zuständigkeit nicht vorhanden. Wer das leugnet, ist entweder inkonsequent oder gehört der anderen Partei an.


III.

Aber nicht nur das Recht des modernen Staates steht dem älteren Recht der Kirche gegenüber; die neuere Zeit hat uns auch das großartige und fesselnde Schauspiel gewährt, daß die frühere öffentliche Ordnung einen heftigen Kampf mit der späteren führt, die sie zu ersetzen bestrebt ist. Da ist dann zunächst der gewaltige Kampf zu betrachten, den die neuere Staatsordnung gegen die des feudal-patrimonial-ständischen Staates zu bestehen hatte. Der Lehnstaat beruth auf dem Gedanken, daß die Eigentumsordnung vor- und überstaatlich ist. Was wir heute Staat nennen, ist in dieser Form im Lehnstaat überhaupt nicht vorhanden. Es bestehen vielmehr abgestufte Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Eigentümern verschiedener Kategorien. Der König ist der oberste Lehnsherr. Der Vasall ist ihm zur Treue und Folge verpflichtet, aber das Verhältnis ist gegenseitig: auch der Lehnsherr schuldet dem Vasallen Treue, die sich namentlich in der Schutzpflicht äußert. Der Lehnsstaat kennt im Verhältnis der einander übergeordneten Gewalten nur den altgermanischen Gedanken der Treue, nicht den des Gehorsams. Pflicht zu Gehorsam, zur  obedientia,  ist zuerst im Gedankenkreis der Kirche als eine Pflicht gegen die geistlichen Oberen zu finden.

Zum Eigentum zählen im Lehnsstaat nicht nur Sachen, sondern auch Rechte, die als mit den Sachen, vornehmlich mit Grund und Boden, verknüpft angesehen werden. Die Ordnung des Lehnsstaates ist Sachherrschaft, was die spätere zeit als Hoheitsrecht bezeichnet, Zubehör des Grundeigentums. Das Verhältnis zwischen König und Lehnsträger ist ferner als ein vertragsmäßiges und daher als ein begrenztes zu denken. Namentlich ist jeder über die vertragsmäßige Sphäre hinausgehender Eingriff in Freiheit und Eigentum der Lehnsträger ausgeschlossen, jede Leistung dieser Art nur als freiwillig zu fordern. Dieses Eigentum und die ihm anhaftenden Rechte sind ferner unentziehbar, nur wegen Vertragsbruch können sie verwirkt werden und auch hier steht der Felonie [Verrat - wp] des Mannes oder der Treuebruch oder anderes rechtswidriges Verhalten des Herrn als Beendigungsgrund seiner Herrschaft gegenüber. Als die Lehen erblich geworden waren, wurde auch die Lehnserbfolge derart fest geregelt, daß keinem Berechtigten gegen seinen Willen die Anwartschaft auf das Lehen entzogen werden konnte.

Neben dieser auf Eigentum und Vertrag beruhenden Ordnung ist aber nie ganz vergessen der aus dem Ideenkreis des römischen Staates stammende, von der römischen Kirche aufgenommene und bewahrte Gedanke des Herrscherrechts, dem die Gehorsamspflicht der Untertanen entspricht. Der Herrscher äußert seinen höchsten Willen durch Befehle, deren Gültigkeit nicht von der Zustimmung ihrer Empfänger abhängt. Die Legisten treten eifrig für die fortdauernde Gültigkeit des Satzes ein, daß fürstliches Belieben Gesetzeskraft hat und schreiben dem Fürsten in mißverständlicher Auslegung einer Digestenstelle eine über alle Gesetze erhabene Stellung zu. Es bildet sich sodann die Lehre von der  maiestas,  der Souveränität aus, als dem Staat wesentlicher, von allen irdischen Schranken entbundener Gewalt. Als die geänderten militärischen, wirtschaftlichen und zwischenstaatlichen Verhältnisse die Bildung großer Staaten oder stärkeren inneren Zusammenschluß der vermöge der ständischen Ordnung oft nur lose und unsicher zusammenhängenden Glieder der bestehenden Großstaaten verlangten, da ist es der nunmehr in schroffer Form hervortretende Souveränitätsgedanke, der die fürstliche Politik bestimmt. Die Fürsten, den Gedanken in die Tat umsetzend, fühlen sich von Rechts wegen souverän und von Rechts wegen ziehen sie die Majestätsrechte, die von den feudalen Untergewalten als Bestandteil ihres Eigen betrachtet wurden, an sich. So wird dann unter Berufung auf die unveräußerliche Souveränität des Fürsten der große Enteignungsprozeß gegen die Feudalmacht unternommen, der durch den absoluten Staat hindurch zum heutigen Staat führt. In diesem Prozeß stehen sich aber nicht etwa nur zwei Machtfaktoren, sondern zwei entgegengesetzte, miteinander unvereinbare Rechtssystem gegenüber. Wenn die Fürsten es als ihr gutes Recht betrachten, die Vorrechte und Privilegien der Stände zu beschränken und aufzuheben, so empfinden es die hiervon Betroffenen nicht als eine unbequeme rechtliche Tatsache, sondern als bitteres Unrecht, denn jede Enteignung als gegen den Willen des bisher Berechtigten vorgenommene Rechtsentziehung widerspricht durchaus dem ganzen Vorstellungskreis, in dem ihr bisheriges Recht groß geworden war.

Dieser siegreiche Kampf der sich zuerst im absoluten Königtum verkörpernden modernen Staatsidee gegen das alte feudale und ständische Recht ist uns in altbekannter Weise und anekdotischer Kürze im berühmtesten Wort des zweiten Preußenkönigs überliefert, das er gelegentlich der Einführung des Generalhofenschosses [Grundsteuer - wp] in Ostpreußen ausruft:
    "Ich komme zu meinen zweg und stabiliere die suverenitet und setze die krohne fest wie einen  Rocher von Bronse  [ehernen Fels - wp] und lasse die Herren Juncker den windt von Landtdaghe." (5)
Und alle Einwendungen gegen seine Befehle pflegt er mit seinem Lieblingswort abzuschneiden: "Ich bin doch Herr und König." Die Historiker, wie nicht anders möglich, sympathisieren mit dem staatsgründenden und staatsfestigenden Vorgehen des Königs. Der Konflikt der Rechtssysteme, der hier mitspielt, wird deshalb höchstens angedeutet, sonst aber nicht weiter beachtet. Schwerlich aber haben die Junker, trotzdem ihre Macht nur noch in kümmerlichen Überresten vorhanden war, die königlichen Resolutionen als Ausfluß eines unbezweifelten Rechts hingenommen und gegenüber dem "Ich bin doch Herr und König" haben sie wohl mit, vielleicht nur geflüsterten Worten ihrem Herzen untereinander Luft gemacht, die ähnlich gelautet haben mögen, wie jenes Jahrtausende alte Klagelied der Erinnyen. Über Gefühle dieser Art sind wir sogar aus viel späterer Zeit genauer unterrichtet, und zwar aus der badischen Geschichte. Als KARL FRIEDRICH 1806 den Breisgau in Besitz nimmt und unter Berufung auf seine Souveränität der dortigen Landschaftsversammlung ihr Recht der Landespräsentation für erloschen erklärt, da bricht der Präsident Freiherr von Baden in Tränen aus und die Versammlung legt voll Entrüstung Protest gegen die Verletzung der landständischen Rechte ein (6).

Dieser Übergang der alten in die neue Staatsordnung vollzieht sich aber keineswegs in der Weise, daß plötzlich alle feudalen Hoheitsrechte für erloschen erklärt werden. Vielmehr bestehen die alten Rechte ungehindert fort, bis sie von Staats wegen aufgehoben werden. Daher kann trotz aller Souveränitätsgefühle des Herrschers ein Staat für die soziale Betrachtungsweise noch lange das Bild eines Feudalstaates darbieten. Selbst in Frankreich, trotzdem LUDWIG XIV. den Typus des selbstherrlichen Königs geschaffen hatte, hat erst die Revolution des  ancien régime  mit seinen Bevorrechtungen einzelner Stände beseitigen Können. Noch schärfer tritt dies in deutschen Landen hervor. Den Adel zur bloßen Titularauszeichnung herabzudrücken, ist FRIEDRICH WILHELM I. nicht eingefallen, und in dem von ihnen geschaffenen Heer haben die preußischen Könige mit voller Absicht feudale Erinnerungen fortbestehen lassen, derart daß diese durchaus moderne Institution mit altem Geist erfüllt wurde. (7) Noch heute schwört der Offizier seinem obersten Offizier "treu, hold und gewärtig" zu sein, genau mit denselben Worten, mit denen der Mann einst dem Herrn gehuldigt hat. Als der friderizianische Staat 1806 zusammenbrach, da schien es, als ob es erst STEIN vorbehalten gewesen wäre, auf den Trümmern eines Feudalstaates ein modernes, vom Gedanken der inneren Staatseinheit erfülltes, seinen Gliedern gesetzliche Freiheit gewährendes Staatswesen aufzubauen. Noch immer aber dauerte auch rechtlich trotz aller Reformen der alte Rechtszustand in stattlichen Überresten fort. Erst nach der Verkündigung der ersten Verfassungsurkunde fällt die Patrimonialgerichtsbarkeit fort, indem die königliche Verordnung vom 2. Januar 1849 durch einen Federzug weit über 6000 Patrimonialgerichte beseitigte und die privilegierten Gerichtsstände aufhob. Im ganzen Gebiet des deutschen Reiches jedoch ist erst ein Menschenalter später durch das Gerichtsverfassungsgesetz die Staatsgerichtsbarkeit in vollem Umfang durchgeführt worden. Aber auch heute noch sind sichtbare Spuren der alten Ordnung in unserem Staatsbau zu entdecken. In den selbständigen, dem Gemeindeverband nicht eingegliederten Gutsbezirken, in der Zusammensetzung der ersten Kammern, ist deutlich an den früheren Rechtszustand angeknüpft worden. Namentlich die jüngste dieser Kammern, das preußische Herrenhaus, das FRIEDRICH WILHELM IV. seinen romantischen Neigungen entsprechend zusammensetzen durfte, weist Mitglieder auf, deren Wesen und Wirken nur dem kundigen Rechtshistoriker bekannt sind. Das preußische Volk weiß schwerlich etwas Näheres über die vier großen Landesämter im Königreich (das heißt dem ehemaligen Herzogtum) Preußen: das Oberburggrafen-, Obermarschall-, Landhofmeister- und Kanzleramt, deren Inhaber vom König kraft Gesetz auf Lebenszeit ins Herrenhaus berufen sind. Von der auch heute noch in deutlichster Sichtbarkeit hervortretenden Fortdauer der alten sozialen Schichtung in den östlichen Teilen des Reiches und ihrer politischen Bedeutung haben wir an dieser Stelle nicht zu reden. Gegenwärtig zeigen aber noch immer zwei Bundesstaaten in ihrem inneren Bau, soweit nicht das Reichsrecht reformierend eingegriffen hat, das Bild des alten, auf dem Lehnsystem und dem Sonderrecht städtischer Körperschaften aufgebauten Staatswesens, jenes Doppelstaates, in welchem der ständische Staat dem landesherrlichen als in seiner eigenen Sphäre gleichberechtigter Kontrahent gegenübersteht.

Welche Rechte aber auch eine Staatsordnung aus der früheren feudalrechtlichen Zeit aufweist, das eine steht außer allem Zweifel, daß diese Residuen selbst bei gänzlich ungeändertem Rechtsbestand ihr Wesen von Grund auf umgebildet haben. Souveränität bedeutet ja nicht notwendig eine tatsächliche Änderung des überkommenen Rechts, sondern nur die rechtliche Möglichkeit, es jederzeit zu ändern. Von einer solchen Möglichkeit wird natürlich nur dann Gebrauch gemacht, wenn sich ein entsprechender Anlaß hierzu ergibt. Aber irgendwelche unüberwindliche Rechtsschranken sind für den, der die Souveränität stabiliert hat, nicht vorhanden. Denn dieses Prinzip der dem Staat innewohnenden Majestät duldet der Lehre nach keine Spaltung und keine Minderung: entweder er besitzt sie oder er besitzt sie nicht (8). Das braucht den Herrschenden gar nicht zu Bewußtsein zu kommen; der einzelne Herrscher mag für sich Schranken anerkennen, welche er will, sie gelten doch nur für ihn, nicht für den, der entschlossen ist, die notwendigen Konsequenzen aus einem Prinzip zu ziehen, auf dem die ganze Eigenart seiner Macht aufgebaut ist. Denn hier gibt es nur die Alternative, daß entweder das ganze aus dem Souveränitätsgedanken fließende Vorgehen des Königtums rechtmäßig oder daß es von Anfang an Usurpation, daher Unrecht war.

Solange das alte Reich bestand, gab es allerdings für die in seinem Verband begriffenen Gebiete und Personen Schranken der landesherrlichen Gewalt, über deren Einhaltung das Reich zu wachen hatte. Von Bedeutung ist namentlich die Stellung der landesherrlichen Familien, deren Mitglieder reichsunmittelbar, daher nicht der Gewalt der Landesherren unterworfen sind. Alle diese Schranken fallen aber mit der Auflösung des Reichs dahin. Gibt es kein Reich, so gibt es auch keine Reichsunmittelbaren mehr und alle Autonomie der Dynastien bemißt sich nunmehr nach Landesrecht. Die Mitglieder der Dynastien sind daher der Staatsgewalt unterworfen und die auswärtigen Agnaten [ehelich legitimierte Nachgeborene - wp] können vom Staat keine bessere Rechtstellung beanspruchen als seine Angehörigen. Auch die hausgesetzliche Mitwirkung der Agnaten bei Thronfolgeveränderungen bemißt sich stets nur nach Landesrecht, das besondere Hausgesetze entweder voraussetzt oder anerkennt und zuläßt. Jede Änderung dieser rechtlichen Bestimmungen kann nur auf dem für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen Weg erfolgen (9).

Gegen diese, fast möchte man sagen, selbstverständlichen Sätze hat sich in neuester Zeit eine eigentümliche Opposition erhoben. Es war der nunmehr erledigte  Lippesche  Thronstreit, der altes Recht, das man längst begraben glaubte, zu neuem Leben erweckt hat. (10) Die deutschen Staaten konnten zwr Großes vollenden, sie konnten sich im Innern von Grund auf wandeln, konnten das Reich über sich aufrichten, die Thronfolge jedoch durch ein Staatsgesetz allein, ohne Mitwirkung der Agnaten, zu regeln, wie dies in anderen Monarchien zweifellos geschieht, dazu sind sie rechtlich, auch auf dem Weg der Verfassungsänderung, außerstande. So wird dann von neuem eine überstaatliche Legitimität proklamiert, die den Staat selbst in unverrückbare Schranken bannt.

Daß solche Anschauungen in den beteiligten dynastischen Kreisen noch lebendig sind, unterliegt keinem Zweifel. Ganz anders aber steht es mit ihrer wissenschaftlichen Haltbarkeit. Zu einer Zeit, da BISMARCK noch ganz den Konservativen zuzurechnen war, hat er mit seinem hellblickenden Auge erkannt, daß die alte feudal-dynastische Legitimität nicht mehr imstande ist, dem deutschen Staat der Gegenwart als Grundlage zu dienen. Am 30. Mai 1857 schreibt er von Frankreich an LEOPOLD von GERLACH, daß selbst für das Terrain, welches die heutigen deutschen Fürsten teils ihren Mitständen, den Standesherren, teils ihren eigenen Landständen abgewonnen haben, sich kein vollständig legitimer Besitztitel nachweisen läßt, und in unserem eigenen staatlichen Leben können wir der Benutzung revolutionärer Unterlagen nicht entgehen. Und in großartiger Weise legt er dar, daß das, was er damals Revolution nennt, das heißt der Gedanke der selbstherrlichen, nach außen und innen nur auf ihrer eigenen Macht ruhenden Staatsordnung viel älter ist als die französische Revolution (11). Das, was wir den modernen Staat nennen, ist für den BISMARCK der Bundestagszeit illegitimen Ursprungs, das heißt wie wir dargelegt haben, im Gegensatz zu dem durch außerstaatliches Recht beschränkten Feudalstaat entstanden, wird aber deshalb von ihm nicht minder anerkannt. Diese auf dem staats- und völkerrechtlichen Souveränitätsgedanken ruhende Gesinnung ist von ihm und König WILHELM später in der großen Zeit der Reichsgründung in unzweideutigen Taten verwirklicht worden. Der preußische Staat hat das Thronfolgerecht der Augustenburger durch das Gesetz vernichtet, welches Schleswig-Holstein der Monarchie eingliedert, der preußische Staat hat sich durch Gesetz Hannover, Kurhessen und Nassau einverleibt und damit den bisher dort herrschenden Dynastien jeden Rechtsanspruch auf den angestammten Thron genommen. Der diesen Einverleibungen vorhergehende Krieg kann mitnichten von legitimistischer Seite als deren Rechtsgrund angesehen werden. Denn mit Schleswig-Holstein war Preußen nicht im Krieg, und der Krieg von 1866 fand in einem entschiedenen Widerspruch zu den Sätzen des Bundesrechtes statt, denen zufolge die deutschen Staaten einander versprachen, sich unter keinem Vorwand zu bekriegen und der Austritt aus dem Bund keinem Mitglied freisteht. Bis auf den heutigen Tag such der welfische Legitimismus seine Ansprüche gegen Preußen so zu begründen.

Hält man sich vor Augen, wie wenig die geschichtlichen Ereignisse, die der Reichsgründung vorangegangen waren, der feudal-dynastischen Legitimität entsprachen, so ist es sehr verwunderlich, daß dieser Legitimität plötzlich wieder begeisterte Anhänger entstanden sind. Diese weitschichtige, heute bereits halbvergessene Literatur, ist immerhin, wenn auch nicht vom juristischen, so doch vom kulturhistorischen Standpunkt aus sehr interessant. Es gewährt sogar ein wehmütig-ästhetisches Schauspiel, zu sehen, wie ernste Männer sich vergebens abmühen, mit kleinen dialektischen Künsten dem Staat der Gegenwart das Spinngewebe ihrer Argumente, die häufig nicht einmal die Diskussion lohnen als unzerreißbare Fesseln anzulegen. Es sind eben Anwälte, die um jeden Preis einen Prozeß gewinnen möchten, nicht Männer der Wissenschaft, deren Stimme uns aus diesen Schriften entgegentönt. Darum muß man auch ihre glühende Begeisterung für die von ihnen verfochtene Sache nicht zu ernst nehmen. Diese Begeisterung für die alte Staatsordnung würde sich bei ihnen auch sofort in ihr Gegenteil verwandeln, wenn man aus ihren Lehrsätzen die Folgerungen ziehen wollte, die sich für jeden logisch Denkenden ergeben müßten. Hielte man ihnen entgegen, daß die ganze Stabilierung der Souveränität, auf der der moderne Staat ruht, vom Standpunkt der alten feudalen Ordnung Usurpation und Unrecht war, so würden sie gegen eine solche konsequente Durchführung ihrer eigenen Überzeugungen sicherlich Verwahrung einlegen und es fällt ihnen auch nicht ein, ihre Lehre für die Gegenwart und Zukunft da zu predigen, wo sie zu schweren politischen Bedenken Anlaß gäbe. Man denke nur an Braunschweig, wo durch Landesgesetz und Bundesratsbeschluß für den legitimen Thronfolger das Recht auf Führung der Regierung suspendiert wurde, ohne daß irgendeiner jener Anwälte seine Stimme dagegen erhoben hätte. Der vollendeten Tatsache gegenüber, namentlich wenn sie politisch gebilligt werden muß, wandelns sich eben alle neueren Legitimisten zu Opportunisten. Das hatte sich bereits in einer Zeit gezeigt, wo man noch glaubte, im Legitimitätsprinzip den sicheren Wall gegen demokratische Umsturzpläne gefunden zu haben. Der Frankfurter Bundestag, dieser Hort der Legitimität, hat die Vertreibung des Herzogs KARL von Braunschweig im Jahre 1830 durch einen Volksaufstand gutgeheißen, da die Julirevolution und der belgische Aufstand damals die deutschen Regierungen eingeschüchtert und zudem dieser höchst unerfreuliche Fürst durch sein unkluges Verhalten gegen seine Standesgenossen deren Sympathien gänzlich verscherzt hatte. Das war aber nichts anderes als Billigung einer Revolution, da eine rechtliche Möglichkeit, einen Landesherrn, wenn er nur regierungsfähig ist, des Thrones zu entsetzen, damals nicht mehr gegeben war und alle Berufung auf altes Reichsrecht nicht verfing, weil eben das Reich und seine Gerichtsbarkeit untergegangen waren (12). Ein so legitimistisch gesinnter mann wie ZÖPFL hingegen, hielt die Berufung der Bundesversammlung auf die "auffallende Denk- und Handlungsweise" des Herzogs KARL von Braunschweig für vollauf genügend, um dessen Entsetzung zu rechtfertigen. (13) Verallgemeinert man diesen Satz, wie es doch der Jurist tun muß, dann hat es wohl mit der monarchischen Staatsordnung überhaupt ein Ende. So sehen wir, wie im Bedarfsfall der moderne Legitimismus selbst bereit ist, die Revolution anzuerkennen.

Der im Fürstentum  Lippe  entfachte Kampf wird indessen heute noch von einer Seite fortgeführt (14). Erst jüngst wiederum das außerstaatliche Recht der Dynastien behauptet (15) und ihnen sogar eine überstaatliche Stellung zugeschrieben, die von dem, der im Glauben lebt, daß jedermann, der kein Gott ist, heute nur im Staat seine Stellung haben kann, nicht anders denn als übernatürlich bezeichnet werden kann. Dieses übernatürliche Recht glaubt jener Autor mit dem staatlichen vereinigen zu können, indem er, die Vertreter der modernen Staatsidee bekämpfend, meint, die nähere Betrachtung des Staates zeige eine größere Mannigfaltigkeit, als wir zu sehen imstande sind. Gewiß, wer mit beiden Augen nach verschiedenen Richtungen schielt, sieht zwei verschiedene Bilder, doch mangelt ihm die Fähigkeit, sie in einem einzigen Blick richtig zusammenzufassen. Derartigen Versuchen, Unversöhnliches miteinander versöhnen zu wollen, wird schließlich unentrinnbar das Schicksal derer zuteil, die nicht imstande sind, im Kampf der Meinungen energisch Partei zu ergreifen: man bekämpft und beachtet sie nicht mehr -  non ragionam di lor, ma guarda e passa!  [Nichts mehr davon; schau' hin und geh' vorüber! - wp]


IV.

Noch ein anderer hartnäckiger Kampf zweier Rechtsanschauungen hat zu einer Zeit stattgefunden, wo der Sieg der souveränden Herrschermacht über ständische Vorreche schon entschieden war. Die Epoche des Ringens um den konstitutionellen Staat liegt bereits hinter uns, aber doch nicht so weit, daß uns die Bedeutung dieses Ringens nicht mehr lebendig vor die Seele treten könnte. Der konstitutionelle Staat des Kontinents ist in manchen Ländern in einem schroffen Gegensatz zur Theorie vom selbstherrlichen, souveränen Königtum entstanden, indem er auf die uralte Lehre vom Volk als dem Quell aller Gewalt aufgebaut wird. Wo aber die Forderung nach einer konstitutionellen Monarchie in Staaten mit gefestigter Herrschergewalt eindringt, da greift man auf den Gedanken, den Herrscher durch freie Gewährung einer Verfassung sich selbst beschränken zu lassen und meint mit dieser, dem Ideenkreis der französischen Restauration entlehnten Formel die neue Staatsordnung genügend erklärt zu haben, ohne an den Grundlagen der bisherigen zu rütteln. Allein das ist ein schwerer Irrtum. Mit der Formel vom König als Quell und Inhaber aller Staatsgewalt, die in viele deutsche Verfassungen übergangen ist und vom Deutschen Bund als unverrückbare Norm für die Stellung der deutschen Monarchen zu den Kammern erklärt wurde, ist eine wirklich wissenschaftliche Erklärung des Verfassungsstaates unmöglich. Wenn der König tatsächlich die Substanz der ganzen Staatsgewalt besitzt, dann ist nicht einzusehen, warum er für alle Zeiten gebunden sein soll, deren Ausübung mit anderen zu teilen. Konnte er kraft der ihm wesentlichen Souveränität dereinst die ständischen Hoheitsrechte an sich ziehen, so kann er es auch mit der Gewalt, die er den Kammern verliehen hat. Tut er dies, so nimmt er nur zurück, was ihm unveräußerlich gehört, auch ist ein solches Handeln unsträflich, denn er ist nicht nur unverantwortlich, es würde beim Wegfall der Kammern auch jede Möglichkeit fehlen, etwa die Minister in legaler Weise zur Verantwortung zu ziehen. Man glaube ja nicht, daß dies nur eine rein theoretische Behauptung ist. Diese Logik wird vielmehr in vielen Staaten im Beginn ihrer konstitutionellen Epoche verwirklicht. Unter Berufung auf einen solchen Gedankengang werden im Zeitalter der Interventionspolitik die von den Monarchen feierlich beschworenen Verfassungen von Sardinien, Neapel und Spanien außer Kraft gesetzt, hebt 1828 DON MIGUEL die portugiesische Verfassung auf, nachdem er wenige Wochen vorher den Eid auf sie geleistet hatte. Von diesem Standpunkt aus erläßt KARL X. seine Juli-Ordonannzen und vernichtet ERNST AUGUST die von seinem Bruder verliehene hannoversche Verfassung. Am 4. März 1849 gibt der junge Kaiser FRANZ JOSEPH seiner Monarchie eine Verfassung, verkündigt aber am 31. Dezember 1851, daß er jene Verfassungsurkunde außer Kraft und gesetzliche Wirksamkeit erkläre, da sie in ihren Grundlagen den Verhältnissen des österreichischen Kaiserstaates unangemessen sei und sich als undurchführbar darstelle (16), und so kehrt dann der Absolutismus in verstärkter Form zurück. In der Gegenwart können wir an den russischen Verhältnissen deutlich jenen Kampf des absoluten mit dem konstitutionellen Staat beobachten. Kaiser NIKOLAUS II. hat seinem Reich eine ihn beschränkende Verfassung verliehen. Er hat sie seitdem nicht nur mehrere Male abgeändert, sondern wird überdies von einem Bund echt russischer Männer fortwährend angegangen, die unbeschränkbare autokratische Zarengewalt aufrechtzuerhalten.

Die Erkenntnis des konstitutionellen Staates als einer dauernden, nur nach ihren eigenen rechtlichen Bedingungen abänderlichen Ordnung ist nur vom Standpunkt eine r ganz anders gearteten Rechtsauffassung als derjenigen, die dem absoluten Staat zugrunde liegt, möglich. In der romanistisch-kanonistischen Literatur des Mittelalters, unterstützt durch germanische Rechtsgedanken, wird die Lehre von der körperschaftlichen Natur des Staates ausgebildet, die sich allmählich vorwärtsdringend, in den Anschauungen der neueren Zeit immer schärfer ausprägt. Ihrem Grundgedanken zufolge kann die dem staatlichen Gemeinwesen eignende Macht immer nur diesem selbst zukommen, jeder einzelne, mag er noch so hoch gestellt sein, ist in seinen öffentlich-rechtlichen Funktionen nur für das staatliche Ganze da und hat nur die Macht, die ihm gemäß der staatlichen Ordnung zukommt. Auch dieser Grundgedanke des modernen Staates von der Organstellung des Monarchen hat in einem berühmten Ausspruch eines Preußenkönigs seinen populären Ausdruck gefunden. Der Sohn jenes Herrschers, der von sich rühmte: "Ich bin doch Herr und König", erklärte, daß der Monarch der erste Diener des Staates ist.

Beide Aussprüche nebeneinandergestellt, bedeuten nicht nur einen Fortschritt vom Vater zum Sohn, wie er im Wechsel der Generationen oftmals stattfindet, sondern auch zwei entgegengesetzte, miteinander unvereinbare Staatsrechtssysteme. Entweder Herr oder Diener, entweder über oder im Staat stehend, beides zugleich ist nicht möglich. Das mag ja einer geborenen Herrschernatur wie FRIEDRICH dem Großen nicht zum Bewußtsein gekommen sein, große Prinzipien sind aber immer weitertragend, als der ahnt, der sie zuerst ausgesprochen hat.

Blicken wir in die heutige deutsche Staatsrechtslehre, so gewahren wir das merkwürdige Schauspiel, daß bei manchem ihrer Vertreter ein starker Widerwille gegen die friderizianische Formel vorhanden ist. Namentlich bei preußischen Schriftstellern ist das deutlich zu bemerken, in denen der Geist FRIEDRICH WILHELMs I. eine Auferstehung zu feiern scheint. Selbst dieser König dünkt nicht jedem von ihnen staatsrechtlich genügend korrekt, vielmehr wird dem französischen Sonnenkönig die Palme der Weisheit zuerkannt. Genau zu derselben Zeit, da - am 18. Juni 1888 - WILHELM II. in seiner Proklamation als König von Preußen im Geist seines größten Vorgängers den Pflichtcharakter des Königtums stark betonte, hat ein Berliner Rechtslehrer gegen FRIEDRICH polemisierend, mit anerkennenswerter Offenheit für Preußen die Lehre verkündigt: "Staat und Herrscher sind identische Begriffe. Den einzig richtigen Ausdruck hat LUDWIG XIV. diesem monarchischen Prinzip gegeben in seinem viel verkannten Ausspruch: "Der Staat bin ich." (17) Was dieser Schriftsteller offen ausspricht, ist bei anderen deutlich zwischen den Zeilen zu lesen.

Die einzig logisch mögliche Konsequenz aber, die sich für den ergibt, der den Monarchen nicht als Organ, sondern als Herrn des Staates oder gar als Staat selbst auffaßt, ist die, daß für den Herrn und König niemals Schranken im Rechtssinn möglich sind. Die entgegengesetzte Behauptung bedeutet eine eitle Sophistik und einen handgreiflichen Widerspruch (18). Die richtigen Folgerungen aus den angeführten Prämissen sind vielmehr in einer jüngeren Darstellung des sächsischen Staatsrechts ausgesprochen worden, in der ausgeführt wird, daß der König als Inhaber der höchsten Gewalt im Staat niemals unter einem Gesetz stehen kann und daher auch nicht durch die Verfassung gebunden ist. Aber der König habe bei seinem fürstlichen Wort versprochen, die Verfassung zu halten, und diese Garantie ist so heilig wie das Gesetz (19). Hier ist zumindest mit erquickender Ehrlichkeit die Unmöglichkeit einer rechtlichen Bindung des Monarchen an die Verfassung aufgrund der Herrschertheorie zum Ausdruck gebracht. Sachlich ergibt sich dasselbe Resultat, wenn man die Ausführungen derer zuende denkt, die den Monarchen fortdauernd als Inhaber der dem Parlament zustehenden Befugnisse betrachten. Steht der Monarch über dem Staat oder ist er gar der Staat selbst, dann ist nicht abzusehen, wessen Recht der Monarch überhaupt verletzen kann, wenn er seine Verfassung einseitig aufhebt, und die ganze Frage des Verfassungsbruches wird damit von der Rechtswissenschaft in die Ethik verwiesen.

In den normalen Zeitläuften hat dieser Streit keine über eine engbegrenzte Literatur hinausgehende Bedeutung. Auch sind in Staaten mit gefestigter Rechtsorendung tiefgehende Verfassungsbrüche, wie sie noch das vorige Jahrhundert sah, kaum zu befürchten. An Heißspornen, die Staatsstreichen das Wort reden, um wirkliche oder vermeintliche Übel im Staatsleben zu heilen, fehlt es zwar auch heute nicht, staatsmännische Besonnenheit ist aber in der Gegenwart davon überzeugt, daß derartige Ratschläge, um ein berühmtes Wort PUFENDORFs zu gebrauchen, mehr nach dem Henker als dem Arzt schmecken. Die furchtbare Erschütterung des Rechtsbewußtseins eines Volkes, die mit jeder Revolution verknüpft ist, möge sie von unten oder von oben kommen, zu vermeiden, ist heute eine kaum bezweifelte Forderung an eine gesunde Staatskunst. Setzen wir aber theoretisch den Fall, daß sich wieder einmal der Herr und König über den ersten Diener des Staates dauernd erheben wollte: an Staatsrechtslehrern, die derartiges zu rechtfertigen bereit wären, würde es sicherlich nicht fehlen!


V.

Eine solche Voraussicht führt uns nun zur Betrachtung der tiefsten Gründe derartiger Erscheinungen, die keineswegs bloß auf das Rechtsgebiet beschränkt sind. Es ist eine überaus merkwürdige Tatsache, daß jeder Fortschritt, jede Reformation der Ideen niemals die Gesamtheit auf die neugewonnene Höhe hebt. Stets bleiben Anhänger der alten Ordnung übrig, die sich um keinen Preis zu den neuen Anschauungen bekehren wollen. Selbst wenn ein neuer Glaube scheinbar gänzlich anstelle des alten getreten ist, wie die alte Kirche anstelle des antiken Heidentums, sind doch deutliche Nachwirkungen des alten Vorstellungskreises bis in die Gegenwart sichtbar. Uralte, scheinbar längst überwundene Lehren können deshalb plötzlich aus ihren Gräbern zum Leben oder doch zu einem Scheinleben wieder erweckt werden. Zudem wechseln die Werte, die wir historischen Erscheinungen beilegen, selbst wenn unser Wissen um sie unverändert bleibt, fortwährend, da sie ja stets dem Verhältnis gegebener Größen zum wechselnden Bewußtseinsinhalt menschlicher Generationen entspringen.

Auch die Rechtsordnung ist von einem solchen Wandel des Urteils nicht ausgenommen. Die dogmatisch-juristische Schule der deutschen Staatsrechtswissenschaft hat es zwar unternommen, eine LEhre für das öffentliche Recht herauszubilden, die wie es dem Recht ziemt, vom Streit und Wandel politischer Anschauungen unberührt, die ruhende objektive Norm finden will. Die Gründung dieser Schule fiel zusammen mit dem Aufbau des deutschen Reiches. Das Gefühl, daß endlich nach langen Kämpfen ein Ruhendes, Dauerndes, Bleibendes anstelle des alten politischen Wirrwarrs gesetzt wurde, beherrschte Meister und Jünger dieser Schule. Der Politik mit ihren unklaren und biegsamen Sätzen, mit ihren parteimäßigen Doktrinen sollte es verwehrt sein, ihre Stimme im neuerbauten Tempel der objektiven rechtlichen Erkenntnis ertönen zu lassen. Aber auch ein weniger geübtes Auge hatte schon in jener klassischen Zeit in den Grundlehren der Meister den Gegensatz ganz bestimmter Parteianschauungen erblicken können. Unitarismus, Föderalismus und Partikularismus, Hoch- oder Minderschätzung parlamentarischer Machtbefugnisse und andere politische Wertmaßstäbe werden an viele Probleme bewußt oder unbewußt herangebracht. Zudem war die Zeit, in der die juristische Behandlung des Staatsrechts entstand, die der Vorherrschaft liberaler Ideen und Parteien im Reich, was auch der Theorie im Großen und Ganzen ein einheitliches Gepräge verleiht. Später wächst aber eine neue Generation heran, in deren politischen Anschauungen die große Wandlung sichtbar wird, die mit dem Jahr 1878 einsetzt und mit dem Thronwechsel im Jahre 1888 in neue Bahnen gelenkt wird. Da treten dann nicht nur andere politische Ideen in den staatsrechtlichen Grundanschauungen hervor, sondern sie machen sich auch bei manchem Schriftsteller mit solcher Wucht geltend, daß sie die rechtliche Erörterung prinzipieller Fragen gänzlich in den Hintergrund drängen. Es wird mit löblicher, staatserhaltender Gesinnung geradezu geprunkt, die Mühe des Beweises durch Begeisterung oder eine kritiklose Geringschätzung der abweichenden Ansicht ersetzt oder auch jede Diskussion durch gesperrten Druck, der keine Widerrede duldet, niedergeschlagen. Die alte politische Behandlung des Staatsrechts ist heute, mit einem juristischem Mäntelchen notdürftig bekleidet, wiedergekehrt. Für Manche ist das Staatsrecht nicht mehr Gegenstand der Erkenntnis, sondern der Gesinnung, und wenn im Mittelalter die Philosophie als Magd der Theologie bezeichnet wurde, so wird heute das Staatsrecht in ein ähnliches Verhältnis zur Parteipolitik zu setzen versucht und die Grenze zwischen wissenschaftlicher und offizisiöser Publizistik ist daher in der Gegenwart nicht immer leicht zu finden.

Bei einer solchen Sachlage wird es dann auch selbstverständlich, daß die Geister entschwundener Rechtssysteme wieder hervortauchen, um die staatsrechtlichen Anwälte schwebender Streitfragen zu unterstützen. So ist in Deutschland die Lehre vom Königtum  iure divino  [göttliches Recht - wp], wie sie seinerzeit gepredigt wurde, um dem fürstlichen Absolutismus in seinem Kampf und Sieg eine religiöse Grundlage zu geben, im  Lippe schen Thronstreit als Argument gegen die Zulässigkeit eines  Lippe schen Landesgesetzes über die Thronfolge gebraucht worden, und die alte Demutsformel "von Gottes Gnaden", welche den kontinentalen Monarchien durch das angelsächsische Königtum vermittelt wurde, ist Gegenstand juristischer Deduktion geworden, so daß man sich in den Gedankenkreis des 16. Jahrhunderts zurückversetzt wähnt, wo man ernsthafte juristische Folgerungen aus dem Wesen des Bundes zog, den einst Gott mit seinem Volk geschlossen hatte (20). Die religiöse Lehre vom göttlichen Recht der Obrigkeit hatte zudem großen praktischen Wert in einer Zeit, die ausschließlich monarchische und aristokratische Ordnungen kannte, die vor einem demokratischen Ansturm geschützt werden sollten. Heute aber, wo so viele Staatswesen demokratisch geartet sind, muß der, dem jede Obrigkeit, dem Schriftwort entsprechend, als von Gott eingesetzt gilt, notwendig die Frage erheben, ob denn die Gnade Gottes bei Basel und Avricourt und gar jenseits des Ozeans ihr Ende findet. (21) So kann dieser moderne politische Präraffaelismus nicht einmal von seinen eigenen Voraussetzungen aus die staatliche Welt der Gegenwart erklären.

Aber gerade diese Betrachtung gibt einer überaus ernsten Frage Raum. Von der Staatsrechtslehre Voraussetzungslosigkeit zu verlangen, ist ebenso die Forderung einer unmöglichen Leistung wie jedes derartige Ansinnen. Stets ist der Mensch selbst Voraussetzung seiner Forschung, und dieser Mensch ist nicht denkbar als  tabula rasa  [unbeschriebenes Blatt - wp], das erst vom Forscher beschrieben werden soll. Jedes Individuum kann nur in seiner Eigenschaft als Produkt einer unendlichen Reihe von Kulturwirkungen an den von ihm zu erforschenden Stoff herantreten. So ist es dann auch natürlich, daß der Staatsrechtslehrer nicht gänzlich ohne politische Meinungen sein kann, wenn er sein Wissensgebiet betritt. Wer vermöchte sich der Erfassung menschlicher Institutionen nach irgendeiner Richtung hin zuzuwenden, wenn er ihnen nicht irgendwelche Werte zuzuschreiben vermag!

Ist dem aber so, so muß sich das Problem erheben: Woran erkennen wir die richtigen Voraussetzungen der Staatsrechtslehre, die uns bei der Lösung des Widerstreits zwischen altem und neuem Recht leiten müssen? Für die letzten Grundlagen unseres Forschens ist hier wie überall kein zweifelsfreies Wissen, sondern nur ein Bekennen möglich und eine Einheit des Bekenntnisses hier so wenig wie auf irgendeinem anderen Gebiet zu finden. Aber in der Wissenschaft herrscht keineswegs regellose Willkür in der Wahl des Bekenntnisses. Vielmehr zeigt sich dem Tieferblickenden, daß wie die Einzelwissenschaft notwendig ihre Stelle in der Gesamtheit der Wissenschaft einnehmen muß, so auch jede wissenschaftliche Richtung, die einer kritischen Prüfung standhalten will, schließlich nur erwachsen kann auf dem Boden einer festen, in sich geschlossenen Weltanschauung. Wer die Geister des Mittelalters auf staatlichem Gebiet wieder erwecken will, der muß nachweisen können, daß sie allüberall auferstehen, daß die ganze geistige Arbeit von Jahrhunderten vernichtet zu werden verdient. Wer das nicht vermag und dennoch im Kampf um die Prinzipien der Staatslehre das Rüstzeug vergangener Jahrhunderte anlegt, der kann bestenfalls an jenen Helden erinnern, der das alte Rittertum in einer Zeit fortdauernd vermeinte, die ihm längst entwachsen war. Ich sage bestenfalls, denn der edle Ritter von der Mancha war wenigstens kein Mann der Kompromisse und der Opportunität.

So kann nur aus dem ganzen Wissen einer Zeit heraus der Maßstab gefunden werden, an dem Wert und Unwert zwischen altem und neuem Recht zugrunde zu legen sind. Bei allem Gegensatz der Meinungen, der unausbleiblich mit jeder Tätigkeit des Wertens verknüpft ist, sind doch die Möglichkeiten für die Schätzung der Vergangenheit von so einem universellen Standpunkt aus begrenzt. Die  Erinnyen  konnten nur den schrecken, der an sie zu glauben vermochte; sie finden darum in unserer heutigen Welt keine Stelle mehr.

Auch der Zukunft wird es wohl bestimmt sein, neue Kämpfe zwischen altem und neuem Recht zu erleben. Neue historische und soziale Verhältnisse werden in späteren Tagen auch neue Rechtssysteme erzeugen. In jüngster Zeit hat bereits eine neue Rechtsordnung, die vor kurzem von vielen nur belächelt wurde und auch heute noch von manchem Superklugen scheel angesehen wird, ungeahnten Umfang und Stärke gewonnen. Das Völkerrecht, diese Gewähr des immer stärker anschwellenden internationalen Verkehrs, hat im letzten Menschenalter Fortschritte aufzuweisen, welche die frühere Generation vorherzusehen nicht imstande war. Immer enger schließt sich das Rechtsband um die zivilisierten Staaten, immer mehr werden Krieg und Frieden in feste Rechtsschranken verwiesen. Eine Organisation der Staatengemeinschaft zeigt sich heute bereits in den ersten Umrissen. Wie weit sie dereinst reichen wird, können wir heute nicht einmal ahnen. Zwischen Staats- und Völkerrecht sind schon in der Gegenwart Konflikte möglich und tatsächlich vorhanden. Mit dem Fortschritt des Rechts der Staatengemeinschaft werden sich diese Konflikte vermutlich immer mehr steigern. Auch sie werden nur dadurch lösbar, daß sich das Recht der einen Ordnung dem der anderen fügt. Einen solchen Widerstreit auszugleichen, ist nicht unsere Aufgabe, sondern bleibt der Nachwelt überlassen.

Alle Zukunft ist nicht Gegenstand des Wissens, sondern des Glaubens. Aus der Vergangenheit können wir Mut zu dem Glauben schöpfen, daß auch der Kampf der Rechtsordnungen dazu berufen ist, das Menschengeschlecht auf eine höhere Stufe sittlicher Entwicklung zu führen!

LITERATUR Georg Jellinek, Der Kampf des alten mit dem neuen Recht, Heidelberg 1907
    Anmerkungen
    1) Daß DANTE, der noch immer von mancher Seite als Vorkämpfer der modernen Staatsidee betrachtet wird, trotz allen Gegensatzes gegen päpstliche Herrschaftsansprüche grundsätzlich auf dem Boden der thomistischen Lehre steht, energisch hervorgehoben von VOSSLER,  Die göttliche Komödie,  1907, Seite 465. MARSILIUS von Padua aber, so rückhaltlos er die strikte Unterordnung der Kirche unter den Staat verlangt und ihr jede Zwangsgewalt abspricht, muß doch, wie damals nicht anders möglich, in seinem  defensor pacis  das göttliche Recht anerkennen, das allerdings nicht vom Papst, sondern vom gesamtchristlichen, nicht bloß beschöflichen Konzil zu interpretieren ist. Praktischen Einfluß hat dieser kühnste aller mittelalterlichen politischen Denker nicht gehabt.
    2) Vgl. die lebendige Schilderung von FLEINER, Über die Entwicklung des katholischen Kirchenrechts im 19. Jahrhundert, 1902, Seite 18f.
    3) Vgl. HÜBLER, Kirchenrechtsquelle, vierte Auflage, 1902, Seite 68. Die katholischen Kirchenrechtslehre zitieren den Syllabus stets als unbezweifelte Rechtsquelle, vgl. z. B. HERGENRÖTHER, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, 1888, Seite 51, 53, 54; HEINER, Katholisches Kirchenrecht I, 1897, Seite 381, 387; von SCHERER, Handbuch des Kirchenrechts I, 1886, Seite 55; SÄGMÜLLER, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, 1904, Seite 37, 62.
    4) Vgl. HINSCHIUS, Allgemeine Darstellung der Verhältnisse von Staat und Kirche in  Marquardens  Handbuch des öffentlichen Rechts I, Seite 218f.
    5) Die authentische Form des häufig anders zitierten Satzes nunmehr in den  Acta Borussia,  Behördenorganisation II, Seite 352.
    6) BADER, Die ehemaligen breisgauischen Stände, 1846, Seite 277.
    7) Vgl. HINTZE, Staatsverfassung und Heeresverfassung, 1906, Seite 29.
    8) Um alle Mißverständnisse zu vermeiden, sei bemerkt, daß die Ausführungen im Text rein historisch zu fassen sind, sich daher auf den Boden der Souveränitätslehre des absoluten Staates stellen. Irgendwelche dogmatische Erörterungen über den Souveränitätsbegriff würden die uns hier gesteckten Grenzen weit überschreiten. Auch die bundesstaatsrechtliche Frage nach souveränem und nichtsouveränem Staat hat mit dem vorliegenden Problem nichts zu schaffen.
    9) Vgl. JELLINEK, System der subjektiven öffentlichen Rechte, zweite Auflage, 1905, Seite 187f.
    10) Über diese ganze Literatur vgl. ANSCHÜTZ zu G. MEYER, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, sechste Auflage, 1905, Seite 255f.
    11) Gedanken und Erinnerungen I, Seite 176f.
    12) Vgl. die Darstellung des Falles bei KLÜBER, Öffentliches Recht des teutschen Bundes und der Bundesstaaten, vierte Auflage, 1840, Seite 360f. Nach Bundesrecht (Wiener Schlußakte, Art. XXVI), wäre der Bund verpflichtet gewesen, sofort in Braunschweig zugunsten des Vertriebenen einzuschreiten.
    13) ZÖPFL, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts I, fünfte Auflage, 1863, Seite 773f. Andere rechtfertigen das Vorgehen des Bundes auf andere Weise, vgl. H. A. ZACHARIAE, Deutsches Staats- und Bundesrecht I, 1865, Seite 428. Nach Auflösung des Bundes verhält sich die Literatur ganz anders. Behutsame Kritik des Falles bei H. SCHULZE, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts I, 1881, Seite 276f. Energische grundsätzliche Ablehnung eines jeden Entsetzungrechts gegenüber dem Monarchen aber bei ANSCHÜTZ-MEYER, a. a. O., Seite 274, Nr. 1. Gegen die Rechtmäßigkeit dieser Thronentsetzung auch REHM, Modernes Fürstenrecht, 1904, Seite 290, 300f.
    14) REHM, Die überstaatliche Stellung der deutschen Dynastien, 1907. Es ist bedauerliche, daß REHM, der sich von allen anderen neueren Legitimisten dadurch unterscheidet, daß er nicht Gelegenheitsschriftsteller ist, sondern mit wissenschaftlichem Ernst an das Problem herantritt, so viel Mühe und Scharfsinn an die Lösung einer unmöglichen Aufgabe - einer juristischen Quadratur des Zirkels - verwendet hat. Im einzelnen seinen Ausführungen zu folgen, würde eine eingehende Darlegung verlangen, die aber kaum nötig ist, da REHM schwerlich irgendjemand wissenschaftlich für voll zu Nehmenden in seinen gegnerischen Ansichten wankend machen dürfte. So kann ich es mir auch versagen, seine speziellen Angriffe gegen mich abzuwehren, zumal ich die Methode der Buchstabeninterpretation, die REHM in seiner Polemik mit Vorliebe befolgt, grundsätzlich verwerfe. Die positiven Aufstellungen REHMs, auf die es doch in erster Linie ankommt, kranken an dem großen Fehler, daß sie auf den Kern der Frage gar nicht eingehen: Was sind die überstaatlichen Dynastien? Nach welchem Recht bemessen sich ihre Rechtsqualitäten und ihren Beziehungen zu dem von ihnen getrennt zu denkenden Staat? Ist es Privatrecht, Staatsrecht, Völkerrecht, Naturrecht, ist es Reichs- oder Landesrecht oder gibt es ein eigenes Überstaatsrecht, das nach besonderen Überstaatsrechtslehrern verlangt? Gilt das Überstaatsrecht auch für den deutschen Richter, der nur dem gesetzlichen, aber nicht dem übergesetzlichen Recht unterworfen ist? Die Nichtigkeit thronfolgeändernder Gesetze auf Artikel 57 Erbfolgegesetz zum BGB zu stützen, wird REHM wohl mittlerweile aufgegeben haben. Der bloße Versuch, die Entscheidung grundlegender, umwälzender Fragen in ein "oder" hineinzuinterpretieren, heißt die ganze Jurisprudenz berechtigtem Spott, ja sogar bedauerlicher Verachtung preisgeben. In solcher Art, sowie mit der Unterscheidung von Anstalts- und Korporationspersönlichkeit des Staates und ähnlichen Deduktionen kommt man der Lösung dieser Fragen nicht um Haaresbreite näher! Ganz mißlungen aber ist REHMs Hinweis auf die ethischen Mächte, die es angeblich verhindern, daß die Volksseele ein reines Staatsgesetz für genügend hält, um dynastische Rechte zu ändern. Wenn eine Volksvertretung einem solchen Staatsgesetz zustimmt, so ist das wohl der sicherste Beweis dafür, daß das dynastische Gefühl des Volkes damit einverstanden ist, es sei denn, daß man in diesem Fall noch ein Plebiszit für nötig hält. Nehmen wir an, die nähere Linie eines Herrscherhauses, die nichtdeutsch und im Ausland weilend dem Land fremd geworden ist, würde zugunsten einer ferneren, aber im Land ansässigen Linie durch Gesetz ausgeschlossen, was würde das dynastische Gefühl dazu sagen? Und meint REHM wirklich, daß wenn zwei fremde Thronanwärter streiten, wie es in  Lippe  der Fall war, das "Band der Liebe und Treue" nur den mit seinem Volk verbinden könnte, der nach den Grundsätzen des "Modernen Fürstenrechts" zum Thron gelangt? In einem solchen Fall müßte doch REHM wiederum eine Volksabstimmung verlangen, um festzustellen, wem die "sittlichen Kräfte" der Volksseele zustreben. - - - Das schlimmste aber ist, daß REHM, wie nicht anders möglich, unseren heutigen deutschen Staat seinem Lieblingsgedanken opfern müßte, wollte er konsequent sein. Millionen von Katholiken sind davon überzeugt, daß der Staat Rechte der Kirche usurpiert hat. Warum fordert REHM nicht, daß der Staat diesen sittlichen Kräfen der Volksseele Rechnung trage? Und warum verlangt er nicht, die sittlichen Kräfte des Welfentums schätzend, die Wiederherstellung Hannovers? Wenn irgendwer, so ist REHM durch seine Grundsätze berufen, das gute Recht der Welfen zu verteidigen! REHM kann doch unmöglich einigen siegreichen preußischen Regimentern die sittliche und rechtliche Macht zugestehen, die er dem Staatsgesetz aberkennt. Allerdings huldigt REHM dem allen modernen Legitimisten anhaftenden Opportunismus, dadurch, daß er (Seite 35) Rechtsbrüche unter Umständen für politisch und ethisch gerechtfertigt hält. Bereits früher, Modernes Fürstenrecht, Seite 302f, hat er sich in der braunschweigischen Frage das Hinterpförtchen offen gehalten, daß er sogar Absetzung eines Monarchen durch ein verfassungsänderndes Reichsgesetz für zulässig erklärt, obwohl er versichert, daß das Thronfolgerecht nicht vom Staat stammt und daher auch nicht vom Staat genommen werden kann. Nun hat aber das Reich seine Rechte von den Bundesstaaten, die ihm doch nicht mehr geben konnten, als sie selbst hatten! - - - Derartige juristische Kunststücke sind bei REHM noch mehrere zu finden. Sonst müßte er aber auch erklären, daß unser ganzes deutsches Reich, wie die  civitas terrena  des AUGUSTINUS auf Sünde und Rechtsbruch aufgebaut ist, wenn auch später Unrecht sich in Recht gewandelt haben sollte. Immerhin wird man es REHM danken müssen, daß er klar beweist, wie unmöglich es ist, zwei Herren zugleich zu dienen: dem abgeschiedenen Gespenst der Vergangenheit und dem lichten Geist der Gegenwart!
    15) Noch weiter als die neueren Legitimisten geht nunmehr ZORN, der nicht nur in seiner Bearbeitung des ROENNEschen Staatsrechts der preußischen Monarchie II, 1906, Seite 21 in das Fahrwasser der REHMschen Lehre der überstaatlichen Hausgesetzgebung einlenkt, sondern auch a. a. O., Seite 45f der Gesetzgebung über die standesherrlichen Vorrechte Rechtsschranken zieht. Das verträgt sich kaum mit der sonstigen Begeisterung ZORNs für das preußische Königtum, von dessen Vorgehen gegen ständische Vorrechte die von ZORN so hoch geschätzten  Acta Borussica  ein beredtes Zeugnis ablegen. ZORN, Jahrbuch des öffentlichen Rechts I, Seite 67 hat doch das Staatsinteresse für den Leitstern der staatsrechtlichen Lehre erklärt. Sollte denn wirklich die Wetterfahne des Staatsinteresses nicht mehr nach der Richtung der ausschließlichen staatlichen Autonomie, sondern wieder auf Legitimität und unentziehbare Standesbevorrechtung zeigen?
    16) BERNATZIK, Die österreichischen Verfassungsgesetze, 1906, Seite 178
    17) BORNHAK, Preußisches Staatsrecht I, 1888, Seite 65
    18) Die Anhänger dieser Lehre kommen auch nicht über die Versicherung hinaus, daß der Monarch an die Verfassung gebunden ist, von einer eingehenden Untersuchung dieses Grundproblems ist bei ihnen nirgends etwas zu finden. Man vergleiche z. B. die nichtssagenden und widerspruchsvollen Ausführungen des bedeutendsten Mannes dieser Richtung, SEYDELs, in seinem Bayerischen Staatsrecht I, zweite Auflage, Seite 170f.
    19) OPITZ, Das Staatsrecht des Königreichs Sachsen I, 1884, Seite 38. Anklänge daran in dem merkwürdigen Satz REHMs, Überstaatliche Rechtsstellung, Seite 27: "Die Vorschriften über den Untertanen und Staatsbürger gelten nicht für das monarchische Staatshaupt: das positive Recht betrachtet den Herrscher nicht als Staatsmitglied." Sehen wir vom Privatrecht ganz ab, so würde sich daraus u. a. die absolute Steuerfreiheit des Monarchen ergeben, wie sie z. B. in Württemberg und Baden sicherlich nicht existiert (vgl. GAUPP-GÖZ, Staatsrecht des Königreichs Württemberg, dritte Auflage, 1904, Seite 74; WIELANDT, Staatsrecht des Großherzogtums Baden, 1895, Seite 40). Der Monarch brauchte sich nicht um irgendwelche gesetzliche Polizeivorschriften (z. B. baupolizeiliche zu kümmern. Wir überlassen es dem Leser, diese neue Lehre vom  princips legibus solutus  zu Ende zu denken.
    20) Der Kuriosität halber sie auf ARNDT, Können Rechte der Agnaten auf die Thronfolge nur durch Staatsgesetz geändert werden?, zweite Auflage, 1900, Seite 41, verwiesen, der unter anderem die Macht der Staatsgesetzgebung über Sukzessionsrechte damit bekämpft, daß man durch deren Zulassung anstatt einer Thronfolge von Gottes Gnaden eine von Willkür und von Menschen wegen, bzw. von Mehrheits wegen setzt. Nun ist aber doch, wie bekannt, der Papst schon durch Zweidrittelmehrheit der im Konklave anwesenden Kardinäle gewählt und dennoch nach Kirchenrecht mindestens ebenso "von Gottes Gnaden" wie ein kleiner thüringischer Fürst, wie dann auch der römisch-deutsche Kaiser nur die Mehrheit der Kurstimmen auf sich zu vereinigen brauchte, um "von Gottes Gnaden" zu herrschen. Diese theologische Staatslehre neuester Facon ist daher päpstlicher als der Papst und kaiserlicher als der Kaiser.
    21) Nach KOHLER, Einführung in die Rechtswissenschaft, zweite Auflage, 1905, Seite 114, unterscheidet sich auch die Wahlmonarchie von der Republik dadurch, daß der durch die Wahl bezeichnete der geborene, der durch die Vorsehung bezeichnete König ist. In der Republik ist derartiges nicht zu finden. Das staatsrechtliche Gebiet der Vorsehung ist daher nach KOHLER in der Gegenwart sehr begrenzt.