ra-2W. HerrmannF. MauthnerG. GlogauH. Rickert    
 
MORITZ DROBISCH
Grundlehren der Religionsphilosophie
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"Man kann behaupten, daß die herrschende spekulative Philosophie nach  Kant des Geistes der  Kritik,  der Untersuchung entbehrt, und an die Stelle derselben einen Geist der  Konstruktion, der Dichtung aus Begriffen gesetzt hat. Es ist nicht der Geist der Mathematik, der Naturforschung, der historischen und philologischen Kritik, der in der Philosophie des Tages weht, oder dessen allgemeinen wissenschaftlichen Ausdruck wir in ihr finden, es ist eine  Poesie der Begriffe, die uns entgegentritt, hervorgegangen aus einer Art  Kunsttrieb, der ohne Ruhe und Rast einem unendlichen unbekannten Ziel entgegentreibt und neue und immer neue Begriffsevolutionen zu seiner Befriedigung begehrt; es sind nicht Theorien, es sind Romane, womit unsere Wissensdurst gestillt werden soll!"


I. Einleitung

"Gib mir einen Standpunkt."


Jede neue Gestaltung der Philosophie, nachdem sie von der Individualität ihres ersten Urhebers sich abgelöst und in einem größeren Kreis verwandter Geister Wurzel geschlagen hat, entäußert sich auch allmählich des beschränkenden Namens, der sie gleichsam nur als einen Privatbesitz ihres Schöpfers bezeichnet, und nimmt eine allgemeinere objektivere Benennung an, durch welche sie ihre charakteristische Eigentümlichkeit auszudrücken sucht. Nicht leicht wird es wohl für irgendeine Art des Besitzes lebhafter gewünscht, Teilnehmer zu gewinnen, als für den wissenschaftlichen, dessen sich der ursprüngliche Inhaber erst dann recht zu erfreuen wagt, wenn er ihn völlig zum Gemeingut geworden sieht. Darum haben auch die Urheber der philosophischen Systeme gewöhnlich selbst beizeiten dafür gesorgt, ihre Philosophemen solche charakteristische Prädikate als Benennungen beizulegen, die besser als der individuelle Name eines Mannes und weniger demütigend als ein solcher geeignet schienen, Andere darum wie um ein Feldzeichen zu versammeln. Allgemein bekannt ist es, wie bald die kantische Philosophie in die kritische, die SCHELLING'sche in die Identitätslehre, die HEGEL'sche in die absolute Philosophie umgesetzt wurde. Sich an eine Schule zu halten, zeigt in der Philosophie so wenig wie in anderen Wissenschaften, wo man sich dieses Ausdrucks ebenso oft bedient, geistige Beschränktheit an, sondern kann mit der vollkommensten Freiheit und Selbständigkeit verbunden sein. Zuweilen mag der Meister sogar nur den, freilich immer noch höchst bedeutsamen Vorzug besitzen, einen Gedankenkreis, der  vor  der Berührung des Jüngers mit ihm auch im Geist dieses letzteren als Meinung, Ansicht, Gesinnung bereits ein Dasein hatte, schärfer begrenzt, ausgeprägt und aus dem Dämmerlicht der Subjektivität zu einer klaren objektiven Gestaltung hervorgehoben zu haben. Dann begrüßt ihn der Jünger als den Deuter seiner Träume, und der Meister empfängt diesen als einen verwandten Geist und als den dereinstigen Erben seiner Habe, die - so hofft er - von ihm nicht nur gewahrt, sondern auch gemehrt werden soll. Bei einer solchen Meister- und Jüngerschaft muß es sich aber dann aussprechen lassen, was das Band der Sympathie knüpft und was Andere von dem durch keine hemmende Schranke umgebenden Kreis ausschließt. Es ist dann nicht mehr bloß darum zu tun, dem jüngstgeborenen Kind einen Namen zu geben, sondern sich der Stellung seines wissenschaftlichen Strebens zur Vergangenheit, der Bedeutung für die Gegenwart bewußt zu werden, es in den geschichtlichen Zusammenhang einzureihen und ihm nach seinen Gegensätzen und befreundeten Beziehungen im wissenschaftlichen Bewußtsein der Zeit einen Ort anzuweisen. Aber auch noch in anderer Beziehung wird für jede Schule, früher oder später, eine solche sachliche Bezeichnung notwendig. Selten wird der Stifter eines neuen Systems Zeit finden, alle Teile desselben gleichmäßig auszubilden; dies überläßt er eben der Schule. Aber fast jede Entwicklung eines Gedankens führt zu Folgerungen, die nicht ganz in der Erwartung lagen: das Prinzip, das ein System anerkennt, involviert nicht selten Konsequenzen, welche der individuellen Ansicht und Gesinnung seines Urhebers durchaus fremd waren. Es lag z. B. nicht in der Ansicht und Absicht KANTs, einen Idealismus wie den FICHTEs vorzubereiten, nicht in der Absicht SCHELLINGs, durch sein Identitätsprinzip den Grund für HEGELs absoluten Idealismus zu legen. Mit solchen Entwicklungen sondert sich daher die Sache von der Person ab. Vergebens versicherte FICHTE, daß er nur die kritische Philosophie vollenden wollte: KANT erkannte ihn nicht mehr als den Seinigen an; und nicht viel anders hat sich das Verhältnis zwischen SCHELLING und HEGEL gestaltet, wobei letzteren jener ja beschuldigte, er habe nur seine Prinzipien entwickelt und zwar falsch entwickelt. Der Urheber klagt über die Entstellung seines Grundgedankens, der Nachfolger über die Beschränktheit seines Vorgängers, der weder weiß noch will, daß der Baum, den er gepflanzt hat, seine schattigen Zweige weithin ausbreitet, ihn vielmehr immer nur unter einer lästigen Schere zu halten sucht. Ob der Meister Recht hat oder der Jünger, das beurteilt erst die Geschichte, nachdem beide aufgehört haben der Gegenwart anzugehören. Tatsache der Geschichte der Philosophie ist aber allerdings, daß bisher in jeder neuen philosophischen Schule anfangs die Jünger an den Worten des Lehrers mit ängstlicher Genauigkeit festhielten, sodann der Geist sich vom Buchstaben zu unterscheiden und von seiner drückenden Herrschaft loszumachen wußte, schließlich aber entweder die Schule ihre streng methodische Haltung verlor und im Popularisieren sich verflachte oder ein Zweig von ihr eine veränderte Richtung einschlug und mit frischer Energie ein neues wissenschaftliches Leben hervortrieb.

In welchem dieser Stadien diejenige Schule sich befindet, welcher der Verfasser sich zuzählt, ist nicht schwer anzugeben. Spät erst und allmählich sammelte sich um HERBART ein Kreis jüngerer Männer, die für eine Beleuchtung, Verbreitung, Fortbildung des von ihm begründeten neuen und eigentümlichen philosophischen Systems tätig zu sein sich entschlossen zeigten. Das System ist ohne Vergleich älter als die Schule, aber es ist gewiß eine gute Vorbedeutung, daß es erst in der zweiten Generation Anklang fand: ging es doch NEWTONs Prinzipien nicht anders. Über das erste Stadium nun ist die Schule hinaus. Empfehlender und erläuternder Schriften bedarf es nicht mehr: das System ist von denen, die es redlich wollten, richtig verstanden, es ist auch von den Gegnern als eine eigentümliche Erscheinung anerkannt, angegriffen und verteidigt, es ist ihm von Freund und Feind seine Diagnose und seine Prognose gestellt worden. Bereits regt sich das Streben weiter zu gehen, bald in der Ausbildung einzelner Teile, bald in einer ausgebreiteteren Anwendung der Prinzipien; selbst als Extrem einem andern Extrem gegenüber wurde es betrachtet, eine Vermittlung zwischen beiden in Antrag gebracht und auch wirklich versucht, und auch der Synkretismus [Vermischung - wp] hat sich schon an ihm - vergangen. Die Schule steht also offenbar im zweiten Stadium, sie hat die ersten Lehrjahre zurückgelegt, und es ist an der Zeit den Geist zu charakterisieren, den sie festzuhalten hat, wenn sie Schule bleiben will. HERBART selbst hat, unbekümmert um solche äußere Angelegenheiten und nur auf die Begründung der Philosophie ohne Beinamen bedacht, es anfangs gänzlich unterlassen, ein solches Stichwort für die Eigentümlichkeit seines Systems, sich eine Parole zu wählen, an der die Seinigen sich erkennen könnten, später aber allzubescheiden die verblichene Fahne des Kantianismus aufgesteckt, - eine Pietät, die ihn, ohne ihm Bundesgenossen zu bringenn, in den Augen eines jüngeren Geschlechts, das rastlos nach Neuem jagend nicht einmal alte Namen verträgt, unverdient zurückgestellt hat. Wir unsererseits haben schon vor mehreren Jahren den Geist der HERBART'schen Philosophie als den Geist  exakter Forschung  bezeichnet, und wenn es auch noch nicht üblich geworden ist, anstatt von HERBART'scher Philosophie von  exakter  zu sprechen - was im Munde der Gegner allerdings ein allzugroßes Zugeständnis sein würde - so haben doch diese Gegner des Systems die Bemerkung selbst wiederholt bestätigt, freilich nur, um uns daraus die Borniertheit nicht bloß unserer Philosophie, sondern auch unserer eigenen übel organisierten Köpfe zu deduzieren. Sie verstehen indessen den wissenschaftlichen Geist der Zeit schlecht und spielen ein unglückliches Spiel, wenn sie exakte Wissenschaft borniert schelten, weil diese nicht  mehr  wissen will, als sie wissen kann, jedoch freilich bei ihnen neuerdings die hohe Weisheit zutage getreten ist, daß in der Philosophie eigentlich Niemand wissen  kann,  was er will, sondern er dies erst dem höher stehenden Nachfolger überlassen muß, daher dann nicht zu verwundern wäre, wenn Alle nicht wüßten, was sie wollen; auch würde es uns nicht schwer werden, für ihr Treiben den wahren signifikanten Ausdruck zu finden.  Uns  ist es nur darum zu tun, die Behauptung zu  rechtfertigen,  daß die HERBART'sche Philosophie sich  rühmen darf,  vom Geist exakter Forschung beseelt zu sein und dem Ideal der  exakten Philosophie  nachzustreben.

Bekanntlich unterscheidet man vollkommen natürlich und sachgemäß in der Geschichte der Philosophie die drei Perioden der griechisch-römischen, der christlich-scholastischen und der neueren und neuesten Philosophie. Wenn gleich die griechische Philosophie durch SOKRATES zur Ethik geführt, und diese durch PLATO, ARISTOTELES und die Stoiker bedeutet ausgebildet wurde, so ist doch der vorherrschende Charakter der griechischen Philosophie die naturphilosophische und metaphysische Spekulation, die durch kühne Konstruktionen sich weit über die Erfahrung hinauswagt und mit wißbegieriger Ungeduld die Schranken des Wissens gewaltsam zu durchbrechen sucht. Wir sind weit entfernt über diese Spekulation vom Standpunkt einer bloßen Erfahrungswissenschaft aus den Stab brechen zu wollen; ein solches Urteil würden wir selbst für philosophisch borniert halten: die Spekulation, das Überschreiten des Erfahrungskreises durch unser Denken ist allerdings nicht bloß ein wichtiges, es ist das wesentliche Lebenselement der Philosophie; nur erscheint es bei den Griechen anfangs in knabenhafter, später aber immer noch in ziemlich jugendlicher Gestalt, nie aber in derjenigen männlichen Reife, die, ihm geben zu können, unsere Zeit nun allerdings alt genug scheint. Das Mittelalter brachte der Philosophie das Element christlicher, d. h. wahrer Religiosität, den frommen demütigen gläubigen Sinn, von dem der Grieche noch keine Ahnung hatte. Allein die Religiosität des Mittelalters war gänzlich an die Formen der Kirche gebunden, und diese ein vielverzweigtes, kunstreich geordnetes und zusammengehaltenes, von strenger Einheit beherrschtes bewunderungswürdiges Ganzes, imponierend wie jene majestätischen Dome, die mehr noch die Herrlichkeit der triumphierenden Kirche als die Ehre Gottes zu verkünden bestimmt scheinen. So eignete sich, in tiefem Einklang mit diesen Zuständen, die Philosophie als Dienerin der Religion und Kirche, in den vielverschlungenen, auf das Feinste ausgearbeiteten, höchst symmetrischen, ins Unendliche gegliederten, systematischen Formen der aus der peripatetischen Schule hervorgegangenen Scholastik das eng anschließende vollkommen angemessene Gewand an. Als im 16. Jahrhundert die Reformation die erstarrten Formen der Kirche zerbrach und die Gedanken von ihren Fesseln befreite, da zerbrach auch die Philosophie die starren Gedankenformen des Scholastizismus und erging sich, seit DESCARTES, in zweiter Jugend, mit geistreicher Freiheit, jedoch das durch das Mittelalter überkommene religiöse Element nicht wieder aufgebend, in neuen Spekulationen. Aber gleichzeitig erwachte nun auch mit BACON, und kräftiger noch mit GALILEI und KEPLER, neben der Spekulation, als eine neue und wesentliche Ergänzung derselben, der Empirismus mit einer Energie und Methodik, wie sie ARISTOTELES, der allein, und auch nur in beschränktem Sinn, für den Repräsentanten desselben in der Blütezeit der alten Philosophie gelten kann, bei weitem nicht gekannt hatte, und trieb einen jungen kraftvollen Zweig der Wissenschaften, voll der herrlichsten Blüten und Früchte, die Naturwissenschaften hervor, die sich streng von aller philosophischen Spekulation absondern und nur die mathematische anerkennen, deren Hilfe sie für ihre höhere Ausbildung vielfach in Anspruch nehmen. In der Philosophie aber übten sich Spekulation und Empirie mit Vorliebe an einem Stoff, den das Mittelalter vernachlässigte und das Altertum auch selbst in der späteren Zeit nicht vorzugsweise begünstigte, an den Aufgaben der inneren Erfahrung, und so beginnt das psychologische Zeitalter der Philosophie, das Zeitalter der Untersuchungen über den menschlichen Verstand, und das *Erkenntnisvermögen, das Zeitalter der Vernunftkritik, das mit DESCARTES'  Cogito  anfängt und mit FICHTEs Ich schließt. Allein bei aller Homogenität dieser letzteren Epoche, enthält sie doch in sich noch einen Abschnitt, der, wie er sich zu seiner Zeit als einen völligen Wendepunkt der Philosophie ankündigte, als solcher auch noch jetzt, wo das Mangelhafte der Reform, die er unternahm, klar genug vorliegt, anerkannt werden muß, und den auch, wie wir hoffen, noch die Zukunft dafür wird gelten lassen. Daß wir vom neuen Umschwung der Philosophie durch KANT sprechen, bedarf kaum der Erwähnung; die Wichtigkeit dieses Abschnitts aber führen wir zurück auf die durch KANT bewirkte Einführung des Prinzips der Kritik in die Philosophie.

Der Scholastizismus war zwar längst gestürzt, aber sein Geist lebte im Dogmatismus der vorkantischen Systeme doch noch fort, ja wenn man den stattlichen logisch-metaphysischen Apparat der WOLFF'schen Schule, als der nächsten Vorgängerin der kantischen, ins Auge faßt, so kann man gar nicht verkennen, wieviele schöne Erbstücke der mittelalterlichen Philosophie hier noch wohlerhalten aufbewahrt wurden. Dabei zeigte der Dogmatismus eine unerhörte Sorglosigkeit und Oberflächlichkeit in der Begriffsbildung und ein in seiner Unermüdlichkeit zwar ehrenwertes Ringen, das aber in seinem blinden Eifer, willkürlich aufgestellte Probleme, aller mißlungenen Versuche ungeachtet, lösen zu wollen, ohne sich schließlich die Frage vorzulegen, ob die Auflösung derselben auch überhaupt möglich sei, und was zur Aufstellung des Problems eigentlich berehtigt, - doch unwissenschaftlich und töricht zu nennen war und der Reife der Zeit nicht mehr angemessen erscheinen konnte. Zwar besaß der Dogmatismus von jeher im Skeptizismus und später überdies namentlich im modernen Empirismus ein mächtiges Gegengewicht, aber man kann eher sagen, daß der Skeptizismus in seiner Verbindung mit dem Empirismus seine scharfe Einseitigkeit gemildert, seine unfruchtbare Negativität zum Teil eher aufgibt, als daß sich der Dogmatismus etwas von seiner Behutsamkeit aneignen würde; nur den Vorzug besaß er, das echt philosophische Element der Spekulation, das der skeptische Empirismus als ein völlig nichtiges ablehnt, aufrecht zu erhalten. Gegen die Reste der Scholastik im Dogmatismus war nun zunächst KANTs Kritizismus gerichtet, der durch Skepsis zum Dogma führen und so beide Gegensätze miteinander verschmelzen sollte, und der im Unternehmen der Vernunftkritik, von welcher HERBART treffend gezeigt hat, wie sie, nach einem psychologischen Schema angelegt, doch spekulative Probleme erörtert und daher halb Psychologie halb Metaphysik ist, auch noch den Versuch einer zweiten Kombination, nämlich den der Spekulation mit dem psychologischen Empirismus machte, und so den Gegensätzen der Prinzipien und Methoden, obgleich er ihre einseitigen Anmaßungen zurückwies, doch auch innerhalb angemessener Grenzen ihr Recht widerfahren zu lassen sich bereit zeigte. Ein wie wenig dauernder Erfolg hierdurch erzielt wurde, hat die Geschichte der Philosophie seit KANT offenkundig gelehrt. Diejenigen, welche in unserer Zeit das philosophische Wort am lautesten führen und in der Besitznahme der wissenschaftlichen Organe der Öffentlichkeit am glücklichsten gewesen sind, werden zwar nicht müde zu versichern, daß die Philosophie in einem ununterbrochenen Fortschritt begriffen gewesen ist und immer sonnigere Höhen erklimmt hat; aber nicht bloß für den Kantianer, für jeden unbefangenen Beobachter, der die philosophischen Zustände der letzten Jahrzehnte mit vorkantischen, und beide mit den Fortbewegungen des wissenschaftlichen Geistes überhaupt vergleicht, ergibt sich vielmehr die klare Überzeugung, daß die Philosophie in den nach KANT zur Herrschaft gelangten Systemen aufs Neue in Dogmatismus verfallen ist, und sich wieder dem Scholastizismus zugeneigt hat, ja man könnte sagen, ihn erneuert hat. PLATO wurde von Neuem vergöttert, SPINOZA von den Toten auferweckt, BRUNO hervorgezogen, NEWTON geschmäht, nicht bloß der Tiefsinn des ANSELMUS, sondern sogar der eines JAKOB BÖHME mit neuen Zungen gepriesen; abermals arbeitete sich die Philosophie an Fragen ab, die KANT als transzendente für alle Zeiten beiseite gelegt wissen wollte, und in HEGELs Dialektik kam endlich auch zum scholastischen Inhalt die scholastische Form. Mit der Einsicht in diese Zustände braucht noch kein klägliches Jammergeschrei verbunden zu sein, wie entschieden auch die Mißbilligung solcher Rückschritte gewesen sein mag. Sie sind nicht bloß dem Willen Einzelner beizumessen, wie groß man auch deren Macht veranschlagen wollte; herrschende Zustände lassen sich in der Wissenschaft so wenig wie in der Politik unbedingt  machen;  weit mehr als der Wille der Mächtigen bilden die Verhältnisse an ihnen, und der wird zum Mächtigen, der auf passende Weise die Verhältnisse zu nutzen weiß. KANT gedachte die hundertköpfige Hydra zu bezwingen, aber war ihm auch das Schwer des  Herkules  gegeben, so war ihm doch nicht sein glühendes Eisen anvertraut, üppiger als je wuchsen die Häupter hervor, und der Kampf mußte mit verdoppelter Energie fortgesetzt werden. Haben sich nun die übrigen Wissenschaften durch diesen neuen Aufschwung des scholastischen Dogmatismus irreführen lassen? Keineswegs! All das hat nur dazu gedient, der philosophischen Spekulation immer mehr das Vertrauen zu entziehen und das Ansehen des Empirismus zu steigern, den man eigentlich schon jetzt fast ohne Einschränkung als die einzig übrig gebliebene anerkannte Philosophie der Gelehrsamkeit betrachten kann. Hat die Astronomie, hat die Chemie auch nur vorübergehend durch diesen Wechsel der philosophischen Systeme die geringste Veränderung erlitten? Ist jemals in der Physik das dynamische System in Aufnahme gekommen? Haben in der organischen Naturwissenschaft, wo bloße geistreiche Ansichten mehr Aufsehen zu machen pflegen als da, wo bestimmte Tatsachen sprechen, sich die Ideen der deutschen Naturphilosophen jeweils den Beifall ebenso geistreicher wie tiefgründiger Forscher, eines CUVIER, JOHANNES MÜLLER, EHRENBERG u. v. a. zu erwerben vermocht? Oder ist in NIEBUHRs oder JAKOB GRIMMs großen historischen und grammatischen Gestaltungen etwa eine Spur von spekulativer Philosophie zu finden? Es gibt keinen einzigen großen Forscher in der Gelehrsamkeit, der sich auch nur die Schematen seiner Arbeiten noch von der herrschenden Philosophie erborgen möchte: die Zeit, wo ein GOTTFRIED HERMANN es nicht verschmähte, seine metrischen Untersuchungen nach den Kategorien zu ordnen und deshalb, weil er sie diesen entsprechend fand, ihnen einen höheren Wert beilegen zu müssen glaubte, ist vorüber. Nur von der Theologie, die, sobald sie ihren philologisch-historischen Boden verläßt und eine Dogmatik zu konstruieren versucht, die mehr sein soll als bloße Überlieferung, unvermeidlich der Spekulation verfällt, nur von der Theologie kann man sagen, daß sie noch jetzt wie von jeher die Schicksale der Philosophie teilt.

Allein diese Gleichgültigkeit, diese geringschätzige Haltung der übrigen Wissenschaften gegen die Spekulation unserer Zeit ist zunächst auch nur ein Faktum, und es liegt uns sehr fern, Fakta für Rechtfertigungsgründe ausgeben zu wollen. Womit kann sich nun also jener Widerwille rechtfertigen? Abgesehen vom äußerlichen Umstand, daß der schnelle Wechsel der Systeme das Vertrauen geschwächt hat, liegt ein vollgültiger Rechtfertigungsgrund darin, daß man behaupten kann, die herrschende spekulative Philosophie nach KANT entbehre des Geistes der  Kritik,  der Untersuchung, und habe an die Stelle derselben einen Geist der  Konstruktion,  der Dichtung aus Begriffen gesetzt. Es ist nicht der Geist der Mathematik, der Naturforschung, der historischen und philologischen Kritik, der in der Philosophie des Tages weht, oder dessen allgemeinen wissenschaftlichen Ausdruck wir in ihr finden, es ist eine Poesie der Begriffe, die uns entgegentritt, hervorgegangen aus einer Art Kunsttrieb, der ohne Ruhe und Rast einem unendlichen unbekannten Ziel entgegentreibt und neue und immer neue Begriffsevolutionen zu seiner Befriedigung begehrt; es sind nicht Theorien, es sind Romane, womit unsere Wissensdurst gestillt werden soll! - Und dennoch liegt in diesem konstruierenden Kunststreben etwas Wahres, das sich auch echt wissenschaftliche Philosophie anzueignen hat. Alle wahre Wissenschaft nämlich fängt mit Kritik an, geht dann aber über zur Konstruktion, jene ist der negative, regressive, dieser der positive progressive Teil ihrer Methodologie. Sei der Stoff ein historischer, ein philologischer, ein empirischer, der Tatbestan muß zuerst kritisch gesichtet werden; aber diese Kritik ist doch nur die Vorarbeit zur eigentlichen positiven Wissenschaft: der Geschichtsforschung folgt die Geschichts darstellung  mit ihren leitenden Ideen und pragmatischen Entwicklungen; der Kern der Sprachwissenschaft steckt in der Grammatik als der Lehre vom Sprachbau;  Beobachtungen und Erfahrungen erhalten ihren Wert und ihre Bedeutung erst in der  Theorie.  Aber auch umgekehrt: was ist die kunstvolle Konstruktion, wenn der Stoff, den sie verarbeitet, nicht kritisch bewährt ist? Ein Historiker erzählt uns aufs Lebendigste die Abwicklung einer Reihe von Begebenheiten, ein Philologe gibt eine höchst sinnreiche Erklärung einer dunklen Stelle, ein Physiker eine ebenso sinnreiche Erklärung eines wunderbaren Phänomens, - was hilft all dieser Aufwand von Ingeniosität, wenn die verarbeiteten angeblichen Tatsachen Fabeln, die Stelle untergeschoben, das Phänomen nirgends beobachtet, sondern erlogen ist? Freilich müssen in all diesen Fällen auch die aufgestellten Erklärungsversuche ihre großen, wenn auch verdeckten, vielleicht zumal im Historischen und Philologischen, unvermeidlichen Unvollkommenheiten haben, denn eine vollkommene Theorie würde die Falschheit der Tatsache zu erkennen wissen (dem Astronomen z. B. wird kein Reisender mit einer falschen Beobachtung des Mondes oder eines Planeten für einen geographisch bestimmten Ort und angebene Zeit hintergehen können), aber eine solche Theorie erfreut sich immer einer kritisch bewährten Unterlage. Und selbst die Mathematik, in der das konstruktive Element gegen das kritische unvergleichbar hervortritt, kann und will sich doch einer kritischen Beleuchtung ihrer Grundbegriffe, Grundsätze und Methoden nicht entziehen, wenngleich sie vielleicht diejenige Wissenschaft ist, die durch dieses Übergewicht der Konstruktion am leichtesten die Philosophie zu einer fehlerhaften Nachahmung verführen könnte. Fehlerhaft aber würde eine solche Nachahmung allerdings sein: denn die Mathematik hat zwar eine  mögliche  Beziehung zur Erfahrung, kann auf diese angewandt werden, zu ihrer Erklärung und Benutzung für menschliche Zwecke dienen; allein diese Beziehung ist ihr  nicht notwendig;  ansich ist sie ein ganz in sich abgeschlossenes formales Wissen, das schon in sich selbst seine Befriedigung findet. In der Philosophie läßt sich Ähnliches nur von der reinen Logik und Ethik sagen, nicht aber von der Metaphysik, der Spekulation, deren Begriffe eine  schlechthin notwendige  Beziehung zur inneren und äußeren Erfahrung haben und, von dieser gewaltsam losgerissen, die leersten bedeutungslosesten Abstraktionen werden, die nur noch in abstruser spekulativer Dichtung ein wesenloses schattengleiches Scheinleben führen. Das abstruseste spekulative Begriffsgespinst soll doch zuletzt die Welt wie sie ist begreiflich machen; irgendwann einmal müssen also doch die Konstruktionen mit dem Gegebenen verglichen, irgendwann einmal muß dieses also doch einer kritisch-analytischen Prüfung unterworfen werden, wenn die Wissenschaft nicht den Vorwurf der Oberflächlichkeit auf sich laden will. Kritik und Konstruktion gehören also zusammen.

KANTs Philosophie enthält nun beides, Kritik und Konstruktion, denn wer möchte z. B. in seiner dynamischen Naturansicht verkennen, daß hier der Begriff der Materie spekulativ konstruiert wird? Auch das finden wir nicht nur natürlich, sondern vortrefflich, daß die Konstruktion sich bei ihm nur innerhalb der Grenzen versucht, die ihr die Kritik zugesteht; am  Geist  der kantischen Methode ist also insofern nicht das Mindeste auszusetzen. Was aber die Kritik zu ihrem Objekt macht,  wie  sie ausgeübt wird, und ob die  Grenzen,  die sie der Konstruktion anweist, nicht zu eng sind, das sind ganz andere Fragen, die, ohne den methodologischen Grundsätzen KANTs im Geringsten zu nahe zu treten, verneint werden können, und von deren veränderter Beantwortung aus sich eine Philosophie datieren kann, aus der eine ganz andere Weltansicht resultiert. KANTs Philosophie nannte sich die  kritische,  und mit Recht: denn die Kritik ist in ihr das Hauptsächliche, die Konstruktion tritt zurück. Gleichwohl kann man ohne Widerspruch behaupten: bei KANT ist der Kritik noch nicht genug. Die Grenzbestimmung, die Ausmessung der Erkenntnisfähigkeit der Vernunft, die Untersuchung und Beurteilung ihres Vermögens diesseits und jenseits der Erfahrung zu Erkenntnissen zu führen, war das Ziel der kantischen Kritik. Diese kommt nun allerdings durch eine Theorie des Ineinandergreifens von Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Verstand und Vernunft zustande: nach einer Kritik der  Hypothese  von den Seelenvermögen selbst aber sieht man sich vergeblich um, sie werden völlig unkritisch angenommen. Schon der Gedanke einer solchen Kritik der Vermögen, die selbst nicht unmittelbar Gegenstände der Erfahrung sind, sondern nur aus ihren Wirkungen erkannt werden sollen, stützt sich auf die vorausgesetzte Gültigkeit eines Begriffs, dessen der Kausalität, der sowohl hinsichtlich seiner Denkbarkeit als hinsichtlich der Sphäre seiner Geltung, die bei KANT eine auffallend beschränkte ist, kritisch-analytische Untersuchungen nicht nur erlaubt, sondern fordert. Aber ganz abgesehen von dieser  petitio principii,  so mußte, wenn man auch den Schluß von den Wirkungen auf die Ursachen und ihre Gesetze, vielleicht nur als eine vorläufige Hypothese, um einen Anfang zu gewinnen, zugestehen wollte, doch jedenfalls die allersorgfältigste Kritik  der  Begriffe erwartet werden, in denen sich die Tätigkeit des Erkenntnisvermögens ausdrücken sollte. Allein dies ist eigentlich nur (mit welchem Erfolg mag dahingestellt bleiben) in einer Beziehung auf Zeit und Raum und die Vernunftideen geschehen, die Kategorientafel jedoch bildenden Begriffe mit der Sorglosigkeit eines unkritischen Empirismus nur in eine symmetrische Tafel gebracht sind, als ob es sich hier um ganz unverfängliche Tatsachen handelt, bei denen es bloß um die Vollständigkeit zu tun wäre, da doch auch schon der vorangegangenen Zeit zum Teil zumindest die Schwierigkeiten, von denen diese Begriffe umgeben sind, nicht verborgen geblieben waren, und es hier ebenso gut Stoff zu Thesen und Antithesen gab, wie bei den Antinomien.

Die Reihe der als Koryphäen ihrer Zeit am berühmtesten gewordenen Philosophen, in deren Systemen die Stimmführer des Tages den einzigen Fortschritt der Wissenschaft seit KANT erblicken, hat nun auf den kritischen Teil der kantischen Lehre nicht nur als auf ein mißlungenes Unternehmen, sondern auch als auf eine völlig verfehlte Tendenz mit Geringschätzung herabgesehen, indem sie nicht ohne Anschein von Recht meinten, mit den Begriffen, die das niedrige Wohnhaus einer die Spekulation zu beschränken bestimmten Theorie des Erkenntnisvermögens zu bauen gut befunden worden waren, lasse sich wohl auch ein viel stattlicherer, die weiteste Ferne beherrschender Turmbau aufführen; und so entstand dann allerdings die ganz neue und frische Blüte des spekulativen Dogmatismus in aufsteigender Linie unter FICHTE, SCHELLING und HEGEL. Wer dächte hier nicht an den  babylonischen  Turmbau, der mit Hochmut und Torheit begonnen wurde und mit einer Verwirrung der Sprachen schloß! Gewiß ist, daß die Männer der soliden Gelehrsamkeit diesen Vergleich oft genug angestellt und sich, schon überdrüssig, immer neue und wieder neue Idiome erlernen zu müssen, und mißtrauisch gegen den Wert der darin angeblich verborgenen Schätze, endlich in Masse von einer solchen Philosophie zurückgezogen haben.

Andererseits hat dagegen durch HERBART, aber auf eine würdige durchgreifende Weise auch nur durch diesen Philosophen, die Kritik der Erfahrungsbegriffe des gesamten Gegebenen eine Tiefe und eine Ausdehnung erhalten, von der nicht etwa bloß zu sagen ist, daß sie der kantischen Kritik zur Ergänzung und Berichtigung dient, sondern die, die kantische Richtung auf die Untersuchung des Vermögens der Vernunft ebenfalls verwerfend und verlassend, als eine völlig eigentümliche großartige Unternehmung dasteht, der in der ganzen Geschichte der Philosophie an gewaltiger Arbeit des Denkens kaum irgendetwas an die Seite gestellt werden kann. Gleichwohl geht HERBARTs Philosophieren durchaus nicht in einer solchen Arbeit auf, sondern dieser Kritik folgt eine Dialektik, welche in strenglogischer Methode zu Prinzipien führt, die nun erst die Elemente einer Konstruktion werden, die nicht bloß wie bei KANT die Naturphilosophie, sondern auch die von diesem zur bloßen Empirie verurteilte Psychologie begründet und in einer beiden gleichmäßig zum Fundament dienenden Ontologie der reinen Spekulation, die, um die Erfahrung zu begreifen, über die Erfahrung sich erhebt, den vollen ihr gebührenden Tribut bringt. Die tiefer erfaßte Kritik führt hier also auch zu einer Erweiterung der konstruktiven Methode. Andererseits bleibt dann aber doch dieses philosophische Wissen, das in naturphilosophischer und psychologischer Richtung seine Konstruktionen ins Unendliche zu entwickeln vermag, in einer dritten Richtung ein begrenztes oder richtiger: ein sich begrenzendes, seine Grenzen erkennendes. Die Ontologie und die rationale Psychologie wird, obwohl in ganz anderem Geist wie vor KANT, wieder hergestellt; an die Stelle der Kosmologie tritt die Naturphilosophie; aber der vierte Teil der alten Metaphysik, die natürliche Theologie, wurde bisher zwar bei HERBART als philosophische Religionslehre mit auf- jedoch nie ausgeführt; doch mußte es für Jeden, der den Geist dieser Philosophie kannte, keinem Zweifel unterworfen sein, daß es ihr nicht in den Sinn kommen könnte, in diesem Feld den spekulativen Konstruktionen der älteren, neueren und neuesten Zeit wetteifern zu wollen, sondern daß sie hier in mehreren wesentlichen Punkten mit KANT zusammentreffen muß und will. Und jetzt rücken wir dem Zweck dieser einleitenden Auseinandersetzung näher.

Es ist bekannt, daß sich HERBART über Religionsphilosophie nur fragmentarisch geäußert hat. Daß die seinige mit derjenigen KANTs bei aller Verwandtschaft doch nicht völlig zusammenfallen kann, ging schon daraus hervor, daß er den teleologischen Betrachtungen ein größeres Gewicht beilegte. Mehrere Kritiker seiner Lehre fanden nun hierin einen bloßen  deus ex machina [Gott in der Schachtel - wp] und wiederholt ist es ausgesprochen worden, daß HERBARTs System konsequenterweise es zu gar keiner Religionsphilosophie bringen kann, oder geradezu, daß seine Metaphysik - und dies gilt vielen für Philosophie überhaupt - atheistisch ist, womit man vielleicht keinen verketzernden Vorwurf, sondern nur eine kahle Tatsache hatte aussprechen wollen. Denn daß HERBART weder der Irreligiosität noch dem Atheismus das Wort reden wollte, das ging aus vielen Stellen seiner Schriften, in denen sich seine religiöse Gesinnung auf klare und würdige Weise ausdrückte, zur Genüge hervor. Allein leicht könnte es ja HERBART mit seinem System gehen wie KANT mit dem seinigen, dessen nächster Nachfolger der Idealismus wurde, den er so nachdrücklich zu bekämpfen strebte; in den Systemen ist der gute Wille ihrer Urheber noch nicht ausreichend, und dies gereicht ihnen bald zum Nachteil bald zum Vorteil, indem die Prinzipien der Systeme bald auf bessere bald auf schlechtere Konsequenzen führen, als es in der Absicht der Erfinder lag. Bei HERBART ist nun eine große Ehrerbietung gegen den religiösen Glauben sichtbar, und zwar nicht bloß gegen den moralischen Glauben KANTs oder die Vernunftoffenbarung JACOBIs, sondern, täuschen wir uns nicht, auch gegen den "uralten" positiven religiösen Volksglauben, den "keine Schule erfunden hat". Aber hier wünschte man heller zu sehen. Gilt diese Ehrerbietung nur der christlichen Religion und ihrer Vorläuferin der jüdischen, oder ist sie eine der religiösen Gesinnung im Volk überhaupt dargebrachte Huldigung? Wird die Religion des Aberglaubens, der Naturverehrung, der Vermenschlichung des Göttlichen hier mit gleicher Ehrfurcht begrüßt, wie die wahren oder angeblichen Offenbarungen des Judentums, Christentums, Islams? Geht diese Ehrfurcht aus einer systematischen Nötigung hervor, oder ist sie auf einem der philosophischen Kultur entzogen gebliebenen Feld in einem Winkel des Geistes wild gewachsen als Gewohnheit, Vorurteil, Jugendeindruck, Unterwerfung unter eine nie geprüfte Autorität? Gehört sie vielleicht nur dahin, wohin LICHTENBERGs Aberglaube und NEWTONs Orthodoxie gezählt zu werden pflegen? Oder wäre keine von all diesen Annahmen die richtige, und ging die Scheu, sich über ein Objekt, das sich "nicht in scharfe Umrisse fassen" und bei welchem, wenigstens nach HERBART, "immerhin der Sitte, der Gewohnheit, der Tradition, ja selbst der Phantasie einige Freiheit gestattet werden darf", daß also der Subjektivität nicht gänzlich entrückt werden kann, ausführlich auszusprechen, nur aus einem Widerwillen hervor, sich über Angelegenheiten, welche zum Teil der Meinung verfallen und so leicht aus dem Gebiet ruhiger wissenschaftlicher Erörterung in das leidenschaftlicher Gesetzlosigkeit übertreten, öffentlich zu äußern? Oder hatte es sich HERBART zum Grundsatz gemacht, lieber zu schweigen, wo er nicht wissen zu können überzeugt war, weil er dies für das philosophisch Würdigste und Weiseste hielt? - Was von all dem in der Wahrheit gegründet oder nicht gegründet sein mag, wollen wir nicht zu entscheiden wagen; nicht einmal eine Aufforderung an HERBART, sich zu erklären, soll in diesen Fragen liegen. Wozu sollte auch eine solche Zudringlichkeit führen? Genug, HERBART hat sich über die Gegenstände der Religion nicht ausführlicher aussprechen wollen; er hat es in keinem Fall für notwendig gehalten. Über diesen Punkt sind wir nun aber jedenfalls anderer Meinung. Die Philosophie ist ein gemeinschaftliches Gut für alle Wissenschaften; man kann sich keinen engeren Kreis der letzteren auswählen, denen man vorzugsweise förderlich sein möchte; am allerwenigsten aber läßt sich die Theologie mit allgemeiner Metaphysik und Ethik abspeisen, sondern fordert, dringender als Jurisprudenz, Politik, Naturforschung, Medizin, eine speziellere Entwicklung der Philosophie in der Richtung nach ihr. Sie kann auch äußerlich ein Recht darauf geltend machen, denn vielleicht ist es hauptsächlich der deutschen Theologie zuzuschreiben, daß die Philosophie in Deutschland noch nicht dasselbe Schicksal wie in den anderen zivilisierten Ländern Europas getroffen hat. Die übrigen positiven, empirischen und formalen Wissenschaften würden, dünkt mir, keine sonderliche Klage anstimmen, wenn die philosophischen Katheder allmählich verwaisen und die philosophischen Stimmen in der Literatur verstummen, ja eine altberühmte deutsche Universität, auf welcher die Theologie bisher nicht recht hat zur Blüte kommen wollen, obwohl es daselbst an höchst ausgezeichneten Lehrern derselben nicht gefehlt hat, noch jetzt fehlt, gab ein beklagenswertes Beispiel, wie die übrigen Fakultäten recht wohl, vielleicht sogar recht gern, ohne Philosophie auskommen. Keiner neuen Philosophie kann die Meinung gleichgültig sein, welche die Theologie von ihr hat. Damit ist noch keineswegs gesagt, daß sie sich um ihre Gunst zu bewerben habe; wohl aber, daß sie sich in ein bestimmtes Verhältnis zu ihr zu setzen hat, sei dies ein befreundestes oder ein feindliches. Eine Philosophie, die sich zur Theologie gleichgültig verhält, führt ihren Namen mit Unrecht: denn die höchsten Interessen beider Wissenschaften sind und bleiben immer und ewig dieselben. Die Philosophie nun im Geiste HERBART'scher Untersuchungsweise mit der Theologie auseinanderzusetzen, ist einer der äußeren Zwecke dieser Abhandlung, die nicht als ein Lehrbuch der Religionsphilosophie, sondern nur als eine Vorarbeit zu einem solchen angesehen sein will. Ich sage "im Geiste  Herbart'scher  Untersuchungsweise" und will damit dankbar den Zusammenhang meines Philosophierens mit dem System bezeichnen, das mehr als irgendein anderes Anspruch auf das Verdienst besitzt, die Philosophie als exakte Wissenschaft zur Darstellung gebracht zu haben; wir sind aber nicht gemeint, dem Urheber dieses Systems mit unserer Arbeit eine Last aufbürden zu wollen, die wir selbst ganz allein auf uns zu nehmen bereit sind. Daher suche man nicht etwa in dieser Schrift einen Kommentar über die Stellen, wo HERBART sich über Religion und Religionsphilosophie äußert, allenfalls verbunden mit einigen freien Exkursen; solchen gelehrten Schulübungen glaubt der Verfasser schon längst entwachsen zu sein. Er hat sich am Geist der HERBART'schen Philosophie genährt und gestärkt, fühlt sich ihr fortwährend aufs Innigste verwandt, sucht aber nun, was er durch diese Beschäftigung an Kraft und Einsicht gewonnen haben mag, gleichmäßig wie das, was er an anderen Systemen der Philosophie und anderen Wissenschaften, sowie den Erfahrungen des Lebens verdankt, in derjenigen Weise, wozu er sich von Natur aus bestimmt fühlt, zu verwenden.

LITERATUR Moritz Drobisch, Grundlehren der Religionsphilosophie, Leipzig 1840