Fritz MauthnerHeinrich CohnAugust DöringGustav Mally | ||||
Über die sogenannten Werturteile
Wenn man nun die sogenannten Werturteile prüft und zwar in einer alle umfassenden Formel: "A ist wie es sein soll" (bzw.: "A ist wie es nicht sein soll", wird es gewiß leicht sein, darin ein Urteil zu finden; - denn augenscheinlich versichert man in ihnen, daß "ein so und so bestimmtes A existiert". Aber wer die erste Formel in die zweite übersetzen wollte, beginge damit eine Täuschung, weil er bei der Umformung dasjenige Element hätte verflüchtigen lassen, welches den eigentlichen Wert darstellt. Daß im sogenannten Werturteil ein Wirklichkeitsurteil oder Tatsachenurteil vorausgesetzt ist, sollte außer Frage stehen. Gleichwohl ist seltsamerweise von einigen Denkern behauptet worden, daß eine einfache Vorstellung als Voraussetzung genüge. Und zum Beweis führten sie das Beispiel der künstlerischen Vorstellungen an, die durch sich allein, ohne ein Urteil und ohne eine Aussage über ihre Existenz, die Annahme oder Verwerfung hervorrufen. Aber in diesem Beispiel steckt ein zu grobes Sophisma, oder wenn man lieber will, es entsteht aus einer unverzeihlichen Zerstreutheit; denn wenn es vollkommen richtig ist, daß die Vorstellungen der Kunst tatsächlich allen Bestimmungen über deren Existenz vorausgehen (Idealität der Kunst), dann muß wahrlich ebenso notwendig, um sie später annehmen oder verwerfen zu können, vorher ihre Existenz als Vorstellungen behauptet sein (und folglich damit ihre bestimmte Qualität, die Realität ihrer Idealität). Über ein Kunstwerk, das nicht existiert, oder dessen Existenz man nicht kennt, wäre ja keinerlei Wertung möglich. Daher haben diejenigen, welche wie MEINONG für die Entstehung des Wertgefühls eine Existenz-Aussage als notwendig verlangen, nach meinem Ermessen vollkommen recht und sagen nur etwas Selbstverständliches. Indessen, Voraussetzung ist Voraussetzung; die Bedingung darf nicht mit dem Bedingten verwechselt werden. Außer dem Urteil über die Wirklichkeit schwingt in der Formel "Werturteil" noch etwas anderes mit, welches sich nicht auf das erstere zurückführen läßt und die eigentliche Seele jenes geistigen Aktes: die Wertung. Worin besteht sie nun? Ist es vielleicht ein neues Urteil, das dem ersteren angefügt wird oder ihm nachfolgt? Diese Hypothese hätte keinerlei Bedeutung, wenn man sie nicht noch genauer durch die Angabe bestimmte, daß die Wertung ein neues Urteil sein könnte, aber von ganz besonderer Gestalt. Wenn es nämlich ein Urteil von derselben Art wäre, wie das erste, so hätte man lediglich eine Reihe von Urteilen. Und man würde nicht jenes neue und charakteristische Element bemerken, das den ersten geistigen Akt vom zweiten unterscheidet. Aber, auch derart berichtigt und präzisiert, hält die Hypothese nicht stand. Von welcher Art man immer ein Urteil voraussetzen will (indem man die Frage beiseite läßt, ob überhaupt strenge Unterscheidungen innerhalb des Urteils zulässig seien oder nicht), offenbar müssen alle Formen immer der allgemeinen Natur des Urteils unterworfen sein; das heißt eben, etwas Denkbares oder eine Wahrheit behaupten. Nun aber nehmen die sogenannten Werturteile, an diesem Maßstab gemessen, der für sie nicht anwendbar ist, ein ungeheuerliches Aussehen an; denn sie werden gezwungermaßen für etwas angesehen, was sie gar nicht sind, nämlich als Wirklichkeitsurteile und Wirklichkeitsbehauptungen. "A ist wie es nicht sein soll", ist logischerweise eine Absurdität; denn wenn A ist, so ist es wie es sein soll, da es nicht anders sein kann. Einem existierenden Ding die Existenz absprechen oder sie ihm im selben Augenblick absprechen, wo man sie ihm zuspricht, ist sicherlich kein logischer Akt. Daß ich A mißbillige, ändert nichts an der Tatsache, daß A von irgendjemand gebilligt worden ist. Und so sehr existiert A in der Welt, daß dieses A über meine Mißbilligung lacht, kraft der Tatsache, daß es existiert. Die logische Absurdität der negativen Form der Werturteile springt so in die Augen, daß man dazu gebracht wird, jenen Werttheoretikern zuzustimmen (ROBERT EISLER), die behaupten, allein die positiven Wertungen seien gerechtfertigt. Und ohne Zweifel sind nur die positiven Werturteile gerechtfertigt; und jene negativen Formen haben nur deshalb eine Bedeutung, weil man sie immer in die positive Form umwandeln kann. Aber die sogenannten Werturteile oder Wertungen, von denen wir jetzt sprechen, auch wenn sie von positiver Form sind, bleiben logischerweise immer unzulässig. Wenn sie der einen Absurdität entrinnen, die in diesem logischen Widerspruch besteht, so entrinnen sie nicht der andern Absurdität, welche in der Tautologie besteht (auch diese ist ja, bei genauester Untersuchung, ein Widerspruch). "A ist wie es sein soll" bedeutet eine Tautologie, aus dem schon genannten Grund, daß wenn A ist, es ist wie es sein soll. Wie man es auch betrachtet, die logische Nichtigkeit jener angeblichen Urteile tritt immer wieder offen hervor. Und wenn man dafür noch einen Beweis will, so genügt es, diejenige logische Lehre zu betrachten, zu der man der Rechtfertigung wegen hat flüchten müssen, nämlich die HERBARTische Lehre. HERBART nennt diese Urteile ästhetische oder praktische; nach ihm ist der Zusatz, den man mit den Ausdrücken "vorzüglich" und "verwerflich" bezeichnet (das heißt übereinstimmen oder abweichend gegenüber dem Sollen), Prädikat desjenigen Dings, das als logisches Subjekt dient. (2) Ungeheuerliche Theorie einer ungeheuerlichen Tatsache! Denn man betrachtet darin als Subjekt, was gar kein Subjekt ist, da es bereits ein logisches Urteil ist (nämlich Behauptung einer so und so bestimmten Tatsache). Und man nennt Prädikat eine subjektive Reaktion, einen "Zusatz des Gemüts", ein Gefühl. Im wirklichen Urteil dagegen ist das Subjekt eine Vorstellung und das Prädikat ein Begriff, d. h. ein Allgemeines (Universale). Ein Gefühl, das als Allgemeines dient, ist ein Widerspruch, schon im Begriff. Alle diese Ungeheuerlichkeiten, alle diese Absurditäten verschwinden nicht eher, als bis man, wie LOTZE ganz richtig wollte, darauf verzichtet, die Werturteile als Urteile zu betrachten, bis man erkennt, daß sie auf ein Urteil den Ausdruck eines Gefühles folgen lassen. Wenn sie logischerweise sich nicht umformen lassen, so sind sie dafür äußerst geschmeidig als Ausdrucksformen des Gefühls. "A ist wie es sein soll" heißt: "A gefällt mir, ist von mir geliebt, gewünscht, gewollt"; "A ist wie es nicht sein soll" heißt: "A widerstrebt mir, wird von mir gehaßt, verabscheut, meine Wollung bewegt sich in einem ihm entgegengesetzten Sinne". "Titius ist ein ehrlicher Mann" heißt: "ich will (sei es auch nur für einen Augenblick, in dem ich ihn in mir als einen ehrlichen Mann empfinde und mit ihm sympathisiere) die Existenz des TITIUS garantieren und begünstigen. "Titius ist ein Schurke" heißt (mit der oben genannten Berichtigung): ich will mein möglichstes Tun, um die Existenz des TITIUS aufzuheben, insofern er ein Schurke ist; oder wenn anders nicht möglich, so will ich wenigstens mein Gefühl ausdrücken, damit es vielleicht in anderen Gemütern eine Nachwirkung habe und dazu beitrage, in irgendeiner Weise die Schurkerei des TITIUS aufzuheben oder zu beschränken. Man muß das Wort "Ausdruck" betonen, weil das sogenannte Werturteil nicht die Liebe und der Haß selbst sind, nicht das Verlangen oder der Abscheu, das Wollen oder das Nichtwollen in seiner Aktualität, sondern nur die Vorstellung (und folglich der Ausdruck) von solchen genannten Gemütsvorgängen oder Willenshandlungen. Also nur Vorstellung und Ausdruck, welche die Aktualität jener Gemütsbewegung oder praktischen Handlung voraussetzen; so wie diese ihrerseits ein logisches Urteil oder ein Wirklichkeitsurteil voraussetzt. Es wäre ein schwerer Irrtum, den Wertausdruck mit der Wertschaffung zu verwechseln. Und man muß auf diesem Wort auch aus einem andern Grund bestehen. LOTZE sagt, daß die Wertung nur ein Urteil nach seiner Satzform sei; und DÖRING geradewegs, daß es ein Gefühl ist "entwickelt und gehoben zur höchsten Stufe des Bewußtseins, zu einem intellektuellen Ausdruck, begrifflich in die Form der Gegenüberstellung von Subjekt und Prädikat gebracht, eine Reflexion über die Tatsache, ein Gefühlszustand in die Form eines Urteils gebracht". (3) Nun aber kann die Wertung zweifellos auch noch zum Urteil umgearbeitet oder zum Subjekt eines Urteils gemacht werden. Aber in ihrer unmittelbaren theoretischen Äußerung hat sie keinerlei logische Form, ebensowenig als eine logische Form haben: "Ich liebe", "Ich hasse", "Ich will" und so weiter. Die alten logisierenden Grammatiker, welche diese Formel als gleichwertig bezeichneten mit "ich bin liebend"; "ich (Subjekt) trete in die allgemeine Kategorie von Liebenden ein" (Prädikat) und ähnlichem, fälschten diese Formel, indem sie deren Unmittelbarkeit zerstörten. (4) Das will heißen, daß der Wertausdruck zwar theoretische Form hat, aber damit noch nicht eine theoretisch logische, vielmehr eine theoretische Form, die noch einfacher ist als jene logische; und weil diese einfachere Form die cognitio sensitiva sive aesthetica [sensitive Erkenntnis oder Ästhetik - wp] ist, muß man daraus schließen, daß die theoretische Äußerung der Wertung ein rein vorstellender oder ästhetischer Akte des theoretischen Geistes ist. Deshalb sollte "Werturteil" in der philosophischen Terminologie durch "Wertausdruck" ersetzt werden. Man könnte zeigen, daß das sogenannte Werturteil nicht bloß ein ästhetischer Ausdruck ist, sondern erstaunlich getreu das Wesen des ästhetischen Vorstellens und Schauens wiedergibt und damit den persönlichen und lyrischen Charakter aller Poesie und aller Kunst ausmacht; eine Objektivierung der mannigfaltigen und immer lebendigen Strebungen des menschlichen Geistes. So könnte denn der Wertausdruck gleichsam als Zelle der ästhetischen Welt erscheinen. Aber ich will mich nicht nach dieser Seite hin verlieren, teils weil ich darüber schon bei einer anderen Gelegenheit gehandelt habe, teils um nicht die Hauptsache mit anderen Fragen zu verwickeln, die zwar zweifellos damit zusammenhängen, aber doch für das Gewebe der vorliegenden Abhandlung nicht unerläßlich sind. Worauf es ankam, war klarzulegen, daß die Wertausdrücke, welcher Art und wie groß ihre Wirksamkeit auch sei (und sie ist sehr groß, weil sie ein konstitutives Element des Geistes sind), in keiner Weise zur Kenntnis des Objekts beitragen. Und es war zu zeigen, daß ihr Inhalt sich nicht mit der logischen Tätigkeit verknüpft, sondern mit der gefühlsmäßigen und praktischen. Den Beweis dafür liefert uns der Gebrauch, den wir im täglichen Leben von den Wertausdrücken machen. Wie reichlich fließen sie da, wo wir uns mitten im eifrig schaffenden Leben befinden! Da ertönen in jedem Augenblick Worte des Lobes und Tadels, der Aufmunterung und der Ermahnung, Beifall und Beleidigung, Hymnus und Satire. Alle unsere Wirklichkeitsurteile färben sich mit Wertausdrücken; je energischer und fester wir in unserem Tun sind, desto weniger können wir in unserem Urteil kalt und ruhig bleiben. Unser Anführer oder unser Verbündeter ist ein Held; unser Gegner ist ein Schuft oder ein Schurke; Rom gilt es zu retten, daher Carthago est delenda [Karthago muß zerstört werden. - wp]. Aber wenn allmählich die Gegenwart zur Vergangenheit wird, entfärben sich immer mehr jene Urteile, die so stark mit Wertungen gefärbt waren. Der Held zeigt uns seine Fehler, der Schurke seine guten Seiten, das Lob wird durch Tadel gemäßigt, der Tadel durch Lob; und Ruhe tritt wieder in den Gemütern ein. Wenn wir an unsere Taten denken, die viele jahre in unserer Jugend oder Kindheit zurückliegen, so suchen wir uns Rechenschaft zu geben über das, was uns zustieß und lassen Haß und Liebe beiseite. Die typische Form dieser Ruhe ist die Geschichte, welche sowohl Rom als auch Karthago Gerechtigkeit widerfahren läßt und deshalb die Wertgefühle und Wertausdrücke entfernen muß, damit einzig und allein das Urteil über die Wirklichkeit Platz greife. Daher empfiehlt man, Geschichte nur von derjenigen Vergangenheit zu schreiben, welche auch wirklich Vergangenheit ist; und nicht etwa von der Gegenwart, über welche man kein guter Richter sein kann, eben weil sie nicht die Bedingungen der Ruhe darbietet. Den Historiker an die Pflicht der Ruhe, der Kühle und gefühlsmäßigen Indifferenz erinnern, heißt das wesentliche Moment der Geschichte angeben, wodurch sie eben Geschichte und nicht Poesie wird; und das ist: Urteil über die Wirklichkeit. Ja noch mehr: wenn wir anfangs angedeutet haben, daß Wertausdruck und Poesie oder Kunst geradezu Synonyme sind, so könnten wir auch sagen, daß Wirklichkeitsurteil und Geschichte Synonyme sind. Aber braucht nun nicht eilfertig aus dieser Bemerkung die Folgerung zu ziehen, daß die geschichtliche Erzählung, in ihrer Konkretheit betrachtet, frei sein könne von Werturteilen. Wohl ist sie eine Reihe von Wirklichkeitsurteilen, aber diese haben sich in der Seele eines Einzelnen gebildet und werden vom Mund eines Einzelnen ausgedrückt, folglich aus bestimmter Stelle und Zeit. Um eine Geschichtsdarstellung, frei von allen Wertausdrücken, zu erhalten, müßte man vor einer ganz vergangenen Vergangenheit stehen, die völlig von der Gegenwart losgelöst wäre, vor der Vergangenheit einer Welt, die von der unseren völlig verschieden wäre. Aber eine derartige Vergangenheit existiert nicht; und wenn sie sozusagen existierte, so könnten wir sie nicht erkennen, weil wir zu ihr in keinerlei Beziehung treten können. Von Welten kennen wir nur eine einzige und das ist die unsrige. Die Vergangenheit, wie entfernt sie auch liege, ist immer in irgendeiner Weise eine Gegenwart. Ebenso ist die Gegenwart, so gegenwärtig sie auch sei, in dem Augenblick, wo wir davon sprechen, bereits als Gegenwart überwunden und auch schon vergangen. Dies zugegeben, ist der Historiker, insofern sein historischer Sinn arbeitet, sicherlich jene reine Intelligenz, von der in LOTZEs Hypothese gesprochen wird; und behauptet nur die Tatsache, die in seiner unberührten Wirklichkeit vorgefallen ist. Aber in seiner Konkretheit ist er ein ganzer Mensch; und gegenüber der gegenwärtig gehaltenen Vergangenheit reagiert er als ganzer Mensch gefühlsmäßig und willensmäßig. Daher kommt die unvermeidliche gefühlsmäßige Färbung, die unvermeidlichen Wertausdrücke, die in jeder geschichtlichen Erzählung betont oder abgeschwächt, ausgesprochen oder nur angedeutet, stecken. Sogar die Auswahl des geschichtlichen Themas enthält bereits Liebhabereien und Wertungen. Man kann also die vielumkämpfte Frage, ob die Wertausdrücke mehr oder weniger in der Geschichte zulässig seien, nicht so einfach lösen. Wenn gefragt wird, ob subjektive Reaktionen in das geschichtliche Urteil eingeführt werden dürfen, so muß die Antwort natürlich negativ lauten; denn sie würden sich an die Stelle der Wahrheit drängen und diese verändern. Eine solche Leidenschaftlichkeit würde nur zur Fälschung führen; wohl aber kann man sie in der geschichtlichen Erzählung als ein belebendes Element zulassen, - aus dem sehr triftigen Grund, daß man sie auf keinerlei Weise auszuschließen vermag. Die andere Frage, in welchem Maß solche subjektive Reaktionen zu dulden sind, erlaubt keine klare theoretische Lösung. Es ist eine praktische Frage der Zweckmäßigkeit; und sie wird von Fall zu Fall zu lösen sein. Jeder von uns kennt Historiker, die, statt zu erzählen, deklamieren; und was noch schlimmer ist, sie deklamieren kaltblütig darauf los, um Gefühle einzuprägen, welche viel besser durch die Sache selbst angefacht würden, - deklamieren, ohne doch das Gefühl des Lesers aufzuregen. Er kennt sie und verabscheut sie als Rhetoren oder Fanatiker. Aber er kennt ebensogut andere Historiker, die so lau, so indifferent sind gegenüber dem Leben und seinen Problemen; und weil sie nicht imstande sind, die Vergangenheit mit Leidenschaftlichkeit zu erfassen, durchdringen sie dieselbe auch nicht mit dem Verständnis; daher dann jene matten und oberflächlichen Annalisten oder Gelehrten. Da man aber den Geschichten der verschiedensten Färbung Bürgerrecht gewähren muß, so kann man sagen, daß das Zentrum, um welches sie alle gravitieren (der normale Typus der geschichtlichen Erzählung), da ist, wo die ruhige Erzählungsstimmung überwiegt und die Leidenschaft beherrscht; nicht um sie von sich wegzujagen, sondern um sie in sich aufzunehmen und daraus Kraft zu schöpfen. Nur die genaueste Analyse der sogenannten Werturteile erlaubt, sich in diesem verwickelten Problem geschichtlicher Erkenntnistheorie zu orientieren und dem persönlichen, lyrischen und poetischen Element in der geschichtlichen Darstellung eine genau begrenzte Stelle anzuweisen. Mit den obigen Ausführungen wollen wir nicht zu verstehen geben, daß wir damit auf alle Probleme geantwortet hätten, die von dieser komplizierten Frage aufgerührt werden, die man jetzt "Wert in der Geschichte" nennt. Denn uns scheint, daß das Wort Wert in diesem Falle mehrfache Bedeutungen habe und deshalb auch mehrfache Theorien erfordere. Wir können etwa drei Hauptbedeutungen unterscheiden. Eine davon ist jene bereits untersuchte, deren Theorie wir kurz abgehandelt haben. Die zweite Bedeutung von "Wert" ist man "Kategorie" oder Form des Geistes; und in diesem Fall fragt man, ob die Geschichte, um sich zu begründen, der Werte bedürfe; bejahendenfalls wird verlangt, eine Theorie der Werte zu entwerfen, welche als Grundlage für die geschichtlichen Erzählungen dienen könnte. Nun aber muß in dieser Bedeutung unsere Antwort glatt bejahend lauten, weil ohne die Kategorie alles Urteilen unmöglich ist und also auch die Geschichte. Ohne zu wissen, was für ein Ding das Gute oder das ethische Leben, das Schöne oder das ästethische Leben sei, das Nützliche oder das ökonomische Leben, das Wahre oder das Gedankenleben, kann man keine Geschichte erzählen, die eine Geschichte dieser Dinge wäre; noch auch von anderen Werten, wenn es deren andere gibt. Wer eine Geschichte erträumt, aus welcher das subjektive Element eliminiert wäre, wie er meint und dabei unter subjektivem Element nicht mehr und nicht weniger als das Kantische a priori versteht (jene Subjektivität, welche die wahre und einzige Objektivität ist), der ist völlig von den Nebeln des Empirismus umhüllt und muß warten, bis die Sonne der Philosophie aufgehe, die Wolken zu zerstreuen, die Gemüter zu erhellen und zu erwärmen. Ebensowenig berechtigt ist die Frage nach einer Theorie der Werte, bzw. der Kategorien oder Formen des Geistes; dies aber ist nicht so sehr eine spezielle Theorie, sondern die ganze Philosophie selbst. Auf jede Weise hat es für uns keinen Zweck, auf diesem Weg jetzt weiter zu gehen; und wir wollen nur im Vorübergehen andeuten, daß der Streit, der in den jüngsten Abhandlungen über den Wertbegriff einen so großen Raum einnimmt, eine andere Wendung zu nehmen beginnt. Denn die ökonomische Wissenschaft wird nicht nur gewahr, daß es außer demjenigen Wertbegriffe, welcher der ökonomischen Wissenschaft angehört, noch andere Wertformen gibt; sondern noch mehr, sie begreift jetzt, daß sie den Wertbegriff entbehren kann, soweit er philosophisch und nicht ökonomisch ist und daß ihr der ökonomische Wertbegriff in der quantitativen Bestimmung des Preises genügt. (5) Die dritte Bedeutung, die der Ausdruck "Wert" in den Erörterungen der Erkenntnistheorie der Geschichte angenommen hat, bezeichnet eine Tätigkeit, welche vorstellende Begriffe erzeugt. Diese dienen dazu, die Masse der geschichtlichen Tatsachen zu trennen, zu teilen und zu gruppieren, indem sie dieselben in Geschichtsbücher von einer bestimmten vorgeschriebenen Ausdehnung umgestalten und nach einer bestimmten Perspektive aufbauen. Man versichert, daß diese Wertbegriffe notwendig und ein charakteristisches Element der Geschichtsschreibung, ja sogar die wahren geschichtlichen Begriffe seien. Nach unserem Dafürhalten liegen die Dinge ein wenig anders; und zwar so: jene Vorgänge der Auswahl, Teilung und Zusammenfassung scheinen auch uns zweifellos notwendig für die geschichtliche Erzählung, sie begründen aber nicht die Geschichtlichkeit, für welche allein die Wertkategorien genügen. Mit anderen Worten: die vorstellenden Begriffe sind wirklich und eigentlich empirische Begriffe von approximativer Natur, welche in der geschichtlichen Ergänzung den Aushilfsdienst leisten, die Geschichte durch Vereinfachung im Gedächtnis festzulegen. Die Hoffnung, mit ihrer Hilfe dahin zu kommen, daß man theoretisch die geschichtlichen von den ungeschichtlichen Tatsachen unterscheiden könnte, ist eitel; eben wegen der rein empirischen und approximativen Natur solcher Begriffe. Jede Anstrengung, die man macht, um jenes unerreichbare Ziel durchaus zu erreichen, bestärkt nur das Gegenteil; nämlich daß jede Tatsache, wie klein und unbedeutend sie auch erscheint, doch geschichtlich ist. Die Auslassung gewisser Tatsachen und das Relief, das man andern dafür gibt, sind durchaus willkürliche Handlungen, zweifellos nützlich, aber immer nur bedingterweise; sie gewähren durch diese Nützlichkeit gewisse Vorteile, aber erzeugen keine Wahrheit. (6) Es würde wie immer wenig lohnen, den Fragen der Terminologie nachzugehen und sich anzustrengen, den Gebrauch des Wortes "Wert" auf ein einziges der drei angegebenen Gebiete einzuschränken. Denn es ist eine Tatsache, daß der Sprachgebrauch das Wort von einem Gebiet auf das andere überträgt und mit dem Sprachgebrauch muß man bekanntlich Geduld haben. Aber desto energischer ziemt es sich zu empfehlen, daß man die drei Bedeutungen des Wortes und die drei Gebiete, in welchen es verschiedenartig angewendet wird, klar auseinander halte. Wenn man die drei miteinander verwechselt oder auch nur zwei in eine Rubrik zusammenwirft, wird jede Aufhellung der von ihnen erhobenen Probleme zu einem verzweifelten Unternehmen. Kehren wir nun zum ersten Gebiet zurück, das ja der eigentliche Gegenstand unserer Auseinandersetzung ist und schließen wir die Klammern, die wir geöffnet hatten, um aus der Erkenntnistheorie der Geschichte Licht sowohl zu erhalten als dorthin abzugeben. Da müssen wir denn sagen: die Wirklichkeitsurteile und die sich ihnen anschließenden Wertausdrücke stellen sich als eine doppelte Reihe von geistigen Gestaltungen dar. Aus den einen entsteht das Wirkliche, die Tatsache, das Sein; aus den andern das Ideal, der Wert, das Sein-Sollenkling1.html. Wenn einerseits beim Hinblick auf die Wirklichkeit nichts anderes existiert als das Sein, so kann andererseits im Hinblick auf die Wertungen auch dem Sein-Sollen seine Berechtigung nicht abgesprochen werden. Dieses wird wohl kein Urteil sein, sondern der Ausdruck eines Wollens oder eines Gefühls. Auf jeden Fall ist es etwas Wirksames und gleichsam eine zweite Wirklichkeit, welche neben der ersteren aufsteigt und sich ihr entgegensetzt. Aber wenn es da eine zweite Wirklichkeit gibt, wohin kommt dann die Einheitlichkeit des Wirklichen? Und wenn es keine Einheit gibt, wie soll man dann den Schein der zwei Wirklichkeiten erklären? Und wie soll man dann die Beziehung zwischen Sein und Sein-Sollen verstehen? Die Einheit des Wirklichen wird von allen denjenigen Lehren preisgegeben, welche sich auf die Unterscheidung von Sein und Sein-Sollen gründen; und sie setzen einen Dualismus an zwischen Tatsachen und Werten, zwischen theoretischer Vernunft und praktischer Vernunft, zwischen Gedanken und Gefühl und enden mehr oder weniger im Agnostizismus. Sie sind eine Form des metaphysischen Dualismus, die man Dualismus des Wertes nennen könnte; sie entspringen aus einer gewissen Trägheit, die Beziehung zwischen Tatsachen und Werten zu ergründen, da die Ergründung sofort jenen Dualismus zerstören würde. Aber die Trägheit genügt doch nicht ganz, die Beharrlichkeit dieses Dualismus zu erklären. Man wird außerdem finden, daß er sich auf einen anderen, verwickelteren und schwierigeren Dualismus stützt, nämlich auf einen erkenntnistheoretischen Dualismus, an dessen Spitze die zwei Termini Natur und Geist stehen. Diese zwei Formen des Dualismus, welche man gut unterscheiden sollte, greifen in den verwickeltsten Formen ineinander über und bilden ein Gemisch, das weder dem einen noch dem andern gleichsieht. So geschieht es dann, wenn man sich daran macht, den Dualismus in seiner erkenntnistheoretischen Form zu bekämpfen, daß er dann die Form der Werttheorie annimmt; und wenn man daran geht, den Dualismus der Werte zu bekämpfen, daß dieser dann in rascher Metamorphose sich in den erkenntnistheoretischen Dualismus verwandelt. Der unerfahrene Jäger mag sich wohl auf einer solchen Jagd lange abmühen, weil das Wild ohne Rast, ohne Ruhe von einem Schlupfwinkel zum andern eilt. Und er wird nur dann an ein Ende gelangen, wenn er sich entschließt, zuerst den einen Schlupfwinel und dann den andern abzsperren. Der erkenntnistheoretische Dualismus legt irrtümlicherweise eine unversöhnliche Entzweiung, zwar nicht in die Beziehung zwischen Wirklichkeit und Wert, wohl aber in diejenige zwischen philosophischen Begriffen und wissenschaftlichen Begriffen, zwischen reinen Begriffen und empirischen oder abstrakten Begriffen (naturwissenschaftlich-mathematischen). Wenn man beide Reihen von Begriffen als Erkenntnisformen betrachtet und sie einander parallel setzt, muß man notwendigerweise an der Spitze der ersteren Begriffe den Geist, die Tätigkeit, die Zweckmäßigkeit, den Dynamismus vorfinden; und an der Spitze der anderen den Stoff oder die Natur, die Passivität, die Kausalität, den Mechanismus. Um den Dualismus zu bekämpfen, muß man beweisen, daß die naturwissenschaftliche Begriffe keine wahren Begriffe sind und folglich die Gebilde, welche aus ihnen hervorgehen, keine Wirklichkeit haben. Nur bei den reinen Begriffen gibt es wahre Begriffe und die einzige Wirklichkeit ist Dynamismus, Tätigkeit, Zweckmäßigkeit, Geist. Das ist der Weg des Idealismus oder besser gesagt, des absoluten Spiritualismus. Wenn wir hiermit den erkenntnistheoretischen Dualismus für kritisiert und gelöst betrachten, dann ist die Lösung des andern Dualismus, des Wertdualismus (d. h. des Seins und des Sein-Sollens) vorbereitet, nämlich durch die obige Untersuchung der Wertausdrücke. Diese haben, wie gesagt, Wollungen und Gefühle zum Inhalt (also den praktischen Geist); weil dieselben Gefühle, in ihrer Unmittelbarkeit genommen, nichts anderes sind, als der begehrende und wollende Prozeß in den Kämpfen seines Werdens. Die Nationalökonomie setzten und setzen mit Recht Werte und Bedürfnisse zu einander in Beziehung. So ist die Zweiheit, vor der man jetzt steht, nicht mehr diejenige zwischen bloßer Tatsache (einer zwar brutalen aber wirklichen) und dem Wert, der zwar unwirklich ist, aber uns zwingt und Achtung abverlangt; der, man weiß nicht von wo, herabsteigt. Nicht mehr der Dualismus von Erde und Himmel, sondern der andere von zwei geistigen Formen: die erkennende und die wollende Form, die theoretische Form, welche die Wirklichkeit wahrnimmt wie sie ist, und die praktische Form, welche zu neuen Schöpfungen weitertreibt. Begründet nun diese Freiheit einen Dualismus? Sind Bewußtsein und Wille, Gedanken und Tätigkeit zwei geistige Formen, parallel und unabhängig voneinander (denn das würde eben Dualismus bedeuten)? Ist nicht vielmehr die Wahrheit darin zu suchen, daß der Gedanke Denken des Tuns ist und das Tun ein Tun des Denkens? Kann man eine reine Intelligenz annehmen, frei von Wollen und Tun? Und was würde sie denken? Kann man ein Wollen und eine blinde Tätigkeit annehmen, frei von jeglichem Denken? Es scheint, daß man auf keine andere Weise die beiden Ausdrücke verstehen kann, denn als unterschieden und vereint zugleich und eben dadurch einander entgegengesetzt und gegenseitig bald positiv, bald negativ. Die Tätigkeit verneint das Denken und das Denken verneint das Tun; daher kann das eine nicht ohne das andere sein und das andere nicht ohne das erstere; und ihre Zweiheit löst sich nicht in einen Dualismus auf, sondern in eine Dialektik. Die wahre Einheit ist nicht Unbeweglichkeit, sondern Tätigkeit, nicht ein reines Sein, sondern ein Werden. Es ist seltsam, daß gerade der Philosoph, der besser als alle die Brauchbarkeit des Begriffs "Dialektik" kannte und das Wirkliche als vernünftig, das Vernünftige als wirklich erklärte, sich hierüber nicht volle Rechenschaft gab. Er sah nicht, daß gerade deswegen jedes Ding abwechselnd vernünftig und unvernünftig ist; daß es nichts absolut Wirkliches gibt und nichts absolut Vernünftiges außer dem Geist im allgemeinen. Jedes Ding ist vernünftig im Augenblick seiner Entstehung und unvernünftig, sobald es entstanden ist, weil es wiederum überwunden werden muß. Das, was ihm folgt und es überwindet, stellt sich als ein Wert der bloßen Tatsache gegenüber, als ein Vernünftiges gegen die rohe Wirklichkeit, als ein verdientermaßen Wirkliches gegen die Unwirklichkeit. Aber HEGEL sah in diesem Punkt so unklar, daß er, als er die von ihm aufgestellte Identität rechtfertigen wollte, zu dem Argument seine Zuflucht nahm: der Irrtum, das Böse, habe eine mangelhafte und vorübergehende Existenz, eine zufällige Existenz, es sei keine Wirklichkeit (7); und daß folglich die von ihm behauptete Identität zu verstehen war als eine zwischen dem Vernünftigen und der nicht-zufälligen Wirklichkeit (der nicht-mangelhaften, nicht-vorübergehenden, nicht-irrtümlichen, nicht-bösen). Das aber hieß, wenn wir uns nicht täuschen, die gemachte Entdeckung aus den Augen verlieren, um wieder von vorne anzufangen mit der Unterscheidung zwischen einer Welt von Werten und einer Welt von Tatsachen, zwischen einer Welt von notwendingen und einer Welt von zufälligen Existenzen.
1) HERMANN LOTZE, Grundzüge der praktischen Philosophie, § 7. 2) Man sehe unter den verschiedenen Stellen die Kurze Enzyklopädie, in Werke II, ed. HARTENSTEIN, Seite 74. Ausführlicher wird man diese Lehre in den Arbeiten der Schule entwickelt finden, wie in der "Allgemeinen Ästhetik" von ROBERT ZIMMERMANN, § 14f. Im "Lehrbuch der empirischen Psychologie" von LINDNER (ital. Übersetzung, Milano 1886) § 74 heißt es: "Subjekt eines solchen Urteils ist die Vorstellung des ästhetischen Gegenstandes, der als solcher zusammengesetzt sein muß; Prädikat ist eben das ästhetische Gefühl." 3) AUGUST DÖRING, "Philosophische Güterlehre", welche ich zitiere aus dem "Philosophischen Wörterbuch" von RUDOLF EISLER (nicht zu verwechseln mit dem oben genannten EISLER). 4) Man sehe La giovinezza di Fr. de Sanctis (Napoli, 1889), Seite 165 5) Man sehe über diesen Gegenstand R. A. MURRAY, Il valore come concetto puro e i principii dell' Economia pura come pseudoconcetti (Firenze, Carnesecchi, 1910). 6) Wir spielen hiermit auf die bekannten Theorien von RICKERT an, gegen die in einigen Punkten treffende Einwände erhob XENOPOL, La théorie de l'histoire, Paris 1908, Seite 102 - 129. 7) HEGEL, Enzyklopädie, § 6, Anmerkung. |