W. SombartF. A. LangeSchulze-Gaevernitz | |||
Kant und Marx [2/2]
Was der wissenschaftliche Idealismus von seinem Standpunkt aus vermißt, ist ein Punkt, der mit MARX' sozialer Theorie ansich gar nichts zu tun hat, daher unseres Erachtens durchaus mit ihr vereinbar ist. Ich meine den verschiedenen philosophischen Ausgangspunkt, der für den idealistischen Philosophen in der Grundannahme liegt: daß alle, auch die sogenannten materiellen Dinge im letzten Grund für uns doch nur in unserem und durch unser Bewußtsein existieren, weil eine andere Wirklichkeit als diejenige, die wir denken und empfinden, für uns überhaupt unvorstellbar ist. Allein das leugnen im Grunde auch die Väter des historischen Materialismus nicht. "Alle Dinge", sagt ENGELS einmal, "müssen durch unseren Kopf hindurchgehen und insofern ist jeder Mensch ein geborener Idealist". Der "materialistische" Standpunkt besteht für ihn eigentlich nur darin, daß man sich, um seine eigenen Worte zu gebrauchen (8), entschließt, "die wirkliche Welt - Natur und Geschichte - so aufzufassen, wie sie sich selbst einem jeden gibt" und "jede idealistische Schrulle unbarmherzig zum Opfer bringen, die sich mit den in ihren eigenen Zusammenhang und in keinem phantastischen, aufgefaßten Tatsachen nicht in Einklang bringen läßt. Und weiter heißt Materialismus überhaupt nichts." - Ich darf wohl annehmen, verehrte Anwesende, daß wir alle, die wir in diesem Saale sind, in diesem Sinne "Materialisten" sind und bleiben wollen. Auch Sätze wie der bekannte: "Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen das ihr Sein, sondern ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt", können uns in unserer Ansicht von der Vereinbarkeit der MARX-ENGELSschen Theorie mit dem kritischen Idealismus nicht irre machen. In dem Sinn, wie hier "Bewußtsein" offenbar zu verstehen ist, nämlich als die seelische Gesamtverfassung eines Menschen oder einer Menschenklasse, haben wir gegen ihn, trotz seiner etwas einseitigen Zuspitzung, gar nichts einzuwenden. Denn diese Gesamtverfassung ist in der Tat vom sozialen Milieu im stärksten Maße bestimmt. Im übrigen aber ist die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein nicht, wie ENGELS unter dem Einfluß seiner hegelianisierenden Jugendbildung einmal behauptet, "die große Grundfrage aller Philosophie"; sondern diese allerdings durch die Geschichte der Philosophie Jahrhunderte lang sich hinziehende Frage ist eine leidige Erbschaft aus dem Mittelalter, eine rein scholastische Frage, mit deren eingebildeter Beantwortung wir in Wirklichkeit keinen Fuß breit weiterkommen, keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken können, mit der die Philosophen daher endlich einmal aufräumen sollten, um an ihre Stelle die berechtigtere Frage zu setzen: Wissenschaftliche oder nicht-wissenschaftliche Methode? Doch ich darf mich bei der kurzen Spanne Zeit, die mir gesteckt ist, nicht weiter in erkenntnistheoretische Erörterungen vertiefen, die uns auf die Dauer von unserem eigentlichen Thema abführen würden. Ich glaube vielmehr, schon jetzt als Resultat unserer letzten Erwägungen die Folgerung feststellen zu können: Die materialistische Geschichtsauffassung ist trotz ihres Namens ansich mit dem kritischen Idealismus, wie wir sogenannten Neukantianer ihn vertreten, durchaus vereinbar. Wir können im Gegenteil im Interesse der Wissenschaft nur wünschen, daß die sachlichen und persönlichen Vorurteile baldmöglichst fallen, die einem weiteren Ausbau dieser höchst fruchtbaren geschichtsphilosophischen Methode durch zahlreiche historische Spezialuntersuchungen einzelner Geschichtsperioden, Länder, Stadtgebiete, Bevölkerungsklassen oder Arbeitszweige, zur Zeit, insonderheit bei den Bevölkerungsklassen oder Arbeitszweig, zur Zeit, insbesondere bei den politisch argwöhnischen Regierungen und Universitäten der meisten Kulturländer, noch im Wege stehen. Vom Standpunkt des kritischen Idealismus bedarf sie, wie gesagt, keiner Bestreitung, sondern nur einer, und zwar zweifachen Ergänzung: einmal einer gewissermaßen hinter ihr liegenden: der bereits angedeuteten zuverlässigeren philosophischen Unterlage, und zweitens einer vorwärts führenden: nämlich der Fortsetzung durch eine wissenschaftlich begründete soziale, wenn Sie wollen sozialistische Ethik. * Verehrte Anwesende! Ich knüpfe wieder an die materialistische Geschichtsauffassung an und möchte Ihnen zunächst zeigen, wie dieselbe für eine Ethik im Sinne KANTs durchaus Platz läßt, ja - ich meine mehr sagen zu dürfen - sogar darauf hindrängt. Wir haben bisher noch gar nicht gesehen, wie MARX und ENGELS auf ihre geschichtsphilosohische Auffassung ihren Sozialismus gründeten, der an und für sich mit dem historischen Materialismus noch keineswegs gegeben ist. Für unseren Zweck genügt es, wenn wir uns nur eben die springenden Punkte ihres Beweisganges vergegenwärtigen, die sich vielleicht auf folgende kürzeste Form bringen lassen: Auf einer gewissen Stufe der sozialen Entwicklung gerät jener oben erwähnte "Untergrund", weil sein Charakter sich im Laufe der Zeit wesentlich verändert hat, notwendig in Widerspruch mit dem noch immer bestehenden, aber tatsächlich überlebten politisch-ideologischen "Überbau". So gegenwärtig die veränderte, immer mehr sozialisierte Produktionsweise, die sich namentlich in Handel und Industrie immer weiter ausdehnt, mit der veralteten Rechtsordnung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Da nun aber, wie wir sahen, das Überlebte überall dem Lebendigen, die veraltete Form dem neuen Inhalt weichen muß, so wird und muß die privatkapitalistische Hülle, die heute zu einer Fessel der Produktionsweise geworden ist, eines Tages (natürlich nicht im buchstäblichen Sinn des Wortes!) gesprengt werden. Die heutige planlose Anarchie der Werterzeugung wird und muß dann umschlagen in ein planmäßig organisiertes zentral geleitetes Zusammenwirken, dessen erste Voraussetzung die Besitzergreifung der Produktionsmittel (also des Grund und Bodens, der Rohstoffe, der Maschinen, der Verkehrsmittel usw.) durch die Gesellschaft ist. Was uns an dieser Ihnen allen bekannten Theorie, über deren Richtigkeit und Verwirklichungsfähigkeit wir an dieser Stelle nicht zu urteilen haben, vom philosophischen Standpunkt einzig und allein interessiert, ist das, daß hier neben dem Gesichtspunkt des bloßen Werdens, der Verkettung von Ursachen und Wirkungen, die sich in endloser Reihe zum gewaltigen Ring der Entwicklung aneinanderschließen, mit einem Mal, wenn auch ein wenig versteckt, ein völlig neues Moment erscheint. Es liegt in den beiden unscheinbaren Worten: "planmäßig organisiert". Pläne machen, bewußt organisieren - das kann nur ein Wesen, das sich Zwecke setzt. Damit tritt zum bloß durch seine Instinkte getriebenen oder durch die Macht der Verhältnisse vorwärts geschobenen Menschen der bewußt wollende, zum bloß erkennenden der nach selbstgesetzten Zwecken handelnde Mensch. Zur bloßen Erklärung der sozialen Geschehnisse in Vergangenheit und Gegenwart tritt das Schaffen-, das Mitherbeiführen-Wollen der sozialen Zukunft, das ganz gewiß an das Gesetz der Kausalität, an die Naturgesetzlichkeit in jeder Weise gebunden ist, aber doch einen neuen, von ihr prinzipiell verschiedenen Gesichtspunkt darstellt. Denn es ist etwas grundsätzlich Verschiedenes, ob ich irgendein soziales Ereignis aus der Gesamtheit seiner Ursachen zu erklären suche oder ob ich es, natürlich unter Benutzung aller mir bekannten Umstände und aller mir zu Gebote stehenden Hilfsmittel, herbeiführen will. Es kommt dem Sozialisten, wie wir es vom jungen MARX vernahmen, nicht in erster Linie darauf an, die Welt zu interpretieren, sondern sie - zu verändern! Und, um weiter mit dem MARX von 1845 zu reden: "Die materialistische Lehre, daß die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung ... sind, vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden und daß der Erzieher selbst erzogen werden muß." Und ENGELS schreibt noch 1888 (im "Feuerbach", Seite 51f) im gleichen Sinne: Die Menschen machen ihre Geschichte; in ihr "geschieht nichts ohne bewußte Absicht, ohne gewolltes Ziel." Wer aber Zwecke setzt, die über ein bloßes individuelles Belieben hinausgehen, wird folgerichtigt auch zur Ethik kommen. Damit nicht alle Einzelzwecke bei ihm kunterbunt durcheinanderlaufen, wird er zunächst bei sich selbst die Einheit der Zwecksetzung erstreben. Nun kann freilich jemand kommen und beispielsweise sagen: Ich habe es mir zum alleinigen Lebenszweck gemacht, ein großes Vermögen zu erwerben und bin entschlossen, alle meine sonstigen Zwecke diesem meinen obersten Ziel unterzuordnen. Nun, er wird sehr bald mit den Bestrebungen anderer kollidieren, die das nämliche Ziel wie er verfolgen und so zur Modifikation mindestens seiner Einzelmittel und -wege, zu einer - wenn auch vielleicht nur erzwungenen - Rücksichtnahme auf die anderen sich genötigt sehen. Ohne eine solche Rücksichtnahme ist ein vernünftiges Zusammenleben oder gar Zusammenwirken von Menschen überhaupt undenkbar. Wollen wir nicht alles dem blinden Spiel des Zufalls überlassen und ein bellum omnium contra omnes [Krieg jeder gegen jeden - wp] statuieren, so müssen wir - und das ist auch von jeher, man könnte sagen: beinahe von Anfang der Menschengeschichte an, bewußt oder unbewußt, tatsächlich der Fall gewesen - die Notwendigkeit einer Ordnung der Zwecke, somit der Unterordnung der niederen unter die höheren, bis man bei gewissen obersten, allgemeinsten Zwecken anlangt, anerkennen. Nichts anderes aber ist und will - recht verstanden - die Ethik. Wie das Ziel der Wissenschaft im Grunde nichts anderes ist als Einheitlichkeit im Denken, somit Beseitigung der uns quälenden Gedankenwidersprüche, so geht die Ethik auf Beseitigung der Widersprüche im Wollen und Handeln, im weiteren Sinne, als Sozial-Ethik, auf die Beseitigung der Widersprüche in den gesellschaftlichen Einrichtungen. Wie ein wissenschaftlicher Satz nur dann wahr ist, wenn er sich ohne Widerspruch in den einheitlichen Zusammenhang aller Erkenntnisse einfügen läßt, so ist eine Handlung oder ein Wollen nur dann gut, wenn sie sich ohne Widerspruch in eine einheitliche Ordnung der Zwecke einordnen läßt. Das ist der Sinn des kantischen Sittengesetzes, das, in die Form des kategorischen Imperativs, d. h. des unbedingten, an alle Vernunftwesen gerichteten ethischen Gebotes gekleidet, bekanntlich lautet: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Oder in einer anderen, an unseren soeben verfolgten Gedankengang noch besser anschließenden Formulierung: "Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eine jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst." "Jedes vernünftige Wesen", also auch der armseligste Tagelöhner, das elendste Proletarierweib, existiert nach KANT als Zweck ansich, ist keine Maschine, kein "Mittel zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen", mit einem Wort, keine "Sache", sondern eine "Person, in der uns die Menschheit heilig sein soll. Ich frage Sie: Kann die Grundtendenz des Sozialismus, d. h. der Gemeinschaftsgedanke, einfacher ausgesprochen, deutlicher verkündet werden? Man hat an KANTs Formulierung ihren imperativen und rigoristischen Charakter getadelt (9). Allein jenes Gebot geht von keinem Gott und keinem Monarchen, von keiner Kirche und keinem Staat aus, sondern es stammt lediglich aus der eigenen Brust, dem eigenen Willen des Menschen. Der Mensch ist nach KANT autonom, d. h. sein eigener Gesetzgeber. Man hat ihr weiter Künstlichkeit und kalte Abstraktion vorgeworfen und dabei ist sie doch so einfach und selbstverständlich, daß sie, um mit KANT zu reden, "für den gemeinsten Verstand ganz leicht und ohne Bedenken einzusehen ist"; denn "die Stimme der Vernunft mit Beziehung auf den Willen" ertönt für das gemeinste Ohr "so vernehmlich", "so unüberschreibbar", daß - o grausame Ironie! - nur "Philosophie die Entscheidung dieser Frage zweifelhaft machen", nur "die kopfverwirrenden Spekulationen der Schulen dreist genug sind, sich gegen jene himmlische (Vernunft-)Stimme taub zu machen". Man hat endlich - und das ist der wichtigste Punkt - den Formalismus der kantischen Ethik gescholten. Und doch besteht gerade in ihm, in seiner Unabhängigkeit von bestimmten, wie KANT sagt, materiellen Einzelmotiven, wie paradox es auch zunächst klingen mag, ihr größter Vorzug, ihre beste Kraft. (10) Der lebendige Inhalt kann einer Ethik stets nur von ihrer Zeit gegeben werden. Aus diesem Grund konnte auch KANT selbst unmöglich schon Sozialist im heutigen Sinn des Wortes sein. Denn zu seiner Zeit war keine Maschinenindustrie, kein Kapitalismus im heutigen Sinn, kein moderner Arbeiterstand vorhanden. Sein oberstes sittliches Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung, eines idealen Reichs der Zwecke, in dem jeder Mensch jederzeit zugleich Selbstzweck ist, kann vielmehr nur den Leitstern oder, um mich eines im Bernsteinstreit vielgebrauchten Ausdrucks zu bedienen, das "Endziel" bedeuten, auf das hin die ethische "Bewegung" der Menschheit ihren Lauf nehmen soll. Daß Sitte und Sittlichkeit in verschiedenen Ländern, zu verschiedenen Zeiten, bei verschiedenen Menschenklassen und -rassen und schließlich auch bei den einzelnen Individuen auf dieser schönen Erde von jeher sehr verschieden gewesen sind und noch sind, - diese Binsenwahrheit ist dem Königsberger Weisen selbstverständlich auch nicht verborgen geblieben. Gerade er hat vielmehr gern und oft, in seinen Vorlesungen wie in seinen Schriften, auf die Zusammenhänge der sittlichen Anschauungen der Völker und Zeiten mit ihrem physischen und psychischen Mutterboden hingewiesen. Aber er nannte das Menschenkunde (Anthropologie), nicht Ethik. Die Ethik dagegen war für ihn eine gesetzgebende, eine Norm wissenschaft, wie Logik, Physik und Ästhetik auch. Wie diese drei die Gesetze festzustellen suchen, nach denen wir das Denken selbst, das Naturgeschehen und die Welt des Schönen in einem einheitlichen Zusammenhang zu begreifen vermögen, so hat die Ethik die Gesetze zu erforschen, welche die Menschheit sich selbst für ihr soziales Zusammenleben gibt oder vielmehr geben soll. Wie Sie sehen, habe ich zur Ergänzung der marxistischen Begründung des Sozialismus nach der ethischen Seite hin nur die Methode KANTs, nicht sein System herangezogen. Und das geschah mit voller Absicht. Denn wir bedürfen zu diesem Zweck weder des gesamten kantischen Systems noch auch seiner persönlichen Ansichten über Gott, die Welt und Unsterblichkeit, die er in den bekannten drei Postulaten zwar nicht als Grundlage, aber doch als Anhang zu seiner Ethik niedergelegt hat. KANTs Philosophie ist in der Tat infolge ihrer oft recht verklausulierten Ausdrucksweise in manchen Punkten nicht ganz eindeutig und so haben denn von jeher alle möglichen, zum Teil die entgegengesetzten Richtungen, sich auf Aussprüche von ihm berufen, unter seinem philosophischen Mantel Deckung gesucht. Ich erinnere mich z. B. noch gut eines älteren Kommilitonen aus meiner Studentenzeit, der der schwärmerischen Sekte der Irvingianer angehöfte und sich zur Begründung seiner religiösen Anschauungen nicht bloß auf das 3. Kapitel des Propheten JOEL, sondern auch auf den bekannten Satz KANTs und der 2. Vorrede zur "Kritik der reinen Vernunft" berief: "Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen." - Und - was uns hier näher angeht - in politischer Beziehung ist KANT im wesentlichen ein Liberaler, dessen staatsphilosophisches Hauptwerk, die "Rechtslehre", den sogenannten "Rechtsstaat" als ideal betrachtet. Mit einer in der Theorie ziemlich radikalen Gesinnung, die ihn bekanntlich auch die große französische Revolution mit unverhohlener Sympathie begrüßen ließ, verbindet er doch wieder eine gewisse, vielleicht durch sein Preußentum bedingte, konstitutionell-monarchische Staatsgesinnung. Trotzdem bieten seine geschichts- und staatsphilosophischen Schriften auch für den Sozialismus manche interessante Anknüpfungspunkte, von denen ich Ihnen wenigstens einige andeuten will. (11) So hat vor kurzem KONRAD SCHMIDT in den "Sozialistischen Monatsheften" mit Bezug auf KANTs kleine Schrift "Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" (1784) erklärt, daß gerade diejenigen Züge der HEGELschen Geschichtsphilosophie, die für MARX eigenes umgestaltendes Denken am fruchtbarsten gewesen seien, "weit einfacher und klarer bereits von KANT herausgearbeitet und merkwürdig frei von aller Einmischung schwärmender Ideologie begründet worden sind." (12) Und das will umsomehr heißen, als SCHMIDT Marxist und im allgemeinen Gegner der neukantischen Bestrebungen ist. - Als sein Staatsideal bezeichnet KANT "eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß jedes Freiheit mit der anderen ihrer zusammen bestehen kann". Dieses Ideal müsse man nicht bloß der Staatsverfassung, sondern "allen Gesetzen" zugrunde legen. Von unserer heutigen klugtuenden, sich immer so gerne auf die Erfahrung berufende "Realpolitik" würde KANT sagen, daß sie nur mit "Maulwurfsaugen" zu sehen vermöge. "Nichts kann Schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres gefunden werden, als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitend Erfahrung, die doch gar nicht existieren würde, wenn jene Anstalten zu rechter Zeit nach den Ideen getroffen würden." Diese Worte schrieb er an bedeutsamster Stelle, in seinem Hauptwerk: "Die Kritik der reinen Vernunft", im Hinblick auf - nicht eine beliebige Staatsverfassung seiner Zeit, sondern auf die erste große sozialistische Utopie: die Republick PLATOs. Auch noch in seiner spätesten Schrift, dem "Streit der Fakultäten", verteidigt er die Utopien von PLATO, MORUS u. a. gegen den Vorwurf, bloße Hirngespinste müßiger Denker zu sein, mit den Worten: "Ein Staatsprodukt, wie man es hier denk, als dereinst ... vollendet zu hoffen, ist ein süßer Traum, aber sich ihm immer zu nähern, nicht allen denkbar, sondern, soweit es mit dem moralischen Gesetz zusammen bestehen kann, Pflicht." Unser Philosoph würde auch heute kaum ein Freund von sogenannten "Flick-Reformen" sein. Er spöttelt über das "am Staate flicken", wie es "alle sich so nennenden Praktiker gewohnt sind", dieselben Politiker, die stets davon sprechen: "Man muß die Menschen nehmen, wie sie sind, nicht, wie der Welt unkundige Pedanten oder gutmütige Phantasten träumen, daß sie sein sollten", während sie doch selbst "durch ungerechten Zwang, durch verräterische, der Regierung an die Hand gegebene Anschläge" zu dem, was sie sind, gemacht haben", nämlich "halsstarrig und zur Empörung geneigt". Das Volk verlange von der Regierung nicht Wohltätigkeit, sondern sein Recht, denn "mit Freiheit begabten Wesen genügt nicht der Genuß der Lebensannehmlichkeit ..., sondern auf das Prinzip kommt es an, nach welchem es sich solche verschafft". - Dabei ist der Begriff der natürlichen Gerechtigkeit dem der bürgerlichen oft geradezu entgegengesetzt. "Wenn ich" - so lautet eine Stelle seiner von BENNO ERDMANN herausgegebenen "Reflexionen" - "von einem Reichen erbte, der sein Vermögen durch Erpressung von seinen Bauern genommen hat und dieses auch an die nämlichen Armen schenkte, so tue ich im bürgerlichen Verstand eine sehr großmütige Handlung, im natürlichen aber nur eine gemeine Schuldigkeit." Besonders schöne Worte findet unser Philosoph, wenn es sich um die Freiheit in politischen, sozialen und religiösen Dingen handelt. Ich möchte mir erlauben, Ihnen eine längere Stelle vorzulesen, die sich in einer Schrift findet, wo man sie zunächst nicht vermuten sollte und die deshalb vielleicht nicht die verdiente Beachtung gefunden hat. Sie steht in der "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", gegen Ende und lautet:
In praxi zieht dann freilich unser Philosoph vielfach noch nicht die vollen Konsequenzn solcher Aussprüche, sondern bleibt er, wie es auch nicht anders zu erwarten war, in den Begriffen seiner Zeit und seiner Klassen hängen. Er übernimmt z. B. aus der Gesetzgebung der französischen Revolution die Unterscheidung von Aktiv- und Passivbürgern, oder, wie er sagt: von Staats bürgern und bloßen Staats genossen, zu welchen letzteren alle Handwerksgesellen, Dienstboten, Tagelöhner, Zinsbauern, dazu auch "alles Frauenzimmer" gehört! Rechtliche Gleichheit und persönliche Freiheit sollen zwar auch diese Staatsgenossen genießen - denn ohne solche kann kein Volk ein Staat heißen! - nicht aber politische Gleichheit Grund: weil ihnen die dazu erforderliche wirtschaftliche Selbständigkeit fehlt. Die logische Konsequenz seines kategorischen Imperativs, daß dieselbe gerade deshalb allen zu verschaffen ist, fällt ihm noch nicht ein. - Ein anderes Beispiel. An derselben Stelle, wo er die Utopien lobt, schiebt er die Pflicht, sich ihnen allmählich anzunähern, nicht einmal seinen Staatsbürgern, sondern dem - Staats oberhaupt zu, wie er denn überhaupt die aufklärende Stimme der "freien Rechtslehrer d. h. Philosophen" nicht "vertraulich ans Volk - als welches davon und von ihren Schriften wenig oder gar keine Notiz nimm" (!), sondern ehrerbietig an den Staat gerichtet wissen will. Allein, wenn wir an diesem Beispiel die Wahrheit der marxistischen Geschichtsauffassung erkennen, daß auch die größten Denker gerade in ihren sozialen Anschauungen von ihrer Zeit abhängig sind: was hindert uns, die wir in einer ganz anderen Zeit leben, in der das Volk von sozialphilosophischen und sozialpolitischen Schriften recht viel Notiz nimmt, in der es zum Bewußtsein seiner staatsbürgerlichen Rechte erwacht ist oder doch zu erwachen beginnt, die vollen, d. h. sozialistischen Konsequenzen von KANTs kategorischem Imperativ zu ziehen, um ihn - wie er es einmal von PLATO sagt - besser zu verstehen, als er sich selbst verstand? Der Weg vom Liberalismus (im echten Sinne des Wortes) führt nicht bloß historisch, sondern auch logisch zum Sozialismus. Die Freiheit des Einzelnen ist nur eine scheinbare, solange die erdrückende Herrschaft des Privatkapitals ihn tatsächlich zu einem bloßen Arbeitsmittel in der Hand des Besitzenden macht. Sie wird in der Tat erst durch einen Zustand gewährleistet, in dem auch wirtschaftlich keiner mehr schlechthin vom anderen abhängig ist, sondern aus freiem Willen dem Ganzen, den anderen dient, wie er von ihnen gefördert wird. Nur, wenn einem jeden nicht bloß in Worten, sondern durch tatsächliche Institutionen die freie Entwicklung seiner Anlagen ermöglicht ist, nur dann sind wir bei KANTs Reich der Zwecke angekommen, in dem kein Mensch mehr bloß Mittel, sondern stets zugleich Selbstzweck ist, jenem Zustand, der, wenn er auch niemals völlig erreicht würde, uns doch immer als leuchtendes Endziel vor Augen schweben muß: sei es, daß wir es als Neukantianer formulieren als die "Gemeinschaft frei wollender Menschen", sei es, daß wir es mit MARX als den "Verein freier Menschen" bezeichnen, als die "Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung der freien Entwicklung aller ist". (13) Echter Individualismus und echter Sozialismus sind nicht bloß keine Gegensätze, sondern sie ergänzen, ja mehr, sie bedingen und fordern sich gegenseitig: Erhebnung zur Gemeinsachft bedeutet nicht Beschränkung oder Eindämmung des eigenen Selbst, sondern Erweiterung und weiteste Entfaltung seiner Kräfte. Ich hoffe, Ihnen jetzt einigermaßen verdeutlicht zu haben, welchen Beitrag MARX und KANT vom philosophischen Standpunkt aus zur Begründung des Sozialismus geliefert haben. Um es noch einmal ganz kurz zusammenzufassen: MARX bedeutet die historisch-ökonomische, KANT die ethische Begründung. Lassen Sie uns zum Schluß betrachten, welche Stellung beide Methoden bisher zueinander eingenommen haben und welche sie in Zukunft einnehmen könnten oder sollten. Auf den ersten Blick scheint der Sozialismus von MARX und ENGELS dem ethischen Gesichtspunkt völlig gleichgültig, ja ablehnend gegenüberzustehen. Wenn es auch nicht wahr sein sollte, was mir einmal ein Herr, der mit MARX noch persönlich verkehrt hat, erzählte: daß MARX, sobald man ihm von Moral zu reden angefangen habe, laut gelacht habe, so hält sich doch ihre Begründung des Sozialismus ganz - verzeihen Sie den despektierlichen Ausdruck - "moralinfrei". So erklärt z. B. das Kommunistische Manifest ganz offen Gesetze, Moral, Religion für "ebensoviele bürgerliche Vorurteile, hinter denen sich ebensoviele bürgerliche Interessen verstecken". Die theoretischen Sätze der Sozialisten beruhen, so wird ausgefüht, nicht auf Ideen, die dieser oder jener Weltverbesserer erfunden oder entdeckt habe, sondern seien nur allgemeine Ausdrücke der tatsächlichen Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes. Nicht bloß die Schrift gegen PROUDHON, sondern auch noch eine Anmerkung im "Kapital" (Seite 62f) spottet über die Idee der "ewigen Gerechtigkeit". Und jeder, der das "Kapital" oder die andere Hauptschrift zur theoretischen Begründung des wissenschaftlichen Sozialismus, den ENGELSschen Anti-Dühring, gelesen hat, weiß, mit welcher Absichtlichkeit beide - ethische Gesichtspunkte von ihren Deduktionen fernhalten. Wie ist diese uns zunächst seltsam anmutende Abneigung gegen den ethischen Idealismus, aus dem doch der Sozialismus tatsächlich seine beste Kraft zieht, zu erklären? Nun, sie ist historisch und psychologisch unschwer zu verstehen. Es zittert darin zunächst noch die Antipathie gegen den spekulativen Idealismus der FICHTE, SCHELLING, HEGEL, überhaupt nach, von dem beide sich nicht hatten narren alssen wollen. Dann aber hatten sie in der sozialistischen Bewegung ihrer Zeit, speziell der 40er Jahre, von wohlmeinenden, aber unklaren Köpfen, die sich noch dazu als die "wahren" Sozialisten aufspielten, Moralpredigten, fromme Wünsche und ideale Verbesserungsvorschläge zur Genüge gehört, so daß sie von dieser Moral der bloßen Worte genug und übergenug hatten. Ja, sie hatten Schlimmeres erfahren. Sie hatten oft erlebt, daß man mit schönen Moralsätzen von öffentlicher Wohlfahrt, Pflichterfüllung, gleichem Recht für alle, innerem Glück und innerer Zufriedenheit das Volk, den "großen Lümmel" (nach HEINRICH HEINE), einzulullen, die Energie des sozialen Befreiungskampfes zu lähmen versucht hatte. Sie waren sich ihrerseits bewußt, jenen "Moralpauken" gegenüber, wie sie wohl geringschätzig sagten, den Schritt "vom Utopismus zur Wissenschaft" getan zu haben. Sie wollten nicht mehr ein aus ihren Köpfen herausgesponnenes Ideal den Menschen vorpredigen, sondern zeigen, wie die tatsächliche geschichtliche Entwicklung die sozialistischen Tendenzen begünstige, die neuen Zustände gewissermaßen von selbst schaffe, so daß die Menschen nur die Geburtshelfer der schon vorher im Schoß der alten, bürgerlichen Gesellschaft herangereiften sozialistischen Zukunftsgesellschaft zu sein, höchstens sich auf die eines Tages doch kommende Umwälzung vorzubereiten brauchten. Und doch war gerade in dieser scheinbaren Opposition gegen die Ethik und den Idealismus eine tiefere ethische Anschauung latent. Und der Sozialismus kommt weder historisch noch logisch, weder theoretisch noch tatsächlich von der Ethik los. Ich muß, der Kürze der Zeit wegen, davon absehen, Ihnen zu zeigen, wie der junge MARX und der junge ENGELS offensichtlich durch ethische Gesichtspunkte von ihren bürgerlich-radikalen zu kommunistischen Anschauungen getrieben worden sind. Zudem können Sie dafür in den Büchern von Dr. WOLTMANN und Prof. MASARYK, vor allem aber in den jetzt von MEHRING neu herausgegebenen Jugendschriften von MARX-ENGELS selbst die Belege in Fülle finden. Aber auch in denjenigen Schriften, worin beide gerade gegen den "wahren oder philosophischen" Sozialismus zu Felde ziehen, wie im Kommunistischen Manifest oder in einem fast rein nationalökonomischen Werk wie "Das Kapital", das doch ausgesprochenermaßen nur "das ökonomische Bewegungsgesetzt der modernen Gesellschaft enthüllen" will - können sie der Ethik nicht entflieben. So operiert das "Manifest" mit einer Reihe von ethischen Ausdrücken wie: "Unterdrücker und Unterdrückte", "unverschämte Ausbeutung" u. ä., wirft der Bourgeoisie vor, sie habe "die persönliche Würde in Tauschwert aufgelöst", sie "im eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt" und eine "gewissenlose" Handelsfreiheit eingeführt, um schließlich jenes oben erwähnte Ideal der freien "Assoziatioin" aufzustellen. - Im "Kapital" sind zwar die ethischen Ausdrücke verhältnismäßig seltener, allein sie fehlen auch dort nicht. So spricht allein die Vorrede von "schlechten" Zustäönden, von "Exploitation", von den "Furien des Privatinteresses", von "brutaleren und humaneren" Formen des Klassenkampfes. Und wenn wir die berühmten Kapitel von der im Gefolge der industriellen Entwicklung Englands einherschreitenden Not, dem Jammer und dem Elend der arbeitenden Klassen gelesen haben, so werden wir mit WOLTMANN von einem "ethischen" Standpunkt des "Kapitals" sprechen, "der freilich nicht in der Manier eines Moralpredigers, sondern in der Form der Satire und eines in der Tiefe des Herzens qualdurchzuckten Spottes und Hohnes zum Ausdruck kommt." (14) Wie mit MARX und ENGELS, ebenso verhält es sich auch mit den heutigen Marxisten. Wie gleichgültig, wie ablehnend sie öfters einer moralischen Begründung des Sozialismus gegenüberzustehen scheinen, - in ihrem innersten Herzen kommen sie doch nicht vom ethischen Ideal los. Ich verzichte darauf, Ihnen Äußerungen von so guten Marxisten wie DIETZGEN, KAUTSKY, MEHRING, LABRIOLA, KONRAD SCHMIDT als Beleg hierfür anzuführen. Brauchen Sie doch nur auf die gesamte praktische Agitation des Sozialismus hinzublicken, um zu erkennen, wie - ich möchte sagen - bis zum Rand gefüllt er mit ethischer Kritik, mit ethischem Pathos ist. Jede Agitationsrede, jedes Parteiprogramm (das Hainfelder so gut wie das Erfurter!), jeder Wahlaufruf, jede sozialistische Zeitung liefert Ihnen den Beweis dafür. Kurzum, ich wage, ohne daß ich bei Ihnen ernstlichen Widerspruch befürchten zu müssen glaube, den Satz: Ohne Ethik, d. h. ohne die Verfolgung selbstgesteckter, bewußt anti-egoistischer Ziele lebt kein Sozialist, kommt kein Sozialismus der Welt aus.' Wenn sich das aber so verhält, wenn, wie sogar MEHRING mir zugab, die MARXsche Ethik dem Sinn nach mit der kantischen identisch ist (15), so hat der Sozialismus meines Erachtens nicht den mindesten Grund, sich gegen eine wissenschaftliche Begründung und Behandlung dieser Ethik, die seine Vertreter, wenn auch in verschiedenem Grade ihrer bewußt, ja doch im innersten Herzen tragen, zu sträuben. Und zwar, nach kantischem Muster, einer Ethik als selbständiger Norm wissenschaft, die nach einem eigenen methodischen Gesichtspunkt verfährt. Denn es genügt dazu nicht, daß man zeigt, wie auch die höchsten sittlichen Gedanken, nach der Seite ihres Entstehens hin, sich im letzten Grund auf ökonomische und andere natürliche Momente (16) zurückführen lassen. Das ist die Lehre des historischen Materialismus und wir haben bereits gesehen, daß sie auf ihrem Gebiet fruchtbar und berechtigt ist. Aber man muß sich klar machen, daß der Sozialismus nicht restlos in einer (im weiteren Sinne des Wortes) natur wissenschaftlichen Erklärung des Vergangenen und Gegenwärtigen oder einer Vermutung des Zukünftigen aufgeht. Sondern daß daneben auch eine wissenschaftliche Durcharbeitung der teleologischen oder Zweck gedanken, eine Feststellung der Grundsätze und Ziele einheitlichen sittlichen Wollens erfordert. Die materialistische Geschichtsauffassung als sloche kann uns von den Endzielen des Sozialismus überhaupt nichts sagen. Sie kennt nur eine endlose Abwicklung von sozialen Geschehnissen, die sich aneinanderreihen und im günstigsten Fall die Tendenz haben, eine Verwirklichung der sozialistischen Ideale als möglich oder wahrscheinlich erscheinen zu lassen. Diese selbst aber können nun und nimmermehr aus dem entwicklungsgeschichtlichen Standpunkt allein herausdestilliert werden. Es würde meines Erachtens mit dieser notwendigen Ergänzung zugleich eine Vertiefung und Festigung der philosophischen Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus eintreten, die dieser recht wohl gebrauchen könnte. Denn es heißt nicht Vorwürfe machen, sondern nur eine Tatsache aussprechen, wenn wir feststellen, daß die bedeutendsten gegenwärtigen Häupter desselben, die sich auf dem ökonomischen und sozialhistorischen Gebiet die größten Verdienst erworben haben, philosophisch weit weniger durchgebildet sind. Nicht etwa ich oder ein anderer Neukantianer, sondern ein Ihnen allen sehr bekannter Wiener Vertreter des marxistischen Sozialismus war es, der vor wenig mehr als zwei Jahren über diesen Punkt in der "Neuen Zeit" die Worte niederschrieb: "Ich gestehe, daß ich außer etwa von KONRAD SCHMIDT und SADI GUNTER wenig Philosophisches in unserer neueren Parteiliteratur gelesen habe, das mir nicht geradezu schmerzhaft gewesen wäre. Das gilt von PLECHANOW bis BERNSTEIN und von BERNSTEIN bis PLECHANOW." (17) Der Verfasser dieses "Unmaßgebliche Betrachtungen" überschriebenen Artikels, der sich viel schärfer ausdrückt, als ich es jemals gewagt hätte, ist kein anderer als - VIKTOR ADLER in Wien. Und obendrein zählt von den beiden Ausgenommenen, deren Philosophie ihn am wenigsten schmerzhaft berührt hat, der eine (SADI HUNTER) zu meiner nicht geringen Genugtuung zu den ausgesprochenen Neukantianern. Andererseits würde eine Abschwächung oder auch nur Minderschätzung der MARXschen Prinzipien auf dem Gebiet der Ökonomie und der Geschichtsauffassung mit ihrer Ergänzung nach der philosophischen und ethischen Seite keineswegs verbunden zu sein brauchen. Im Gegenteil. Denn jene formale Ethik KANTs würde ja völlig in der Luft schweben, wenn sie nicht aus der Wolkenhöhe des abstrakten Gedankens zur Erde herniederstiege, um auf dieser ihre Verwirklichung anzustreben. Zu diesem Zweck aber bedarf sie des engsten Zusammenhanges mit einer Geschichtstheorie, die uns so tief, wie keine andere je zuvor, die innersten Triebkräfte der sozialen Entwicklung kennen gelehrt hat. Kennen und benutzen. Denn alle ethischen Grundsätze sind machtlos, sobald die historischen Bedingungen zu einer sittlichen Erneuerung der Gesellschaft fehlen. Die edelsten Gedanken eines MARC AUREL konnten das römische Reich nicht vor seinem Untergang bewahren, weil sie nicht als die lebensvollen Triebkräfte einer großen Massenbewegung auftragen. Um festen Fuß im tatsächliche sozialen Leben zu fassen, bedürfen KANTs ethische Prinzipien einer auf alle Lebensgebiet sich erstreckenden praktischen Anwendung in erster Linie des sozialökonomischen, sozialrechtlichen und sozialpädagogischen Ausbaus. Anfänge dazu sind von verschienen deutschen Gelehrten schon gemacht. Ich darf Sie an STAMMLERs "Wirtschaft und Recht" und "Lehre vom richtigen Recht", an NATORPs "Sozialpädagogik", an STAUDINGERs "Ethik und Politik", in gewissem Sinn auch an Ihres Landsmannes ANTON MENGER "Neue Staatslehre" erinnern, bei welchem letzteren freilich meines Erachtens die ökonomische Geschichtsauffassung zu gering bewertet wird. Und ebensowenig wie eine Abschwächung der theoretischen Grundsätze des wissenschaftlichen Sozialismus steht von MARX' Ergänzung durch KANT, wie der Neukantianismus sie versteht, eine von manchen befürchtete Erlahmung des praktischen Kampfes für die sozialen Ideale, den heute in erster Linie die Arbeiterklasse führt, zu erwarten. Im Gegenteil, ich sollte eher meinen: eine Beflügelung desselben, eine Verstärkung der Kampffreudigkeit und eine immer stärkere Anteilnahme auch der Intellektuellen an diesem Kampf. Ich kann mich darüber kaum besser ausdrücken, als indem ich Ihnen wiederum die Worte VIKTOR ADLERs aus den nämlichen "Unmaßgeblichen Betrachtungen" anführe, Worte, die bei ihm freilich mehr polemisch gemeint sind. "Ist der Sozialismus wirklich", so schreibt er da, "vornehmlich eine Forderung des sittlichen Ideals ..., dann ist es doppelt notwendig, daß dieses Ideal mit Feuerzungen gepredigt, daß unablässig und mit rücksichtsloser Schärfe das Bewußtsein des Gegensatzes zwischen diesem unserem Ideal und dem kapitalistischen Klassenstaat geweckt werde, daß die Schlafenden aufgerüttelt, die Erschlaffenden in ihrem Glauben an sich und an ihre Kraft, das Endziel zu erreichen, gestärkt werden." Das ist in der Tat auch meines Erachtens die unabweisbare Konsequenz, die der ethische Sozialismus, auch abgesehen von dem von ADLER gemeinten Parteisinne, für die Praxis ziehen muß. Nur braucht er deshalb die geschichtliche-ökonomische Entwicklung der Tatsachen nicht zu verachten; ja, er darf es nicht, falls er nicht ein leeres Phantom bleiben will. Es verhält sich für den philosophischen oder ethischen Sozialisten nicht so, wie ADLER es in einem (eben von mir ausgelassenen) Zwischensatz - allerdings nicht uns Neukantianern, sondern den deutschen Revisionisten - zuschreibt, daß wir "nur uns und so gar nicht der Entwicklung" vertrauten; sondern wir wollen bloß nicht nur einer von selbst, ohne all unser Zutun sich vollziehenden Entwicklung, sondern in erster Linie uns selbst vertrauen, daß wir diese Entwicklung zu benutzen, zu fördern und, soweit es in Menschenkraft steht, zu leiten vermögen. Erfreulicherweise hat die Annäherung des Sozialismus an die Ethik, die Verbindung von MARX und KANT in den letzten 7 - 8 Jahren bedeutsame Fortschritte gemacht. Es gibt heute eine nicht unbeträchtliche Zahl sozialisierender Kantianer und kantisierender Sozialisten. Belege dafür aus den verschiedensten Ländern habe ich in meinen beiden kleinen Schriften von 1900 und 102: "Kant und der Sozialismus" und "Die neukantische Bewegung im Sozialismus" beigebracht und will mich hier nicht wiederholen. Daß auch seitdem diese Bewegung nicht stillgestanden hat, wenngleich sie ihrer im Grunde philosophischen Natur nach weniger an die Oberfläche tritt, haben u. a. die zahlreichen Jubiläumsartikel gerade in der sozialistischen Presse zum 12. Februar dieses Jahres, dem Todestag des großen Königsbergers Philosophen, gezeigt, die, wenigstens bei uns im Deutschen Reich (ein Bekannter von mir hat sie gesammelt und stellt sie Interessenten gewiß gerne zur Verfügung) - mit einigen wenigen, für den Kenner erklärlichen Ausnahmen - in ihrer großen Mehrzahl, von den Artikeln KURT EISNERs im "Vorwärts" und Professor STAUDINGERs in den "Sozialistischen Monatsheften" bi zu den kleinsten Provinzblättern, in kant freundlichem Sinne gehalten waren und vielfach auf den inneren Zusammenhang des Sozialismus mit der kantischen Ethik hinwiesen. Als ein besonders charakteristisches Zeichen der Zeit aber glaube ich es betrachten zu dürfen, daß der einzige Abgeordnete, der auch im Deutschen Reichstag an die Bedeutung des Kant-Tages zu erinnern den Gedanken hatte, ein Sozialist war. Es war der auch Ihnen, wie ich höre, vom vorigen Jahr her wohlbekannte Abgeordnete Dr. EDUARD DAVID, der unter dem lebhaften Beifall seiner Parteigenossen - wie in einem Bericht stand, speziell auch AUGUST BEBELs - folgende denkwürdigen Worten sprach (Sie erlauben mir, daß ich sie wörtlich verlese):
* Und die beiden entgegengesetzten Heerlager heißen nicht: MARX hüben - KANT drüben! Sondern in einem stehen diejenigen beati possidentes [Glücklich die Besitzenden! - wp], die in krassem Egoismus der sozialen Bewegung unserer Tage bewußt entgegenarbeiten wollen, samt denen, die zu stumpfsinnig sind, um sie verstehen zu können; in dem anderen alle diejenigen, welche, mögen sie einer Parteirichtung angehören, welcher sie wollen - und sei es auf den Gebieten der Wissenschaft, des Rechtes und der Erziehung oder auf denen der Politik, des Gewerkschafts- und Genossenschaftswesens -, ihre Kräfte der Vorwärtsbewegung der Gesamtheit zu weihen sich entschlossen haben. Es war ein Fehler, daß man vor ungefähr fünf Jahren in gewissen sozialistischen Kreisen die stärkere Annäherung an den kritischen Philosophen in den Ruf kleidete: Zurück zu KANT! Dieser Ruf war berechtigt, als er vor 4 Jahrzehnten in der philosophischen Welt erscholl; denn damals hatte die allgemeine Philosophie in der Tat es nötig, von der spekulativen Überschwenglichkeit und dem weltfremden Dogmatismus der FICHTE-SCHELLING-HEGELschen Periode zurück gerufen zu werden, zurück zu einem besonnenen Kritizismus des Königsbergers Denkers. Auf dem sozialen Gebiet aber darf es für die Menschheit, theoretisch wie praktisch, kein "Zurück!", darf es nur ein "Vorwärts!" geben. Nicht "Zurück von MARX zu KANT!" soll deshalb unsere Losung lauten, sondern "Vorwärts mit MARX und KANT!", vorwärts zu klarer theoretischer Erfassung des sozialen Geschehens wie des sozialen Zieles, vorwärts auch zu einem entsprechenden Handeln!
8) FEUERBACH, Seite 43 9) Näheres über diesen Gegenstand in meinen Artikeln "Ethischer Rigorismus und sittliche Schönheit, mit besonderer Berücksichtigung von Kant und Schiller", Philosophische Monatshefte, Bd. XXX, 1894 10) Die nähere Begründung bringt meine Dr.-Dissertation "Der Formalismus der kantischen Ethik in seiner Notwendigkeit und Fruchtbarkeit", Marburg 1893 11) Diejenigen, welche sich dafür näher interessieren, verweise ich auf meine beiden Schriften: "Kant und der Sozialismus", Berlin 1900 und "Die neukantische Bewegung im Sozialismus", 1902. 12) a. a. O. VII. Jahrgang, Bd. II, Seite 684. Im übrigen wäre gerade über diesen Punkt, nämlich den inneren Zusammenhang von KANTs und MARX' geschichtsphilosophischer wie erkenntniskritischer Methode überhaupt, noch manches zu sagen, wie dies auch in der an meinen Vortrag sich anschließenden Diskussion von geschätzter Seite bemerkt worden ist . Ich habe mich absichtlich von einem näheren Eingehen auf diese schwierige Materie ferngehalten: einmal, um den Umfang meines Vortrags nicht noch stärker anschwellen zu lassen, vor allem aber, um ihm nicht den populären Charakter zu rauben, den ich meiner Zuhörerschaft schuldig zu sein glaubte. Auch meine anfänglich gehegte Absicht, hier, in den "Deutschen Worten" einen kurzen Nachtrag zu geben, habe ich bei weiterer Überlegung aufgegeben, weil ein bloßes Streifen dieser Probleme nicht genügt. Vielleicht finde ich an anderer Stelle Gelegenheit und Zeit, das Gewünschte nachzuholen. 13) MARX, Das Kapital, 2. Auflage, Seite 56 - Das kommunistische Manifest, 5. Auflage, Seite 24 14) LUDWIG WOLTMANN, Der historische Materialismus, Seite 207 15) Neue Zeit, XVIII 2, Seite 36: "Dem Sinn nach ist die Ethik bei KANT und MARX also dieselbe. 16) Zum Beispiel biologische, wie einer der Diskussionsredner wünschte. Solche festzustellen, ist gewiß höchst interessant und fruchtbar, gehört aber nicht in den obigen Gedankenzusammenhang. 17) Neue Zeitung XIX 2, Seite 779 18) "Zum Gedächtnis Kants", Artikel in der Zeitschrift "Deutsche Schule" (Leipzig, Klinkhardt) 1904, Heft II, Seite 20 19) FRANZ STAUDINGER, Ethik und Politik, 1899, Seite 159 |