![]() |
![]() ![]() ![]() ![]() ![]() | |||||
Gesellschaft und Einzelwesen [ eine methodologische Studie ] [1/2]
Vorwort Eben dieser Charakter bringt die Belastung der Schrift durch die Zitate mit sich. Indem ich die über das Methodische dennoch hinausreichenden Erörterungen auf das Geringste und Notwendigste beschränkte, mußte ich den aktuellen Stand der Probleme zumindest in den Anmerkungen zeigen. Aus ihnen wird hervorgehen, daß ich keine Vorschläge zu neuen Wissenschaften mache, sondern bloß schärfere Unterscheidungen und Abgrenzungen innerhalb der bestehenden Wissenschaften festzustellen und zweckgemäßere Forschungswege aufzuweisen versuche. ![]() 1. Kapitel Staat und Mensch
Soweit die Entwicklung der Wissenschaft sich in der Entwicklung der Begriffe darstellt, vollzieht sie sich in der gegenseitigen Bedingtheit von Analyse und Synthese derselben. Bestehende Begriffe werden fortwährend in ihre Elemente aufgelöst und diese zu neuen Begriffen zusammengefügt, die die Struktur der Wirklichkeit zweck- und sachgemäßer darstellen, bis derselbe Prozeß auch das neue Gebilde ergreift und über seine Analyse zu weiteren begrifflichen Synthesen ins Unendliche fortschreitet. Jeder Stand in der Erkenntnis der Wirklichkeit charakterisiert sich hauptsächlich durch eine bestimmte Ordnung des begrifflichen Materials, und jeder Fortschritt ist durch eine neue Ordnung bedingt. Die durch unsere heutige Wissenschaft gewonnene Ordnung der Begriffe enthält wenigstens einen Teil des unbedingt wahren Wissens, soweit diese Ordnung durch allgemeingültiges Denken bedingt ist. Offenbar mußte dieses Wahre auch von den Denkern der früheren Zeiten zum Teil vorausgesehen oder geahnt werden. Wie vieles, was wir jetzt in einem System erkennen, ist doch schon früher entweder in der Form einzelner Fälle oder in der Gestalt schon formulierter und nur auf anderem Weg erworbener und in einen anderen Zusammenhang gebrachter Begriffe gedacht worden! Überall können wir die Spuren einer uns jetzt notwendig erscheinenden Denkweise in früheren Gedankengängen entdecken. Was jedoch dem Denken der früheren Epochen meistenteils fehlte, ist die Differenzierung zwischen den Begriffen. Der Differenzierungsprozeß, dem das begriffliche Material im Laufe der Entwicklung unterlegen ist, bildet eines der wichtigsten Momente des wissenschaftlichen Fortschritts. Vieles von dem, was jetzt zergliedert und in verschiedenen getrennten Begriffen gefaßt wird, ist früher oft in einem allgemeineren höheren Begriff ungeschieden gedacht worden. Wenn also das ältere Wissen in vielen Punkten mit unserem übereinstimmt, so enthält es auch solche Elemente, die uns fremd sind. Sie dürfen nicht übersehen werden, denn gerade in diesen Elementen liegt sogar die Eigentümlichkeit und Originalität des Denkens unserer Vorfahren. Wenn man daher das ältere Denken unserem allzusehr anpaßt und es nur insoweit betrachtet, als es mit dem von uns bewiesenen und anerkannten übereinstimmt, dann werden immer bei der Beurteilung desselben unrichtige Meinungen unterlaufen. Die willkürliche Übertragung der neueren Theorien auf die Auffassung der älteren Ansichten zeigt sich in auffallender Klarheit auch in dem Bestreben, die früheren Vergleichungen zwischen Staat und Einzelmensch im Sinne einer biologischen Analogie zu deuten. Die eigentliche Analogie zwischen der Gesellschaft und dem Organismus ist aber eine Schöpfung der neuesten Zeit (1). Erst nachdem man nicht nur die politisch-staatliche und psychologisch-ethische Seite des sozialen Zusammenhangs, sondern auch den ganzen Komplex der gesellschaftlichen Erscheinungen und Funktionen zum Gegenstand der Untersuchung gemacht hatte, konnte man diese Analogie aufstellen. In ihrer allgemein verbreiteten Form trägt sie die deutlichen Spuren der gewaltigen Vorherrschaft der Naturwissenschaften, die in hervorragendem Maß unsere Zeit charakterisiert. Deshalb kann diese Analogie, die man als organische Theorie der Gesellschaft bezeichnet, nur als Produkt der modernen Denkweise betrachtet werden (2). Überdies ist die Streitfrage über ihren wissenschaftlichen Wert noch lange nicht abgeschlossen. Es ist eine unfertige und ausschließlich durch den heutigen Stand des Wissens veranlaßte Theorie, neben welche man die älteren Parallelen zwischen Staat und Mensch stellen würde. Als der Erste, der eine solche Analogie in einem der modernen naturwissenschaftlichen Vergleichung ähnliche Sinn aufgestellt hat, pflegt gewöhnlich PLATO genannt zu werden (3). Hier aber muß von vornherein darauf hingewiesen werden, daß PLATON überhaupt keine qualitativen Unterschiede zwischen Staat und Individuum kennt. In seiner Vergleichung hebt er ausdrücklich lediglich die quantitative Verschiedenheit dieser beiden Gebilde hervor (4). Die einfache Behauptung, daß der Staat größer als der Einzelmensch ist, kehr in der Politeia so häufig wieder (5), daß sie als ein erheblicher Bestandteil der platonischen Staatsheorie betrachtet werden muß. Diese Behauptung ist die Voraussetzung seiner weiteren Ausführungen über die Beziehungen zwischen Staat und Individuum. Er behandelt Staat und Individuum überall als durchgängig ähnliche Gebilde, hält es jedoch nirgends für notwendig, diese Ähnlichkeit oder Gleichheit vorher zu beweisen. Sie steht für ihn schon von vornherein fest. Wenn man dazu in Betracht zieht, daß das Individuum für PLATON durch den Staat vollständig absorbiert ist, dann muß man zu dem Schluß kommen, daß er sich den Gegensatz zwischen dem Staat, dessen Substrat die Gesamtheit der Personen ausmacht, und dem Individuum nicht in derselben Weise vorgestellt hat, wie wir ihn jetzt denken. Auf dieser seiner allgemein methodologischen Grundlage stellt PLATON allerdings zwei Parallelen zwischen Staat und Einzelmensch auf. Für ihn ist der Staat ein Mensch im Großen und der Mensch ein Staat im Kleinen (6). Jeden kann man nur mit Hilfe des anderen begreifen, und in diesem Sinne dienen sie beide für einander als Erkenntnisprinzip (7). Darin besthet der gemeinsame Zug der beiden platonischen Vergleichungen, der für diese Untersuchung besonders wichtig ist. Die zweite Parallele, die am Schluß des vierten Buches angedeutet und erst im achten und neunten Buch ausgeführt ist, behandelt nur die Entartung des wahren Staates und ist für uns irrelevant. Ganz anders steht es mit der ersten. Seinen idealen Staat konstruiert PLATON in seinem Gedanken vollständig frei als ein Urbild für alle Staaten. Die Parallele zwischen diesem gerechten Staat und dem gerechten Mann besteht darin, daß in beiden dieselbe strenge Dreiteilung durchgeführt wird, und zwischen diesen Teilen ein vollständiges Gleichgewicht oder die Gerechtigkeit herrscht. Dieser harmonische Zusammenklang der Tugenden in einer vollendeten idealen Gestalt bildet den Kernpunkt des Staates wie des Einzelmenschen. Solcher Gestalten der gerechten Harmonie oder der wahren Tugend gibt es für PLATON nur eine einzige, während die Schlechtigkeit nach ihm in unzähligen Formen vorkommt, von denen er bloß vier als die wichtigsten herausnimmt. (8) Wenn aber diese ideale Gestalt auch nur eine einzige ist, so ist sie doch gleichzeitig in zwei äußeren Formen vertreten, weil die Gerechtigkeit ebenso im Staat, wie im einzelnen Menschen ist (9). Indirekt bezeichnet PLATON diese zwei Formen, in denen die Gerechtigkeit auftritt, als dasselbe, indem er das logische Gesetz der Identität bei der Gelegenheit seines Vergleichs bespricht (10); wiederholt behauptet er dabei, daß der Einzelmensch dem Staat ähnlich und der Staat nur größer sei als der Mensch (11). Für uns ist es also klar, daß diese Ähnlichkeit für PLATON eine feste Tatsache war, die keines eigentlichen Beweises bedarf. Es ist eine Voraussetzung, von der er ausgeht und nicht ein Resultat, zu dem er gelangt. Nicht die Gründe dieser Ähnlichkeit will er auffinden, sondern aufgrund dieser Ähnlichkeit die weiteren Konsequenzen ziehen. Alle seine Ausführungen beruhen darauf, daß in zwei ähnlichen Gebilden, von denen das eine größer, das andere kleiner ist, die wesentlichen Merkmale auch ähnlich sein müssen. Wenn wir diese platonischen Ansichten über den Staat in Beziehung zu den gegenwärtigen Staatstheorien zu setzen versuchen, so können wir in der Auffassung des Staates als eines Menschen im Großen nur die Vorbereitung zu modernen Begriff der Staatspersönlichkeit erblicken. Die fast vollständige Identifizierung des Staates und des Einzelmenschen als psychisch-ethischer Gebilde bei PLATON (12) wäre ganz unbegreiflich, hätte er den Staat und den Menschen im Ganzen, und nicht bloß als Träger derselben politisch-ethischen Aufgaben betrachtet (13). Nur als Subjekte der Rechte und Pflichten können der Staat und der Mensch ihren Platz so gegeneinander vertauschen, wie es bei der Behandlung ihres Wesens in der Politeia geschieht. (14) Bei PLATON hat nun zwar diese Parallele zwischen Staat und Einzelmensch keine rechtliche, sondern eine psychologisch-ethische Bedeutung. Auch sind ihm die Begriffe der Persönlichkeit oder des willensfähigen Subjekts vollständig fremd (15). Infolge der Tatsache jedoch, daß zur Zeit PLATONs das Recht als besondere soziale Funktion von der Ethik, und der Begriff der Persönlichkeit vom Begriff des Menschen überhaupt noch nicht abgetrennt, und daß das Willensproblem noch gar nicht gestellt war, ist man nicht berechtigt, die platonische Gleichsetzung des Staates und des Einzelmenschen als Analogie zwischen der Gesellschaft und dem Organismus zu deuten. Gerade von diesen Begriffen ist die platonische Staatstheorie am weitesten entfernt (16). Dagegen erscheint sie in richtiger Beleuchtung, wenn man sie als Vorstufe im Kampf für die einheitliche Auffassung der rechtlichen Seite der staatlichen Gebilde anerkennt. Die weitere wissenschaftliche Entwicklung verschärfte gerade diese Tendenz des platonischen Vergleichs zwischen Staat und Individuum (17). Eine besondere und schon mehr juristische Ausprägung fand der Gedanke PLATONs erst bei HOBBES. Man betrachtet gewöhnlich auch HOBBES als einen Vertreter der biologischen Analogien, der dabei in seiner Vergleichung zwischen Staat und einzelnem Menschen am weitesten gegangen ist. Er unterscheidet bekanntlich im Staat den Körper, Gelenke, Seele, Nerven, Vernunft, Gedächtnis usw. Diese ausführliche Parallele findet man in der staatswissenschaftlichen Literatur erst bei HOBBES so ausgeprägt. Bei der Berufung auf diese berühmte Stelle aus seinem Leviathan wird jedoch vollständig unerwähnt gelassen, daß sie sich in der Einleitung zum HOBBES'schen Werk befindet (18). Hätte HOBBES seine Vergleichung als eine vorläufige, unvollständige und der weiteren Beweise bedürfende Analogie gemeint, so konnte er dieselbe nicht als assertorische Behauptung auf der ersten Seite seines Buches aussprechen. HOBBES mußte zwischen Staat und Individuum für etwas anderes gehalten wissen wollen, als für den bloßen Versuch, eine gelegentliche Parallele zwischen beiden durchzuführen. Die Gleichheit von Staat und Einzelmensch ist nach HOBBES' Leviathan ein vollständig sicherer und unangreifbarer Satz. (19) Dieser Charakter der Behauptung HOBBES' kann nur durch seine früher ausgesprochenen Ansichten über den Staat erklärt werden. Schon in seiner "Abhandlung über den Bürger", die bekanntlich neun Jahre früher als der "Leviathan" erschienen ist, hat HOBBES den Satz aufgestellt: "der Staat als eine Person kann die Waffen nicht gegen sich selbst ergreifen." (20) Gerade dieses Buch, welches so wenig in der Literatur über die organische Theorie beachtet wurde (21), kann den besten Aufschluß über HOBBES' Lehre der Menschenähnlichkeit des Staates geben. Hier bleibt HOBBES in seiner Ausführung ausschließlich auf juristischem Boden. Seine Auffassung und Definition des Staates beruth auf der Isolierung der Willenseinheit als solcher und der Eigenschaft des Staates als des Subjekts des Rechts ebenso wie auf der Abstraktion von einzelnen Menschen und sozialen Gebilden. Darum definiert er den Staat als eine juristische Person (persona civilis), die ihren Willen, ihre Rechte und Pflichten hat, unabhänging vom Willen und den Rechten der einzelnen Bürger (22). Als einen Menschen dagegen bezeichnet er den Staat in dieser Untersuchung gar nicht. Deshalb ist es für HOBBES' Staatstheorie, die in der Einleitung zum Leviathan vorgetragen wurde, sehr charakteristisch, daß der Vergleich des Staates mit dem Einzelmenschen sich erst in dem Kapitel seines Buches wiederfindet, in welchem er von den Dingen spricht, die zerstörend oder zerrüttend auf den Staat wirken. Selbst in seiner Definition des Staates benutzt HOBBES auch im Leviathan diesen Vergleich nicht mehr und bezeichnet den Staat, die Gesellschaft und das Gemeinwesen nur als einen "sterblichen Gott" und "eine Person" (23). Wenn er aber von den Krankheiten, den Gefahren der Auflösung und dem Tod des Staates spricht, so stützt er sich wieder auf seine Behauptung der Gleichheit des Staates und des Menschen und behandelt ihre Schwäche nebeneinander (24). Durch diese Beschränkung seines Vergleichs auf wenige Partien des Buches hat HOBBES in auffallender Klarheit gezeigt, welche Bedeutung die Nebeneinanderstellung von Staat und Mensch für ihn hat. Sie dient ihm bloß als der beste Beweis, daß der Staat ein einheitliches, unteilbares und vollkommenes Wesen betrachtet werden muß, gleich dem Menschen, also dem anderen Träger der Eigenschaften eines Rechts- und Willenssubjekts. (25) Die Integrität, die Vollständigkeit, die Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit der staatlichen Einheit kann er nicht eindringlicher beweisen, als indem er den Staat als einen großen und mächtigen Menschen darstellt. Bei dieser Art von Beweis für seine staatswissenschaftliche Theorie findet bei HOBBES nicht der Versuch seinen Ausdruck, den ganzen Komplex der mannigfaltigen gesellschaftlichen Erscheinung zu umfassen und zu erforschen, sondern umgekehrt das Bestreben, gerade diese Vielheit und Mannigfaltigkeit wegzudenken und aus dem Staatsbegriff zu entfernen. Für HOBBES ist also die Bezeichnung des Staates als eines Menschen nur ein anderer, viel konkreterer Ausdruck für die Auffassung des Staates als einer Person (26). Er unterstützt dadurch auch seine denselben Zweck verfolgenden Ausführungen, daß der Staat nur ein Haupt, eine bestimmte, einheitliche Organisation usw. haben muß. Endlich dient ihm seine Überzeugung von der Gleichheit des staatlichen und menschlichen Wesens als beste Widerlegung der Theorie von der Teilung der Gewalten und der Ansprüche der Kirche (27). Außer diesen beiden Arten des Vergleichs zwischen Staat und Einzelmensch, wie sie bei PLATON und HOBBES vorliegen und dort bestimmte Eigenschaften der staatlichen Gebilde unmittelbar aufweisen sollen, muß man noch eine dritte in Betracht ziehen. Es gehören zu derselben sehr viele von denjenigen Staatstheorien, die niemals zu den auf den Analogieschlüssen aufgebauten gerechnet wurden. Als der typische Vertreter dieser Richtung in den Staatswissenschaften kann MONTESQUIEU betrachtet werden. Während PLATON und HOBBES meistenteils zu den Anhängern der Analogieschlüsse gerechnet werden, wird MONTESQUIEU immer als freier Geist behandelt, welcher allen gewaltsamen Annahmen und übereilten Deduktionen fernbleibt (28); und doch ruhen seine staatstheoretischen Ansichten auf derselben Grundlage, wie diejenigen der beiden Ersteren. Auf MONTESQUIEUs gesellschaftliche und staatliche Theorien hat hauptsächlich das starke Hervortreten der moralistischen Literatur im 17. und im Anfang des 18. Jahrhunderts gewirkt. Wie PLATONs Idealstaat aus der geistigen Gärung der Zeit der Sophisten und des SOKRATES erwachsen ist, so bildet in kleineren Dimensionen die moralphilosophische Bewegung in England und Frankreich am Ende des 17. Jahrhunderts den Hintergrund für die weiteren politischen Erwägungen und Ausführungen (29). Die Überlegungen über den menschlichen Charakter und seine Natur von PASCAL, La ROCHEFOUCAULD, La BRUYÉRE, VAUVENARGUES und besonders von SHAFTESBURY bilden die eigentlichen Prämissen, zu denen MONTESQUIEU in seinen Staatstheorien den Schlußsatz geliefert hat. Zwischen diesen Autoren und MONTESQUIEU kann man eine Masse von Berührungspunkten aufweisen, die von der direkten Abhängigkeit des letzteren zeugen, besonders dort, wo er über die Sitten, die Erziehung und den gesellschaftlichen Verkehr spricht (30). Doch hat er auf dieser methodologischen Grundlage, die durch ethische Untersuchungen geschaffen wurde, seine eigenen Staatstheorien ganz originell ausgebildet. Seine Staatsauffassung gründes MONTESQUIEU auf die Unterscheidung zwischen der Natur des Staates und seinem Prinzip. Die Natur ist nur die äußere Struktur der Staaten, nach der man sie auch klassifiziert, das eigentlich belebende Element für das staatliche Wesen ist ihr Prinzip (31) Jeder Staat hat nicht nur seine eigene Struktur oder Staatsverfassung, sondern auch sein eigentümliches Prinzip. Dasselbe beruth in den menschlichen Leidenschaften, macht aber nicht bloß die wesentliche Eigenschaft und sogar den ganzen Charakter irgendeines Staates aus, sondern bestimmt auch sein Dasein selbst (32). Der Staat kann nur so lange bestehen, als sein Prinzip aufrecht erhalten wird, und mit dem Verfall desselben geht die staatliche Existenz zugrunde (33). Das ganze Wesen des Staates, alle seine Einrichtungen sind von seinem Prinzip geschaffen, belebt und ausschließlich von ihm abgeleitet. Ein lebendiges sozial-ethisches Prinzip bedingt also nach MONTESQUIEU genau so alle konkreten mannigfaltigen Erscheinungen des staatlichen Lebens, wie der Wille das menschliche Handeln. Die Entstehung und der Sinn dieser Staatstheorie wäre ganz unbegreiflich, entspräche sie nicht vollständig den damaligen Ansichten über den Menschen und sein Wesen. MONTESQUIEU führt uns seine verschiedenen Staaten mit ihren festen Grundsätzen, Ehre, Tugend, Mäßigkeit, Furcht vor, wie einzelne Menschen; sie erscheinen nur als Träger eines einzigen Gedankens oder Gefühls. So erinnern sie an die Helden der zeitgenössischen Tragödien, welche von einer einzigen Leidenschaft beseelt sind und als Repräsentanten einer bestimmten Tugend oder eines bestimmten Lasters auftreten. Wenn man die damalige einseitige Auffassung der menschlichen "Natur" berücksichtigt, so muß man zugeben, daß MONTESQUIEUs Staat in diesem Sinne dem Menschen vollständig gleich ist. Doch ist MONTESQUIEU allerdings ein im Konkreten wurzelnder Geist. Er spriccht nur von den tatsächlichen Erscheinungen und beginnt nicht sofort zu abstrahieren, um allgemeine Begriffe zu gewinnen. Er beschreibt mehr, als er theoretisiert. Darum bezeichnet er den Staat weder als einen Menschen, noch als eine Person; manchmal spricht er nur vom "politischen Körper" (34). Trotzdem sind die Staatsideen von MONTESQUIEU durch und durch anthropomorphischen Charakters. Nur einmal versucht er zu abstrahieren, indem er die verschiedenen Prinzipien des staatlichen Wesens konstruiert und dadurch die leitenden Kräfte des staatlichen Lebens zu entdecken meint. Hier muß er den Staat schon von vornherein als einen Menschen betrachten. Die ganze Sozialpsychologie MONTESQUIEUs wäre völlig unerklärlich, würde man nicht annehmen, daß die Gleichheit des Staates und des einzelnen Menschen von ethischen Standpunkt ihm für selbstverständlich erscheint. Die Erkenntnismethode ist also bei MONTESQUIEU genau dieselbe, wie bei PLATON und HOBBES; denn dieselbe allgemeine Voraussetzung liegt ihr zugrunde, daß man den Staat als dem Einzelmenschen gleich auffassen soll, wenn man seine Tätigkeit richtig beurteilen will. (35) Diejenigen Konsequenzen, vor welchen MONTESQUIEU sich gescheut hat, sind alle von seinem unmittelbaren Nachfolger ROUSSEAU gezogen worden. Ein mehr dogmatischer Geist, hat ROUSSEAU in eine abgeschlossene Theorie gebracht, was MONTESQUIEU nur ahnen ließ. Bekanntlich liegt es in der schriftstellerischen Art ROUSSEAUs, daß er seine Ansichten mehr dekretiert, als beweist und erklärt; in diesem Fall aber, bei der Begriffsbestimmung der staatlichen Individualität, hat er sehr viele Vorläufer, die sich derselben Methode bedient hatten. Die Eigentümlichkeit der ROUSSEAU'schen Staatsidee besteht darin, daß er die Vorstellung von der personalen Einheit des Staates durch die Zusammenschmelzung der souveränen Staatsgewalt mit dem "allgemeinen Willen" des Volkes außerordentlich verschärft hat (36). Den Staat faßt er als eine "öffentliche Person" auf, die ihren Willen und ihr eigenes "Ich", gemeinsam für das ganze Volk, hat (37). Doch kann er sich nicht zur rein begrifflichen Auffassung dieser staatlichen Persönlichkeit erheben und sucht ihre Berechtigung auf Macht und Geltung im "kollektiven Körper" des Volkes. (38) Deshalb verfällt er schließlich in den alten Fehler der grob sinnlichen Auffassung des staatlichen Individuums und betrachtet seinen "politischen Körper" als dem Körper des Menschen völlig gleich (39). Aus allen diesen Beispielen kann man sehen, wie der Satz von der Gleichheit zwischen dem Staat und dem einzelnen Menschen die hervorragendsten Staatstheorien bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts beherrscht. Manchmal tritt er in der Form einer ganz präzisen Behauptung auf, in anderen Fällen, nicht unbewußt, wie einige Forscher meinen (40), sondern nur nicht deutlich ausgesprochen, oder nicht ganz klar definiert. Diese stets und hartnäckig sich wiederholende Rückkehr ein und derselben Idee läßt vermuten, daß sie in der Sache selbst begründet ist. Man bedarf in der Tat eines besonderen Begriffs, um die einheitliche Äußerung der staatlichen Tätigkeit nach und innen zu erklären. Denn dieser autonome Charakter des Staates ist nur dann begreiflich, wenn man den Staat als ein rechts-, willens- und handlungsfähiges Subjekt betrachtet (41). Als das erkannt wurde, war man jedoch noch unfähig, diese Eigenschaft des staatlichen Wesens bloß als einen Begriff zu denken, der nur "gilt" und in diesem Sinne eine höhere Realität, aber kein empirisches "Sein" besitzt; sondern man wollte sie ganz konkret und materiell darstellen. (42) Das erreichte man dadurch, daß man den Staat nicht nur für eine rechts- und willensfähige Person, sondern auch für einen Menschen erklärte. Indem man nun diesen Schluß vollzog, mußte man auch die weiteren Konsequenzen ziehen und die verschiedenen Tätigkeiten des Staates durch den näheren Vergleich mit den Funktionen der einzelnen Körperteile des Menschen begründen. In dieser Weise, infolge der logischen Notwendigkeit, wurden solche Vergleiche zwischen Staat und Einzelmensch auch im Detail ausgeführt. Deshalb beurteilt man diese Theorien nicht aus sich heraus, sondern von einem ihnen fremden Standpunkt, wenn man die ihnen eigentümlichen Vergleichungen als Analogien zwischen der Gesellschaft und dem Organismus im heutigen naturwissenschaftlichen Sinn betrachtet. Bei diesem Vorgehen werden meistenteils die methodologischen Anschauungen und naturwissenschaftlichen Ergebnisse des 19. Jahrhunderts kritiklos auf die Ansichten der früheren Jahrhunderte übertragen. Man schiebt ihnen die Vorurteile der neueren Zeiten unter, statt ihre eigenen zu entdecken. Darum gewinnt man durch alle solchen Nebeneinanderstellungen keine wahre Erkenntnis über die Bedeutung und Eigentümlichkeit der älteren anthropomorphistischen Staatstheorien. Wenn man aber nach sorgfältiger Analyse alle diese Theorien auf ihre ursprünglichen Elemente zurückführt, so wird man finden, daß Staat und Mensch nicht verglichen, sondern als gleich angesehen werden. Das ist nur dann möglich, wenn man den Staat und den Menschen nicht in ihrer konkreten realen Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit, sondern als Subjekte von Rechten und Pflichten, die gewisse ähnliche Ziele und Aufgaben zu verfolgen haben, oder kurz als Personen betrachtet. ![]()
1) Eine Übersicht der verschiedenen Theorien über die Analogieschlüsse vgl. Paul Barth, Philosophie der Geschichte als Soziologie, Seite 94f. 2) Über das allmähliche Auftreten von Bildern und Gleichnissen aus verschiedenen Zweigen der Naturwissenschaften vgl. Rudolf Eucken, Über Bild und Gleichnis in der Philosophie, Seite 24: "Der Einfluß der kopernikanischen Lehre zeigt sich erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, aber von da an sind es gerade sehr hervorragende Philosophen, Männer wie Leibniz, Kant, Herbart gewesen, welche die letzten Aufgaben der Philosophie durch Analogien der neu gewonnenen astronomischen Anschauung deutlich zu machen suchten. Bilder aus der neueren Chemie dürften zuerst bei Kant erscheinen, auch hier folgt ihm Herbart" usw. 3) vgl. besonders Herbert Spencer, The Social Organism, Bd. 1, Seite 384 und "Die Prinzipien der Soziologie", Bd. 2, § 269. 4) vgl. Platon, Politeia II, 368. 5) vgl. a. a. O., Bd. 2, Seite 368 und Bd. 4, Seite 435 und 441. 6) Schon K. F. Herrmann, "Geschichte und System der platonischen Philosphie", Seite 539, hat die doppelte Bedeutung der platonischen Analogie hervorgehoben, indem er ausführte: "Genauer betrachtet zerfällt das Ganze (Politeia) überhaupt in vier oder fünf Massen, von welchen nur das zweite bis vierte und das achte und neunte Buch den eigentlichen Kern bilden und die Analogie des Staates als eines Menschen im Großen und des Menschen als eines Staates im Kleinen sowohl in Hinsicht auf das Ideal der sittlichen Harmonie selbst, als auf die Entartung ausführte." (zitiert bei Krohn, "Der platonische Staat", Seite 1. Dagegen vertritt Otto Gierke, "Das Genossenschaftsrecht", Bd. 3, Seite 14 und "Grundbegriffe des Staatswesens", Zeitschrift für die gesamte Staatswesen, Bd. 30, Seite 269, eine einseitig gefärbte unzutreffende Meinung, wenn er nur die Auffassung des Staates als eines Menschen im Großen als charakteristisch für Platon bezeichnet. In einer Anmerkung (a. a. O., Seite14) behauptet er jedenfalls: "Platon geht freilich in der Politeia den umgekehrten Weg, indem er die Gerechtigkeit zuerst am Staat aufsucht, um das Resultat auf den Einzelnen zu übertragen, und so bei allen Inzidentfragen verfährt: es ist aber offenbar, daß bei der Erörterung über den Staat die Grundlehren über die Einzelseele, ihre Kräfte und Eigenschaften bereits vorausgesetzt werden." Doch kann man nach dem Wortlaut der platonischen Ausführung eine solche Voraussetzung, wie sie Gierke vermutet, unmöglich annehmen. Die eigentliche Voraussetzung von Platon besteht vielmehr in der allgemeinen Überzeugung von der durchgehenden Ähnlichkeit zwischen Staat und Mensch. 7) Wenn Herbert Spencer, "Soziologie", Bd. 2, § 269, Seite 169, in seiner Kritik der platonischen Staatstheorie behauptet, daß Platon aus einem ganz richtigen Vordersatz - der Staat ist dem einzelnen Menschen ähnlich - einen falschen Schlußsatz deduziert, daß auch umgekehrt die Arten der menschlichen Seelenverfassungen den Arten der Staatsverfassungen ähnlich sein müssen, so liegt hier bei Spencer ein Mißverständnis vor. Er zieht gar nicht in Betracht, daß Platon durch seinen Vergleich ebenso die wahre Erkenntnis über den Staat, wie über den Menschen zu gewinnen sucht. 8) Platon, a. a. O., IV, Seite 445 9) Platon, a. a. O., IV, Seite 434 10) Platon, a. a. O., IV, Seite 435 11) Platon, a. a. O., V, Seite 449 und 462; VIII 549; IX 577. 12) Wenn Herbert Spencer, a. a. O., § 269, Platon vorwirft, daß seine Analogie "viel zu sehr ins Einzelne geht", so läßt er unberücksichtigt, daß dem platonischen Idealstaat ausschließlich moralische oder geistige, aber keine materielle Bedeutung zukommt. Selbst das Prinzip der Arbeitsteilung faßt Platon vom moralischen Standpunkt auf. (vgl. Karl Hildenbrand, Geschichte und System der Rechts- und Staatsphilosophie, Seite 126) Dagegen bezeichnet Spencer diese Seite der platonischen Staatsauffassung, statt sie zu erklären, einfach als Irrtum (vgl. a. a. O., Seite 169). 13) vgl. Platon, a. a. O., IV, Seite 435. 14) Diese Auffassung der platonischen Staatstheorie steht im Widerspruch mit der Meinung Gierkes, welcher behauptet (a. a. O., Bd. 3, Seite 15): "Hieraus (aus der Ähnlichkeit des Staates und der Menschen) ergibt sich die Anforderung einer Einheit des Staates, welche gleich der des Individuums möglichst einfach ist; einer Einheit, in welcher die Teile ganz enthalten und nur für das Ganze wertvoll sind; einer Einheit, die zuletzt zum Kommunismus drängt. Trotzdem kommt es bei Platon nicht einmal zu einer Andeutung des Begriffs der Staatspersönlichkeit." Gierke übersieht jedoch dabei, daß in der Vorstellung der Menschenähnlichkeit des Staates auch der Begriff der "Staatspersönlichkeit" schon enthalten ist. Den besten Beweis dafür liefert Gierke selbst in demjenigen Teil seines Werkes, in dem er über das "Wesen der Stadtpersönlichkeit" im Mittelalter spricht (vgl. a. a. O., Bd. 2, Seite 823): "Mit jeder anderen Person und somit auch mit dem Einzelmenschen hatte die Stadt die Fähigkeit gemein, Rechtssubjekt zu sein und mit rechtlicher Wirkung zu wollen und zu handeln. Wurde auch das Fremdwort "Person" nur selten zur Bezeichnung dieser Gattungseinheit angewandt, so wurden doch häufig Städte und einzelne Menschen derartig parallelisiert, daß am Bewußtsein des ihnen "gemeinsamen Merkmals, Person zu sein, nicht gezweifelt werden kann." 15) vgl. Hildenbrand, a. a. O., Bd. 1, Seite 26, 129, 156 und 161. 16) vgl. Hildenbrand, a. a. O., Seite 156. "Die Politeia enthält eine Gesellschaftsordnung und eine Staatsverfassung, die wir natürlich unterscheiden müssen, während Platon, dem ebensowenig wie irgendeinem andern griechischen Denker der Unterschied von Staat und Gesellschaft zu Bewußtsein gekommen war, den sozialen Organismus mit dem politischen konfundiert." 17) Seither wurde oft versucht, die Analogie zwischen Gesellschaft und Individuum schon in den volkstümlichen Vorstellungen nachzuweisen. Das älteste Beispiel hierfür bietet die Fabel von Menenius Agrippa. Ihr Charakter als Fabel beweist jedoch schon, daß sie keine reale Analogie feststellen, sondern nur bestimmte Verhältnisse in Form eines Gleichnisses zur Anschauung bringen will. (vgl. Niebuhr, Römische Geschichte, Bd. 1, dritte Auflage, Seite 678 und Mommsen, Römische Geschichte, Bd. 1, zweite Auflage, Seite 247) Auch der Stelle des Römerbriefes, in der Paulus die Kirche als Leib Christi bezeichnet, kommt nur die Bedeutung eines Bildes zu. Dagegen enthalten einen viel reicheren Inhalt die eigentlichen volkstümlichen Aussprüche bei denjenigen Völkern, bei denen sich, wie bei den Sklaven, das Gemeindewesen in stärkerem Grad erhalten hat. Dort haben solche Redensarten eine unmittelbare Beziehung auf das soziale Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinde. Die russischen Bauern sagen z. B., "der Mir ist ein großer Mensch". Damit bezeichnet man aber nur eine große Macht der Gemeinde, ihre Herrscherrechte über den Einzelnen, und dieser Ausspruch bedeutet ebensoviel wie das deutsche Sprichwort: "Die Landesgemeinde ist der größte Landesfürst" (vgl. Graf und Dietherr, "Deutsche Rechtssprichwörter", neunte Auflage, Seite 788. Von einer Analogie im obigen Sinn kann also hier keine Rede sein. 18) vgl. Thomas Hobbes, "Leviathan", Introductio, Op. Lat. Vol. III, Seite 1. 19) vgl. Spencer, The social Organism, Essays, Vol. 1, Seite 391. Er beschuldigt Hobbes der Inkonsequenz, weil er von der künstlichen Schaffung des Gemeinwesens spricht und dieses nachher als einen Menschen betrachtet. Doch beurteilt er ihn dadurch von einem willkürlich gewählten und unrichtigen Standpunkt. Noch jetzt sind die Grenzen der Biologie als einer Wissenschaft ziemlich vage, indem sie eine vermittelnde Stelle zwischen rein beschreibenden Wissenschaften, wie Zoologie und Botanik einerseits und Gesetzeswissenschaften, wie Physiologie und Chemie andererseits einnimmt und dabei noch manche nicht scharf abgegrenzte Wissenszweige, wie Morphologie und Embryologie, einschließen muß; in den Zeiten von Hobbes existierte die Biologie als besondere Wissenschaft überhaupt noch nicht. Auch der Gegensatz zwischen Natur und Kunst war damals nicht so scharf ausgeprägt, wie jetzt. Hobbes selbst fängt dieselbe Einleitung, in der er die Gesellschaft einen "künstlichen Menschen" (homo artificialis) nennt, mit dem Satz an, in welchem er der Natur, die er als Kunst Gottes bezeichnet, die menschliche Kunst gleichstellt. Wenn man also Hobbes richtig beurteilen will, dann darf man ihn nicht mit dem Maßstab der modernen Naturwissenschaft messen. Man muß dagegen stets im Auge behalten, daß es ihm nicht auf die Organisation und die Gesetze der Funktionierung des sozialen Ganzen, sondern auf die einheitliche Auffassung und Personifizierung des Staates ankommt. Ebenso fällt der Vorwurf in sich zusammen, daß Hobbes sich den Staat so starr und unlebendig, wie einen "Automaten" vorgestellt hat (vgl. Gierke, "Johann Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorie", Seite 190), weil noch die ganze cartesianische Schule die Tiere im Gegensatz zum Menschen als Automaten betrachtete. 20) vgl. Hobbes, "Elem. phil. de cive", Kapitel VI, § 1. Darüber vgl. Lyon, La Philosophie de Hobbes", Seite 171. 21) Weder Spencer, "Essays", Vol. 1 und "Sociology", Vol. 2, noch van Krieken, "Über die sogenannte organische Staatstheorie" erwähnen die "Elem. phil. de cive". 22) vgl. Hobbes, a. a. O., Kapitel V, § 11. (vgl. darüber Gierke, Johann Althusius, Seite 189) 23) Der Vergleich des Staates mit dem Menschen nimmt einen so geringen Platz in den Werken von Hobbes ein, daß die neuesten Forscher seiner philosophischen Lehren seine Zugehörigkeit zu den Vertretern der organischen Theorie schlankweg bestreiten. (vgl. Tönnies, Hobbes' Leben und Lehre, Seite 224) "Mithin ist die ganze Lehre unseres Philosophen über Recht und Staat nicht, wie sie gewöhnlich verstanden wird, eine willkürliche und exzentrische Spekulation. ... Ihre allgemeine Bedeutung liegt zuerst in der Negation der überlieferten Lehren, deren Elemente ich in Kürze skizziert habe. Diese können einheitlich dahin charakterisiert werden, daß sie die Gebiete des sozialen Lebens als organische zu begreifen versuchen; dem biologischen Wissen der Zeit gemäß kann das nur in unklarer Weise geschehen und nur vermöge des Dualismus von Leib und Seele." Wenn aber anerkannt werden muß, daß Hobbes kein Anhänger der organischen Theorie ist, welche auf Analogien zwischen dem sozialen Körper und einem Organismus beruth, so kann doch nicht bestritten werden, daß er den Staat schon von vornherein für gleich dem Menschen hält. 24) vgl. Hobbes, Leviathan, Kapitel XXIX, Op. Lat. Vol. III, Seite 230, "De iis Rebus quae Civitatem labefactant." [Von jenen Angelegenheiten, die den Staat untergraben. - wp] Dieses ganze Kapitel ist ausschließlich auf der Parallele des staatlichen und menschlichen Körpers aufgebaut, durch welche Hobbes zu beweisen glaubt, daß der Staat oder das Gemeinwesen bei bestimmten abnormen Bedingungen krank ist, nicht mehr bestehen kann und notwendig sterben muß. Schon nach der kurzen Einleitung über die Sterblichkeit all dessen, was von den Sterblichen geschaffen ist, stellte er die Behauptung auf: "Inter infirmitates civitatis primo loco ponendae sunt illae, quae ab imperfecta nascuntur institutione, similisque sunt corporis naturalis morbis illis, qui procedunt a generatione vitiosa." [Zu den Gebrechen des Gemeinwesens zählen in erster Linie diejenigen, die aus einer unvollkommenen Institution resultieren und den Krankheiten des natürlichen Körpers ähneln, die von einer lasterhaften Generation herrühren. - wp] Weiter verfolgt er diesen Vergleich beinahe durch sämtliche Krankheiten. Besonders ausführlich behandelt er ihn aber im englischen Text, der bekanntlich viel früher erschienen ist als der lateinische. Das kann auch als Zeugnis dienen, daß Hobbes seine These über die Gleichheit von Staat und Einzelmensch als ein Beweismittel der Integrität des Staates für polemische Zwecke gegen seine politischen Gegner gebrauchte. Als Beispiel kann man folgende Sätze anführen (vgl. a. a. O., Works, Vol. III, Seite 318): "Sometimes also in the morely civil government there be more than one soul: as where the power of levying money, which is the ntritive faculty." [Manchmal gibt es auch in der eher bürgerlichen Regierung mehr als eine Seele: etwa dort, wo die Macht, Geld zu erheben, das ist die Fähigkeit, Geld zu erheben. - wp] ... Und weiter: "To what disease in the natural body of man, I may exactly compare this irregularity of a commonwealth, I know not." [Mit welcher Krankheit im natürlichen Körper des Menschen ich diese Unregelmäßigkeit eines Gemeinwesens genau vergleichen darf, weiß ich nicht. - wp] ... Diese Sätze fehlen im lateinischen Text vollständig, statt der drei folgenden findet man im lateinischen abgekürzte Sätze, in denen sich auch der ausführliche Vergleich der staatlichen Wirren mit einer Fieberkrankheit befindet. 25) Vgl. Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, Seite 31. "Die Erkenntnis der persönlichen Natur des Staates tritt in wissenschaftlicher Klarheit in demselben Augenblick auf, in dem erkannt wird, daß im Staat ein von dem der ihn bildenden Individuen verschiedener Einheitswille vorhanden ist. Mehr oder minder unbestimmt schon lange vorhanden, vollzieht sie sich in voller Schärfe und Deutlichkeit bei Hobbes, dessen naturalistisch-sensualistische Weltanschauung der Annahme hypostasierter [vergegenständlichter - wp] Begriffe diametral entgegengesetzt ist: ein schlagender Beweis dafür, mit welch zwingender Notwendigkeit selbst die den Staat atomistisch aus den Individuen zusammensetzende Theorie des juristischen Staatsbegriffes zur Persönlichkeitstheorie führt." 26) Eine vollständige Verkennung der Bedeutung der anthropomorphistischen Auffassung des Staates bei den älteren Denkern zeigt Herbert Spencer, vgl. Essays, Vol. 1, Seite 390: "But the chief errors of these comparisons made by Plato and Hobbes, lay much deeper. Both thinkers assume that the organization of a society is comparable, not simply to the organization of a living body in general, but to the organization of the human body in particular." Was Spencer hier mit dem Stolz eines Spätergekommenen bloß als Irrtum und weiter unten als Phantasie bezeichnet, ist der charakteristische Zug der beiden Theorien, von dem man ausgehen muß, wenn man sie überhaupt verstehen will. Darum war Spencer nicht imstande einzusehen, daß es diesen beiden Denkern nicht auf die Organisation, sondern auf die einheitliche Auffassung des Staates angekommen ist, weshalb sie denselben nur als einen Menschen und nicht als einen Organismus auffassen konnten. Über van Kriekens Auffassung der Hobbes'schen Staatstheorie vgl. Jellinek, a. a. O., Seite 32, Note 1. "Geringe Kenntnis der Weltanschauung des Hobbes zeigt van Krieken, Über die sogenannte organische Staatstheorie, Seite 41f, wenn er aufgrund gelegentlicher Bilder in den Schriften Hobbes' diesen für einen Vertreter der organischen Theorie erklärt." 27) Vgl. Hobbes, a. a. O., III, Seite 236. 28) Vgl. van Krieken, Über die sogenannte organische Staatstheorie, Seite 42 und 51. van Krieken betrachtet nur die Theorie der Teilung der Gewalten von Montesquieu und behauptet, daß er sich lediglich an die Ergebnisse seiner reichen Erfahrung hält und deshalb frei von jeder gesuchten Analogie bleibt. 29) Vgl. Jodl, Geschichte der Ethik in der neueren Philosophie, Bd. 1, Seite 294 30) Die geistige Verwandtschaft zwischen diesen Moralisten und Montesquieu ist so auffallend, daß sie keiner näheren Beweise durch Berufung auf einzelne Stellen bedarf. Nicht allein in seinen näheren Ausführungen über die Menschen in verschiedener sozialer Lage stand Montesquieu unter dem direkten Einfluß dieser Schriftsteller, sondern auch in seinen allgemeinen Theorien über den Charakter des Volkes und der verschiedenen Staaten berührte er sich mit den früher ausgesprochenen Ansichten in Werken, wie Pascals "Pensées" (vgl. "Raisons des quelques opinons du peuple") und La Bruyéres, "Les Caractéres" (vgl. die Kapitel "Du Souverain ou de la republique", "Des Grands" und "De la cour). 31) Vgl. Montesquieu, De l'esprit des Lois, Liv. III Ch. 1. "Es besteht ein Unterschied zwischen der Natur einer Regierung und ihrem Prinzip: das eine ist ihre Natur, die sie zu einer solchen macht, das andere ihr Prinzip, das sie zum Handeln bringt. Das eine ist ihre besondere Struktur und das andere sind die menschlichen Leidenschaften, die das Prinzip motivieren." 32) Vgl. a. a. O. Liv. III, Ch. 2 und Liv. V, Ch. 1. 33) Vgl. a. a. O. Liv. VIII, Ch. 1. 34) Vgl. a. a. O. Liv. III, Ch. 7. 35) Diese letzte Art der Anwendung der Voraussetzung von Montesquieu, daß der Staat dem einzelnen Menschen gleich sein soll, ist weitaus die häufigste. Die Voraussetzung wird hier ebenso stillschweigend angenommen, wie dort; hier aber bleibt sie meistenteil ganz unausgesprochen, was jedoch ihre Bedeutung nicht beeinträchtigt. Man stützt sich hauptsächlich auf sie und gewinnt durch sie einen festen Grund für die Urteile über die Natur und das Wesen des Staates. Bei meinen Untersuchungen bin ich zu der festen Überzeugung gelangt, daß das dualistische Staatssystem von Augustinus sich hauptsächlich, obwohl nicht ausschließlich, auf die Voraussetzung stützt, daß der Staat ebenso wie der Mensch aus einem Leib und einer Seele bestehen muß. Diese Ansicht könnte man mit vielen Belegen aus Augustinus, dem Gründer dieser Theorie, beweisen. Dasselbe gilt auch von Thomas von Aquin. Ich mußte es mir jedoch versagen, dies auszuführen, da hier nicht die Geschichte der anthromorphistischen Staatstheorien zu geben war, sondern lediglich die Untersuchungsnormen, welche für die Bildung der verschiedenen Theorien, die zu derselben Gruppe gehören, aufgezeigt und in methodologische Hinsicht beurteilt werden sollten. 36) Vgl. Bernatzik, Kritische Studien über den Begriff der juristischen Person, Archiv für öffentliches Recht, Bd. 5, Seite 188. "Es ist bekannt, zu welchen Konsequenzen Rousseau und die französische Revolution diese Idee einer Staats- oder Volkspersönlichkeit, welche Begriffe man damals identifizierte, geführt haben" ...; und Seite 186: "Die Erkenntnis, daß der Staat eine eigene Persönlichkeit ist, welche mit der des Monarchen nicht zusammenfällt, ist eine der großen Errungenschaften der naturrechtlichen Schule und wurde von den Verfechtern der reaktionären Ideen als eine revolutionäre betrachtet oder bekämpft." 37) Vgl. Rousseau, Du contrat social, Liv. I, Ch. VI. "Dieser Vereinigungsakt erzeugt augenblicklich anstelle der einzelnen Person jedes Vertragspartners einen moralischen und kollektiven Körper, der sich aus so vielen Mitgliedern zusammensetzt, wie eine Versammlung Stimmen hat - ein Wille, der durch denselben Akt seine Einheit, sein gemeinsames Selbst, sein Leben und sein Leben erhält - eine öffentliche Person, die durch die Vereinigung aller anderen entsteht." 38) Vgl. Otto Gierke, a. a. O. Seite 203. "Allein er weiß zur Einheit der Staatspersönlichkeit auf keinem anderen als dem damals überall betretenen Wege der kollektiven Zusammenfassung der Individuen zu gelangen und führt nur, da er jede Zuhilfenahme des Gedankens der Repräsentation verwirft, den individualistischen Kollektivismus umso schroffer durch. 39) Vgl. Rousseau, a. a. O., Liv. III, Ch. 11: "Der Staatskörper beginnt ebenso wie der Körper des Menschen von seiner Geburt an zu sterben und trägt die Ursachen seiner Zerstörung in sich. Aber beide können eine mehr oder weniger robuste Konstitution haben, die es ihnen ermöglicht, sie über einen längeren oder kürzeren Zeitraum zu bewahren. Die Verfassung des Menschen ist ein Werk der Natur, die des Staates ein Kunstwerk. Es liegt nicht an den Menschen, ihr Leben zu verlängern, sondern an ihnen, das Leben des Staates so weit wie möglich zu verlängern, indem sie ihm die bestmögliche Verfassung geben, die er haben kann. Die Besten werden das schaffen, wenn nicht ein unvorhergesehener Zufall dazu führt, daß sie vorzeitig verloren gehen. Das Prinzip des politischen Lebens liegt in der souveränen Autorität. Die gesetzgebende Gewalt ist das Herz des Staates, die exekutive Gewalt ist das Gehirn, das allen Teilen Bewegung verleiht. Das Gehirn kann fallen in Lähmung und der Einzelne wird noch leben. Der Mensch bleibt ein Idiot und lebt; aber sobald das Herz seine Funktionen einstellt, stirbt das Tier." - Jeder wird die Ähnlichkeit der hier ausgesprochenen Ansichten, die sich sogar in den Ausdrücken zeigt, mit der obenangeführten Theorie von Hobbes über den Tod des sozialen Körpers, ganz auffallend finden. 40) vgl. van Krieken, a. a.O., Seite 11 und 58 41) Vgl. Georg Meyer, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, vierte Auflage, Seite 10. "Die Auffassung des Staates als eines selbständigen von der Person des Herrschers unabhängigen Rechtssubjekts findet sich schon bei den politischen Schriftstellern des klassischen Altertums mit völliger Klarheit ausgesprochen." 42) Die nähere Aufklärung über die Bedeutung dieser Begriffe findet man im Kapitel 6. |